Textdaten
<<< >>>
Autor: August Schrader
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Blinde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49–52, S. 589–592; 605–608; 617–620; 629–632
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[589]
Die Blinde.
Weihnachtserzählung von August Schrader
I.

Mild und freundlich, bevor sie von der Erde schied, beschien die Julisonne die Häuser des reizend gelegenen Dorfes G. In dem weißen Kirchthurme mit seinem stumpfen Schieferdache ward die Abendglocke geläutet, und von den nahen Wiesen herüber hörte man das Geläute der heimkehrenden Heerden. Vor den Thüren der Häuser standen Kinder und Frauen, harrend der blanken Kühe und Rinder, die durch Brüllen ihre Nähe ankündigten. Auch die fleißigen Feldarbeiter erschienen nach und nach in den belebten Gassen, folgend dem verhallenden Abendrufe der Glocke.

Um diese Zeit gingen zwei Männer langsam zwischen den Häusern hin. Der eine war ein freundlicher Greis von mittlerer Gestalt, dessen schwarze Kleidung und weißes Halstuch den geistlichen Herrn verrieth. Er mußte viel danken, denn von allen Seiten kamen dem geehrten und geliebten Pfarrer freundlich ehrerbietige Grüße entgegen. Der andere war ein junger Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren; er trug einfache, aber elegante dunkele Kleider, welche seine schönen männlichen Körperformen deutlich abzeichneten. Sein bleiches Gesicht war völlig von großen Blatternarben zerrissen; aber es sprachen sich Geist und Gutmüthigkeit darin aus, und das große dunkelblaue Auge unter den starken Brauen spiegelte einen festen, energischen Charakter ab. Eine Salondame, in dem Geschmacke unserer Zeit gebildet, würde dieses Gesicht unbedingt häßlich genannt haben; dem Beobachter aber mußte es wegen seines Ausdrucks von Interesse sein.

Arnold Bließ, Kandidat des Predigtamts, war zum Besuche bei seinem Onkel, dem Pfarrer Braun. Der junge Mann hatte früh schon seine Aeltern verloren, und dadurch wäre er gehindert gewesen, die angefangenen Studien fortzusetzen, wenn der Onkel, der nur eine Tochter besaß, ihn nicht großmüthig unterstützt hätte. Harrend eines Amtes, lebte er nun in der ziemlich entfernten Residenz, wo er sich durch Unterricht und schriftstellerische Arbeiten gerade so viel erwarb, daß er seinem Stande gemäß existiren konnte, ohne ferner die Hülfe des guten Onkels in Anspruch zu nehmen.

Die beiden Männer hatten das Dorf durchschritten. Da zeigte sich plötzlich ein großes Eisengitter, durch dessen Stäbe man die Aussicht in einen weiten, aber nicht im besten Zustande befindlichen Park hatte. Hinter einer entfernten Baumgruppe hervor ragte das Schieferdach eines hohen, stattlichen Gebäudes mit seinen Zinnen und Thürmchen.

„Folge mir!“ sagte lächelnd der Pfarrer, indem er das angelehnte Thor öffnete. „Ich werde Dir jetzt die einzige Merkwürdigkeit unsers Dorfs, aber vielleicht die größte der ganzen Provinz zeigen.“

„Dieses Schloß?“ fragte Arnold, den Park betrachtend.

„Es ist ein Denkmal der Baukunst aus dem sechszehnten Jahrhundert, wohlerhalten durch die Grafen von Krayen, die es von Vater auf Sohn bis vor zehn Jahren bewohnten. Der letzte Sprößling dieser edeln Familie machte eine eben nicht ehrenvolle Ausnahme – als er nach dem Tode seines Vaters das zwar nicht sehr reiche, aber immerhin beträchtliche Erbe erhielt, ergab er sich einem verschwenderischen, leichtfertigen Leben, und man sah ihn nur dann auf dem Schlosse Krayen, wenn er ein Ackerstück oder ein Gehölz verkaufte. Die schöne Besitzung ist nun völlig zerrissen, Aecker, Wiesen und Waldungen sind dahin, und dieses Gitter umschließt alle Zubehörungen des Schlosses, das seit drei Jahren ein alter Kastellan verwaltet. Von dem leichtsinnigen Grafen ist weiter nichts bekannt, als daß er in der Residenz lebt, und dem Spiele und dem Trunke ergeben ist. Man fürchtet allgemein, daß er auch den letzten Rest der Besitzung veräußern werde. Aber wer wird dieses alte Gebäude kaufen, das nichts einträgt und höchstens zu einem Sommeraufenthalt benutzt werden kann?“

Der Pfarrer hatte seinen Neffen auf einen Hügel geführt, von wo aus man das alte ehrwürdige Schloß völlig übersehen konnte. Die in Stein gehauenen Bogenfenster mit den schweren Verzierungen blitzten, von der Abendsonne beschienen, wie Stahlplatten. Ein großes gothisches Fenster, das der Kapelle, glühte dunkelroth wie Gold, denn die Scheiben desselben waren bemalt. Guirlanden von Weinreben und wildem Epheu schlängelten sich von der Terrasse bis zu dem hohen Söller hinauf, der in der Mitte des ersten Stockes lag und von vier starken Säulen getragen ward. Zwischen diesen Säulen befand sich die große Eingangsthür, zu der eine stufenreiche Steintreppe führte. Weder in dem Parke noch in der nächsten Umgebung des Schlosses zeigte sich ein menschliches Wesen; in dem hohen Grase der weiten Beete weideten zwei weiße Ziegen, über die hinweg ein Schwarm Schwalben seine leichten Spiele trieb, und in den stillen Wipfeln der riesigen Ulmen sangen einzelne Vögel ihr Abendlied. Arnold schwelgte in den Reizen der prachtvollen Landschaft, mit stummem Entzücken betrachtete er das graue Schloß, und unwillkürlich schuf sich seine Phantasie abenteuerliche Gestalten zu Bewohnern des romantischen Gebäudes. Der greise Pfarrer, der das für Poesie [590] empfängliche Gemüth seines Neffen kannte, ließ ihn eine Zeit lang in dem stummen Anschauen der herrlichen Abendlandschaft, dann forderte er ihn lächelnd zum Weitergehen auf. Ueber eine Holzbrücke, welche die bebüschten Ufer eines Baches verband, kam man auf den Platz vor dem Schlosse. Eine Menge blühender Hortensien in verwitterten Kübeln umgab wie ein Kranz diesen Platz, dem es anzusehen, daß ihm die sorgende Hand des Gärtners fehlte.

Der Pfarrer trat zu einem offenen Fenster, das sich in der Giebelseite des Erdgeschosses befand.

„Vater Klaus!“ rief er.

Als er noch einmal lauter seinen Ruf wiederholt hatte und keine Antwort erfolgte, sagte er zu dem Neffen:

„Der alte Kastellan befindet sich ohne Zweifel in dem Schlosse, denn ich sehe, daß die Thür angelehnt ist, die zu der Treppe in dem kleinen Thurme führt. Wir werden ihn in den obern Räumen antreffen.“

Beide stiegen eine Wendeltreppe hinan, die sich in einem der Eckthürme emporwand, und nach zwei Minuten betraten sie den gewölbten Corridor, der mit Skulpturarbeit geziert und ausgemalt war. Rechts und links zeigten sich die hohen Flügelthüren, die zu den Gemächern führten. Nachdem der Führer von einem der Fenster aus seinem Gaste eine prachtvolle Fernsicht über das Thal gezeigt und die Fluren angedeutet hatte, welche durch die Verschwendung des letzten Grafen nach und nach in den Besitz reicher Oekonomen und Bauern übergegangen waren, sagte er:

„Wir wollen jetzt die Kapelle in Augenschein nehmen, die sich in diesem Corridor befindet und stets geöffnet ist. Ich verhehle es nicht, daß ich das Kirchlein gern betrete, denn es übt einen wunderbaren Eindruck auf mich aus. Und dieser Ort ist es, dem sich wohl kein zweiter in Deutschland zur Seite stellen läßt. Man sieht, daß ihn alle Grafen von Krayen mit besonderer Vorliebe und Pietät gepflegt haben, er vereinigt heute noch alles Schöne und Großartige, was unser Zeitalter aufzuweisen vermag. Es würde mir Kummer machen, wenn diese alte Behausung einem Besitzer zufiele, der sie nicht zu schätzen wüßte; und doch läßt sich dies fürchten, da der Graf in seinem leichtsinnigen Leben beharrt.“

Am entgegengesetzten Ende des Corridors öffnete der Pastor, der das Innere des Schlosses genau kannte, den schweren Flügel einer Bogenthür. Man trat in eine gewölbte Vorhalle, an deren Wänden einzelne kleine Betstühle standen. Darüber hingen Bildnisse in großen braunen Holzrahmen, alte Grafen von Krayen darstellend. Schweigend betraten die Männer die Schwelle eines Bogens, der sich der Eingangsthür gegenüber befand, und die Kapelle, in magischer Beleuchtung der Abendsonne, lag vor ihnen. Auf dem kleinen, mit einer weißen Decke überhangenen Altare flimmerten zwei silberne Kandelaber, und das einfache Crucifix dazwischen schien von einem Heiligenscheine umgeben zu sein. Darüber wölbten sich zierliche Spitzbogen, von deren Vereinigungspunkte herab eine schwere mit Epheu umwundene Alabasterampel hing. Das Altargemälde, das das volle Licht durch ein gothisches Fenster empfing, mußte von der Hand eines alten Meisters gefertigt sein, denn die Reiterfigur des heiligen Georg, dessen Pferd den Drachen zertritt, schien aus dem schweren Goldrahmen hervortreten zu wollen.

Eine feierlich ernste Stimmung hatte sich Arnold’s bei diesem Anblicke bemächtigt. Schweigend betrachtete er die einzelnen Gegenstände, während der alte Pfarrer sich seiner Ueberraschung freute. Da erklangen plötzlich die Töne der kleinen Orgel, die sich über den Häuptern der beiden Männer befand. Sanft und lieblich zitterten sie durch die Halle.

„Was ist das?“ flüsterte überrascht der Pfarrer.

Arnold hörte die Frage nicht, Auge und Ohr waren dergestalt beschäftigt, daß er die Anwesenheit des Onkels vergaß. Es mußte ein Meister sein, der die Töne dem vortrefflichen Instrumente entlockte. In freier Phantasie entwickelte sich die einfache, innige Melodie, und Arnold, ein Musikkenner, mußte das richtige Fortschreiten der Harmonien bewundern. In der Musik sprach sich bald eine wehmüthige Freude, bald eine innige Andacht aus.

Kaum war der letzte Ton verhallt, als sich das Geräusch von Schritten auf dem kleinen Chore hören ließ. Onkel und Neffe traten tiefer in die Kapelle, und sie sahen zwei Damen langsam die Treppe herabsteigen, die zu dem von braunem Holze erbauten Chore führte. Hinter ihnen erschien Klaus, der alte Kastellan. Die Kapelle sollte diesen Abend Alles vereinigen, was die Bewunderung des Kandidaten erregen konnte. Hatte ihn der Ort schon mit seiner magischen Beleuchtung und die reizende Musik erhoben, so begeisterte ihn jetzt der Anblick der jüngeren Dame, die von der ältern geführt, langsam die letzten Stufen der offenen Treppe herabstieg. Die schlanke, elegante Gestalt war einfach in Weiß gekleidet. Als sie sich wandte, sah Arnold ein wahres Madonnengesicht. Für ihn, den schon begeisterten Kandidaten, schien die Dame in dem stets matter werdenden Schimmer der goldigen Abendsonne von überirdischer Schönheit, ein Engel zu sein. Das waren Züge, wie sie nur die Phantasie eines Malers zu schaffen vermag. Schwere dunkele Locken, die auf schneeweiße Alabasterschultern herabfielen, umwallten ein zartes, fein geschnittenes Mädchenantlitz. Schön geschweifte dunkele Brauen zeigten sich über den langbewimperten Augen, die züchtig zur Erde gesenkt waren. Die blühenden Lippen formten einen reizenden Mund. Eine einfache Goldkette schmückte den zarten Hals. Die rechte Hand des vielleicht zwanzigjährigen Mädchens lag in der ihrer Begleiterin, die linke trug ein Bouquet Rosenknospen, die eine goldene Hülse zusammenhielt.

Die ältere Dame mochte wohl achtundvierzig Jahre zählen; begann auch ihr Haar schon zu bleichen und zeigten sich in dem weißen Gesichte die Spuren des Alters, so verrieth dennoch eine auffallende Aehnlichkeit in den edeln Zügen, daß das junge Mädchen ihre Tochter sei. Mit einer schmerzlichen Freundlichkeit grüßte sie, indem sie an den beiden Männern vorüberging. Die junge Dame neigte lächelnd das Haupt, ohne die Augen aufzuschlagen.

„Guten Abend, Herr Pastor!“ sagte laut der Kastellan, als ob er den Frauen bemerklich machen wollte, wer der alte Herr sei.

Er hatte seinen Zweck erreicht; die Mutter blieb stehen und wandte sich fragend zur Seite:

„Der Herr Pfarrer des Orts?“

Der Greis verneigte sich.

„Pastor Braun!“ fügte er hinzu, sich den Fremden vorstellend.

„Dann preise ich den Zufall, mein Herr, der mich Ihnen entgegenführte. Ich hatte bis jetzt den Vorzug nicht, Sie zu sehen, aber der würdige Pfarrer Braun ist mir dessen ungeachtet nicht fremd. Ich kann mir nicht versagen die Gelegenheit zu benutzen, Ihnen meine Hochachtung auszudrücken.“

Verwundert wiederholte der Pastor seine Verneigung. Mit ruhigem Blicke sah er die Dame prüfend an – er erinnerte sich nicht, ihr je im Leben begegnet zu sein.

„Sie kennen mich nicht,“ fügte sie lächelnd hinzu; „aber wenn Sie mir zu einer kurzen Unterredung in mein Zimmer folgen wollen, wird das Räthsel gelöst sein. Gehen Sie voran, Klaus!“ befahl sie dem Kastellan, einem Manne im hohen Greisenalter.

Die letzten Worte ließen errathen, daß die Dame in Beziehung zu der gräflichen Familie stehen, daß sie ein Recht haben müsse, in dem Schlosse zu gebieten, zumal da der Kastellan ehrerbietig Folge leistete. Nachdem der Pfarrer seine Zustimmung zu erkennen gegeben, verließen die beiden Frauen die Kapelle. Arnold hatte wenig von dieser Unterredung gehört, er war so im Anschauen des reizenden Mädchens versunken gewesen, daß er sich kaum seiner Umgebung noch bewußt war.

„Keine andere als sie,“ dachte er, „kann die Orgel berührt haben, denn dieselbe Anmuth, Lieblichkeit und Andacht, die in den Harmonien lag, drückt sich in diesem Engelsgesichte aus! Sie ist die heilige Cäcilie, die Göttin der Musik!“

„Arnold,“ flüsterte der Onkel dem Neffen zu, „ich kann die Einladung nicht ablehnen – mache einen Spaziergang durch den Park, sobald ich kann, kehre ich zu Dir zurück!“

Man ging so lange auf dem dämmernden Corridore hin, bis der Kastellan eine der Thüren öffnete. Die beiden Damen traten ein, der Pfarrer folgte, und die Thür schloß sich wieder. Arnold befand sich mit dem alten Klaus allein.

„Wer ist die junge Dame?“ fragte er hastig.

