Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)/Fünftes Gebot I

« Viertes Gebot III Hermann von Bezzel
Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)
Fünftes Gebot II »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Fünftes Gebot I.
Du sollst nicht töten!

 Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun; sondern ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten.

 Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen. Jer. 17, 14.


 Bis in die letzten Tage des Februar haben wir unsern Katechismus betrachtet und sind bis zur Auslegung des vierten Gebotes gelangt. Wir haben uns die Pflichten der Eltern gegen die Kinder, der Dienstherren und Dienstfrauen gegen die Dienstboten, der Obrigkeit gegen die Untertanen, der Beichtväter gegen die Beichtkinder vorgehalten, und haben dann wiederum von den Pflichten gesprochen, welche die Kinder gegen die Eltern, die Dienstleute gegen die Dienstherrschaft, die Untertanen gegen die Obrigkeit, die Lernenden gegen ihre Lehrer zu erfüllen haben.

 Luther leitet im großen Katechismus zur Betrachtung des fünften Gebotes also über: Wir haben die göttliche und väterliche Obrigkeit betrachtet in den ersten drei Geboten. Hier gehen wir nun aus unserm Haus unter die Nachbarn, zu lernen, wie wir untereinander leben sollen, ein jeglicher für sich selbst gegen seinen Nächsten. Darum ist in dieses Gebot nicht eingezogen Gott und die Obrigkeit, noch die Macht genommen, so sie haben zu töten. Denn Gott sein Recht Übeltäter zu strafen der Obrigkeit an der Eltern Statt befohlen hat. Er weist uns damit auf eine Frage hin, die gegenwärtig die Gemüter viel beschäftigt, auf die Frage der| Todesstrafe. Seit dem Jahre 1792 ist in Europa das Bestreben rege, die Todesstrafe abzuschaffen. Von Italien ging diese Bewegung aus und ist jetzt auch in Deutschland sehr mächtig.

 Unsere Väter haben gesagt: es gibt gegen die Vernichtung des Lebens keine andere Reaktion, als daß man sie an dem Leben bestraft, nach dem alten Worte Gottes: Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden. Und es ist kein Zweifel, daß die Zunahme der Brutalitätsverbrechen, die wir in den letzten Jahrzehnten um ein Doppeltes gesteigert finden, mit davon herrührt, daß die Obrigkeit das Schwert stumpf werden läßt. Die Todesstrafe ist für die Obrigkeit ein hohes Recht, darum aber auch für sie eine ernste Pflicht. Und wenn wir an die Bestien in Menschengestalt denken, welche, von Gott verlassen, ihr eigenes Leben hoch bewerten und das Leben des Nächsten mit Füßen treten und vernichten, so wissen wir keine Strafe, die ihrer würdig wäre, als eben die Strafe des Todes.

 Wenn wir nur zwei Fälle hervorheben aus dem furchtbar grauenhaften Verzeichnis der Untaten in Mord und Schande und Sünde, so denken wir erstlich an jenen Giftprozeß am Ausgang der fünfziger Jahre in Bremen und sodann an jenen Menschen in Frankfurt a. M., der aus einer Apotheke in Wien die allergefährlichsten Gifte bezog, die Bazillen der schrecklichsten Seuchen kaufte, um seine drei Frauen durch Übertragung der Krebs- und anderer Bazillen zu töten. Hier, wo ein Mensch, um das eigene Leben zu ehren, um reiche Mittel aus den Versicherungen herauszuziehen, das Leben der Andern für nichts achtet, gehört die Todesstrafe. Wer anderer Leben zerstört, hat das Recht auf Leben verwirkt.

 Und ein Anderes hat Luther in den verschiedenen Predigten über das fünfte Gebot, die sich von 1516–1545| immer wiederholen, betont: das Recht des Krieges. Du sollst nicht töten – und doch hat Luther so viele Kriege erlebt und hat als guter Deutscher den Krieg gegen die Ungläubigen, die Türken, gebilligt und gepredigt und hat 1526 die schöne Schrift verfaßt: „Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können?“ – worin er dies ernstlich bejaht.

