Die Wiedergeburt des Deutschen Reiches. Der Dreibund
Literatur:
- Heinrich v. Sybel. Die Begründung des Deutschen Reiches durch Kaiser Wilhelm I. 7 Bände. München 1889–1904.
- Heinrich v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. 5 Bände. Leipzig 1879–94.
- Constantin Bulle. Geschichte der neuesten Zeit, 1815–1871. Leipzig 1876.
- Ludwig Hahn. Fürst Bismarck. 5 Bände. Berlin 1878–91.
- Horst Kohl, Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. 14 Bände. Stuttgart 1892–1905.
- Erich Marcks, Kaiser Wilhelm I. Leipzig 1897. (7. Aufl. 1910.)
- Derselbe, Bismarck. I. Band. Stuttgart 1909.
- Max Lenz, Geschichte Bismarcks. Leipzig 1902. (3. Aufl. 1911.)
- Egelhaaf, Bismarck, sein Leben und sein Werk. Stuttgart 1911.
- Derselbe, Geschichte der neuesten Zeit. Stuttgart 1908. (4. Aufl. 1912.)
- Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859–66. Stuttgart 1896. (6. Aufl. 1910.)
- Hanotaux, histoire de la France centemporaine. Paris 1903. 4 Bände.
Nach der Niederwerfung Napoleons I. 1814 wurde auf den Beratungen während des Wiener Kongresses Deutschland eine neue politische Form gegeben, die des Deutschen Bundes, dessen Akte am 8. Juni 1815 von den Bevollmächtigten der 38 beteiligten Regierungen unterzeichnet wurde. In dem Plenum der „Bundesversammlung“ führte Österreich 4 Stimmen, je ebensoviele die Königreiche Preussen, Sachsen, Bayern, Hannover und Württemberg; die Grossherzogtümer Baden, Kurhessen, Hessen, Holstein und Luxemburg je 3, das Grossherzogtum Mecklenburg-Schwerin, die Herzogtümer Braunschweig und Nassau je 2, die Grossherzogtümer Sachsen-Weimar, Oldenburg und Mecklenburg-Strelitz, die Herzogtümer Sachsen-Gotha, Sachsen-Koburg, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Hildburghausen, Anhalt-Dessau, Anhalt-Bernburg, Anhalt-Köthen, die Fürstentümer Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Hohenzollern-Hechingen, Lichtenstein, Hohenzollern-Sigmaringen, Waldeck, Reuss ältere Linie, Reuss jüngere Linie, Schaumburg-Lippe und Lippe, die vier freien Städte Lübeck, Frankfurt, Bremen und Hamburg je 1 Stimme. [264] Das ergab zusammen 69 Stimmen. Das Plenum sollte aber wesentlich nur bei Abänderung der Grundgesetze in Tätigkeit treten. Für gewöhnlich wurden 17 Stimmen abgegeben, wovon elf auf die vorhin an erster Stelle genannten grösseren Teilhaber von Österreich bis Luxemburg entfielen (Virilstimmen), während die kleineren Mitglieder zu 6 sog. Kurialstimmen zusammengefasst waren. Für diese kleinere Bundversammlung ward der Name „Bundestag“ üblich. Dieses ungefüge Staatswesen mit seiner allen wirklichen Machtverhältnissen hohnsprechenden Stimmenverteilung, seinem völligen Mangel an einer kräftigen Zentralgewalt und an freiheitlichen Bundeseinrichtungen war kaum etwas anderes als die Wiederbelebung des 1806 zusammengebrochenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, nur ohne Kaiser. Es erregte von Anfang an die lebhafte Unzufriedenheit aller Patrioten und wurde 1848–50 während der revolutionären Bewegung, die von Frankreich ausgehend Deutschland und Italien ergriff, durch die Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt (18. Mai 1848 bis 18. Juni 1849) zu reformieren versucht, im Sinne, der Umwandlung in einen freiheitlichen, von dem hohenzollernschen Erbkaiser geleiteten Bundesstaat. Allein dieser Versuch scheiterte an der Abneigung Friedrich Wilhelms IV. von Preussen gegen einen von der Revolution ihm angebotenen Kaiserthron, der auch stets ein zweifelhafter Besitz gewesen wäre, und des Königs eigenes Unternehmen, durch Vereinbarung mit seinen Mitfürsten Deutschland eine bessere Verfassung zu geben, misslang, weil Österreich unter der Leitung des Fürsten Felix Schwarzenberg sich Preussen entgegenwarf und die Königreiche Sachsen, Hannover, Bayern und Württemberg sich aus Sorge um ihre bedrohte Souveränität an seine Seite stellten. Der Bundestag, der sich am 12. Juli 1848 aufgelöst hatte, ward am 2. September 1850 von Österreich für hergestellt erklärt, und Preussen trat ihm, nachdem der Minister Otto von Manteuffel im Namen des Königs in den Olmützer Verhandlungen den bisherigen Standpunkt preisgegeben hatte, durch Entsendung des Gesandten von Rochow am 14. Mai 1851 ebenfalls wieder bei.
