Ein Ausflug nach Budapest
Ein Ausflug nach Budapest.
Die Ungarn feiern jetzt in ihrer Hauptstadt eine Reihe von Festen, welche zwar äußerlich an die Landesausstellung anknüpfen, aber in Wahrheit eine politische Bedeutung haben. Sie haben zuerst den Wiener Gemeinderath und dann den Wiener Journalistenverein „Concordia“ eingeladen, um ihnen ihre neuen Herrlichkeiten zu zeigen, und was dabei an Banketten, Toasten und Verbrüderungsreden absolvirt wurde, das übersteigt bei Weitem das übliche Maß der Freundschaftskundgebungen, welche anderwärts bei solchen Gelegenheiten ausgetauscht zu werden pflegen. Es war, als ob man sich gegenseitig für den zu erneuernden Ausgleich präpariren wolle, bei dem es sich bekanntlich weniger um Toaste und Diners, als um sehr handgreifliche finanzielle Leistungen und Gegenleistungen zu Ehren der dualistischen Staatsgemeinschaft handelt. Die Magyaren sind ein politisches Volk, das den ihm angeborenen gastlichen Sinn doppelt gern bethätigt, wenn dabei ein nationales Interesse im Spiele ist. Man hat den Eindruck, als ob sie, da es an den Ausgleich geht, lieber mit den Deutschen als mit den Slaven in Cisleithanien sich vertragen möchten, und man denkt unwillkürlich bei diesen Festen, die sie jetzt zur Feier ihrer Landesausstellung den Deutschen veranstalten, an die alte Volksliedstrophe:
„Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb,
Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.“
Den Pfingstausflug der „Concordia“ habe ich mitgemacht. Wir trugen weder Attila noch Cfismen, als wir von Wien abfuhren und zwei Stunden vor Pest auf ein Dampfschiff stiegen, um uns auf dem Rücken des schönen Donaustromes zu früher Morgenstunde nach der magyarischen Hauptstadt hinabtragen zu lassen. Aber wir riefen lustig Eljen, als wir mit Reden in ungarischer Sprache empfangen wurden, obwohl wir kein Wort von denselben verstanden, und galant wie sie sind, erwiderten die Arpadsöhne unsere deutschen Reden mit noch lauteren Hochs. Das war das erste Zeichen der Verbrüderung. Der Ungarwein, mit dem man in dem Lande, wo er wächst, nicht karg ist, that dann ein Weiteres, die Zigeunermusik auf dem Schiffsdeck ließ sich auch nicht lumpen, und noch ehe wir die große Kettenbrücke zwischen Pest und Ofen, die Denkmäler von Szechenyi und Eötvös in Sicht bekamen, war der eigentliche politische Zweck erfüllt: in den Armen lagen sich Beide und weinten Thränen der Freude. Der Magyar ist wie alle Enthusiasten leicht befriedigt. Wenn er aus dem Munde des Fremden Komplimente für sein Land, für seine Hauptstadt, für seine Ritterlichkeit vernimmt, wenn namentlich nicht von Pest, sondern von Budapest gesprochen wird – Pest ist ihm eine unliebsame Erinnerung an die verhaßte vordualistische Zeit, Budapest der Ausdruck der wiedergewonnenen politischen Selbständigkeit – wenn endlich die Namen Petöfi, Munkacsy, Jokai in die Unterhaltung hereinklingen, so blitzen seine dunklen Augen in patriotischem Feuer und über sein braunes Antlitz gleitet ein Zug träumerischer Selbstvergessenheit, der ein Erbtheil seiner orientalischen Herkunft zu sein scheint. Wir fuhren die Donau hinab, deren Ufer, je mehr man sich der Hauptstadt nähert, den Rheinufern ähnlich sehen; rechts auf steilem Felsen über dem Strome ragen die Trümmer der Burg von Visegrad, in der einst Matthias Corvinus seinen Hof hielt; dichtbelaubte Inseln erheben sich aus der Wasserfläche; malerische Bergzüge wandern zu beiden Seiten mit dem Auge mit, warme Quellen in ihrem Schoße führend, deren Verwendung für die leidende Menschheit bis jetzt nur deßhalb noch nicht bewerkstelligt ist, weil man in Ungarn vorläufig noch Wichtigeres zu thun zu haben glaubt, bevor man von der Politik zur Hygiene sich wenden kann.