 Seht, die Frage, ob das Recht des Schwertes der Obrigkeit durch das fünfte Gebot genommen sei und die andere Frage, ob der Krieg und die Notwehr im Kriege erlaubt sei, sind mit dem fünften Gebote nicht zu verbinden. Der Krieg ist ein notwendiges, schreckhaftes Übel, und die guten Freunde, welche eine Friedensliga heraufführen wollen, und die guten Männer und Frauen, welche dem Unkraut oben die Häupter abschlagen, während die Wurzeln des Unkrautes: Zwietracht, Neid, Mißgunst u. dgl., unter der Erde weiterwachsen, sollen nicht vergessen, daß, solange diese Welt sich nicht in ihrer Gesamtheit dem Friedensszepter Jesu Christi beugt, Friedensliga und Friedensklänge eine fromme, aber schwärmerische Irrung bleiben. Es hat mich immer gewundert, daß Frauen bei dieser Friedensliga beteiligt sind, welche durchaus nicht immer nach häuslichem Frieden trachteten, und es ist immer etwas sehr Eigenartiges, wenn man nach außen hin den Frieden predigt, doch im eigenen Hause den Hausfrieden nicht halten kann. Solches Tun ist merkwürdig, doch auch wohlfeil.

 Von Jugend auf haben wir gehört und gelernt: du sollst nicht töten! Was ist denn dann eigentlich im fünften Gebot verboten? Luther sagt’s mit zwei Worten: verboten ist der Zorn – geboten ist die Milde. Das kannst du einem Kinde klarmachen und das genügt auch deinem Herzen: verboten ist der Zorn und geboten ist die Mildigkeit und Lindigkeit.