„Ich weiß es nicht!“ antwortete der Greis, indem er langsam der Treppe zu ging.

„Und wer ist die ältere?“

Der Kastellan zögerte, es schien als ob er auf eine ausweichende Antwort sänne. Arnold wiederholte seine Frage.

„Sie wird einige Zeit hier wohnen,“ entgegnete endlich der Greis. „Diesen Morgen ist sie mit ihrer Tochter hier angekommen.“

„Woher?“

„Auch das kann ich nicht sagen.“

[591] „Aber Sie müssen doch wissen, mein lieber Freund – –“

„Ich weiß nur, daß die Dame ein Recht hat, hier zu wohnen, und daß es meine Pflicht ist, ihr zu gehorchen. Vielleicht kann Ihnen der Herr Pfarrer mehr sagen. Sie begreifen wohl, daß ein Kastellan nur ein Diener ist.“

Arnold schwieg; ohne den Greis, der in einen schmalen Gang trat, weiter zu grüßen, eilte er die Treppe hinab, um in das Freie zu gelangen. Die Abendröthe lag feurig auf der bewaldeten Hügelkette, die sich jenseits des Dörfchens ausbreitete, und jene wunderbare Ruhe in der Natur war bereits eingetreten, die das Nahen der Sommernacht verkündet. Der arme Kandidat befand sich in einer Verfassung, die er bis zu diesem Augenblicke nicht gekannt hatte. Die herrliche Abendlandschaft hatte für ihn keinen Reiz mehr, alle seine Gedanken waren mit der überirdischen Erscheinung der Jungfrau beschäftigt. Wie ersehnte er die Rückkehr des Onkels, von dem er Auskunft erwartete, obgleich er nicht wußte, wozu sie ihm nützen könne. So hatte er das nächste Wäldchen erreicht, das durch den Rasenplatz von dem Schlosse getrennt ward. Er lehnte sich an den schlanken Stamm einer Buche, und sah nach dem stattlichen Gebäude hinüber, das von der Abendröthe goldig beleuchtet vor ihm lag. Da sah er, wie langsam eine weiße Gestalt auf den Söller hinaustrat, wie sie beide Hände ausstreckte, an dem Steingeländer stehen blieb und dann ruhig die Landschaft überschaute.

„Da ist sie!“ dachte Arnold und ein leises Frösteln durchrieselte seinen ganzen Körper.

Seine Phantasie verlor sich in wunderbaren Träumen. Die weiße Jungfrau auf dem Altane des altergrauen Schlosses, strahlend im Abendscheine, gewährte in der That ein Bild aus der alten Ritterzeit, und der eigene Reiz desselben war völlig geeignet, den Eindruck tiefer einzuprägen, den die Erscheinung der wunderholden Cäcilie in der Kapelle auf sein Herz ausgeübt. Da stand sie ruhig und regungslos und Arnold war selbst anmaßend genug zu glauben, daß seine Person ihre Aufmerksamkeit erregt habe. Welcher andere Gegenstand konnte sie so lange fesseln? Es war ersichtlich, daß ihre Blicke nur auf ihn gerichtet waren. Die Dämmerung hatte sich bereits auf das Thal herabgesenkt und die Jungfrau glich nur noch einem weißen Schatten, als die Stimme des Pfarrers den Träumer weckte. Arnold schämte sich seiner Reizbarkeit, er suchte seine gewöhnliche Ruhe zu erkünsteln und folgte schweigend dem Greise, der ihn zur Heimkehr aufforderte. Als er den letzten Blick nach dem Söller richtete, war die Jungfrau verschwunden und ein helles Licht schimmerte aus der geöffneten Thür. Verstohlen beobachtete Arnold nun den Onkel, der still und mit ernsten Mienen an seiner Seite ging. Den sonst so redseligen Alten schienen wichtige Dinge zu beschäftigen. Als sie die Häuser des Dorfs erreichten, folgte der Kandidat dem Drange seines Herzens und richtete die erste Frage an den Pfarrer. Seine Antwort war ausweichend wie die des Kastellans, und als die Spaziergänger vor dem freundlichen Pfarrhause standen, wußte Arnold nichts weiter, als daß Mutter und Tochter den Sommer auf dem Schlosse zubringen würden. Der junge Mann forschte nicht weiter, und als er gewahrte, daß der Greis selbst bei Tische seiner Gattin und Tochter den im Schlosse stattgehabten Vorgang verschwieg, beschloß er, das Geheimniß zu ehren. Sein Besuch sollte noch acht Tage dauern, und in dieser Zeit hoffte er Aufschluß zu erhalten, wenigstens so viel, um in seiner Erinnerung mehr zu bewahren, als die Gestalt des reizenden Mädchens.


II.

Das Schloß Krayen, obwohl seiner Felder und Wälder beraubt, war im Innern noch glänzend eingerichtet. Treu der Religion ihrer Ahnen hatten es die edeln Bewohner verstanden, den ernsten und großartigen Styl der alten Baukunst mit der zierlichen Pracht ihres Zeitalters zu verjüngen, und als der Vater des leichtsinnigen Richard von Krayen starb, desselben von dem der Pfarrer gesprochen, fehlte nichts, was das glänzende und bequeme Leben eines begüterten Grafen erforderte. In diesem Zustande befand es sich noch heute. Richard, ein wüster Junker, hatte es verlassen und der Obhut des alten Klaus übergeben, der es gewissenhaft verwaltete. Außer dem reichen Silbergeschirr, das der Junker zu Gelde gemacht hatte, fehlte nicht ein Stück des Inventars.

Wir betreten in dem Augenblicke ein Zimmer des Schlosses, als die Uhr auf dem Hauptthurme desselben die neunte Stunde verkündet. Kostbare, moderne Möbel stehen an den Wänden, die mit dunkelrothen Tapeten bekleidet sind. Eine große Astrallampe verbreitet ein helles Licht, so daß sich die theuern Oelgemälde in großen Rahmen deutlich erkennen lassen. Den Boden bedecken weiche Teppiche. Man hätte glauben mögen, das Zimmer sei immer bewohnt gewesen. Die beiden Damen, die der Leser in der Kapelle kennen gelernt, befinden sich in diesem reizenden Gemache. Die Mutter schließt so eben ein Portefeuille, in das sie Notizen eingetragen – die Tochter steht ruhig an dem offenen Fenster, ihr liebliches Gesicht der erfrischenden Abendluft preisgebend.

„Cäcilie!“ rief sanft die Mutter, indem sie einen schmerzlichen Blick auf die Tochter heftete.

Die Angeredete wendete ihr Haupt zur Seite und fragte mit ihrer kindlichen, wohlklingenden Stimme: „Hast Du Deine Geschäfte beendet, liebe Mutter?“

„Für heute ist Alles gethan – das Inventarium werde ich in den nächsten Tagen prüfen. Dem Kastellan habe ich die nöthigsten Aufträge ertheilt, und ich bin nun wieder die Deine.“

Cäcilie wandte sich von dem Fenster ab.

„Ach, daß ich Dir nicht nützlich sein kann, daß ich Dir nur Sorgen mache und Deine Aufmerksamkeit stets in Anspruch nehmen muß!“ sagte sie mit einem Seufzer. „Wo ist das Sopha?“ fragte sie dann, indem sie ihre beiden zarten Hände ausstreckte.

Die Mutter ergriff eine derselben und führte die Tochter zu dem Sopha.

„Habe nur noch wenig Tage Geduld, Mutter,“ sagte sie während des langsamen Gehens mit einem schmerzlichen Lächeln; „ich bin hier so fremd – wenn ich nur einigemal noch an Deiner Hand diese Räume durchwandert bin, so werde ich Deiner Führung nicht mehr bedürfen, ich will alle Gegenstände genau meinem Gedächtniß einprägen.“

„Wie befindest Du Dich hier?“ fragte die Mutter, indem sie sich neben der Tochter niederließ.

„Die Luft ist köstlich, und ich athme freier als in der Stadt.

Dort drüben müssen schöne Wälder liegen, denn ein frischer Duft dringt zu mir – –“

Der Mutter traten die Thränen in die Augen; sie küßte die Stirn der Tochter, indem sie ausrief: „O, daß es Dir nicht vergönnt ist, die herrliche Natur zu sehen! Wie gern gäbe ich den Rest meines Lebens darum, könnte ich Dir das Augenlicht erkaufen.“

„Mutter, schon wieder sprichst Du diesen Wunsch aus!“ sagte Cäcilie mit sanftem Vorwurfe. „Muß ich Dir wiederholen, daß Du meine Lage verkennst? Nur ein Gut, das man besessen, entbehrt man. Ich habe nie die Welt gesehen, obgleich ich seit zwanzig Jahren darauf lebe – und so habe ich mir meine eigene Welt gebildet, in der Du mein schützender Engel bist. Du hast mich erzogen, gebildet, mit unsäglicher Geduld zu dem gemacht, was ich etwa bin, und Deine Stimme zu hören, Deine Hand zu fühlen ist mir Bedürfniß. Glaube mir, ich bin ganz glücklich!“

„Du liebes Kind! Verzeihe meiner Mutterliebe, wenn sie für Dich ein Gut ersehnt, dessen Du nie theilhaftig werden kannst. O, daß es mir versagt ist, mehr für Dich zu thun!“

Sie küßte die großen blauen Augen der Tochter, die so klar waren, daß man ihnen kaum die Sehkraft hätte absprechen können.

„Mutter,“ sagte Cäcilie lebhaft, um an ihr Glück glauben zu machen, „ich habe Dich nie gesehen, aber mein Herz hat sich ein Bild von Dir geschaffen, das ähnlich sein muß. Ich erkenne Deinen Schritt, jede Deiner Bewegungen, selbst das Rauschen Deines Kleides unterscheide ich - -“

„Cäcilie, Du willst mich täuschen!“ flüsterte sie mit sanftem Vorwurf.

„Mutter!“

„Ich habe diese Besitzung gekauft, um Dir eine andere Umgebung zu schaffen, um Dich der geräuschvollen Stadt zu entziehen, die Dir lästig zu sein schien. Das Schloß Krayen vereinigt Alles, was Deinen Neigungen entspricht – Cäcilie, Dir fehlt noch etwas! Ich halte es für einen Mangel an Vertrauen, wenn Du Dich nicht offen gegen mich[WS 1] aussprichst. Cäcilie, hilf mir Deine Nacht aufzuhellen, hilf mir dem Drange meiner Mutterliebe folgen, Dich ganz glücklich zu machen. Mit unserer Uebersiedelung in diese Gegend soll ein neues Leben beginnen –“

[592] „O, wie danke ich Dir diese Fürsorge, Mutter!“ rief Cäcilie, indem sie sich an ihre Brust warf. „Du begräbst Dich mit mir in diese Einsamkeit und entsagst den Freuden des geselligen Lebens, weil sie für Deine blinde Tochter nicht geschaffen sind. Es macht mir Kummer, daß ich Dein Dasein an das meinige fesseln muß.“

Die Mutter ergriff beide Hände ihrer Tochter, die sie sanft in den ihrigen drückte.

„Cäcilie,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „Du willst mich, die ich Dich ganz kenne, an Dein Glück glauben machen, während ich sehe, daß eine Veränderung in Deinem Innern vorgegangen ist. Du lächelst, aber Dein Herz leidet. Willst Du, daß ich mit Dir leide, mein Kind? Willst Du meinen Schmerz dadurch erhöhen, daß Deine Verschlossenheit mir die Möglichkeit nimmt, ganz für Dein Glück zu sorgen? Wem in der Welt könntest Du Dich vertrauen, wenn nicht mir? Cäcilie, ich habe es bisher vermieden, diesen Punkt ernstlich zu berühren – jetzt vermag ich es nicht mehr, und wenn Du Anstand nimmst, offen zu sein, so muß ich Dich an Deine Pflicht mahnen.“

„An meine Pflicht!“ hauchte sie kaum hörbar vor sich hin, und Thränen erschienen in dem blinden Auge. „Ja, es ist meine Pflicht,“ fügte sie lauter hinzu, „und ich will ihr genügen. Mutter, Du hast Recht, es ist in mir eine Veränderung vorgegangen, die ich Dir mit Anstrengung verbergen wollte. Ach, und ich folgte Dir gerne in diese Gegend, weil ich in der Einsamkeit eine peinliche Regung zu unterdrücken hoffte, die ein Zufall in der Stadt vergrößern konnte. Sind wir unbelauscht, Mutter?“ fragte sie ängstlich.

„Es ist Niemand in der Nähe!“

„So höre das tiefste Geheimniß meines Herzens, des einzigen, das es vor Dir birgt. Wenn Du es kennst, wirst Du mir verzeihen, daß ich es in mich zu verschließen suchte, denn ich wollte ja nur allein leiden. Du führtest mich an dem letzten Christabende in den Dom der Residenz, um mir eine Weihnachtsfreude zu bereiten, meinem Geiste, Mutter, weil die Blinde einer andern nicht theilhaftig werden kann. Die herrliche Musik erhob und begeisterte mich; ich sah die tausend Kerzen nicht, von denen Du sagtest, daß sie das Gotteshaus erhellten; aber andächtige Begeisterung hatte mein Inneres mit einem wunderbaren Lichte erfüllt und die jubelnden Töne der Weihnachtshymne trugen mich in eine lichte Sphäre. Entzückt lauschte ich den gewaltigen Harmonien noch, als sie längst verklungen waren, sie tönten noch fort in meiner erregten Brust. Da erhob sich plötzlich die Stimme des Predigers, eine Stimme, Mutter, so wohlklingend und schön, daß sie den Eindruck der Musik verscheuchte. Aber nicht die Stimme allein war es, die so seltsam wunderbar mein Herz bewegte, auch die Worte waren es, die sie sprach. Welche Kraft, welches Feuer und welche Empfindung lag in dem Vortrage des Kanzelredners! Wie klar und schön war seine Anschauung von dem Ereignisse, das die Christenheit durch ein Fest feierte! Frömmigkeit und Verstand hatten ihm die Worte dictirt, die seine jugendliche, herrliche Stimme der Versammlung zurief. Mit steigender Spannung verfolgte ich die Rede, und als sie geendet, war ich so von dem Geiste derselben durchdrungen, daß mir das Leben ein anderes geworden zu sein schien. Und ach, Mutter, auch ich selbst war eine andere geworden!“ fügte sie erröthend hinzu. „Der Zustand meines Herzens war mir fremd, aber er gewährte mir eine schmerzliche Freude. Anfangs begnügte ich mich mit der Erinnerung an seine schöne Stimme, die mir herrlicher klang, als Musik, denn – ach, Mutter, ich mußte an ihn denken ohne es zu wollen – dann schuf sich meine Phantasie ein Bild von ihm, und dieses Bild steht immer vor mir, ich mag wachen oder träumen. Eine unbestimmte Sehnsucht erfaßte mich – Du führtest mich später wieder in die Kirche, ich hörte einen andern Prediger, aber die Sehnsucht war nicht befriedigt. Ein wunderbares geistiges Band knüpft mich an den Mann, den ich für jung und schön halte. Mutter, es bildete sich ein Gefühl in mir aus, das ich nicht anders als – Liebe nennen kann.“

Cäcilie verbarg ihre in Thränen gebadeten Augen an der Brust der Mutter, die erbleichend nach Fassung rang.