In der That, die Politik ist im Guten wie im Schlimmen die Quelle aller magyarischen Entwickelung seit anderthalb Jahrzehnten. Gustav Freytag hat, wenn ich nicht irre, die Politik eine Hexe genannt, und wer sehen will, was diese Hexe vermag, [431] der muß nach Pest zu Gaste gehen. Das Bild von der öden, traumumfangenen Puszta mit dem Csikos und den himmelaufragenden Cisternenschwengeln, wie es uns Lenau und Karl Beck überlieferten, ist antiquirt; der „arme Bursche“ streift nicht mehr mit dem Rechte der Ernährung auf fremde Kosten und fremde Gefahr die ländlichen Gehöfte ab; die Csarda hat sich civilisirt, und selbst die Zigeuner sehen sich fast wie moderne Menschen an. Das hat der rastlose Nationalsinn bewirkt, der, von der Centralisationsgewalt des Ministeriums Bach befreit, sich wunderbar zusammenraffte und in einem Decennium nachholte, was durch ein halbes Jahrhundert versäumt worden war.
Noch vor nicht allzu langer Zeit geschah es, daß dem Pester Gemeinderathe eine Petition zuging, eine der hauptstädtischen Straßen mit Bäumen zu bepflanzen. „Bäume,“ lautete die Antwort des ehrbaren Stadtkollegiums, „gehören aufs Land, nicht in die Stadt.“ Heute ist Budapest mit seinen reizenden Quais, mit seinem lauschigen Stadtwäldchen, mit der unvergleichlichen Margarethen-Insel, den Villen im Auwinkel und auf dem Schwabenberge, seinem Asphaltpflaster eine durchaus modische Stadt. Ein wenig engherzig ist freilich dieser Nationalsinn der Magyaren; man bekommt dies auf Schritt und Tritt zu spüren. Man ist als Deutscher ohne magyarischen Führer an der Seite in Pest wie verloren; die Schilder an den Straßenecken und über den Kaufläden sind ungarisch, die Droschkenkutscher verstehen kein deutsches Wort.
Sentimentale Staatsmänner mit idealistischen Zielen haben die Magyaren nie hervorgebracht. Die einzige Ausnahme etwa bildet Joseph Eötvös, in den sich der Patriot mit dem Poeten theilte. Er hat den „Dorfnotär“ geschrieben und über die „leitenden Ideen des 19. Jahrhunderts“ reflektirt, daneben aber auch das Unterrichtswesen in seinem Vaterlande mächtig gehoben. Von Julius Andrassy aber, nach dem seit wenigen Tagen die prachtvolle Radialstraße in Pest den officiellen Namen „Andrassy-Straße“ führt, von Franz Deak und Koloman Tisza weiß man, daß in ihnen der praktische Sinn vor allen anderen Anlagen überwiegend zur Geltung kam. Franz Deak war ein schlichter, wortkarger Mann, ohne den leisesten Funken von Himmelsstürmerei, aber er begriff, was seinem Volke noththat. Und Andrassy war unter den europäischen Diplomaten recht eigentlich der Repräsentant des natürlichen Verstandes, den besser als alles Andere das Wort charakterisirt: „Man darf auf Spatzen nicht mit Kanonen schießen.“ Koloman Tisza endlich, der heute Ungarn lenkt, ist klug wie die Schlangen mit einem Instinkt für das Erreichbare begabt, der ihn wie einen Nachtwandler unversehrt über alle Klippen hinwegführt. Hält man aber neben die magyarische Staatskunst die magyarische Dichtung, so empfängt man den Eindruck, als ob auch sie bei allem Temperament, bei aller Gluth und Leidenschaft mit der Klugheit des Lebens geölt wäre. Das ist keine ungarische Musikkapelle, die nicht ihre Produktion mit dem Rakoczy-Marsche beginnt und mit dem Rakoczy-Marsche beschließt. Und das ist auch kein echter Tablabiro, der nicht auf den Grundsatz schwört: „Nullum vinum nisi hungaricum.“ Aber wenn dem nationalen Bedürfnisse die Libation dargebracht ist, mit einem funkelnden Glase Tokaier, mit einem wilden Csardas, mit einem betäubenden Eljen auf den „König“, dann werden Temperament und Melancholie hübsch bedachtsam in das Futteral gesteckt und an ihre Stelle tritt das kluge, nüchterne Raisonnement. Dieses merkwürdige Nebeneinander von Ungestüm und Berechnung, von Naivetät und Zwecksinn findet sich bei Petöfi nicht minder wie bei Moriz Jokai, welcher als Buch-Industrieller mit 300 Bänden seiner Dichtungen in der Originalsprache und in Uebersetzungen die Ausstellung beschickt hat.