 Verboten ist der Zorn, der dem Nächsten an seinem Leibe Schaden tut, der da mit harter Hand des| Nächsten Leib beschädigt und mit roher Faust seine Gesundheit gefährdet. Wieviel Verbrechen der Rauheit und Roheit, wieviel Untaten zeigen uns, daß die Menschen immer mehr vergessen, im Leibe des Nächsten trete ein Wunderbild göttlicher Erbarmung ihnen entgegen. So entstellt ist kein Menschenbild, daß dir nicht in ihm sein heiliger Schöpfer entgegentrete, so verkommen ist kein Menschenantlitz, daß nicht von der Stirne der Adel des göttlichen „Werde“ leuchte. Es begegnet uns jetzt wohl manchmal eine Menschengestalt, die durch Verirrung des Geschmackes und durch Verkennung der göttlichen Ordnung ihr Antlitz entstellt und verunziert hat. Aber wer noch glaubt, daß in jedem Menschenantlitz Gott ein Meister- und Musterwerk vollbracht hat, und wer in des Menschen armen Auge und in seiner ganzen Gestalt etwas von der Majestät dessen, dessen Herrlichkeit die Welt erfüllt, erschaut, der wird sich hüten, mit harter Hand und rauher Faust dieses Bild zu zerstören.
.
 Aber, wie kein Gebot von dem andern gelöst werden kann, sondern jedes in innerem Zusammenhange mit den andern steht, so hängen alle die Sünden der Trunkenheit, der Bitterkeit, des Unfriedens mit der Verletzung des fünften Gebotes zusammen. Schwer belastet durch Wildheit und Gier des sechsten Gebotes verunehrt der Mann das Weib seiner Jugend, schlägt es zu Boden, züchtigt es unmäßig und zerbricht sich selbst die Ehre, indem er die Gefährtin seines Lebens so entwürdigt. In der Heftigkeit und Leidenschaft züchtigt wohl ein Vater seine Kinder, mißhandelt eine Mutter das Wesen, dem sie das Leben hat geben dürfen. Es hat mich selten in der fast unübersehbaren Menge von Vereinen einer so bis ins Mark getroffen, wie der neuerdings entstandene „gegen Kindermißhandlung“. Wie weit ist’s mit der Christenheit bereits gekommen, wenn sich Vereine bilden, um arme, schutz- und rechtlose Kinder, hilflose Kreaturen, vor dem Ungestüm und der Roheit der| Eltern zu schützen! Wie weit hierbei übertriebene Humanität hereinspielt, ist hier nicht zu erörtern. Neben dieser Roheit aber, welche die Faust regiert und die Hand zum Mörder des Nächsten macht, zeigt uns Luther die Schärfe des Wortes. „Daß wir unserm Nächsten kein Leid tun.“ Siehe, du hast vielleicht achtlos über deinen Nächsten ein Urteil gefällt, hast dieses Urteil einem guten Bekannten anvertraut, der sagt es weiter, gibt das Seinige noch dazu, das Urteil wächst, lawinenartig schwillt das Unheil an und was du mit leichter Hand, wie eine Schneeflocke vom Baume abgestreift, geht in wenigen Tagen als eine das Lebensglück und die Lebensfreude deines Nächsten begrabende Lawine nieder. Nun sprichst du wohl: so war es nicht gemeint, das habe ich nicht gewollt! Aber dein Bruder und deine Schwester seufzen und grämen sich darüber. Du hast ihre Ehre angetastet und ihnen an ihrem Leben ein Leid getan. Wenn wir das immer bedächten. Wie wir, gedankenlos ein liebloses – nicht ein scharfes – ein liebloses Urteil über unsern Nächsten abgebend, eine Gewalt entfesseln, die des Nächsten Haus und Leben begraben kann, o, so würden wir an uns halten und sprechen: Verzeihe ihm die verborgenen Fehler und mir die Lust, diese Fehler hervorzukehren und fälschlich zu rügen! – Ich rede wahrhaftig nicht dieser Schwächlichkeit das Wort, welche das Unrecht für gut und alles Gemeine für schön, alles Unedle für groß erachtet und erklärt. Ich kenne als ein Diener der Wahrheit nichts von dieser armseligen Humanität, welche den Bruder, der da in die Hölle fährt, nicht warnt, ihn ruhig am Abgrunde wandeln läßt, statt zu rufen: Halte still, mein Bruder!
.
 Sehet wohl zu, daß euer Wort euerem Nächsten an seinem Leibe kein Leid tue! Unsere Väter haben von einem „sich krank ärgern“ geredet. – Siehe, du gehst vorbei an dem Gehege deines Nächsten, da hat er| seine Hütte gebaut und hat sie umfriedet, da wohnt und haust er, da will er leiden und da will er scheiden. Und du wirfst, ohne es zu achten, den Feuerbrand hart am Waldessaum nieder und gehst deines Weges weiter. Und in der Nacht glimmt das Feuer empor, und ehe der Morgen graut, liegt deines Bruders Ehre in Asche und sein Leben ist tödlich getroffen. – Ach, daß wir der Zungensünden, die gegen das 5. Gebot gehen, mehr eingedenk sein wollten! Luther sagt einmal: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und hasse dich selbst wie deinen Nächsten. Daß wir doch das lernen möchten: Hasse dich selbst wie deinen Nächsten! Wie kräftig kannst du ihn hassen, wie hellauf kannst du dich über ihn entrüsten, wie scharf gegen ihn klagen, wie ist es dir – ich möchte sagen – ein Lebensbedürfnis, eine Bedingung zu deiner Gesundheit, seine Ehre zu zertrümmern und zu zerbrechen! Wie wäre es nun, wenn du dies an dir selber tätest? Da würdest du bald linder und barmherziger werden. Siehe, du mußt tadeln, ich weiß es, du mußt strafen, es ist dir befohlen. Da bitte ich dich: tadle scharf, bestimmt, klar; aber tadle einmal und dann schweige. Und vor allen Dingen, tadle nur, was du wirklich tadelnswert findest, damit die Seele deines Nächsten gerettet werde. Tadle nicht, was du anders wünschest; denn es ist damit noch nicht gesagt, daß das andere wirklich das Bessere wäre: und wer unter uns zu tadeln hat, der bitte Gott ums rechte Wort. Gar mancher ist mit einem bösen Worte fortgegangen; das hat sich dann nicht bloß zwischen ihn und dich, sondern zwischen ihn und seinen Gott, zwischen dich und deinen Gott gelegt. Du hast nicht mehr beten können, er hat nicht mehr beten mögen und du bist Mörder seines Lebens geworden. – Wie oft, wenn man später nachforscht: woher kommt diese Verstimmung, diese Bitterkeit? sieht man, sie kommt von einem Worte her, das dem anderen schwer auf die Seele fiel.
.
 Und nicht wahr, bedenkt auch, daß der Ton das Wort| regiert. Du kannst das schärfste Wort sagen – es tut weh – und die Seele deines Nächsten genest. Und du kannst ein milderes Wort sagen mit scharfem Ton und Art – und die Seele deines Nächsten blutet darunter und sein Leib wird verletzt und versehrt.
.
 „An seinem Leibe kein Leid tun.“ Aber nicht bloß durchs eigene Wort können wir ihm Leid zufügen, sondern auch dadurch, daß wir das böse Wort anderer dulden. Du hörst ein hartes Urteil über deinen Bruder fällen; horchst mit Behagen zu, wie in deines Bruders Herz ein Haken um den andern getrieben wird und schweigst. Du erhebst nicht selbst die Brandfackel, aber du siehst mit innerlicher Genugtuung, wie ein Feuerbrand um den andern in das Leben deines Nächsten fällt. Du liest vielleicht einen Brief mit einem scharfen Urteil über deinen Nächsten und, statt daß du beim Lesen bitten möchtest: ach daß es nicht so wäre, anders sein möge! sagst du zu dir selbst: das habe ich stets geglaubt und so habe ich immer gedacht. Und dieses Urteil macht deinen Nächsten zum Mörder seines Bruders und dich mitschuldig daran. Wenn wir nur einmal die Zungensünden von dem treuen Gott auf eine große Menge gesammelt sähen und ihre Opfer daneben, wie würden wir erschrecken und Buße tun! Wenn aus den Gräbern die heraufsteigen würden, denen wir im armen Leben bitter unrecht und weh getan haben; wenn die Toten kämen, um uns zu verklagen, weil wir sie mißverstehen wollten; wenn unsere Umgebung auf uns eindränge und sagte: siehe, wie hast du mir das Leben abgesprochen, wie hast du mein ganzes Wesen belastet und beeinträchtigt, wie hast du mir die Zukunft verbittert und immer wieder nach dem Regen Wolken aufziehen lassen, wie finster war es bei dir, wie lieblos war es in dir und wie kühl war es um dich, wie hat es mich immer gefroren, wenn du zu mir redetest! Siehe, wir würden dann wohl milder und linder| werden. Schau doch einmal her, o Seele, wie empfindlich du bist! Das kleinste Wort, das du dir anders wünschtest, die schlichteste Rede, die du dir anders erhofftest, gehen dir durch Tage nach. Es schmeckt dir das Essen nicht, es flieht dich der Schlaf, deine Arbeit ist erschwert, dein Tagewerk ist bedrückt: alles um eines Wortes willen, das nicht so an dich kam, wie du es wünschtest.