[605] „Also ist es dennoch eingetroffen, vor dem ich sie zu schützen bemüht war!“ dachte sie. „Sie liebt mit der Schwärmerei, die diesem armen Wesen eigen zu sein pflegt. Ach, und ihre Liebe ist eine hoffnungslose, denn wer wird eine arme Blinde wieder lieben?“

Ueberwältigt von Schmerz, bedeckte sie die Stirn der Tochter mit Küssen. Sie wollte trösten, aber sie vermochte es nicht, wenn sie den lauten Ausbruch ihrer Gefühle verhindern wollte.

„Mutter,“ flüsterte bebend Cäcilie, „Du weinst – ich fühle es, denn Deine Thränen perlen auf meine Wangen. Sieh’, das ist mein Kummer! Ach, ich wußte es wohl, daß Dir dieses Bekenntniß Schmerz bereiten würde, denn Du liebst mich ja und willst mich glücklich wissen. Darum verbarg ich mein Herz vor Dir, darum solltest Du nie erfahren, daß es außer Dir, die Du mich verstehst, noch ein Wesen giebt, das ich liebe. Mutter, Mutter, zürne mir nicht,“ rief sie schluchzend, „denn ich habe alle Mittel angewendet, die mir der Verstand rieth! Wenn den jungen Prediger nicht schon ein Band der Liebe bindet, fragte ich mich – wird er dich, das blinde Mädchen, lieben können? Und wenn du wirklich das Glück hättest, mit ihm in ein näheres Verhältniß zu treten, ist es nicht möglich, daß er den Eindruck zerstört, den seine Stimme und seine Rede hervorgebracht hat? So kämpfte ich mit mir selbst, aber es war vergebens, die Regung meines Herzens zu besiegen. Zitternd folgte ich Dir zur Kirche, wenn Du mich dazu auffordertest, denn ich fürchtete die Stimme wiederzuhören, die mein Leiden nur noch vergrößern mußte. Mutter,“ rief sie mit flehender Stimme, „weine nicht, hier in der Einsamkeit, nur umgeben von Deiner Liebe und Deiner Sorgfalt, wird es mir gelingen, den Frieden meiner Seele wieder herzustellen, Du wirst mir bald wieder Alles sein, das einzige Licht, das meine Nacht erhellt!“

Cäcilie umschlang von Neuem ihre Mutter, die noch beklagenswerther war, als sie selbst. Denn giebt es wohl einen größern Kummer, einen herbern Schmerz als den, ein junges reizendes Wesen unter den Qualen einer glühenden Leidenschaft dahinwelken zu sehen? Und Cäcilie war ihre Tochter, die einzige Frucht einer glücklichen Ehe, die der Tod des Gatten frühzeitig gebrochen hatte. Da saß das arme Geschöpf, ein Meisterwerk der Natur, aber nur halb vollendet, denn die schönen glänzenden Augen waren dem Lichte verschlossen, sie konnten das Lächeln der Mutterliebe, die herrliche Natur nicht sehen. Die arme Blinde konnte nur das Glück in ihrem eigenen Herzen finden, sie konnte nur in der kleinen, begrenzten Welt selbstgeschaffener Wesen leben, und diese Welt ward ihr durch eine hoffnungslose Liebe verkümmert. Die Mutter begriff ganz den Zustand ihres Kindes, und wie ein tödtlicher Pfeil war die Gewißheit desselben in ihr Herz gedrungen.

„Mein Kind,“ sagte sie, mit übermenschlicher Kraft nach Fassung ringend, „hätte ich Dir einen Vorwurf zu machen, so wäre es der, daß Du so lange allein Deinen Schmerz getragen hast. Jede Mittheilung, einem liebenden, theilnehmenden Wesen gemacht, erleichtert die Brust –“

„Gewiß, Mutter, gewiß!“ rief eifrig die Blinde, indem sie ihr schönes, von den feuchten Locken umwalltes Haupt emporhob. „Auch Du hast die Stimme gehört, die feurige, schöne Rede – nicht wahr, nur ein edler, fühlender und gebildeter Mann, ein aufgeklärter und kühner Geist kann so sprechen? Schon oft hatte ich zuvor über das Thema nachgedacht, das er zu seiner Predigt gewählt, aber nie bin ich auf solche Gedanken gekommen. Wie anders werde ich das nächste Christfest begehen – wie anders würde ich es begehen,“ fügte sie traurig hinzu, „wenn ich Dessen nicht gedenken müßte, der meine Ansichten geläutert hat. Vergieb mir, Mutter,“ flüsterte sie leise und indem sie das himmlische, aber blinde Auge emporschlug, „vergieb mir, denn ich bin noch nicht geheilt!“

Wie zum Gebet legte Cäcilie ihre kleinen Alabasterhände zusammen, und sah still vor sich hin. Ein schmerzlich wehmüthiges Lächeln, die eben so reine als heftige Liebe verrathend, verklärte das Engelsgesicht zu dem einer frommen Dulderin. Dem Auge der Mutter konnte der ganze Umfang dieser Leidenschaft nicht entgehen, denn sie wußte, daß bei dem jungen, des Gesichtes beraubten Mädchen jedes Ereigniß einen starken, unauslöschlichen Eindruck hervorbrachte. Alle Gefühle bei ihr sind reizbarer, das Herz empfänglicher, und der einmal herrschende Gedanke, in der Nacht der Blindheit genährt, enthält durch die leicht entzündbare Phantasie, dieses helle Licht der Blinden, eine verheerende Gewalt.

„Ich bin reich, und Cäcilie ist schön,“ dachte die hoffende Mutter – „ich werde bald erfahren, wer der Gegenstand ihrer Liebe ist. Es wird ja noch ein Mittel geben, mein armes Kind glücklich zu machen.“

Die Schloßuhr schlug zehn. Die Kammerfrau trat ein, und bot den Damen ihre Dienste an. Bald war die Nachttoilette vollendet, die Cäcilien noch reizender machte. Mit einem schmerzlichen Wohlgefallen betrachtete die Mutter ihre Tochter, und was die liebende Hoffnung angeregt, vollendete die mütterliche Eitelkeit.

„Man muß sie lieben, auch wenn sie blind ist?“ dachte sie. „Und wie kann das Herz eines solchen Mädchens der Liebe verschlossen bleiben? Ich war thöricht, dem Triebe der Natur entgegenzutreten [606] – hätte ich ihn in die rechte Bahn geleitet, es wäre heute vielleicht anders. Ich werde meinen Fehler mit Vorsicht verbessern.“

Eine Viertelstunde später hatten sich beide Frauen zur Ruhe begeben. Cäcilie träumte von der Christnacht, während die arme Mutter sich mit der Auffindung der Mittel beschäftigte, die zum Zwecke führen konnten. Nachdem sie den Entschluß gefaßt, die Hülfe des Pastors Braun in Anspruch zu nehmen, entschlief sie.


III.

Zwei Tage später fiel ein Sonntag. Der Nachmittagsgottesdienst war vorbei, und der Pfarrer Braun, der seinem Amte nach Gewohnheit und Pflicht obgelegen hatte, saß mit Arnold in der großen Lindenlaube des Pfarrgartens, wartend des Kaffee’s, den Concordia, seine Tochter, in der Küche zubereitete. Der Greis blies aus einer langen Pfeife dichte Tabackswolken in die laue Luft, ein Genuß, der ihm zur Leidenschaft geworden war.

„Arnold,“ sagte er, „ich habe die gegenwärtige Unterredung bis heute verschoben, damit Du erst ein wenig heimisch in meinem Hause werden solltest. Du bist zwar als Student einmal einige Tage hier gewesen, ich hege aber die Meinung, daß der gesetzte junge Mann die Dinge anders ansieht als der Jüngling, und damals war mein Cordchen nicht zu Hause, die sich bei Amtmanns Hannchen in Z. zum Besuche befand. So höre denn meinen Plan, den ich ersonnen habe, und mit Deiner Hülfe auszuführen gedenke.“

„Mit meiner Hülfe?“ fragte verwundert der Kandidat.

„Ich stand in Deinem Alter,“ begann ruhig der Pastor, „als mich die Gemeinde zu ihrem Pfarrer wählte, und der selige Graf von Krayen, der Patron der Stelle, als solchen bestätigte. Drei Jahre später verheirathete ich mich, und der Himmel segnete meine Ehe, die anfangs unfruchtbar zu bleiben schien, mit einer hoffnungsvollen Tochter. Ich bin nun dreißig Jahre im Amte, und wenn ich mich auch gerade nicht zu schwach fühle dasselbe ferner zu versehen, so veranlassen mich doch zwei Gründe, jetzt meinen Ruhestand vorzubereiten. Erstens gehöre ich noch der alten Welt an, und ein junger kräftiger Mann, der den Anforderungen unserer Zeit wirksamer entspricht, würde besser am Platze sein, als ich; und zweitens will ich bei Zeiten die Zukunft derer gesichert sehen, für die zu sorgen mir die Verpflichtung obliegt, zumal da sich jetzt eine günstige Gelegenheit dazu bietet. Aus diesen Gründen mache ich Dir nun kurz und bündig den Vorschlag: Du wirst sobald als thunlich mein Nachfolger im Amte, heirathest mein Cordchen, und giebst mir und meiner alten Ehehälfte ein Asyl für unser Alter. So, meine ich, ist uns Allen geholfen. Ich habe Dich zu mir eingeladen, damit in der Familie die ersten Schritte unternommen werden konnten. Die Besorgung des Uebrigen ist meine Sache. Nun, Vetter, was meinst Du dazu?“

Arnold sah den Greis verwundert an. Kannte er auch die Herzensgüte desselben, so hatte er doch auf seine Fürsorge in dieser Ausdehnung nie zu hoffen gewagt. Und jetzt, nachdem er den Engel in der Kapelle gesehen, dessen Bild sein ganzes Herz ausfüllte, dessen er mit einer poetischen Begeisterung gedachte – jetzt sollte er sich um die Gunst eines andern Mädchens bewerben, das zwar hübsch, gesund und leidlich gebildet war, aber wenig den Anforderungen entsprach, die sein für ein Ideal schwärmendes Herz an die künftige Lebensgefährtin stellte. Ein Augenblick genügte, um ihm das Peinliche seiner Lage erkennen zu lassen. Durfte er sich dem wackern Greise gegenüber, der so väterlich für ihn gesorgt hatte und jetzt mit der Feststellung seiner ganzen Zukunft beschäftigt war, offen aussprechen? Durfte er dem so vernünftigen und ihn selbst betreffenden Beglückungsplane entgegentreten? Und wenn er es wagte, und den Grund dafür angäbe, was mußte der Greis von seiner seltsamen Schwärmerei denken? Wie mußte er seinem Wohlthäter erscheinen? Arnold war einer der wenigen Männer, in denen Leidenschaften von ungeheurer Tiefe schlummerten, aber zu gewaltig, um bei kleinen Veranlassungen hervorzutreten.

„Bester Onkel,“ antwortete er ruhig, „mit dankbarem Herzen erkenne ich Ihre Güte an; aber wird Concordia, die mich kaum kennt, ohne Opfer zu den Wohlthaten beitragen können, die Sie mir so großmüthig zugedacht? Sie ist ein gutes, lebhaftes Mädchen, und mein Wesen ist so wenig geeignet, rasche Eindrücke zu erzeugen –“

„Daß sie Dich näher kennen lernen muß, um zu entscheiden,“ fiel eifrig der Pastor ein, das erfordert die Billigkeit. Aber ich müßte ein schlechter Menschenkenner sein, wenn ich das Resultat Euerer nähern Bekanntschaft nicht voraussehen sollte. Concordia’s Herz ist noch frei und da sie weiß, daß der Vater nur in ihrem Sinne wählen kann, so wird sie sich bald zu fügen wissen. Schon vor einiger Zeit hat es die Mutter übernommen, sie vorzubereiten.“

„Wie, Condordia weiß bereits darum?“

„Und ich glaube zu bemerken, daß Du einen günstigen Eindruck auf sie ausgeübt hast, denn andernfalls würde ich Dich in das Geheimniß noch nicht eingeweiht haben. Doch still, sie kommt – wir wollen der natürlichen Entwickelung der Dinge nicht vorgreifen.“

Concordia, einen großen Präsentirteller tragend, erschien zwischen den Spalieren der Zwergobstbäume, die an dem Wege standen, und näherte sich rasch der Laube. Sie war einfach sonntäglich geschmückt. Ein rothes Thibetkleid schloß eng die runden, kräftigen Formen ihres kerngesunden Körpers ein. Ihr hellblondes Haar bildete einen starken Flechtenkranz auf dem Haupte. Hochrothe Wangen, helle Augen und kirschrothe Lippen gaben ihrem interessanten Gesichtchen einen Ausdruck großer Lebendigkeit. Alle ihre Bewegungen waren rasch und entschieden. Für einen gewöhnlichen Landgeistlichen würde Concordia eine passende, wünschenswerthe Frau gewesen sein, zumal da sie als Mitgift ein kleines Vermögen und eine einträgliche Pfarre brachte; aber wie wenig konnte sie unserm Arnold genügen, der sein Ideal im Herzen trug! Unwillkürlich stellte er Vergleiche zwischen den beiden Mädchen an, und das Resultat derselben war das Bedauern, daß der Engel aus der Kapelle nicht die Tochter des Pfarrers sei.

Der alte Pfarrer beobachtete schweigend und mit großem Interesse die beiden jungen Leute. Er verschanzte sich hinter einer dichten Rauchwolke, um sein Lächeln zu verbergen. In dem Augenblicke, als Concordia dem Gaste die gefüllte Tasse bot, trafen sich Beider Blicke. Das Roth ihrer Wangen schien sich plötzlich dem ganzen Gesichte mitgetheilt zu haben, und ihre Blicke senkten sich schnell wieder auf den mit einem weißen Tuche bedeckten Tisch. Dem armen Arnold entging diese urplötzliche Veränderung, die offenbar der Anblick seiner Person hervorgebracht, nicht, und wenn er auch nicht so eitel war, seinem von Pockengruben zerrissenen Gesichte auch nur die geringste Anziehungskraft beizulegen, so glaubte er doch schließen zu müssen, daß des Vaters Heirathsplan von der Tochter genehmigt würde.

„Cordchen,“ sagte der Vater, sein Wohlgefallen über diese Bemerkung verbergend, „geh’, und bitte die Mutter zu uns. Dann magst auch Du wiederkommen, mein Kind!“

Mit purpurrothem Gesichte flog das Mädchen davon, ohne ein Wort zu entgegnen. Der Pastor blies ein Paar so gewaltige Rauchwolken aus seiner Sonntagspfeife, daß die ganze Laube davon angefüllt war.

„Nun,“ rief er seelenvergnügt, „wer hat Recht? Sie erröthete bis an die Ohren, als sie den ihr bestimmten Mann ansah. Das ist ein gutes Zeichen! Arnold, ich zweifle nicht mehr, daß Alles völlig geordnet ist, ehe Du Deine Rückreise antrittst. Ja, ich kenne meine Concordia, sie ist ein kluges, gutes Mädchen. Und wie wird sie Dir die Wirthschaft zusammenhalten, wenn sie als Frau Pastorin schalten und walten kann. Die Bauern lieben sie – es ist keine Kindtaufe und keine Hochzeit im Dorfe, zu der sie nicht geladen wird. Glaube mir, Arnold. Du bekommst eine wackere, tüchtige Hausfrau, und Cordchen – ich hege die feste Ueberzeugung – bekommt einen wackern, tüchtigen Mann.“

Während der Vater seinem Neffen die Glückseligkeit einer Landpfarrerehe pries und in freudiger Erinnerung mit beredter Zunge seine eigene Heirathsgeschichte erzählte, war die Tochter zu der Mutter in das Zimmer getreten.

