Die sieben Sendschreiben der Offenbarung St. Johannis/Das zweite Sendschreiben

« Das erste Sendschreiben Hermann von Bezzel
Die sieben Sendschreiben der Offenbarung St. Johannis
Das dritte Sendschreiben »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Das Sendschreiben
an die Gemeinde zu Smyrna


 „Und dem Engel der Gemeinde zu Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden.
 Ich weiß deine Werke und deine Trübsal und deine Armut (du bist aber reich) und die Lästerung von denen, die| da sagen, sie seien Juden und sind’s nicht, sondern sind des Satans Schule.
 Fürchte dich vor der keinem, das du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird etliche von euch ins Gefängnis werfen, auf daß ihr versucht werdet, und werdet Trübsal haben zehn Tage. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!
 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: „Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem andern Tode.“
Offenbg. 2, 8–11. 


 Einleitung: Der zweite Brief, der an die Gemeinde von Smyrna, trägt das Gepräge bereits überwundener Trübsal. Es geht durch diese Gemeinde das, was kein Mensch genug erbeten kann und was jeder Mensch mit einem gewissen heiligen Neid erwünschen möchte, die Freude des Herrn an einer Gemeinde. Wenn schon die Freude am Herrn unsere Stärke ist und dies Vertiefen in seinen Heilsrat unsere Erquickung, was muß es erst sein, wenn man sagen kann, selbst eine Freude des Herrn, sein Ruhm und seine Ehre sein zu dürfen! An diese Gemeinde schreibt der Herr wie an sein Lieblingskind; denn er knüpft seinen Tod an ihren Tod (V. 8). Die Gemeinde redet er an als eine arme, widerruft aber alsbald dies Urteil und sagt: „Du bist reich, du wirst zehn Tage Trübsal haben; aber du bist getröstet.“ Er wendet sich an die Gemeinde, die von ihren eigenen Genossen verkannt und verschmäht war und bietet sich ihr dar als vollen Ersatz, als den Getreuesten, der weiß, daß in seinem Namen völliger Ersatz geschenkt ist. Und endlich, wenn er von Todeswehen und Todesschrecken spricht und von dem welkenden, fallenden Laub und allem, was Menschenschöne| und Herrlichkeit heißt und sich erbietet gegenüber all dem, was der Gemeinde vielleicht an Leben erblüht war, ihr einen lebensvollen Kranz (V. 10) zu flechten, der hier wohl ein Dornenkranz zu sein scheint, unter dem aber die Rosen ewiger Freude und ewigen Friedens hervorquellen, so ist dieser Brief, ob auch der kleinste, doch der Brief, den der Herr Jesus mit sonderlich zarter Bewegung seines Herzens geschrieben hat. Ich wage nicht zu fragen, welche Freude wir dem Herrn gemacht haben. Grund, ihm Freude zu machen, hätten wir mehr; die Gemeinde von Smyrna hat aus Glauben heraus ihm Freude bereitet, wir gewähren nicht einmal aus Schauen heraus ihm Freude. Wir haben bereits vieles erfahren, ohne das Große und Preiswürdige, was noch im Glauben aussteht. Wie wir also dem Herrn Christus Freude machen, das ist eine für die Seele unendlich wichtige Frage. Alles das aber, womit wir ihm Freude machen wollten und möchten, ist nichts. Wir dürfen es gar nicht wissen, daß wir ihm Freude sind und alles das, womit man ihm am wenigsten Freude zu machen glaubt, das ehrt ihn. Als die Jünger des Tempels Pracht ihm zeigten (Matth. 24, 1), da hat er von dieser Stunde nichts wissen mögen. Als sie aber am Ostertage ihm ihre geängsteten Gemüter und zerschlagenen Herzen offenbarten, da war es ihm Freude. Als sie voll Freuden kamen und verkündeten, daß ihnen die Geister untertan seien (Luk. 10, 17), daß in seinem Namen die Teufel zurückwichen, da freute er sich nicht. Wenn aber ein Stephanus brechenden Auges ruft: „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf“ (Ap.-Gesch. 7, 58), so ist er ein Mensch, dessen die Welt nicht wert war, und was die Welt| Schmach nennt, das ist vor ihm Freude. –
.