 Und wieviel solcher Worte gibst du deinem Nächsten als Reisefracht mit auf den Weg! Es hat mir einmal jemand gesagt: ich habe mich gerne geweidet an der Gedrücktheit meines Nächsten. Ein furchtbares Wort – eine Beichtrede, die mir durch die Jahre nachgegangen ist. Ich habe mich geweidet an der Gedrücktheit meines Nächsten! Und du hast ihm sein Leben erschwert, hast ihm die Hoffnung der Liebe zerstört und hast ihm den Tag vor Abend verdüstert.

 Dem Nächsten mit der Tat Schaden tun, das ist verboten. Dem Nächsten mit dem Worte ein Leid tun, das ist uns ernstlich untersagt. Wer der heilige Gott, der in Jesu Christo ein Meer von Liebe erschloß, die da alles glaubt, auch das Unglaubliche, alles trägt, auch das Unerträgliche und alles leidet, auch das Unleidliche, geht in die Tiefe unseres Lebens und wehrt – als Sünde gegen das fünfte Gebot – den bösen, bitteren Gedanken. Wer kann es merken, wie oft er täglich fehlet! Es hat mir einer bitter unrecht getan; nun höre ich, daß es ihm übel geht und durch meine Seele zieht die Freude: endlich hat ihn Gott getroffen! Statt daß ich niedersänke und spräche: wenn du Lust hast mit mir zu hadern, so kann ich dir auf tausend nicht eins antworten. Du erfährst, daß der Mensch, der dir im Wege stand, deinem Glück im Lichte stand, wie du meinst, endlich beseitigt ist. Mit frohem Worte preisest du Gottes Gerechtigkeit. In Wahrheit aber labst du dich an deines Bruders Elend und Leid und hast so das fünfte Gebot übertreten. – Du trägst nach; du kannst wohl vergeben,| indem du einen Gedanken an „damals“ zurückdrängst und zurücktreten lässest, aber du kannst nicht vergessen. Wie wenn Flecken auf einem Tuch, von der Sonne beglänzt, wieder plötzlich zutage treten, so braucht auf deine innerliche Verstimmung nur irgendein Licht fallen und es glänzt dein Ärger wieder hell.