„Mütterchen,“ sagte sie mit erkünstelter Traurigkeit, „es geht wahrhaftig nicht!“

„Was?“ fragte verwundert die Frau Pastorin, eine herzensgute alte Dame, die an Concordia mit jener übergroßen Zärtlichkeit hing, welche die Mütter dem einzigen Kinde zu zollen pflegen, vorzüglich wenn dieses Kind eine Tochter ist. „Was geht denn nicht, liebes Cordchen?“

„Daß ich den Vetter aus der Residenz heirathe.“

„Mißfällt er Dir denn?“

[607] „Er mag ein guter und gelehrter Mensch, ein ausgezeichneter Prediger und alles sein, was Vater an ihm mit so großer Vorliebe rühmt – aber er ist doch ein wenig zu häßlich!“

„Concordia!“ rief mahnend die Mutter.

„Ich weiß es, Mütterchen, der arme Vetter hat sich sein Gesicht nicht gemacht, er ist unschuldig daran, und ich beklage ihn, daß ihn ein solches Mißgeschick betroffen hat – aber kann ich dafür, daß mir dieses bleiche, zerrissene Gesicht nicht gefallen will? Als ich ihm vorhin den Kaffee präsentirte, kam ich ihm natürlich nahe, da empfand ich einen Widerwillen, daß ich selbst in die größte Bestürzung gerieth. Der Vetter dauert mich, aber heirathen kann ich ihn nicht. Gebt nur die Hoffnung auf,“ fügte sie entschieden hinzu, „seine moralischen Vorzüge werden mich nie so begeistern, daß ich sein Gesicht darüber vergesse.“

„Aber bedenke, mein Kind, es ist der Lieblingsplan des Vaters – –“

„Der Vater wird mich nicht zwingen wollen, einen Mann zu heirathen, den ich nicht leiden kann,“ fuhr Cordchen eifrig fort. „Lieber will ich gar nicht heirathen!“

„Der arme Vetter!“ seufzte die gutmüthige Mutter. „Wie muß ihn das kränken.“

„Liebes Mütterchen, was würde der Vetter sagen, wenn er ein schönes, glattes Gesicht, und ich ein häßliches, verunstaltetes hätte, das ihm denselben Widerwillen einflößt, den ich vor ihm empfinde? Er würde für eine solche Frau schönstens danken, und sich nach einer andern umsehen, die ihm gefiele. Das würde ihm kein Mensch verargen. Es gehört nur ein wenig Gerechtigkeitsgefühl dazu, um dies einzusehen. Bekenne offen: gefällt Dir der Vetter?“

Die Frau Pastorin befand sich zwischen zwei Feuern. Der Tochter konnte, und dem Gatten durfte sie nicht Unrecht geben. Sie hatte sich zwar noch nicht darüber ausgesprochen, aber im Grunde der Seele wünschte sie der einzigen, zärtlich geliebten Tochter einen hübschern Mann. Die Achtung vor den Ansichten des würdigen Ehegemahls hatte bisher die mütterliche Eitelkeit unterdrückt. Die Frau Pastorin hielt ihr Kind für das schönste Mädchen in der ganzen Umgegend.

„Mein Gott,“ flüsterte sie, „was soll denn nun geschehen?“

Concordia trat zu ihr an das Fenster, und flüsterte:

„Das will ich Dir sagen. Ich weiß zwar, daß der Vater die Vereitelung seines Plans ungern sieht, aber daraus, daß er das Zustandekommen der Heirath von meinem Gefallen an den Vetter abhängig gemacht hat, läßt sich schließen, daß er zu meinem Nachtheile nicht hartnäckig darauf beharren wird. So lange der Vetter hier ist, darf er meine Meinung nicht erfahren, aber auch dem Vater muß sie verschwiegen bleiben, damit er dem Vetter keine Eröffnungen macht, der nur dann erst das ihm zugedachte Glück erfahren soll, wenn ich einwillige. Später bereiten wir den Vater nach und nach vor, und Herr Arnold Vließ hat von dem ganzen Handel nichts erfahren.“

Der Mutter leuchtete zwar der Plan Concordia’s ein, aber sie konnte sich der Bemerkung nicht enthalten: „Es ist traurig, daß er Dir nicht gefällt. Ich hätte ihm wohl gewünscht, daß er unsere Pfarre bekäme.“

„Mein Gott,“ rief Concordia, „was hindert ihn, der Nachfolger des Vaters zu werden? Muß denn gerade mein Mann hier Prediger sein.“

„Und Du?“

„Ich werde schon einen Mann finden!“ sagte das junge Mädchen, indem es sich zu einer am Fenster stehenden Rose neigte, um die flammende Röthe des Gesichts zu verbergen. „Oder glaubst Du, Mutter, daß es dazu der Pfarre bedarf?“

„Nein, nein!“

„Fast sollte ich mich darüber ärgern!“ fuhr Cordchen muthig fort. „Ich wollte, Herr Arnold wäre schon unser Prediger, damit die Leute sähen, daß der Vater ohne Rücksicht auf mich ihn versorgt. Und damit der Vater sieht, daß ich seinem Schützling dennoch geneigt bin, ohne ihn gerade zu heirathen, werde ich ihn zu bestimmen suchen, keinen andern zu seinem Nachfolger vorzuschlagen. Hat Herr Arnold diese einträgliche Pfarre, so findet er auch eine Frau, trotz seines häßlichen Gesichts. Mehr kann ich nicht für ihn thun!“

Die Frau Pastorin, gerührt von dieser Großmuth, küßte ihre Tochter, und erklärte sich mit dem Vorschlage einverstanden. Hätten sie das Gespräch der beiden Männer in der Laube gehört, sie würden den Entschluß nicht gefaßt haben, dem Kandidaten zur Erlangung der Pfarre behülflich zu sein, trotzdem aber den Heirathsplan des Vaters zu vereiteln.

„Man weiß,“ dachte die Mutter, „daß Concordia, unser einziges Kind, nicht ohne Mitgift aus dem Hause geht – ein munteres, hübsches Mädchen und wohl erzogen ist sie auch – ich wette, daß sie schon gewählt hat. Ein Theologe ist es auf keinen Fall, denn sonst würde sie ihm die Pfarre aufbewahren – nun, es braucht ja auch nicht gerade ein Prediger zu sein.“

„Ich habe die Mutter auf meiner Seite,“ dachte Concordia, „nun darf ich hoffen, den Mann zu heirathen, den ich liebe. Je eher Herr Arnold die Pfarre bekommt, je eher bekomme ich meinen Mann, denn der Vater muß bei mir und meinem Karl wohnen, das ist nöthig und abgemacht. Ist der Vater in der vorliegenden unglückseligen Heirathsgeschichte aufgeklärt, so soll Karl um meine Hand bei ihm anhalten. Hu, was wird der gute Vater für Augen machen!“

Die Ankunft eines Landmanns, der den Seelsorger zu einem Sterbenden auf das benachbarte Filialdorf rief, lenkte die Aufmerksamkeit der Bewohner des Pfarrhauses von der Familienangelegenheit ab. Man kannte den Kranken; und war bestürzt über den plötzlichen Unfall. Pastor Braun rüstete sich zur Erfüllung seiner Amtspflicht, und bald fuhr er in der Kalesche davon, die der Bote mitgebracht hatte. Arnold beurlaubte sich von den beiden Frauen, um einen Spaziergang durch das Thal zu machen, und später dem Onkel entgegenzugehen. Concordia ermahnte ihn freundlich, das Abendessen nicht zu versäumen, im Falle er den Vater verfehlen sollte. Gedankenvoll hatte Arnold das Dorf durchschritten, und nur mechanisch hatte er auf die ehrerbietigen Grüße der Landleute gedankt, die in festlicher Ruhe vor ihren Häusern saßen. Ehe er sich dessen versah, befand er sich an dem Gitter des Parks. Erschreckt blieb er stehen.

„Das habe ich nicht gewollt!“ flüsterte er vor sich hin. „Ich darf, ich will sie nicht wiedersehen, um so leichter zerstöre ich den ersten Eindruck. Wäre es nicht thöricht, eine Neigung zu hegen, die offenbar zu keinem Resultate führt? Wie kann ich, ein armer Kandidat, mit einem durch Krankheit entstellten Gesichte, daran denken, selbst nur die Aufmerksamkeit dieser reizend schönen Dame zu erregen? Das sind die gewöhnlichen Launen des Schicksals,“ fügte er mit einer Art Bitterkeit hinzu: „es zündet in mir die Liebe nach einem unerreichbaren Gegenstande. Liebt der Maler nicht sein Werk, das ihm gelungen? Liebt der Dichter nicht seine Verse, die er in der Begeisterung geschrieben? Liebt der gefühlvolle, denkende Mensch nicht die unerreichbaren Sterne an dem herrlichen Abendhimmel? So will ich jene Jungfrau lieben. Sie sei mein Gemälde, mein Gedicht, mein Stern!“

Arnold schlug einen Fußweg in das Thal ein, und das verhängnißvolle Schloß verschwand hinter den Bäumen des Parks. Wie ein Träumender erreichte er einen Steg, der über einen Bach führte. Hohe Ulmen beschatteten das Bett des rieselnden Wassers, das ihn an Vorsicht mahnte. Schon hatte er den Fuß auf das schwankende Brett gesetzt, als er jenseits zwei Damen erblickte, die im Begriffe standen, denselben Pfad zu überschreiten. Wer beschreibt seine Bestürzung, als er die Bewohnerinnen des Schlosses erkannte! Rasch trat er zurück, und zog ehrerbietig den Hut.

„Deine Hand, Cäcilie!“ sagte die Mutter, als sie sah, daß der Fremde Platz machte.

„Ist das der Steg wieder, den wir vorhin überschritten?“ fragte Cäcilien’s Engelsstimme.

„Ja, mein Kind! Vorsicht, er schwankt!“

Der verwirrte Arnold, der seiner Sinne kaum mächtig am Ufer stand, hielt es für Aengstlichkeit, daß die Tochter sich von der Mutter führen ließ. Langsam kamen die Damen heran, und ihm blieb Zeit, sein Ideal in der Nähe zu betrachten. Cäcilie trug heute ein blaues Florkleid mit weißen Spitzen. Wie reizend stand diese Farbe dem wunderbar geformten Körper! Aber noch tausendmal reizender erschien ihm das zarte, matt geröthete Gesicht unter dem großen weißen Strohhute mit dem Kranze himmelblauer Kornblumen! Die Blicke auf den schwankenden Steg gerichtet, ging sie langsam an ihm vorüber. Wie eine Bildsäule stand er da; er vergaß zu grüßen, und als er wieder zur Besinnung kam, sah er Mutter und Tochter Arm in Arm hinter einem Wiesenbusche verschwinden. Um seinen Vorsatz war es geschehen; [608] die Liebe zu der schönen Sterblichen erwachte mit doppelter Gluth, und sie anzubeten wie eine Heilige, wie einen unerreichbaren Stern, erschien ihm eben so unmöglich, als eine Erwiederung seiner heftigen Neigung. Es war dies ein Augenblick, in dem Arnold an sich selbst verzweifelte. Der Name Cäcilie erklang ihm wie eine Sphärenmusik, und so auch konnte sie nur genannt werden, die eine Meisterin der Töne war. Welch ein Contrast lag zwischen der poetischen Erscheinung Cäcilien’s, und jener der prosaischen Concordia’s, die man ihm zur Gattin bestimmt hatte. Der arme Kandidat lehnte sich auf das Geländer des Stegs und starrte in die murmelnden Wellen hinab. Tausend Gedanken durchkreuzten seinen Kopf, der wie im Fieber brannte. So mußte er lange zugebracht haben, denn plötzlich redete ihn die Stimme des Onkels an, der zu Fuß auf einem Nebenwege von dem Nachbardorfe zurückkehrte.

„Ich erwartete Sie!“ sagte er verwirrt.

Der Pfarrer sah ihn lächelnd an.

„Woran dachtest Du, Arnold?“ fragte er.

„An meine Zukunft, an mein Schicksal, an die Schicksale der Menschen überhaupt, die von dem blinden Glücke nicht begünstigt sind.“

„Und was fehlt Dir, Arnold? Ist Deine Zukunft nicht gesichert?“

„Es giebt Dinge, mein bester Onkel, über die weder Reichthum, fester Wille, Herzensgüte, noch sonst eine menschliche Macht verfügen kann.“

„Zweifelst Du an einer Gegenneigung Concordia’s?“

Arnold konnte sich eines schmerzlichen Lächelns nicht erwehren.

„Ueberlassen wir es der Zeit,“ sagte er, um den guten Pastor nicht zu kränken. „Das Glück der Tochter meines Wohlthäters darf nicht von Entschlüssen abhängig gemacht werden, die der Augenblick geboren hat.“

„Er hat Recht,“ dachte der Greis. „Aber mein Kind wird ihn schon lieben und achten, wenn sie ihn kennen gelernt hat.“

Man trat den Rückweg nach dem Dorfe an. Die Nachricht von dem raschen Tode des wackern Landmanns, dem der Pfarrer die letzten Tröstungen der Religion ertheilt hatte, erregte in dem Pfarrhause eine trübe Stimmung. Mutter und Tochter weinten, während der Pfarrer seinem einsilbigen Neffen die Vorzüge des Gestorbenen schilderte und ihn als einen Mann bezeichnete, der seinem Herzen nahe stehe. Dieser Umstand lenkte die Aufmerksamkeit von der Familienangelegenheit ab, und während der Onkel die Grabrede studirte, bereitete der Neffe seine Abreise vor. Concordia bewies dem Gaste die schuldige Aufmerksamkeit, sie war selbst heiter und suchte ihn nach Kräften zu unterhalten. So verflossen zwei Tage. Weder von dem Schlosse noch von der Heirathsangelegenheit war ferner die Rede.

Am Morgen des Begräbnißtages trat Arnold in das Zimmer des Pfarrers.

„In einer Stunde reise ich,“ sagte er.

„Und was ist das Resultat Deines Besuchs?“

„Concordia hat mir einen Brief versprochen.“

„Und Du?“

„Ich werde nicht verfehlen, die Antwort zu senden.“

„So reise mit Gott, Arnold, und vergiß nicht, daß Dein Onkel auf Dich zählt! Aber auch Du magst auf mich zählen, was immerhin kommen möge.“

Der Greis küßte die Stirn des jungen Mannes.

Beim Abschiede zeigte sich Concordia gerührt. Der Vater hielt diese Rührung für ein Zeichen der aufkeimenden Neigung; die Mutter aber wußte, daß sie nur dem Schicksale des Vetters galt, denn Concordia – obgleich eine Pfarrerstochter, so war sie doch eitel – Concordia glaubte sich von dem Kandidaten geliebt und deutete in diesem Sinne sein stilles, verschlossenes Wesen.

„Er bekommt die Pfarre!“ rief sie der Mutter zu, als Arnold den Wagen bestieg, der ihn zu der nächsten Posthalterei bringen sollte.