Es war am 2. November 1825, als Graf Stephan Szechenyi die Gründung der ungarischen Akademie der Wissenschaften anregte und zu diesem Zwecke einen Theil des Jahresertrages seiner Güter spendete. Man kann von diesem Tage den Beginn der neuen Entwickelung Ungarns datiren, aber Halbasiaten zu sein haben trotz Petöfi und Kossuth und Klapka die Magyaren doch erst seit dem Jahre 1867 aufgehört. Die Geburtsstunde des Dualismus war zugleich die Geburtsstunde des modernen Ungarn. Die Exilirten von 1848, die Andrassy, Pulszky und ihres Gleichen, waren aus der Fremde ins Land zurückgeströmt, an Kenntnissen und Erfahrungen bereichert, die tönende avitische Beredsamkeit der Paul Nyari, Balthasar Horvath wurde von umfassender Sachkenntniß abgelöst, der Sinn für wirthschaftliche Segnungen kam zur Geltung. Man schlug einander auch später noch bei den Wahlen todt und Rosza Szandor’s Schatten schlich schreckhaft durch die Komitate, aber Koloman Tisza, der heutige Ministerpräsident und „steifnackige Calvinist“, legte seinen Schlapphut ab und bereitete sich zur Regierungsfähigkeit vor; es entstanden Assekuranz-Gesellschaften und Sparkassen, kurzum, der Uebergang vom Asiaten zum Europäer war vollzogen. Am deutlichsten prägte sich dies in der Physiognomie der Hauptstadt aus. Die Bauten welche vom Jahre 1868 bis zum Jahre 1882 sich erhoben, repräsentirten ein Baukapital von 68 Millionen Gulden. Im Jahre 1871 dekretirte allem Widerspruche zum Trotz der damalige Ministerpräsident Andrassy eine Straßenlinie mitten durch die jüdische Theresienstadt, zu deren Bebauung er von Staatswegen eine Anleihe von 25 Millionen aufnahm, und heute bildet diese Straße – ehedem die Radialstraße, jetzt die Andrassy-Straße genannt – das Juwel von Pest. Ich weiß in keiner europäischen Hauptstadt eine schönere Avenue.
Daß der Magyar angesichts solcher Riesenfortschritte in der Selbstverherrlichung nicht blöde ist, wird man ihm gerechtermaßen nicht verargen dürfen. Umgekehrt kann er es einem Deutschen nicht verübeln, wenn dieser findet, daß der magyarischen Physiognomie etwas mehr Toleranz gegen Nichtmagyaren vortheilhaft anstände. Denn wie Vieles auch Ungarn als selbsterzeugte Herrlichkeit zu präsentiren hat, es ist doch noch lange nicht in der Lage, des befruchtenden Kultureinflusses, der von Westen kommt, entrathen zu können. Es hat seinen eigenen Wein, seinen Betyar und seinen Fokos, seine geborenen Redner und Politiker, seinen Franz Liszt und Munkacsy, aber sein Baustil, seine Industrie, seine Landkultur, ja sogar sein Antisemitismus sind importirt. Und zwar weniger aus Paris, obzwar der Ungar ein leidenschaftlicher Franzosenfreund ist, als aus Wien und Berlin, obwohl er für den Deutschen nur mäßige Sympathie hegt. Die Andrassy-Straße ist, architektonisch betrachtet, ein Stück Wiener Ringstraße und ein Stück Berliner Thiergarten. Der Nachahmungstrieb zeigt sich an dem Operngebäude, an den vier Kasernen des Waizner Boulevards, und kommt man in die Ausstellung, so glaubt man auf den ersten Blick eine Miniaturkopie der Wiener Weltausstellung vom Jahre 1873 vor sich zu haben. Erst allmählich gewinnt man den Eindruck, daß in diesen 105 prächtigen Pavillons auch Manches geborgen ist, was sich als ungarische Specialität bezeichnen darf.