 Jesus führt sich bei der Gemeinde von Smyrna als den ein, „der da ist der Erste und der Letzte, der tot war und ist wieder lebendig geworden. (V. 8.) So soll die Gemeinde wissen, daß er durch Todesschrecken gebrochen und hindurchgegangen ist. Wenn ihre Hoffnung zerfällt, ihr ganzes Wirken nichts mehr ist, soll sie inne werden, daß sie auf einem bereits betretenen Pfad geht. Wenn man in einsamer Winterszeit durch schneebedeckte Fluren wandelt und weit und breit keinen Baum, kein Haus erblickt als Zeichen des Lebens, das wie ein Bote kommender Heimat grüßt, dann wird man so bescheiden, daß auch die Fußtapfen als erbarmende Grüße so tröstlich erscheinen: also ist durch diese winterliche Landschaft auch ein Mensch gegangen. Seine Spuren führen vorwärts zur Herberge. So soll es der Gemeinde von Smyrna gehen. Es ist so schaurig winterlich um sie her; sie hatte einst Freunde, an deren Liebe sie sich wärmte; diese aber hatten sich von ihr gewendet, als Satans Schule und unechte Diener Gottes sich erwiesen. Die Gemeinde ist einst voll Reichtum gewesen, als der Apostel die großen Briefe auch an sie gesendet, als sie vielleicht den Brief des Jakobus von den guten und vollkommenen Gaben und seine Grüße an all die Mühseligen und Beladenen empfangen hatte. Sie hatte hohe Ehre, als die johanneischen Briefe an sie kamen, die von der Erbarmung Gottes Zeugnis geben. Aber das war jetzt alles vorüber: sie glaubte sich arm. Doch inmitten dieser winterlichen Verarmung, wo durch all ihr Tun der Hauch des Sterbens zog, wo ihr Weg einsam und ihr Pfad menschenleer war, durch all das Schwere, was die| Gemeinde begleitete, mit dem sie sich zur Ruhe legte und mit dem sie zu neuem Tagewerk aufstand, in all dem Bittern, im Gefühle, auf Erden verlassen und im Himmel fremd zu sein, soll sie sich trösten, daß durch diese winterliche Flur Fußtapfen gehen, scharf eingeprägt. Diese Spuren sind nicht die eines irrenden Menschen, bei dessen Wegtritten man sich dem Gefühle eigenen Irregehens nicht entziehen kann, sondern diese Fußtapfen sind klar: sie gehen durchs Sterben, aber sie rasten nicht beim Sterben. „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig geworden.“ Sie gehen über Grab und Tod hinüber. Das Ende des Winters – am Grabe; aber jenseits des Grabes der Anfang des Frühlings, der nie verwelkt und nie vergeht. „Der Erste und der Letzte“ grüßt seine Gemeinde. Sie soll es wissen, daß mitten durch die einsame Erde, die so kalt und tot vor ihr liegt, ein Weg führt mit sicheren Zeichen, ein Pfad, klar und scharf sich abhebend von all dem, was ringsum liegt. Die Gemeinde soll es erfahren, was wir beten: „Jesu geh voran auf der Lebensbahn und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen. Führ uns an der Hand bis ins Vaterland!“[1] An diesen Spuren aber soll die Gemeinde sich trösten. Sie gehen tief hinein, so tief, bis sie am Grabe enden, und über diesem steht: „Leiden, Sterben, Tod, – Ich war tot.“ Aber wenn die Welt am Grabe umkehrt mit dem Weh im Herzen, daß sich der Weg auch des Getreuesten verloren hat, so geht das Auge des Christen weiter. Ueber das Grab hinüber sieht er eine Welt von Seligkeit, nicht im Hoffen, sondern im Haben, und über dem Wege steht: „Ich bin wieder lebendig geworden!“ Also ist der Erweis erbracht, daß auf Winterszeit| und winterliches Grämen im Leben Frühling und Frühlingsfreude folgt, daß einmal der Winter überwunden und der Frühling bleiben wird für alle Zeit. Und der Sieg bleibt, alles dagegen, was dem Siege vorangegangen ist, wird klein erscheinen.