Der Kandidat grüßte noch einmal, und der Wagen fuhr davon. Arnold hielt es für ein Glück, daß der Weg nicht an dem Schlosse vorbeiführte, aber trotzdem sah er unverwandten Blicks nach der Gegend, in der es lag. Eine magnetische Kraft hielt sein Auge an diesen Punkt gefesselt. Plötzlich fuhr der Wagen über eine Anhöhe, und der Kandidat übersah das ganze Thal. Da lag das romantische Schloß mit seinen Thürmchen, da ragte das in der Morgensonne schimmernde Schieferdach über die Baumwipfel empor, dasselbe Dach, das den Gegenstand seiner Anbetung barg. Wie arm, wie verlassen dünkte er sich, als der kahle Hügel ihm plötzlich die Aussicht versperrte. Ihm war, als ob er zu einem freudenlosen, elenden Leben verdammt sei, als ob sein ganzes Glück in dem Thale zurückbleibe. Wohl schalt er sich einen Thoren, lächelte er über seine Schwachheit; aber weder die Zerstreuungen der Reise noch der Verstand konnten eine Aenderung seiner Gemüthsstimmung herbeiführen. Nach zwei Tagen erreichte er die Residenz. Eifrig gab er sich der mühseligen Beschäftigung des Unterrichtertheilens bin, er suchte, aber er fand keine Heilung von den geheimen Qualen seines Herzens. So überließ er sich mit ganzer Seele dem Entzücken der rührendsten, tiefsten Leidenschaft, einer rein bewundernden Liebe. Die Erinnerung an Cäcilie hatte für ihn etwas unaussprechlich Heiliges, Geweihtes, er sah mehr als das Weib in ihr, sie war ein ideales Wesen, zu dem er betete.

[617]
IV.

Der Sommer war fast vorüber, und noch immer zeigte sich an der armen Cäcilie keine heilsame Veränderung; es schien vielmehr, als ob die Einsamkeit ihre schwärmerische Liebe vermehrte. Die Harfe, ihr Lieblingsinstrument, das sie mit meisterhafter Fertigkeit spielte, ergriff sie nur, um ihre Leiden und ihre Schwermuth in Tönen wiederzugeben. Das Herz der jungen Blinden barg unzählige unterdrückte Wünsche, so unbestimmte, so flüchtige, so unmerkliche Nüancen der Leidenschaft, daß man sie kaum mit dem Dufte der Blumen vergleichen kann, mit dem Gewölke, den Lichtstrahlen, den Schatten, mit Allem, was in der Natur einen Augenblick glänzt und verschwindet, sich wieder belebt und stirbt, indem es tiefe Bewegungen in der Seele zurückläßt. Wie das Auge eine schöne Gestalt erfaßt und dem Herzen einprägt, das das Bedürfniß nach Eindrücken empfindet, so erfaßte Cäcilien’s Ohr den Zauber der Stimme, um die in ihrer Brust erwachte Sehnsucht daran zu sättigen. Ihre Schwingungen, deren Reiz und Ursprung in der Seele selbst liegen, wirken doppelt auf das Herz eines armen blinden Wesens, und bei Cäcilie, der aufblühenden Jungfrau, hatte die Stimme des begeisterten Predigers so klare Gedanken erweckt, daß sie die Auflösung des ganzen Lebens bewirkte. Lange hatte Cäcilie ihre geistige Liebe bewahrt und in jenen ersten unendlichen, so furchtbaren Wonnen geseufzt, bis endlich die Hoffnungslosigkeit, diese Gefährtin unerwiederter Liebe, eine stille Melancholie erzeugte, welche die zärtliche Mutter mit Besorgniß erfüllte. Sie sah ihr Kind unter den Qualen einer so ausschließlichen Leidenschaft langsam dahinwelken. Es gab keinen Balsam für diese brennende [618] Wunde, und selbst die Trostsprüche der Religion vermochten nicht eine Linderung herbeizuführen.

Cäcilie hatte seit einiger Zeit den Gedanken angeregt, den Winter wieder in der Stadt zuzubringen, denn sie gab sich der unsichern Hoffnung hin, jene Stimme noch einmal zu hören, die ihre Seele so mächtig erschüttert hatte. Wie ein Kind, das sich auf die Geschenke freut, so berechnete Cäcilie die Wochen und Monate bis zum Weihnachtsfeste. Es war zu einer fixen Idee bei ihr geworden, daß der junge Prediger die Christrede wieder halten würde.

Der Pastor Braun, den man der Hofräthin B. schon in der Residenz empfohlen hatte, stattete der armen Mutter oft Besuche ab. Die Blinde schien Gefallen an den Unterhaltungen des lebhaften, gutmüthigen Greises zu finden, und so oft er kam, empfing sie ihn mit einer schmerzlichen Freude.

Es war in den ersten Tagen des November, als der Pfarrer auf das Schloß beschieden ward. Die Hofräthin empfing ihn allein in einem Zimmer.

„Herr Pastor,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „Sie haben bis jetzt die traurige Gemüthsstimmung meines Kindes gekannt, aber der Grund derselben ist Ihnen unbekannt geblieben, weil ich Cäcilien versprochen hatte, ihn gegen jedermann zu verschweigen. Ich kann dieses Versprechen nicht mehr halten, ich muß mich Ihnen ganz entdecken, denn Geist und Körper meiner blinden Tochter scheinen gleich zu leiden.“

„Das wolle Gott verhüten!“ sagte theilnehmend der Pfarrer.

„Der Himmel hat mich mit Glücksgütern reich gesegnet, aber das Glück einer Mutter hat er mir versagt. Cäcilie liebt Sie wie ihren Vater, und ich vertraue Ihnen wie meinem langjährigen Seelsorger – Sie müssen Alles wissen, damit wir berathen können.“

Die Hofräthin erzählte ihm nun die Mittheilungen, die ihr Cäcilie gemacht.

„Was ist zu thun?“ fragte sie dann.

„Cäcilie besitzt Geist und Verstand – ehe wir andere, unsichere Mittel ergreifen, müssen wir das einleuchtender Ueberredung anwenden.“

„Alle meine Versuche sind fruchtlos geblieben.“

„Meine Worte, die Worte eines greisen Predigers, werden in einem so zarten Gemüthe wie dem Ihrer Tochter nicht ohne Anklang bleiben. Gestatten Sie mir, daß ich Fräulein Cäcilie allein spreche. Sie mag mich als ihren Beichtvater, als ihren Seelsorger betrachten.“

Die Hofräthin führte den Pfarrer durch ein angrenzendes Gemach, dann öffnete sie leise die Thür eines kleinen Saales. Beide blieben auf der Schwelle stehen. Die scheidende Herbstsonne warf einen bleichen Schein durch die mit reichen Vorhängen geschmückten Fenster. Cäcilie, in schwarze Seide gekleidet, saß in der Mitte des mild erwärmten Saales, ihr Arm lag auf der vor ihr stehenden glänzenden Pedalharfe, und das Haupt ruhte, als ob sie schliefe, auf dem Arme. Den Augen der Mutter entrollten Thränen bei diesem Anblicke, und auch der Pfarrer konnte sich einer schmerzlichen Rührung nicht erwehren, obgleich er durch einen Wink zur Fassung ermahnte. Die Blinde verblieb einige Augenblicke in ihrer Lage, dann hob sie langsam den Kopf empor und wandte ihr reizendes Gesicht nach dem Orte zu, von wo sie das Geräusch der Eintretenden gehört hatte. Der Pfarrer, der die Blinde seit einiger Zeit nicht gesehen hatte, machte die schmerzliche Bemerkung, daß ihre Züge bleicher waren als sonst, und daß die großen von einem Kranze langer Wimpern umgebenen Augen ein feuchter Glanz erfüllte.

„Bist Du es, Mutter?“ fragte sie leise.

„Ich bin es, mein liebes Fränlein,“ antwortete in freundlichem Tone Pastor Braun.

„Sie, Herr Pastor?“ flüsterte sie verwundert.

„Sonst erkannten Sie meine Schritte, noch ehe ich eintrat –“

„Ach, Verzeihung,“ sagte sie verwirrt und indem sie sich erhob – „die Einsamkeit des Zimmers hatte mich in einen so lebhaften Traum versenkt –“

„Daß Sie die Wirklichkeit darüber vergaßen!“ fuhr rasch der Pastor fort, indem er der Blinden entgegentrat, die ihm ihre beiden Lilienhände zum Gruße bot.

„Was ist die Wirklichkeit für mich, für eine Blinde?“ sagte sie seufzend.

„Cäcilie!“ rief im Tone sanften Vorwurfs der Pfarrer.

Ein leichter Schrecken durchzitterte die zarten Glieder Cäcilien’s und ihre Hände, die in denen des Pfarrers ruhten, begannen leise zu beben.

„Ihre Wirklichkeit, mein Kind, ist leider nur eine sehr beschränkte, aber es bewegt sich ein Wesen in ihr, dessen Lebensaufgabe Ihr Glück ist,“ fuhr ruhig mahnend der Pfarrer fort.

„Mein Gott, zeihen Sie mich nicht der Undankbarkeit!“ flüsterte sie bewegt. „Meine gute Mutter ist mir ja Alles!“

Pastor Braun führte die Blinde zu dem Sopha, dann ließ er sich neben ihr nieder. Indem er sanft ihre Hände drückte, begann er:

„Cäcilie, betrachten Sie mich als Ihren Vater, und erlauben Sie mir, daß ich zu Ihnen wie zu meiner Tochter rede. Gestatten Sie mir, daß ich mich in den engen Kreis Ihrer Wirklichkeit dränge, daß ich an die Seite Ihrer verehrten Mutter trete und die Schatten aufhellen helfe, die das Gebiet Ihrer Träume überschreiten und das schwache Licht Ihrer Wirklichkeit zu erlöschen drohen.“

Wie eine Marmorgestalt, von der Hand eines Meisters geformt, saß Cäcilie da. Unter den langen gesenkten Augenwimpern quollen heiße Thränen hervor, die still über die bleichen Wangen rannen. Die feinen erbleichenden Lippen bewegte ein kaum merkliches Zucken. Der Pfarrer beobachtete ruhig den Eindruck, den seine Worte auf die blinde Jungfrau ausgeübt hatten.

„Gestatten Sie es mir?“ fragte er nach einer Pause.

„Sie kennen mein Geheimniß!“ flüsterte sie, ohne aufzusehen.

„Ich kenne es, Cäcilie, denn Ihre Mutter hat meinen Beistand angerufen, den Beistand eines Seelsorgers.“

„Meine arme, arme Mutter!“ rief sie, in lautes Schluchzen ausbrechend. „Sie theilt meine Leiden, und ich vermag so wenig, sie zu bekämpfen.“

„O, Sie vermögen viel!“ rief der Greis mit mahnender Stimme. „Fragen Sie Ihren Verstand, den die Liebe Ihrer Mutter so schön gebildet hat; fragen Sie Ihr Herz, das die Mutter ehrt und liebt, und wenn dann –“

„Um Gottes Willen, nicht weiter!“ rief hastig Cäcilie und indem sie mit ihren blinden Augen den Greis anstarrte. „Sie führen mich in eine Welt zurück, die ich zittere zu betreten. Mein Gott, wie ich leide!“ schluchzte sie in einem unbeschreiblichen Tone und indem sie die Hände auf den wogenden Busen preßte, als ob sie einen plötzlich entstandenen Schmerz unterdrücken wollte.

„Cäcilie,“ sagte mild der Pastor und ergriffen von dem Anblicke der weinenden Blinden, „Cäcilie, ich bin nicht gekommen, Ihnen Vorwürfe zu machen, sondern mit Ihnen über den Gegenstand zu berathen, der Ihnen so großen Kummer macht.“

Sie hob rasch das in Thränen gebadete Gesicht empor und horchte auf.

„Sie sind ein Prediger, lieber Herr,“ flüsterte sie und ein hoffnungsfrohes Lächeln belebte, das bleiche Antlitz. „Sie verkündigen Gottes Wort wie er – kennen Sie ihn? Kennen Sie den Mann, dessen Stimme alle Saiten meines Herzens bewegte, daß sie immer forterklingen? Wenn Sie ihn kennen, müssen Sie wissen, wie schön seine Stimme ist, die aus einer erleuchteten edeln Brust kommt. Dann müßten Sie ihn lieben, wie ich ihn liebe!“ fügte sie schwärmerisch hinzu und ihr Gesicht verklärte sich. „Noch leben alle seine Worte in meinem Gedächtnisse, denn ich habe sie mir tausendmal wiederholt – ach, und ich mußte sie mir ja wiederholen, ein seltsamer Trieb zwang mich dazu. Eine ewige Nacht herrscht um mich her, ich sehe die Menschen nicht, ich höre sie nur – aber ihn glaube ich zu sehen, wenn die Stimme erklingt – mit den Worten bildet sich ein Begriff von seiner Gestalt. Dann lächelt er mich mitleidig an, und ich muß mir selbst sagen, daß er nur Mitleiden mit mir empfinden kann, denn wer wird ein blindes Mädchen lieben? O, könnte ich sehen!“ seufzte sie in einem herzerschütternden Tone. „Nicht um seine Gestalt zu erblicken, denn ich liebe ja seine Stimme und seinen Geist, die sich darin ausspricht – ach, nur deshalb, daß ich kein blindes Mädchen wäre.“

„So hoffen Sie auf seine Gegenliebe?“ fragte mild der Pastor.

„Ach, wenn das wäre!“ flüsterte Cäcilie mit einem Entzücken, das die ganze verderbliche Tiefe ihrer Leidenschaft verrieth. „Wenn er mich wiederliebte!“ fuhr sie fort, als ob sich ihr Geist verirrte. [619] „Mutter hat mir gesagt, ich sei schön – ach, könnte ich mich doch überzeugen – sie hat mich nur trösten wollen - -“

„Cäcilie! Mein liebes Kind!“ sagte der Pfarrer, um ihren Ideengang zu unterbrechen, denn er sah die weinende Mutter in dem angrenzenden Gemache, dessen Thür geöffnet war.

Die Blinde schrack zusammen wie eine Nachtwandlerin, die zur Wirklichkeit erwacht.

„Mein Kind, setzen Sie andere Gründe voraus, die eine Annäherung an den Prediger unmöglich machen.“

„Welche?“ fragte sie in furchtbarer Spannung.

„Wenn ihn nun schon Bande der Liebe an eine Gattin, an eine Familie fesselten?“

„Das habe ich nicht bedacht!“ flüsterte sie erbleichend.

„Cäcilie, Gott hat in jedes Menschen Brust die Kraft gelegt, die aufkeimenden Triebe, wenn sie dem Verstande nicht entsprechen, zu unterdrücken. Und wahrlich, es bedarf nur des festen Willens, und der Mensch ist Herr seiner Gefühle.“

„Des festen Willens!“ wiederholte sie mit einer schmerzlichen Bewegung des Hauptes. „Gott weiß, daß ich mit aller meiner Kraft gekämpft habe; aber sie scheiterte mit dem festen Willen an der Gewalt des Gedankens, der mein ganzes Wesen allmächtig beherrschte. Und ich lebe und erfasse die Welt mit dem Gedanken, denn er ist mir, was den glücklichen Menschen das Licht. Ach ja, es gab eine Zeit, wo auch ich glücklich war, die Musik entzückte mich, und kein anderer Wunsch, kein Verlangen regte sich in meiner Seele. Ich glaubte allen Zauber der Empfindungen zu kennen, deren eine menschliche Brust fähig ist. Das war die Zeit meiner ersten Jugend. Doch bald empfand ich eine unbestimmte Sehnsucht, ein hoffendes Verlangen, und die Ahnung eines noch größeren Glückes ward in mir rege. Wie ein süßes Geheimniß, das man nicht zu enthüllen wagt, um den Reiz desselben nicht zu zerstören, lag dieses Glück vor dem Auge meines Geistes. Ich glaubte es zu erfassen; aber dennoch war es ein wunderbares, unauflösliches Räthsel. Da hörte ich die Stimme des Predigers, ein neues Licht entzündete sich in meiner Nacht, und die Lösung war gefunden. Ich empfand ein anderes, zuvor nie gekanntes Glück – aber ein schmerzliches, leidvolles Glück, das sich mit allen seinen Leiden und Freuden vergrößerte, jemehr ich mich seinem Einflüsse zu entziehen suchte.“

„Und dennoch komme ich auf den festen Willen zurück,“ sagte ernst der Pfarrer.