Moriz Jokai, den ein überschwänglicher Festredner den magyarischen Victor Hugo nannte, hat dies selbst in einem Trinkspruche, den ich von ihm hörte, zugestanden und die lauten „Haljuks (Hört!)“, die dabei von seinem ungarischen Auditorium ertönten, schienen zu beweisen, daß auch weitere Kreise in Pest sich bisweilen von der landesüblichen Selbstvergötterung zu emancipiren vermögen. Völker, die im Begriffe sind, aus dem Rohen heraus sich zur Civilisation emporzuarbeiten, haben immer die Neigung, ihre hervorragenden Männer an den bedeutenden Männern fortgeschrittener Nationen zu messen, ihre Leistungen mit denjenigen der anderen nationalen Gemeinschaften zu vergleichen. So haben die Russen ihren „russischen Lessing“ (Belinski) und ihren „russischen Byron“ (Puschkin), die Magyaren ihren „ungarischen Victor Hugo“. Man braucht sie darob nicht zu belächeln. Moriz Jokai ist nach Art und Bedeutung so verschieden von dem großen französischen Dichter, wie etwa Budapast von Paris verschieden ist; aber ein liebenswürdiger, phantasievoller Dichter ist er sicherlich und in seiner schlanken Gestalt, mit seiner milden Physiognomie, seiner fast schüchternen Haltung macht er den Eindruck eines Mannes, der, mehr noch innen als mit der Außenwelt lebend, gar nicht hineingehört in diesen resoluten, daseinsfrohen magyarischen Wirbel, der ihn umbrandet. Er steht wie eine übrig gebliebene Säule aus den Tagen vor der Revolution, in denen er mit Petöfi das ärmliche Zimmer theilte, begeistert an Ludwig Kossuth’s beredtem Munde hing und zum Stuhlrichter wie zu einem höheren Wesen emporblickte. Der Athem der Gegenwart hat freilich auch ihn – und ihn mehr als die Andern – gestreift, denn wofür wäre er ein Poet, wenn nicht sein Herz empfänglicher, sein Sinn offener wäre für die Wendungen der Geschichte, als dies bei anderen Menschenkindern der Fall zu sein pflegt? Aber wenn er so die Andrassy-Straße daherwandelt, wenn er in der Ausstellung feinste Majolika ungarischer Herkunft, bewunderungswürdiges Produkt [432] ungarischer Kunstschlosserei prüfend betrachtet, so muß sich in seinem phantasievollen Geiste doch wohl das Bild zweier Welten wundersam vermischen, das Bild des asiatischen Ungarn, aus dem er herausgewachsen, mit dem Bilde des europäischen Ungarn, in das er hineinwachsen mußte. „Ungarn war nicht, es wird sein,“ sagte Graf Szechenyi, den die Ungarn den „Vater der Nation“ nannten. Wer, wie und was wird es sein? das ist eine Frage.
Viel eigene Arbeit, vor Allem politische, haben die Magyaren geleistet, um sich emporzuraffen aus der nationalen Selbstgenügsamkeit von ehedem. Aber mehr noch haben dabei fremdes Muster und fremder Beistand für sie gethan. Wenn sie heute eifersüchtig darauf sind, daß nicht von Oesterreich, sondern von Oesterreich-Ungarn gesprochen werde, so müssen sie dabei eines Deutschen gedenken, der den Dualismus verwirklichte. Auch die Kettenbrücke zwischen Ofen und Pest, ein Wunderwerk der Technik, hat keinen Magyaren zum Urheber, sondern einen Engländer. Der Friede, der den Ungarn gestattete, sich während der letzten anderthalb Jahrzehnte politisch und ökonomisch emporzuschnellen, ist der Politik Deutschlands und dem deutsch-österreichische Bündnisse zu verdanken. Sagt man sich das in Pest, wie man es sollte, um nicht in den verhängnißvollen Fehler der Selbstüberhebung zu verfallen? Man hat Augenblicke der richtigen Erkenntniß, aber es fehlt noch viel dazu, daß man sich mit ihr durchdringe. Die Landesausstellung, so interessant sie in manchen Stücken sein mag, ist für Nichtmagyaren, für Deutsche zumal, fast ungenießbar, denn es lernt nicht Jeder im Handumdrehen Ungarisch, um sich von den Magyaren darthun zu lassen, was sie in Handel, Industrie, Gewerbe und Kunst zu leisten vermögen. Ungarisch aber sind die Aufschriften, ungarisch die Kataloge. Und was hätte man denn dem Glanze der Stephanskrone vergeben, wenn man der benachbarten deutschen Weltsprache, der Sprache des Volkes, dem man soviel verdankt, die Ehre angethan hätte, sie neben dem heimischen Idiom als Führerin fungiren zu lassen? …
Dem wißbegierigen deutschen Pilger, der mit offenen Augen und offenem Sinne durch die Ausstellung schreitet, mag es verziehen sein, daß derartige Gedanken ihm den Eindruck stören. Er bewundert das Mastvieh des magyarischen Agrikulturstaates, die Lederindustrie des uralten Reitervolkes, er hält dankbar in der Weinkosthalle Rast, wo schmucke Szeklerinnen ihm den feurigen Trunk kredenzen. Und wenn er die Ausstellung verläßt und die Gassen von Budapest durchwandert, wenn er am Donaukai in der bezaubernden landschaftlichen Perspektive schwelgt, so unterdrückt er nicht die Freude darüber, daß da ein schönes Stück Erde in raschem Siegesschritte der modernen Kultur gewonnen wurde. Aber während ihm die alten Geschichten durch den Sinn gehen von dem tapferen Hunyady, von Matthias Corvinus und Zriny, von Stephan Bathory und von Ludwig Kossuth, von Türkennoth und Kriegsjammer, vermag er sich schwer zusammenzureimen, warum das magyarische Königskind mit dem deutschen Königskinde so schwer zusammenkommt. Ist die Leitha wirklich „viel zu tief“? Am Ende sind es ja doch gute deutsche Namen, welche die beiden Bürgermeister von Budapest führen – Rath und Kammermeyer heißen sie – und das deutsche Geburtsattest der Donau kann selbst der verstockteste aller Magyaren nicht anfechten.