.
 „Ich weiß deine Werke und deine Trübsal und deine Armut. (Du bist aber reich). (V. 9a) „Ich weiß!“ Wie wir es bei der Gemeinde von Ephesus so tröstlich hörten, so auch jetzt hier: „Jesus Christus weiß.“ Als ob die Gemeinde von Ephesus jetzt gar nicht mehr vorhanden wäre, wendet er sich an die Gemeinde von Smyrna; als ob sie jetzt ganz allein vor ihm stünde, redet er mit ihr von ihrem gebückten Zustand: Du bist in der Enge und Trübsal, du hast Auswege gesucht und nicht gefunden, du hast aus den Verlegenheiten heraus gewollt und sie wurden größer. Ich weiß deine Enge, dein Gedränge. Ich weiß! Hebe deine Augen auf! – O wir Toren und trägen Herzens, die wir Weg und Steg suchen, während vor unsern Augen sich der Weg hinzieht, den er selbst gegangen! In dem „ich weiß!“ liegt zugleich der Ausweg. Das ist ja seine Gnade, daß er unsern Weg und Pfad verwehen läßt, auf daß wir seinen Weg erkennen können. Ich weiß dein Gedränge. Du bist am meisten darüber bekümmert, daß die recht haben sollen, die da sagen: Wo ist nun dein Gott? Du hast geglaubt und geharrt und bist betrogen. „Aber ich weiß deine Armut, du bist reich.“ Es zeigt uns Christus damit, was vom Menschenurteil zu halten ist. „Was alles gilt, gilt nichts in deinen Augen; was nichts ist, hast du, großer Herr, recht lieb.“[2] Die Gemeinde klagt über ihre Armut und trauert im Witwenschleier, aber er| spricht: „du bist reich“ und hebt dadurch mit souveräner Gewalt alles Menschenurteil auf. Ach, daß wir es wüßten, wie das Menschenurteil so gering ist, wenn die Schmeicheleien des Lebens uns umtönen und die Huldigungen uns umrauschen. Der Herr, der Lorbeerkränze gewunden sieht, – Anerkennungen, die ihren Wert längst verloren haben, weil schon viele Tausende vor uns sie bekommen haben und Tausende nach uns sie bekommen werden – wird sie alle verwelken lassen. Ach, daß wir, wenn wir einmal in dieser Sonne uns wärmen möchten, die so kalt ist wie die flitterige, die auf dem Theater aufgeht, es dann erkennen möchten: Jesus hebt Menschenurteile auf; aber wenn alles sich gegen uns wendet, dann spricht er: „du bist reich.“ Erst dann, wenn ein Mensch in der vollkommensten Armut sich befindet, daß ihm nichts mehr munden, nichts mehr Freude machen will, erst wenn alle Genüsse dieser Welt seinen Hunger nicht mehr stillen können, erst dann erfährt er das Wort: „Du bist reich!“ Es ist etwas Großes um das Urteil Jesu Christi und jetzt schon werden wir einen Vorschmack von dem haben, was er einst sagen wird und welche Überraschungen er seiner Gemeinde einst vorbehalten hat. Wie wird gar manche Seele, die hier im geistigen und geistlichen Ueberfluß schwelgte, droben der Brosamen begehren, die von ihres Vaters Tische fallen, und sie nicht erhalten. Wie wird manche, die hier kaum ein Wort der Freundlichkeit erfahren hat, droben sehr reichlich getröstet werden! Sollten wir nicht darum bitten, uns die Gabe erflehen, daß wir dazu helfen können, die Reichen arm und die Armen reich zu machen, ja bitten um die Sonne der Klarheit, daß wir| an den Reichen, Vollen, Satten, Selbstgewissen vorübergehen, während wir zu den Geängsteten hintreten und sagen: Jesus Christus hat mir den Glanz ins Herz gesenkt, daß ich auch in dein Herz ihn senken darf. Das wäre eine gesegnete Gemeinde, das wäre ein gesegnetes Dienen, wenn wir hingehen würden und sagen: „Du glaubst arm zu sein, Du bist aber reich“, und nun dem Herzen aufschließen, was