„Zweifeln Sie immer noch daran?“

„Nein! Ihre Phantasie, mein Fräulein, absorbirt die Realität. Tragen Sie Sorge, daß ein umgekehrtes Verhältniß eintritt. Nehmen Sie fest an, der Gegenstand Ihrer Neigung ist für Sie verloren – betrachten Sie die Christnacht als einen Traum, der nichts als eine schöne Erinnerung zurückgelassen hat. Mütterliche Liebe und Freundschaft werden Ihnen die Hand bieten, ein neues Leben zu schaffen.“

Der gute Pastor wollte noch weiter reden, aber er schwieg, als er sah, daß plötzlich eine Leichenblässe Cäcilien’s Gesicht überzog. Wie leblos sanken ihre Hände in den Schooß, und mit bebender, kaum vernehmbarer Stimme flüsterte sie:

„Verloren! Verloren!“

„Cäcilie!“ rief die Mutter, die aufmerksam gelauscht hatte, und nun erschreckt in das Zimmer eilte. „Zu Hülfe, meinem Kinde, meinem armen Kinde zu Hülfe!“

Sie fing die ohnmächtige Tochter in ihren Armen auf. Die Hoffnung, welche die Hofräthin in mütterlicher Verblendung genährt, hatte der Pfarrer, um ein kräftiges Heilmittel anzuwenden, zerstört. Mit Entsetzen sah der Greis die Wirkung seines gutgemeinten Verfahrens.

Nach einer Minute, die den ängstlich Harrenden eine Ewigkeit erschien, schlug Cäcilie langsam die Augen auf.

„Mutter,“ flüsterte sie wie im Traume, „der heilige Weihnachtsabend ist gekommen – klingen von dort herüber nicht die Töne der jubelnden Hymne? Sind das nicht die frohen Stimmen der Kinder, die jauchzend um den strahlenden Christbaum tanzen? Alle Welt freut sich – Mutter, führe mich zur Kirche, daß sich auch Deine blinde Tochter freuen kann! Führe mich, Mutter – ich komme zu spät – der Prediger verläßt die Kanzel! O laß mich seine Stimme hören,“ bat sie in rührenden Tönen, „denn es ist ja Weihnacht, und die arme Blinde will ja auch eine Freude haben! Ich habe viel, viel gelitten – ich habe mich lange nach dem Christabende gesehnt – führe mich, Mutter, dann will ich beten und – wieder dulden!“

„Fasse Dich, mein Kind!“ erinnerte die Mutter, der vor Schmerz das Herz zerspringen wollte.

„Ich kann es, Mutter,“ sagte sie mit einem trübseligen, unheimlichen Lächeln. „Ich kann und will es! Ist es mir gestattet, mit ihm das Christfest zu begehen, so ist er nicht für mich verloren!“

Ein heftiges Zittern bemächtigte sich des zarten Körpers. Dann bebte sie, wie von einem jähen Krampfe durchzuckt, zusammen, und ihr Gesicht nahm den Ausdruck der Bestürzung an.

„Bist Du es, Mutter?“ fragte sie, indem sie die Hofräthin hastig mit den Händen betastete.“

„Deine Mutter ist bei Dir, Cäcilie!“

„Dann hast Du mich wohl belauscht? O glaube meinen Worten nicht,“ rief sie ängstlich „jener lebhafte Traum hatte sich meiner bemächtigt, der mich unablässig verfolgt, sobald ich allein bin. Aber sei getrost, Mutter, es wird noch Alles gut werden! Meinem festen Willen soll es gelingen, den Traum zu bekämpfen.“

„Der Herr Pfarrer, mein Kind –“

„Wo ist er?“ Sie streckte die Hand aus, die der Pastor ergriff. „Ich sehe Sie wieder,“ fuhr sie ängstlich fort. „Dann werden Sie mich heiterer sehen –“

„Verzeihung, Fräulein Cäcilie,“ stammelte der bestürzte Greis.

„Ich bin krank, Mutter – ein leichtes Frösteln durchbebt mich. Aber beruhige Dich – es ist nichts – morgen bin ich wieder hergestellt.“

Eine Glocke rief die Kammerfrau herbei. Man brachte die Blinde zu Bette und schickte nach dem Arzte, der zufällig in dem Dorfe wohnte, ein geschickter, erfahrener Mann und langjähriger Freund des Pfarres. Er kam und traf seine Verordnungen. Er tröstete die Mutter und versprach später noch einmal wiederzukommen. „Vielleicht ist eine heilsame Krisis eingetreten,“ fügte er tröstend hinzu.

Die beiden Männer verließen das Schloß. Pastor Braun hielt es für Pflicht, dem Arzte die erforderlichen Mittheilungen zu machen.

„Ich habe gleich ein moralisches Leiden erkannt,“ meinte der Doctor. „Aber es muß tief Wurzel gefaßt haben, daß es den Körper so erschüttern konnte. Bildet sich diesmal kein nervöses Fieber aus, so fürchte ich eine langwierige, schleichende Krankheit, die langsam und sicher zerstört, wenn der Grund des Leidens nicht zeitig beseitigt wird.“

„Auch mir ist das klar geworden,“ meinte der Pfarrer. „Die Blinde ist jung, schön und reich – mit diesen drei Mitteln hoffe ich zum Ziele zu gelangen, wenn nicht geradezu eine Unmöglichkeit vorliegt. Sorgen Sie für den Körper, ich werde für das Gemüth sorgen.“

Die beiden Freunde trennten sich. Der Pastor fürchtete für den Verstand der jungen Blinden, obgleich er sich darüber nicht aussprach, und nachdem, was er erlebt, hatte er auch in der That Grund dazu. Indem er noch einmal Alles überdachte, was Cäcilie gethan und gesprochen, hielt er es selbst nicht für unwahrscheinlich, daß sich bei ihr bereits ein gewisser Grad von Monomanie ausgebildet habe.

„Und wenn ich nun wirklich den Prediger ermittele,“ fragte er sich, „wenn er wirklich noch unverheirathet ist – wird er sein Leben an das eines blinden und dabei des Verstandes nicht mächtigen Mädchens fesseln? Kann er das arme Mädchen lieben? Er muß entweder ein armer Mensch sein, der durch die Heirath seine Zukunft zu sichern gezwungen ist, oder ein Spekulant, der mit dem Vermögen der Hofräthin ein Geschäft zu machen gedenkt. In beiden Fällen ist Cäcilie zu beklagen. Die Klugheit gebietet, daß ich mit der größten Vorsicht zu Werke gehe. Niemand darf ahnen, warum ich nach dem Prediger forsche; auch er selbst darf nichts wissen, bevor ich nicht Näheres über seinen Charakter und seine Lage weiß. Die Angelegenheit ist sehr delicat, ich habe eine schwierige Aufgabe zu lösen.“

„Vater,“ rief Concordia, als der Greis in sein Zimmer trat, „es ist ein Brief vom Vetter Arnold angekommen!“

„An wen ist er gerichtet?“

„An mich!“ sagte stolz das junge Mädchen.

„Dann darf ich ihn wohl nicht lesen?“ fragte der Pfarrer, der eine Correspondance der Zärtlichkeit voraussetzte.

[620] „Ich hoffe, Du wirst meine kleinen Geheimnisse ehren!“

„Geheimnisse des Herzens – gewiß! Aber so viel darf ich wohl erfahren, ob Du mit dem Inhalte des Briefes zufrieden bist?“

„Väterchen,“ sagte Concordia mit strahlenden Blicken, „Vetter Arnold ist ein guter und dabei sehr verständiger Mensch, den ich hoch schätze, obgleich ich ihn nur kurze Zeit kennen gelernt habe. Sein Brief ist so schön, daß er mich mit unbeschreiblicher Freude erfüllt hat. Noch heute werde ich ihm die Antwort schreiben und ihn einladen, daß er das Weihnachtsfest bei uns feiert.“

Pastor Braun hielt nichts für gewisser, als daß die beiden jungen Leute sich gegenseitig erklärt hätten. Er glaubte seinen Lieblingswunsch in Erfüllung gehen zu sehen.

„Dann, mein Kind, wünschest Du auch wohl,“ fragte er fröhlich, „daß unsere Gemeinde den zukünftigen Pfarrer kennen lerne?“

„Je eher, je lieber, da Du doch einmal den Vetter zu Deinem Nachfolger vorschlagen willst.“

„Gut; so schreibe ihm, daß er sich vorbereite, in der Christmesse die erste Predigt bei uns zu halten. Ich halte das für die beste Gelegenheit, einen neuen Prediger einzuführen; die Gemeinde ist feierlich gestimmt und der Redner hat ein dankbares Thema. Auch ich werde Deinem Briefe einige Zeilen beifügen.“

Vater und Tochter waren denselben Abend mit Schreiben beschäftigt. Am nächsten Morgen wurden beide Briefe in ein Couvert geschlossen und abgesendet.

„Ein Versprechen fordere ich von Dir, lieber Vater!“ sagte Concordia, als der Bote mit dem Briefe sich entfernt hatte.

„Was willst Du, mein Kind?“

„Du versprichst mir, bei keinem andern zu wohnen, als bei mir und Deinem zukünftigen Schwiegersohne. Die Mutter ist bereits damit einverstanden.“

„Thörichtes Mädchen, wohin sollte ich mich denn sonst wenden?“

„Gleichviel, ich fordere das Versprechen!“ rief sie schelmisch.

„Gut, ich gebe Dir es hiermit!“

Concordia flog dem Vater an den Hals und bedeckte seine Wange mit Küssen.

„Sie ist glücklich,“ dachte der Greis, „könnte es doch auch die arme Cäcilie sein.“

Um Mittag ging Pastor Braun nach dem Schlosse. Wie der Arzt befürchtet, hatte sich Cäcilien’s ein Fieber bemächtigt, das einen gefährlichen Charakter anzunehmen drohte. Die Kranke hatte die ganze Nacht in Fieberphantasien verbracht. Der gute Pfarrer mußte die ganze Kraft seines geistlichen Zuspruchs aufbieten, um die der Verzweiflung nahe Mutter zu trösten. Sie klagte sich selbst der Schuld des Unglücks der geliebten Tochter an, und vorzüglich deshalb, da sie aus zu großer Nachgiebigkeit die unsichere Hoffnung in Cäcilien genährt habe, eine Vereinigung mit dem Gegenstande ihrer Leidenschaft herbeizuführen. Wir unternehmen es nicht, die Angst und Bekümmerniß der Hofräthin zu schildern, mit der sie während der nächsten vierzehn Tage an dem Krankenbette der Tochter wachte. Nur dann erst, als der Arzt die Gefahr für beseitigt erklärte, gab sie sich neuer Hoffnung und einiger Ruhe hin. Cäcilien’s jugendliche Kraft hatte der Krankheit getrotzt, und die Krisis war überstanden. Es schien selbst, als ob mit der nun eintretenden Genesung Ruhe und Friede in das Gemüth des jungen Mädchens zurückkehrten. Sie empfing den Pastor freundlich und bat ihn, oft seine Besuche zu wiederholen.

Am funfzehnten Tage konnte Cäcilie das Bett verlassen. Der Arzt rieth Zerstreuung und vorzüglich den Umgang mit einem heitern lebensfrohen Mädchen. Eine passendere als Concordia ließ sich dazu nicht finden. Der Vater bereitete die Tochter vor, und noch waren nicht acht Tage verflossen, als sich zwischen den beiden Mädchen ein erfreuliches Freundschaftsband gebildet hatte. Die Munterkeit Concordia’s übte einen so heilsamen Einfluß aus, daß sich Cäcilien’s Schwermuth in eine stille Melancholie verwandelte. Man sah es deutlich, daß die arme Blinde mit aller Kraft darnach strebte, auf die fröhlichen Unterhaltungen ihrer neuen Freundin einzugehen, und es war ein rührender Anblick, wenn sie über die Scherze des muntern Mädchens lächelte.

„Wie bedauere ich,“ sagte die Hofräthin zu dem Pfarrer, „daß ich mein Kind nur auf den Umgang mit mir beschränkt habe – es war eine zu ängstliche Vorsicht; vielleicht wäre Alles anders, wenn Cäcilie früher eine Freundin gehabt hätte.“

„Das Gute kommt nie zu spät!“ antwortete der Pastor. „Jetzt dürfen wir nicht mehr zagen. Die Heilung geht langsam, aber sicher von Statten, so daß nach meiner Ansicht die Hülfe aus der Residenz überflüssig erscheint, selbst wenn wir sie hätten erlangen können.“

„Haben Ihre Forschungen ein Resultat gehabt?“ fragte eifrig die Hofräthin.

„Ja. Gestern erhielt ich einen Brief von meinem Correspondenten, und ich theile Ihnen die betreffende Stelle mit. Hier ist sie.“

Der Pastor holte einen Brief hervor und las:

„Sie fordern, mein bester Onkel, Auskunft über den Prediger, der in dem Dome unserer Residenz die letzte Weihnachtspredigt gehalten hat. Kann ich mir auch Ihre Gründe nicht erklären, so will ich dennoch nach bestem Wissen und Gewissen die Fragen beantworten, die Sie in Bezug auf seine Person aufgeworfen haben. Obgleich der Kandidat, den Sie im Sinne haben, mein einziger und vertrautester Freund ist, so soll mich doch nichts abhalten, Ihnen unumwunden das Urtheil abzugeben, das ich mir über ihn gebildet habe. Sie erlassen mir die Nennung seines Namens, der Ihnen ohne Zweifel gleichgültig sein wird, wenn Sie mein Urtheil gelesen haben.“

„Mein Gott,“ flüsterte die Hofräthin, „die Einleitung klingt trostlos.“

„Ich fahre fort, Madame. „„Ueber die Identität unsers Mannes können wir nicht in Ungewißheit sein, da ich genau weiß, daß kein anderer in verflossener Christmesse auf der Kanzel gestanden hat. Dieser Kandidat also ist ein Mann, der eben so wenig für die Welt paßt, als die Welt für ihn. Er ist der widerlichste Egoist, der sich denken läßt. Man hält ihn für einen Mann von Fähigkeiten; ich halte ihn nicht dafür, er ist vielmehr ein so trockener Philosoph, daß man ihn höchstens im Interesse der Wissenschaft zu philosophischen Experimenten benützen kann. Sein Herz ist kalt und verschlossen, und wenn ihn nicht der leidige Eigennutz an meine Person fesselte, er würde mich kalt und verächtlich behandeln, wie Alles, was ihn umgiebt. Er ist ein Anachoret mitten in der großen, wogenden Gesellschaft, ein Sonderling, den man hassen muß, wenn man nicht über ihn lacht oder ihn bedauert. Hoffnungen für das Leben auf ihn zu bauen, wäre eben so thöricht, als eine Aenderung seines Wesens zu erwarten.““

Der Pfarrer schloß das Papier, indem er sagte:

„Mein Neffe, der Verfasser des Briefes, ist nicht allein ein scharfsichtiger, sondern auch ein redlicher und zuverlässiger Mann, so daß ich sein Urtheil für unumstößlich halte. Dem Himmel sei gedankt, Frau Hofräthin, die Kranke wird genesen, ohne daß wir nöthig haben, zu diesem seltsamen Menschen unsere Zuflucht zu nehmen.“

„Wohl muß es ein seltsamer Mensch sein,“ meinte die verwunderte Dame. „Ich habe seine Predigt gehört und muß bekennen, daß sie mich begeistert hat.“

„Man findet nicht selten, daß Männer von ausgezeichneten Geistesgaben dem geselligen Umgange völlig verschlossen sind. Man möchte glauben, daß die Natur den Geist auf Unkosten des Herzens bevorzugt hat. Ein solcher Fall scheint hier vorzuliegen.“

Die Hofräthin war zufrieden mit der Gestaltung der Verhältnisse, und als der Arzt erklärte, er könne der Genesenden eine Winterreise nicht gestatten, richtete sie sich für den steten Aufenthalt im Schlosse ein.