 Ach, wieviel Unrecht tun wir durch unser Nachtragen! Die Liebe rechnet nicht das Böse nach, außer daß sie sagt: siebzigmal siebenmal will ich vergeben. Es ist merkwürdig, wie die höchste Kraft der Christusnachfolge und die schlimmste Gewalt der satanischen Bitterkeit ganz nebeneinander wohnen, so hart beieinander, daß man es kaum immer unterscheiden kann, wenn man nicht auf den Grund geht. Das geschieht aber so: kannst du für einen Menschen von Herzensgrund beten und für einen Menschen, der dir weh getan hat, von Herzensgrund hoffen? Wenn du das kannst, dann kannst du nachtragen, alles nachtragen, brauchst nichts zu vergessen; denn du hast es dir nur gemerkt, um ihm wohlzutun.

 Wie oft hat der Neid deines Nächsten Wesen und Leben vergiftet und verheert! Der Heiland spricht von den Feinden, bösen Nachbarn, die Unkraut mitten unter den Weizen säten; nicht an des Weges Saum, nicht an des Ackers Grenze, sondern mitten darein. Wenn nun der Herr des Ackers sich des ausgehenden Samens freut, findet er mitten darin das Unkraut und wird sich bitter darüber grämen. Wie hat dein Neid oft mitten ins Glück deines Nächsten, in die Freude, die er dir arglos gestand, die er dir freundlich mitteilte, allerlei Unkrautsamen gesät! Von deinem bitteren Antlitz ging es wie Schatten über sein junges Glück; von deiner scharfen Miene ging es wie ein Weh über die junge Lust, an der er sich eben ergötzte. Eine einzige Bemerkung, ein einziger Zug in deinem Antlitz – und du hast es ihm schwer gemacht. Das böse Auge, nennt es der| Herr; der scheele Blick, von dem Er spricht, hat deinem Nächsten vielleicht weher getan, als ein hartes Wort und als ein derber Schlag. Und welche Wünsche hat dein Zorn ihm auf den Weg gegeben! Wahrlich, ich bin der Letzte, der den Zorn verbietet. Es muß Zorn geben, damit Liebe sei, und nur von Zornesgluten kann Liebeswärme erstehen. Es muß Zorn über das Gemeine geben, wenn es sich breit macht, und über das Unreine, wenn es verführt, und über die Irrlehre, wenn sie die Menschheit vom ewigen Heile ablenkt und um den Friedenshort betrügt. Es muß Zorn geben gegen alles Scheinwesen, gegen die Liebe zum Unrecht, gegen das Behagen im rein leiblichen Genusse, gegen die Unentschiedenheit, gegen Laune, Mittelmäßigkeit. Aber der Zorn, der mit der Geißel die Unreinigkeit aus dem Tempel austreibt, faltet zuerst die Hände und spricht: laß es zum Heil gereichen! Dieser heilige Gotteszorn will nichts anderes als der Sünde Tod und des Sünders Rettung. Der heilige Gotteszorn wendet sich gegen alles Unreine, damit sein Diener frei werde. Aber wie ist denn dein Zorn? Welche Namen gibst du vielleicht deinem Nächsten! Du nennst ihn mit harter Rede oder du denkst dir von ihm ein böses Teil; du wünschest ihm alles Üble nach, in deine Träume sogar wagt sich das Mißgeschick deines Bruders, und deine Gedankenwelt regiert sein Unheil und sein Leid. Ach, wer es wüßte, mit wem er tagelang im geheimen Zwiegespräch der Gedanken lebt! Wer es sich sagen wollte, daß er vom frühen Morgen bis zum späten Abend dem Feinde seines Lebens Herberge gegeben und ihn eingeladen hat zu verweilen: bleibe bei mir! O, daß man doch erwäge, daß der Feind ein Morgenrot heraufführt, so blutigrot, in Flammen des Gerichtes getaucht! O, Christenseele, wenn du mit bitteren Gedanken gegen deine Schädlinge und Feinde, oder mit neidischen Gedanken gegen deine Freunde dich trägst, wenn du mit kalter, liebeleerer Kritik| im Innern deines Nächsten Leistungen verkleinerst und verringerst, wisse, daß du dann den zu Gast gebeten hast, dessen Name schon Unheil bringt. Denke daran, daß deine unter dem Kreuze erlöste und in ein Meer von Liebe getauchte Seele ihren Mörder gebeten hat, bei ihr zu bleiben! Weißt du wohl, daß alle die Pfeile, die du aussendest, ein Ziel erreichen, aber nicht das Ziel, das du ihnen auf den Weg gibst, sondern sie wenden sich gegen dich selber. Die bitteren Gedanken, die wir in unserer Seele beherbergen, und all die scharfen, neid[i]schen Erwägungen und all die zürnenden Wünsche gehen zuerst in die Weite und kommen dann ins Sterbegemach zum Abschied. Und während sie als Gedanken auszogen, kehren sie als Menschlichkeiten zurück und weichen nicht, sondern verbauen den Ausblick und den Anblick der ewigen Liebe: ich kann meinen Jesum nicht mehr sehen vor den Gewalten, die mein Fleisch und Blut sind und vor den Gewalten, die ich einst die Meinen nannte.