Christus einer Seele werden kann, der alles Irdische ein Nichts geworden ist. – Aber das muß man erst selber erfahren haben; denn unsere Kranken und Armen fühlen es hindurch, ob wir mit zusammengeleimten Redensarten zu ihnen treten, die wir gar nie innerlich erfahren haben, oder ob wir selbst das Angesicht des Königs geschaut haben, der uns in unserm Leben, in unserer Krankheit besucht hat. Niemand ist feinfühliger als ein Kranker, nichts spürt er mehr durch als dies, ob die Persönlichkeit, die mit ihm handelt, sich in ihn hineindenken kann. Indem ich, der Gesunde, an ein Krankenbett trete, tue ich wohl auf der einen Seite und wehe auf der andern Seite. Ich stehe in der Kraft da und dieser Kranke muß leiden. Es ist schwer, einen gesunden Tröster zu haben. Indem man äußere Wunden heilt, kann man innere aufreißen. Dieses Gefühl recht zu verstehen, sich hineinzudenken, sich hineinzubeten und hineinzulieben in das Herz des Kranken, das heißt zu ihm sagen: „Du bist arm, nein reich.“ Die Verheißungen des Alten Testaments stehen um dein Lager und die Tröstungen des Neuen umringen dich. Für dich betet, daß du heimkommst, dein Hoherpriester. „Du bist reich“, denn du darfst über die Todesschatten und über die sich verlierenden Spuren dieser Erde| ewig feststehende, sichere Pfade zur Heimat ziehen.
.
 „Ich weiß auch, was du an Schmähungen zu tragen hast, nicht von Feinden, sondern von denen, die einst deinesgleichen waren“[3]. (V. 9b) Werden wir den Mut haben, einer Weltanschauung entgegenzutreten, die einst die unsrige war, der Weltanschauung in unseren Kreisen, die das Leben leicht macht, um das Sterben schwer zu machen? Sind wir so flach, daß wir uns schämen, erfaßt zu sein, wenn wir es waren? Geschiehts nicht, daß ein Mensch sich seiner Rührung schämt? Das ist keine Buße, wo man nicht Eindrücke festhält bis in den Tod. Es ist zu wenig Furcht Gottes unter uns, zu wenig Furcht vor dem, der ein verzehrendes Feuer ist. Es ist zu wenig Ernst den kommenden Gerichten gegenüber. Man tut, als ob die Gnade ein Pflaster wäre über die Wunden, dann werde alles andere sich von selbst machen. Es macht sich aber gar nichts von selbst. „Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern.“ (Phil. 2, 12b) „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“ (Phil. 4, 13) Haben wir den Mut, auch die Beleidigungen und Schmähungen von solchen zu tragen, welche glauben uns einen Dienst zu tun, wenn sie uns den Weg breit und die Pforte weit machen, wenn sie uns die Leichtigkeit ihrer eigenen Lebensanschauungen einimpfen wollen? Es gibt keine Leichtigkeit der Lebensanschauungen gegenüber den Gerichten Gottes, dieweil Gerichte ein furchtbares Herzweh, herzzerschneidendes Grämen sind. Die Gemeinde von Smyrna hat die Schmähungen von denen erfahren, welche sich die rechten Israeliten nannten, während sie doch im Innern eine Clique von| Lügnern waren. So nennt sich mancher einen rechten Christen, der nicht einmal das Abc des Christentums gelernt hat. Wir wollen uns der falschen Urteile nicht weigern, weil der Herr uns dadurch mehr in die Heiligung treiben möchte, so gewiß uns jedes harte Urteil am Herzen frißt, weil auch im verlogensten Urteil ein Gran Wahrheit ist. Wir werden ja Trübsal erleiden müssen. Ein Christ, der hier auf Erden lauter Kränze flicht und sich flechten läßt, der hat droben nichts mehr zu tun; denn er hat hier bereits seine Aufgabe erfüllt.