[629] Es war im Anfange des December, als der bisher so rüstige Pastor Braun zu kränkeln begann. Er besuchte das Schloß nicht mehr und der Küster mußte statt seiner den Gottesdienst abhalten. Obgleich der Arzt die Krankheit für nicht bedeutend erklärte und eine baldige Genesung in Aussicht stellte, so schrieb Concordia dennoch folgenden Brief an Vetter Arnold:

„Sie haben in Ihrem Briefe aus tausend Gründen die Bitte abgelehnt, in der Christmesse eine Gastpredigt abzuhalten – mein guter Vater ist plötzlich so krank geworden, daß er in diesem Jahre sein Amt nicht mehr versehen kann. Die benachbarten Pfarrer sind an dem hohen Festtage in ihrer eigenen Gemeinde beschäftigt, und den armen Vater betrübt es tief, daß er seinen Pfarrkindern gerade an dem heiligen Abende die Predigt vorenthalten muß. Im Angesichte solcher Dinge werden alle Gründe nichtig, und wenn Sie noch einige Liebe zu Ihrem Onkel empfinden, so machen Sie ihm die Freude, statt seiner die Christmesse abzuhalten. Uebrigens mache ich Ihnen die vertrauliche Mittheilung, daß der Vater für Sie ein reizendes Weihnachtsgeschenk bereit hält. Antworten Sie umgehend, um uns zu beruhigen.“

„Ich denke, das wird ihn bestimmen!“ sagte sie lächelnd, als sie den Brief siegelte. „Finde ich auch seine Weigerung erklärlich, so muß er dennoch kommen. Ich möchte gar zu gern, daß der gute Bursch gerade am Christfeste die Nachricht von der Pfarre erhält. Es thut mir leid, daß ich ihn nicht heirathen kann, denn sonst hätte ich ihm auch diese Weihnachtsfreude noch bereitet – aber kommen muß er, denn er darf nicht leer ausgehen. Wie anders soll ihn denn die Gemeinde kennen lernen? Und die Frau Hofräthin, die jetzt als Besitzerin des Schlosses das Patronat über die Stelle hat, muß doch auch wissen, wem sie die Pfarre giebt.“

Der Brief ging ab, und schon am fünften Tage traf die Antwort Arnold’s ein. Er schrieb, daß ihm die Pflicht der Dankbarkeit über alle Rücksichten ginge, und daß er zwei Tage vor Weihnachten eintreffen würde, um dem Onkel nach Kräften nützlich zu sein. Jubelnd theilte Concordia dem Vater diese Nachricht mit. Der gute Pastor, der die Alliance der Frauen nicht kannte, deutete diese Freude in seinem Sinne.

„Ich bereite Euch Allen eine Ueberraschung,“ flüsterte Concordia der Mutter zu; „wer wird mir eine bereiten?“

„Vielleicht scheitert einer Deiner Pläne –“

„Das wäre freilich eine unangenehme Ueberraschung, aber ich werde sie schon zu verhindern wissen.“

Pastor Braun bedauerte nichts mehr, als daß er verhindert war, die Hofräthin zu besuchen und den Fortschritt der Genesung Cäcilien’s zu beobachten. Eifrig befragte er nun Concordia, die fast täglich einige Stunden bei der Blinden zubrachte. Es war in der Mitte des December, als sie auf Befragen berichtete:

„Das junge Fräulein ist mir eine merkwürdige Erscheinung, ich weiß nicht recht klug aus ihr zu werden. Es gelingt mir stets, sie in eine heitere Stimmung zu versetzen, aber plötzlich wird sie wieder trüb und einsilbig, und dann bittet sie mich jedesmal, sie zu der kleinen Orgel in der Kapelle zu führen. Mir bleibt dann nichts weiter, als die Balgentreterin zu machen. Aber das muß ich bekennen, das blinde Fräulein spielt meisterhaft, viel besser als unser Schulmeister. Wenn sie eine Viertelstunde gespielt hat, so hört sie plötzlich auf, und komme ich zu ihr, so sitzt sie starr wie eine Bildsäule vor der Claviatur, und die hellen Thränen rollen ihr über die Wangen. Nun führe ich sie in das Zimmer zurück, wo sie so lange sich dem Eindrucke der Musik überläßt, bis die Frau Hofräthin kommt, vor der sie ihre seltsame Gemüthsstimmung zu verbergen sucht. Es ist doch ein großes Elend, zeitlebens in Finsterniß wandeln zu müssen.“

„Es ist bereits Alles versucht, mein Kind,“ antwortete der Pfarrer. „Hier scheitert die Kunst der Aerzte.“

„Das ist auch wahrscheinlich der Kummer des guten Mädchens,“ meinte Concordia.

Der Pastor kannte zwar den Grund besser, aber er verschwieg ihn. Denselben Nachmittag fuhr ein Wagen vor die Thür der Pfarre – die Hofräthin und Cäcilie kamen, um dem Greise, der das Zimmer nicht verlassen durfte, einen Besuch abzustatten. Jubelnd führte Concordia die Gäste in das Haus. Das blinde Fräulein hatte zum ersten Male nach der Krankheit das Schloß verlassen, und ihr erster Besuch sollte der Freundin gelten.


V.

Acht Tage vor dem Christfeste befanden sich die beiden jungen Mädchen allein in einem Zimmer des Schlosses. Ein heftiger Nordost hatte sich aufgemacht, und peitschte den Schnee prasselnd an die Fenster.

„Was ist das?“ fragte Cäcilie, die ihre Harfe vor sich hatte und im Begriffe war, der Freundin ein neu erfundenes Musikstück vorzutragen.

„Das ist der Boreas, der die Falten des Wintermantels ausbreitet, wie Vater zu sagen pflegt,“ antwortete Concordia. „Wenn der rauhe Mann so fort arbeitet, hat er morgen sein Werk [630] vollendet – die ganze Erde ist dann mit einer weißen Decke überzogen. Hu, wie das treibt und wirbelt! Es ist kaum drei Uhr Nachmittags, und schon hat sich die Dämmerung eingestellt. Mag sein; wenn das liebe Weihnachtsfest kommt, dürfen Schnee und Frost nicht fehlen. Heute über acht Tage ist der heilige Abend.“

„Ich weiß es!“ sagte die Blinde. „Ach,“ fügte sie seufzend hinzu, „das Weihnachtsfest ist doch das schönste Fest im Jahre.“

„Und diesmal wird es in unserer Familie doppelt schön sein. Ich habe meinem Papa eine Ueberraschung vorbereitet, an die er sicher nicht denkt.“

„Könnte auch ich dem würdigen Manne eine Freude machen!“

„Sie können es, Cäcilie.“

„Aber wie?“

„O, es ist sehr leicht für Sie, wenn Sie nur meinem Rathe folgen wollen. Zugleich bereiten Sie auch Ihrer Mutter eine Ueberraschung, die sie unendlich glücklich machen wird. Darf ich Ihnen meinen Rath ertheilen?“

„Ich bitte darum.“

„Gut,“ sagte lebhaft Concordia, indem sie die Harfe bei Seite setzte und sich dann auf einem Kissen zu den Füßen der Blinden niederließ. „Sie sind von diesem Augenblicke an eben so vergnügt als ich, besuchen mit mir die Christmesse, die um sechs Uhr beginnt, und bleiben den Rest des Abends in unserm Hause, wo es recht heiter hergehen wird, ich habe dafür gesorgt. Sehen Sie, Cäcilie, darüber freut sich nicht nur mein Vater, sondern auch Ihre Mutter. Wollen Sie auf meinen Vorschlag eingehen?“

„Gewiß!“ sagte Cäcilie hastig. „Wir besuchen zusammen die Christmesse.“

„Und bei uns dürfen Sie auch nicht fehlen, denn Sie müssen meinen Bräutigam kennen lernen, den ich mir heimlich ausgesucht habe und nun meinem Vater zum Christfeste bescheeren werde.“

„Wer ist denn Ihr Bräutigam?“ fragte Cäcilie mit gewaltsam angeeigneter Ruhe.

„Nun, der Freundin darf ich mich wohl anvertrauen, sie wird nicht plaudern. Mein Bräutigam ist Karl, der Sohn des Amtmanns aus dem benachbarten G., das heißt des vor zwei Jahren verstorbenen Amtmanns, eines guten Freundes meines Vaters. Als der Amtmann starb, war Karl noch minderjährig, und nach der Bestimmung des Verstorbenen sollte die Stiefmutter, ein wahrer Drache, das schöne, reiche Gut bewirthschaften. Nun hat die Alte einen Heirathsplan: Karl soll nämlich die Tochter ihres Bruders heirathen, eines wohlhabenden Bauers in demselben Dorfe, damit der Amthof in der Familie bleibt, denn nach dem Testamente erhält die Stiefmutter nur eine Leibrente, mit der das habsüchtige Weib nicht zufrieden ist. Karl aber ist mit der Heirath nicht zufrieden, denn er will mich haben. Wir haben uns stets nur heimlich gesehen und gesprochen, um der bösen Wittwe keinen Anlaß zum Streite zu geben. Diese Woche nun wird Karl mündig und er hat keinem Menschen mehr Rechenschaft abzulegen. Am Christabende wird er bei dem Vater um meine Hand anhalten, Neujahr übernimmt er sein Gut, und Ostern wollen wir uns verheirathen. Das, liebe Freundin, ist mein ganzes Geheimniß.“

„Ach, wie glücklich sind Sie!“ seufzte die Blinde. „Sie können sich dem Manne anschließen, den Sie lieben!“

Dann versank sie in ein dumpfes Nachsinnen. Concordia erschrak über die plötzlich eingetretene Veränderung des bleichen Mädchens. Sie versuchte zu trösten und aufzuheitern, aber Cäcilie antwortete nur durch ein schmerzliches Lächeln. Plötzlich fuhr sie auf wie aus einem Traume.

„Concordia,“ flüsterte sie hastig, „es muß wohl ein köstliches Gefühl sein, sich als die Braut eines Mannes zu wissen, den man liebt und achtet. Nicht wahr, dann fühlt man sich nicht mehr einsam in der Welt, dann schweigt ein Gefühl der Angst und Sehnsucht, das die Brust mit unbeschreiblichen Qualen martert? Bei dem Klange seiner Stimme fühlt man sich leicht und froh – man weint nicht mehr vor Schmerz, sondern vor Freude und Glück – man gießt seine ganze Seele dem Bräutigam aus und empfängt dafür sein Herz voll inniger Liebe? Nicht wahr, das ist das Glück einer Braut? Nicht wahr, Concordia, habe ich Recht?“

Cäcilie brach in ein heftiges Weinen aus; sie umschlang mit beiden Armen den Hals der Freundin, und sank schluchzend an ihre Brust. Concordia konnte nicht länger mehr in Zweifel sein über den Seelenzustand der armen Freundin, und sie erklärte sich nun Alles, was ihr bisher ein Räthsel gewesen war.

In dem Vorzimmer ließen sich Schritte vernehmen; Cäcilie erkannte sie als die ihrer Mutter. Gewaltsam bekämpfte sie ihren Schmerz, und bat die Freundin, der Mutter den Gegenstand des Gesprächs zu verschweigen. Die Hofräthin trat ein. Bestürzt sah sie das von Weinen geröthete Gesicht ihrer Tochter.

„Es ist nichts!“ rief die Tochter des Pfarrers. „Fräulein Cäcilie hatte einmal wieder eine Anwandlung übler Laune, aber sie hat mir dennoch versprochen, die Christmesse zu besuchen und den heiligen Abend recht vergnügt bei uns zuzubringen!“

„Ja, Mutter,“ rief Cäcilie, indem sie ihr beide Hände entgegenstreckte – „ich habe es versprochen und werde Wort halten. Du wirst mich begleiten und sehen, daß ich wieder heiter bin!“

Das Schneegestöber hatte nicht nachgelassen und die Nacht war früh angebrochen. Concordia rüstete sich zum Heimwege. Die Hofräthin gab Befehl, den Wagen anzuspannen.

„Ich komme bald wieder,“ flüsterte Concordia der Freundin zu, „dann sprechen wir mehr; aber um des Himmels willen verbannen Sie die Traurigkeit, Ihre gute Mutter grämt sich darüber!“

Concordia stattete noch einige Besuche ab, aber die Hofräthin ließ die beiden Mädchen nicht mehr allein, so daß ihnen die Gelegenheit fehlte, über das angeregte Thema zu sprechen. Man konnte nichts weiter verabreden, als die Zusammenkunft in der Kirche. Die letzten beiden Tage vor dem Feste hatte Concordia soviel zu thun, daß sie das Schloß nicht besuchen konnte. Es wurden Zimmer gescheuert, Kuchen gebacken und die Braten vorbereitet. Bei der Ankunft des Vetters sollte Alles vollendet sein. Das für ihn bestimmte Stübchen war prächtig eingerichtet, schneeweiße Gardinen schmückten die Fenster, eine wollene Decke lag auf dem Fußboden und in dem Ofen prasselte ein lustiges Feuer – der Freitag Abend kam, aber der Vetter blieb aus. Pastor Braun war wieder hergestellt, und um für den nächsten Abend auf alle Fälle gerüstet zu sein, bereitete er sich vor, die Christpredigt selbst zu halten. Auf Concordia’s Stirn las man den Mißmuth über diese Verzögerung.

„Das werde ich ihm gedenken!“ flüsterte sie, als der Vater bei dem schlechten Wetter die Ankunft des Gastes bezweifelte. „Man plagt sich seinetwegen ab, und nun wird man mit Undank belohnt!“

„Holla!“ dachte freudig der alte Pfarrer. „Das Mädchen ist ja Feuer und Flamme! Nun, Mütterchen,“ flüsterte er seiner alten Gattin zu, „hatte ich nicht Recht? Nächste Ostern ist Arnold Pastor und Concordia Frau Pastorin!“

„Wer weiß!“ war die lakonische Antwort.