Im Ohre klingt mir der fremdartige Ton des Cymbal, halb Melancholie und halb verzweifelte Lustigkeit. Ich sitze in dem wunderschönen Kiosk am Donaukai, der Mond scheint hell auf die Silhouette des mächtigen Redoutehauses nieder, vom Strome klagt leise die Welle herauf, wie Abschied nehmend, bevor sie sich weit zum Pontus hinabwälzt, welcher den Alten als der „unwirthliche“ gegolten. Drüben ragt unheimlich der Blocksberg mit der Citadelle zum Himmel, und die Königsburg schließt das herrliche Nachtbild ab, das Keiner vergißt, der es einmal gesehen. Als Knabe, wenn ich verstohlen ein Gedicht von Lenau oder Karl Beck las, als Jüngling, wenn ich wallenden Blutes an der Sturmpoesie Petöfi’s mich erregte, habe ich mich – wie oft! – nach der Melancholie der Puszta gesehnt. Nun liegen zwei erlebnißreiche Tage hinter mir, ich habe die Herrlichkeiten der magyarischen Hauptstadt genossen, die schönen ungarischen Frauen bewundert mit ihren dunkelblitzenden Augen, den heißen Ungarwein in seiner Heimath gekostet, die schwermüthigen magyarischen Volksweisen gehört von der Blaha, welche als die ungarische Diva gepriesen wird. Aber stillbewegt sehne ich mich wieder zurück nach deutschem Wort und deutschem Lied. Großes mag der magyarische Nationalsinn leisten, jedoch er leistet es nur für sich. Uns Deutsche hat Moriz Jokai in einem Toaste „Piloten der Kultur“ genannt, und bei Gott, wir erkennen erst, daß wir es sind, wenn wir fremde Art und fremdes Wesen beobachten. Was wir für die Civilisation, für die Kultur, für die Freiheit erarbeiten, erarbeiten wir nicht blos für uns, sondern auch für Andere. Halb zaghaft und halb erbittert wendet sich der Ungar ab, wenn er den Namen Vilagos hört; Vilagos ist das magyarische Jena. Aber was er seit seinem nationalen Unglückstage gelernt, ist nicht Opferwilligkeit für Alle, welche an ihrer Freiheit und Wohlfahrt leiden, sondern nur Opferwilligkeit für sich. Vielleicht bedeuten die Feste, welche jetzt die Ungarn in ihrer blühenden Hauptstadt zu Ehren der Landesausstellung veranstalten, daß die Aera des nationalen Egoismus vorüber ist und diejenige der Kulturverbrüderung mit den anderen Nationen beginnt. Eine schöne Anekdote läßt die Ungarn auf ihrem Reichstage zu Preßburg die Sporen zusammenschlagen, die Schwerter emporheben und der jugendlichen Maria Theresia, welche ihre Hilfe begehrt, enthusiastisch zurufen: „Moriamur pro rege nostro!“ Es giebt aber heutzutage auch noch andere Dinge, für welche ein Volk lebt und stirbt. Die Arbeit im Dienste der Menschheit ist von diesen Dingen das höchste. „Ungarn ist nicht, es wird sein.“ Das Wort Stephan Szechenyi’s ist noch immer wahr. Und es wird so lange wahr bleiben, bis man in Budapest erkennt, daß der Egoismus in der Politik nur berechtigt ist, wenn er der Selbstlosigkeit der Humanität als Folie dient.
Westwärts durch die weitgedehnte Donau-Ebene braust der Orient-Expreßzug. Aus bunten Träumen weckt mich der Ruf des Kondukteurs. Wir sind in Wien. Deutsch die Sprache, deutsch der Geist, und in dem Leben ringsumher der Pulsschlag der Welt. Wird Budapest jemals eine Weltstadt werden?