.
 „Fürchte dich vor der keinem, das du leiden wirst. Siehe, der Teufel wird etliche von euch ins Gefängnis werfen, auf daß ihr versucht werdet und werdet Trübsal haben zehn Tage. Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!“ (V. 10) Zehn Tage Gefängnis und der elfte brachte den Tod. Diese Worte haben sich ganz wörtlich erfüllt. Er ruft ihnen zu: „Werde treu bis zum Tode, dann will ich dir den Lebenskranz geben!“ So ruft er auch uns zu, die wir ihm nachfolgen möchten. Treu bis zum Tode, [–] also bis zu dem Augenblick, wo die Untreue am leichtesten eintritt und sich rechtfertigen möchte, weil man am leichtesten da seinen Herrn vergißt und am besten sich über dies Vergessen als über ein entschuldbares tröstet. Bis zum Tode, und wenn es schwer ist, so wissen wir, daß einer neben uns steht, der diese Treue so gehalten hat, daß er in der eigenen Gottverlassenheit Gott nicht verließ. Er mußte wohl sprechen: „Warum hast Du mich verlassen?“[4] nimmer aber: „Warum habe ich Dich verlassen Wir gehen weiter und sagen: „Sei getreu“ nicht nur bis| zur letzten Todesstunde, sondern bis es mit dir zum Sterben kommt, und dies Sterben ist ein tägliches. „Halte aus, halte das Gelübde, das du mir gegeben hast bis zu dem Momente, wo ich dich auf die Probe stelle, indem ich dir alles nehme, alles von dir wenden muß und du gar aus sein sollst.“ Treue und Tod, das sind die beiden Gegensätze und Pflichten, die dem Christen erwachsen. Des Christen Pflicht ist Sterben; aber seine Pflicht ist zugleich leben und Lebenstreue üben. So fügen wir diese beiden gegensätzlichen Pflichten in die Aufgabe zusammen: „Indem ich sterbe, bleibe ich treu und weil ich treu bin, darum sterbe ich.“ Er nimmt von uns alles, alles und spricht: „Ich will dir den Kranz des Lebens geben.“ – Also sind unsere Kränze längst abgefallen; denn wo auf dem Haupte schon ein Kranz sich findet, setzt Christus nie einen überschüssigen und überflüssigen auf das Haupt. Er will uns alle, alle Kränze nehmen. Denn er nimmt alles weg, was das Leben schmückt. Hier liegt die geheime Treue, daß wir uns jeden Tag in die Stunde versetzen, wo man alles lassen muß. – Wir haben gewiß schon Sterbende gesehen. Was ist es doch für ein armes Ding, wenn der Herr so eins ums andere auszieht! Nun zieht er den Blick weg, der noch einmal ein freundliches Antlitz erfassen kann, nun nimmt er das Gefühl, das für den Druck der Freundeshand noch empfänglich war, dann das Gehör, sodaß selbst sein Wort scheinbar die Seele nicht mehr trifft. Es bricht das Auge, das so oft auf die Eitelkeit gerichtet war, damit in letzter Stunde es nur ihn sehe. Es schließen sich die Ohren, die so oft auf das Tosen und Kosen dieser Welt begierig lauschten, damit sie die Ewigkeit| rauschen hören. Es schwindet das Gefühl, das so oft das fühlte, was nicht zum Frieden diente und was der Seele einen bittern Schaden zugefügt hat. Und da will er denn, wenn alles wankt und schweigt, wenn alles weicht und fällt, eintreten mit einem Lebenskranz, da jede Blume die Probe des Todes bereits bestanden hat und jede Blüte die versehrende Winterkälte erfahren und überwunden hat. Er will den Lebenskranz geben, wie er dort vom Lebensbaum in seligster Gemeinschaft mit seinem Vater essen läßt. Und dieser Lebenskranz, den er am Kreuzesstamm errang, da ihm die Dornenkrone aufs Haupt gesetzt