„Arnold ist dem Mädchen gut, ich habe es bemerkt. Daß er nicht auf die Stunde eintrifft, ist kein Beweis –“

„Nun, es wird sich ja bald entscheiden!“

Den ganzen Sonnabend Vormittag herrschte eine gedrückte Stimmung in dem Pfarrhause. Pastor Braun saß in seinem Stübchen und studirte die Predigt, die er am Abend halten wollte, denn zu seinem großen Verdrusse bezweifelte auch er die Ankunft des Kandidaten. Mutter und Tochter richteten das große Zimmer her, um für den Abend die erwartete Gesellschaft zu empfangen. In dem Augenblicke, als die Familie das Mittagsessen einnehmen wollte, fuhr ein Schlitten vor die Thür. Concordia eilte an das Fenster.

„Der Vetter!“ rief sie.

Alles gerieth in frohe Bewegung. Concordia eilte auf die Hausflur hinaus, wo sie dem beschneiten und vor Kälte erstarrten Vetter entgegentrat, ihm dienstfertig Hut und Mantel abnahm, und ihn dann in das Zimmer brachte. Es ergab sich nun, daß der Schnee Weg und Steg versperrt und der arme Kandidat einen ganzen Tag länger auf der Reise zugebracht hatte. Dessen ungeachtet aber wollte er die Christpredigt halten. Gleich nach Tische betrat er sein erwärmtes Zimmer und bereitete sich vor.

„Vater,“ flüsterte Concordia, die nun wieder ihre heitere Laune erlangt hatte, „Vater, Du wirst nicht vergessen, morgen mit der Frau Hofräthin zu sprechen; sie geht diesen Abend mit Cäcilien zur Kirche, um den Kandidaten zu hören.“

„Ich setze voraus, mein Kind, daß die Predigt der Gemeinde gefällt –“

„Natürlich, Väterchen! Und auch außerdem bleibt es bei der Abrede: Du wirst bei Deinem künftigen Schwiegersohne wohnen?“

„Du hast mein Wort, Concordia!“

Das junge Mädchen eilte in die Küche, bereitete selbst einen [631] guten Kaffee und trug ihn dem Gaste hinauf. Arnold hatte bereits seine Kleider gewechselt und saß nachdenkend im Sopha. Er erhob sich, als Concordia eintrat.

„Vetter,“ flüsterte sie unter tiefem Erröthen, „darf ich bis morgen noch auf Ihre Verschwiegenheit zählen?“

Arnold reichte ihr gerührt die Hand.

„Liebe Cousine,“ sagte er mit bewegter Stiiiime, „Sie haben mich durch Ihre Briefe zum Theilhaber Ihres Herzensgeheimnisses gemacht, das ich ehre. Ich wiederhole meinen innigen Glückwunsch. Möge Ihnen die Erinnerung an das diesjährige Weihnachtsfest stets eine frohe bleiben und Sie bis in Ihr spätes Alter begleiten.“

„Vetter Arnold,“ stammelte sie bewegt, „auch Ihnen wird das Fest eine Freude bereiten, die Sie vielleicht kaum erwartet haben. Jetzt darf ich noch nichts sagen, der Vater hat es sich selbst vorbehalten. Es ist Ihr Glück, daß Sie gekommen sind.“

„Mein Glück!“ wiederholte Arnold mit einem schmerzlich bittern Lächeln.

„Predigen Sie gut, mehr kann ich Ihnen nicht sagen!“ – Nach diesen Worten entschlüpfte sie aus dem Zimmer.

Arnold holte ein Manuscript hervor und begann halb laut seine Predigt noch einmal zu überlesen.




VI.

Der Christabend war angebrochen. Das Schneegestöber hatte aufgehört und die Sterne flimmerten am kalten, klaren Winterhimmel. Cäcilie befand sich bei ihrer Mutter. Die Dame las der Blinden aus einem Buche vor. Da erklangen plötzlich die Glocken der Dorfkirche durch den stillen Abend. Die Hofräthin schwieg, und sah zu ihrer Tochter hinüber. Eine wehmüthige Freude drückte sich in den schönen, bleichen Zügen Cäcilien’s aus.

„Die Glocken rufen zur Christmesse!“ flüsterte sie. „Nicht wahr, Mutter, es ist jetzt Abend – oder irre ich mich?“

„Nein, mein Kind, Du irrst nicht! Es ist jetzt Abend, und die Glocken rufen zum Gottesdienste. Wie ich diesen Morgen gehört habe, wird unser würdiger Freund, der Pfarrer, zum ersten Male seit seiner Krankheit die Kanzel wieder betreten. Du hast Concordia versprochen, dem Gottesdienste beizuwohnen –“

„Mutter, führe mich zur Kirche!“ bat die Blinde in rührenden Tönen. „Ich will den Christabend auf meine Weise begehen!“ fügte sie leise und zitternd hinzu.

Die Hofräthin küßte gerührt die Stirn ihrer Tochter. Dann gab sie Befehl, daß in einer halben Stunde der Wagen vorfahre, um sie nach der Kirche zu bringen. Die Kammerfrau erschien, und half den Damen bei der Toilette. Cäcilie trug einen kostbaren Mantel von braunem Sammet, der mit dem zartesten weißen Pelze verbrämt war. Ein weißer Atlashut mit wallender Feder schmückte den reizenden Kopf. Mit schmerzlichem Entzücken betrachtete die arme Mutter die schöne, aber unglückliche Tochter. Da erklangen die Glocken wieder. Die Hofräthin ergriff schweigend die zarte Hand Cäcilien’s, und folgte dem voranleuchtenden Diener. Man bestieg den Wagen, der die Frauen in einigen Minuten zur Kirche brachte. Das kleine ländliche Gotteshaus war hell erleuchtet, und seit langen Jahren zum ersten Male wieder brannten die Kerzen der großen Armleuchter der herrschaftlichen Emporkirche. Die festlich geschmückten Landleute, die sich bereits versammelt hatten, sahen mit Erstaunen und Neugierde die beiden Damen eintreten. Nach ihnen kam Concordia, die stolz an Cäcilien’s Seite Platz nahm.

Nun erklangen die Töne der Orgel, und bald mischte sich mit ihnen der einfache, schlichte Gesang der ländlichen Gemeinde, die versammelt war, den heiligen Christabend nach alter, hergebrachter Weise zu begehen. Während des Chorals erschien auch der alte Pastor Braun, in seinen großen Pelz gehüllt; er nahm still auf der letzten Bank seinen Platz ein, um ungesehen die Predigt des Neffen zu hören. Die Frauen hatten seine Ankunft nicht bemerkt. Die Hofräthin beobachtete mit zärtlicher Sorgfalt ihre Tochter, und Cäcilie lauschte andächtig den Tönen des Chorals. Da trat plötzlich der Prediger auf die Kanzel, die durch einen Kranz brennender Kerzen beleuchtet ward. Es war Arnold im schwarzen Talar und die große Bibel mit dem glänzenden Goldschnitte im Arme tragend. Sein Gesicht war ungewöhnlich bleich, aber deutlich sah man die glühende Lebendigkeit seiner großen Augen. Die Hofräthin war erstaunt, einen fremden Prediger zu sehen, und sie richtete deshalb fragende Blicke auf Concordia; diese aber winkte lächelnd mit der Hand, um die Dame zu beruhigen. Der Gesang schwieg, die letzten Töne der Orgel verklangen, und eine Grabesstille herrschte in dem Gotteshause, obgleich es ungewöhnlich angefüllt war. Neugierde und Andacht machten jedes Flüstern verstummen. Der Kandidat ließ seine Blicke durch den weiten Raum schweifen, als ob er sich zuvor der allgemeinen Aufmerksamkeit versichern wollte. Einen Augenblick hafteten sie auf der herrschaftlichen Kapelle, wo die Damen in einem hellen Lichtkreise saßen, und Concordia, die mit Spannung lauschte, glaubte ein leichtes Beben zu bemerken, das den Vetter durchzuckte – dann aber sah er wieder empor und rief mit kräftiger, volltönender Stimme die Worte, die den Hirten auf dem Felde die Geburt des Heilandes verkündeten. Da auch bebte Cäcilie zusammen, sie ergriff krampfhaft die Hand der Mutter, und preßte sie an ihr ungestüm klopfendes Herz.

„Mutter,“ flüsterte sie, „diese Stimme – er ist’s! Er ist’s!“

„Um Gotteswillen, mein Kind,“ flüsterte die bestürzte Dame, „fasse Dich!“

„Besorge nichts, Mutter, ich begehe ein herrliches, schönes Christfest!“

Nach diesen Worten faltete die Blinde die Hände, und begann mit unbeschreiblicher Andacht zu lauschen. Ihr Gesicht verklärte sich zu dem eines Engels. Arnold hielt dieselbe Rede, die er ein Jahr zuvor in dem Dome der Residenz gehalten; aber heute, vor der kleinen ländlichen Gemeinde, trug er sie mit größerer Begeisterung vor, denn er wußte ja, daß das Ideal seiner Träume sich unter den andächtigen Zuhörern befand. Das war Feuer, das war Kraft und eine Fülle schöner Gedanken! Wie die eines Verklärten leuchteten seine Blicke und der begeisterten Brust, die keine Hoffnung auf irdisches Glück mehr hegte, entquoll eine Reihe herrlicher, poetischer Gedanken. Der greise Pfarrer saß still auf seiner Bank, aber Thränen einer freudigen, frohen Andacht rollten über seine gefurchten Wangen. Er hatte sich viel von Arnold versprochen, aber eine solche Rede hatte er nicht erwartet.

Der Kandidat schloß seine Predigt mit dem üblichen Gebete. Da sank Cäcilie auf die Knie und betete halblaut mit.

„Amen!“ sagte sie zu gleicher Zeit mit dem Prediger.

Arnold hatte die Kanzel verlassen, und der Schlußchoral ward gesungen. Als sich die Hofräthin erhob, bemerkte sie den Pfarrer. Sie flüsterte ihm einige Worte zu.

„Mein Neffe?“ rief in höchster Ueberraschung der Greis aus.

„Er ist der Prediger, nach dem wir forschten. Sehen Sie meine blinde Tochter an!“

Concordia führte Cäcilien auf den Corridor vor der Kapelle; das arme Mädchen ließ sich willenlos leiten, denn ihre Leidenschaft war mit ganzer Gewalt von Neuem erwacht. Aus einzelnen abgerissenen Worten erklärte sich die schlaue Concordia, der der Zustand der Blinden während der Predigt nicht entgangen war, sofort den Zusammenhang.

„Den lieben Sie, Cäcilie?“ fragte sie, zitternd vor Freude. „Sprechen Sie sich offen aus, ohne Rückhalt!“

„Concordia, Sie sind Braut, Sie können mich verstehen!“

„Ich verstehe Sie, und werde nun auch für Sie handeln.“

In diesem Augenblicke erschienen die Hofräthin und der Pfarrer.

„Concordia, ich habe mit Dir zu reden.“

„Dessen bedarf es nicht, Vater. Halten Sie mich nur nicht auf, ich muß gleich mit dem Vetter reden! Und Sie, Väterchen, können hier auf der Stelle, in Gegenwart dieser Dame erfahren, daß ich Vetter Arnold nie heirathe, denn ich hatte schon meinen Bräutigam, ehe er vorigen Sommer zu uns kam.“

„Wen?“ fragte der Greis, der aus einer Ueberraschung in die andere verfiel.

„Sie werden ihn zu Hause antreffen – das ist meine Bescheerung. Der Vetter weiß es schon, ich habe ihn eingeweiht, und er ist sehr zufrieden damit.“

Der Pfarrer überlegte einen Augenblick. Dann bat er die Hofräthin und Cäcilien, für heute Abend seine Gäste zu sein. Concordia, außer sich vor Freude, trug Cäcilien fast in den Wagen. Der Pfarrer ging zu Arnold in die Sakristei. Als die Frauen in das Wohnzimmer des Pastors traten, fanden sie einen [632] schmucken jungen Mann bei der Frau Pastorin vor. Es war Karl, der Sohn des Amtmanns, der sich verabredetermaßen eingefunden hatte. Concordia stellte ihn ohne Umstand als ihren Bräutigam vor.

Die Erklärung zwischen Pastor Braun und Arnold hatte nicht lange gedauert. Der Kandidat, noch in seinem Ornate, erschien bald an der Hand des Pfarrers. Es war eine feierliche, rührende Scene, die nun in dem Stübchen der Pfarre stattfand. Arnold, von dem Zustande Cäcilien’s unterrichtet, näherte sich ihr, küßte ihre Hand, und sagte mit bewegter Stimme:

„Wollen Sie sich meiner Führung anvertrauen? Mein Herz kennt keine schönere Aufgabe, als Sie, die ich längst wie eine Heilige verehrte, treu und liebend durch das Leben zu geleiten!“

„Mein Herr,“ rief schluchzend die Hofräthin, „Sie kennen meine Tochter?“

„Ich sah sie in der Kapelle, am Stege des Baches im Walde – und seit der Zeit erschien sie mir wie ein unerreichbares Ideal. Daß sich der schönste Traum meines Lebens verwirklichte, halte ich für eine Fügung des Schicksals.“

„Sie sind ein Priester, mein Herr, Ihnen vertraue ich meine Tochter an!“

Die Hofräthin führte Cäcilien dem Kandidaten zu, der die weinende Blinde sanft an seine Brust drückte.

„Und hier, Väterchen, ist mein Bräutigam!“ rief Concordia, indem sie ihren Karl vorstellte.

„Das ist eher ein Mann für Dich, als der ernste Vetter!“ sagte der Greis, indem er Karl die Hand reichte. „Und nun sind wir ja alle glücklich, der Himmel hat einem jeden ein schönes Weihnachtsgeschenk bescheert. Seid dankbar, Kinder, und erhaltet es Euch in christlicher Liebe und Treue!“

„Das schwören wir!“ riefen die beiden jungen Männer.




Am zweiten Ostertage trauete der greise Pastor Braun zwei Brautpaare in seiner Dorfkirche. Es waren Arnold und Cäcilie, und Karl und Concordia. Dann fuhren die jungen Eheleute nach dem Schlosse, wo ein glänzendes Fest gefeiert wurde. Die Gäste bestanden nur aus den nächsten Freunden des Pfarrers und aus den Vorstehern der Gemeinde, die Arnold zu ihrem Pfarrer gewählt hatten. Karl bezog mit seiner Gattin den Amthof, Arnold blieb auf dem Schlosse Krayen, und der greise Pastor blieb in der Pfarre, wo er fast täglich Besuche von seinen Kindern empfing. Jeder Sonntag war für die glückliche Cäcilie ein Fest, denn sie hörte ihren Arnold predigen. Der junge Pfarrer pflegte sein Amt mit Liebe und Treue, obgleich er ein großes Vermögen besaß, das ihm seine Gattin zugebracht hatte und ein ruhiges, bequemes Leben gestattete. Er wollte dadurch das Band der Liebe befestigen und erhalten, das ihn und seine blinde Gattin umschlang. Und Cäcilie war glücklich in ihrer schwärmerischen Liebe, wie ihr Geist, so erstarkte auch ihr Körper, der in neuer Schönheit aufblühte.

„Du bist wahrlich ein Engel!“ rief Arnold oft begeistert, wenn er seine reizende Gattin betrachtete.

„Und Du bist mein Licht, Arnold,“ sagte sie dann lächelnd. „Mir fehlt das Augenlicht, aber ich sehe Dich dennoch! Und dieses Licht hat mir der heilige Christ angezündet!“

„Möge es Dir lange, lange leuchten!“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: micht