 O, es liest sich so leicht: Du sollst nicht töten! Ich wünsche es euch und erbitte es mir, daß nicht die rohe Gewalt, das ist das Schlimmste noch nicht, sondern daß das lose, böse Wort und der bittere Gedanke fern von uns bleiben mögen. Vielleicht sind einige unter euch, die eine bittere Wurzel in ihrem Herzen hegen. Sonst reißt man das Unkraut aus, aber dieses begießt und pflegt man und läßt’s in der Sonne gedeihen und freut sich, wenn die Wurzel grünt und treibt. Reißt, ehe es Abend wird und solange ihr’s noch könnt, diese Wurzel aus eurem Herzen, damit Er sie nicht mit Feuer verbrenne und euch mit ihr! Tilgt alle Schärfe eures Wesens, die dem Nächsten das Leben erschwert und verwundet, durch die Hilfe des barmherzigen Samariters aus euerem Leben, aus euerem Wesen!

 Es hat ein Gottesmann einmal gesagt: Zweierlei Sünden prägen sich am allermeisten dem Angesicht und dem ganzen Leben auf: Die Sünde gegen das sechste und| die Sünde gegen das fünfte Gebot. Ja, Zorn, Neid, Haß und Unkeuschheit sind es, die den Menschen nach des Herrn Willen schon auf dieser Welt kennzeichnen; wie soll’s dann einst in der andern Welt werden?

 Um des willen, der seinem heiligen Leibe allen Schaden und alles Leid hat zufügen lassen, damit Er unser Leibesleben zu einem Tempel des heiligen Geistes verkläre und bewahre, um Jesu Christi willen, der das fünfte Gebot in dem Gebete erfüllt hat: Vater vergib, Vater vergiß! ermahne ich euch und rufe es mir selbst zu: laßt uns ein Meer von Liebe über diese liebekalte, liebeleere Welt hinaussenden; denn nur soviel nützt ein Christ, als er liebt. Laßt uns alle Bitterkeit aus unserm Herzen reißen und die Schärfe von unsern Lippen nehmen und das rauhe, liebearme Wort aus unserm Munde verbannen! Und laßt uns um das Eine, das Größte, das Seligste bitten: hilf, daß einer der Deinen in meiner Nähe fromm werde, damit ich in seiner Nähe froher werden möge!

Amen.





« Viertes Gebot III Hermann von Bezzel
Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)
Fünftes Gebot II »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).