wurde und er aller Freude sich versagte, wird uns nicht von einem Engel, auch nicht durch Vermittlung der erträumten Heiligen geschenkt, sondern der Herr neigt sich selbst herab. Wo wir auf der Stirne den Todesschweiß rinnen sehen, dürfen wir auch manchmal etwas vom Aufleuchten des innern Menschen erblicken, der sich freut, daß einer sich seiner annimmt, ja sein Herr ihm den Lebenskranz aufdrückt. So mögen alle Freuden von uns weichen, alle Blüten welken; denn über kurz oder lang weichen sie ja doch. Das ist es, was wir täglich erbeten wollen und dürfen: „Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden, Du bist mein, ich bin dein, niemand kann uns scheiden.“[5] Er, auf dessen Lebensbaum so viele Blüten und Blätter täglich reifen, möge noch einen Segen für uns übrig haben, noch etliche Blätter und Blättlein finden, die da ausreichen, um uns einen Lebenskranz aufs Haupt zu geben. „Bis zum Tod getreu“. Es kann niemand mehr begehren, denn daß er treu erfunden werde, weil Christus von uns nicht mehr verlangt, als die Treue. Ach, daß diese Treue| bei uns recht groß werde! Das Höchste knüpft immer am Kleinsten an: Lebenskränze für die, welche hier alles aufgegeben haben.

 „Wer überwindet, der wird vom ewigen Tod nicht geschädigt werden.“ (V. 11) Während die Kränze, die wir in die Ewigkeit mitbringen, welken müssen, wird der Kranz, den er uns gibt, nimmer welken und uns vor dem andern Tod behüten. Wer da gesiegt hat, dem wird kein Blatt aus diesem Lebenskranz genommen werden und auch der ewige Tod wird ihn unversehrt lassen. Wem da das Herz nicht vor Freuden übergeht, daß eine Zeit kommt, wo auf diesem armen, sterblichen und geängsteten Haupt die Lebenskrone steht, dem ist nimmer zu helfen. Wer aber das Sehnen hat, daß aus dem Reichtum seiner Gnade der Lebenskranz unser armes Haupt einst schmücke, der reinigt sich, gleichwie er auch rein ist.

 So lasset uns glauben, hoffen, beten, daß jeder Christ, der da treu sein möchte, schon treu ist; daß jeder Christ, der da begehrt, immer ernster, inniger ihm zugewendet zu sein, fürs Irdische, wie fürs Himmlische ein guter Haushalter werde! Ach, wenn des Menschen Sohn, der einst arm war und aus Armut reich geworden ist, zu allen sagen möchte, wenn er wiederkommt: „Ich weiß deine Armut, deine Gedrücktheit und kenne, wie viel welke Blüten den Lebensstrom hinabgetrieben sind“; „wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von allen Todesschrecken“, wer überwindet, der soll neben dem Ueberwinder im Siegeskranz stehen.

„Wenn dort, Herr Jesu, wird vor deinem Throne
Auf meinem Haupte stehn die Ehrenkrone,

|

So will ich dir, wenn alles wird wohl klingen,
Lob und Dank singen.“[6] Amen.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. EG 391,1.
  2. Aus dem Lied von Gottfried Arnold (1666–1714) "So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen", Strophe 5.
  3. Dieses Zitat hat nur sehr wenig Anklang am Urtext und ist weitgehend Interpretation. Oben noch übersetzte Bezzel: "die Lästerung von denen, die da sagen, sie seien Juden und sind’s nicht, sondern sind des Satans Schule".
  4. Vgl. Mk. 15,34.
  5. EG 370,11.
  6. EG 81,11.


« Das erste Sendschreiben Hermann von Bezzel
Die sieben Sendschreiben der Offenbarung St. Johannis
Das dritte Sendschreiben »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).