Was aber damals misslang, das ist anderthalb Jahrzehnte nachher durchgeführt worden. Zwar hatte zunächst nach dem Scheitern der revolutionären Bewegung bei der allgemeinen Erschlaffung der Gemüter die Reaktion die Oberhand, welche sich in der Aufhebung der von dem Frankfurter Parlament beschlossenen „deutschen Grundrechte“ durch den Bundestag (am 23. August 1851), in der Umwandlung der preussischen I. Kammer in ein Herrenhaus, im Abschluss von Konkordaten mit dem römischen Stuhl, durch welche z. B. in Österreich 1855 die Schule der Kirche überantwortet ward, überhaupt in allgemeiner Zurückdrängung der freiheitlichen Ideen zu gunsten der Polizeigewalt kundgab, und die Regierungen fanden bei dieser Politik die Zustimmung ihrer Volksvertretungen, deren Mehrheiten ebenfalls reaktionär waren (sog. preussische Landratskammer, gewählt im Juni 1849).
Die Kraft der reaktionären Strömung hielt aber nur einige Jahre an und erzeugte bald einen liberalen Gegendruck, der in Preussen am 6. November 1858, nachdem der Prinz Wilhelm für seinen an einem unheilbaren Gehirnleiden erkrankten Bruder die Regentschaft übernommen hatte, zur Ernennung des sog. Ministeriums der liberalen Ära führte, Der italienische Krieg von 1859, in dem Kaiser Napoleon III. von Frankreich dem König Viktor Emanuel II. von Sardinien gegen Österreich Hilfe leistete und ihm den Besitz der Lombardei verschaffte, war insofern ein Sieg der nationalen und liberalen Ideen, als dadurch die Einigung des bisher unter sieben Herrschern zerspaltenen Italiens unter dem Hause Savoyen (1861) herbeigeführt und in ihm die verfassungsmässige Regierungsform statt der absolutistischen verwirklicht wurde. Das wirkte auf Deutschland zurück; die Bestrebungen, auch hier Einheit und Freiheit zu erlangen, lebten neu auf, und es entstand 1859 unter der Führung des Hannoveraners Rudolf v. Bennigsen der deutsche Nationalverein, der Preussen, aber einem liberal regierten Preussen, die Führerschaft in Deutschland zuerkannte. Da eine Zeitlang die Meinung herrschte, als ob die Franzosen das für Österreich Partei nehmende Deutschland angreifen würden, so setzte der Prinzregent einen Teil des preussischen Heeres auf Kriegsfuss, und hierbei ergab sich, dass, weil die Rekrutenziffer seit 1814 nicht erhöht worden war, ins preussische Heer eine grosse Menge verheirateter Landwehrmänner eingereiht werden musste, während Tausende wehrfähiger junger Leute, weil sie nicht ausgehoben worden waren, auch im Kriegsfalle zunächst frei ausgingen. Diese Erfahrung bestimmte den Regenten den Plan auszuführen, den er schon lange in der Seele trug; er liess durch den Kriegsminister Albrecht [265] v. Roon die Reorganisation des Heeres ausarbeiten, vermöge deren statt 40 000 Rekruten jährlich 63 000 eingestellt werden und die Landwehr in eine enge Verbindung mit der Linie und Reserve kommen sollte. Die älteren Jahrgänge konnten so dem Landsturm überwiesen werden, und das Heer wuchs trotzdem um ein paar hunderttausend Mann aus den kräftigsten Jahrgängen an. Es gibt keine Massregel, die gerechter und dabei wirksamer gewesen wäre. Die im preussischen Abgeordnetenhaus massgebenden Fraktionen, die Fortschrittspartei und das linke Zentrum, wollten die Kosten der Reorganisation, etwa 27 Mill. Mk. jährlich, aber nur bewilligen, wenn statt der dreijährigen Dienstzeit die zweijährige eingeführt werde. Davon wollten Wilhelm I., der seit 2. Januar 1861 seinem Bruder auf dem Thron nachgefolgt war, Roon und der Chef des Generalstabs v. Moltke nichts wissen, weil ihrer Ansicht nach die Schlagfertigkeit und Leistungskraft des Heeres durch eine nur zweijährige Ausbildungszeit nicht genügend verbürgt worden wäre. Das Ministerium der neuen Ära, das einen Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus aus konstitutionellen Bedenken nicht auf sich nehmen wollte, ging darüber in die Brüche, und am 23. September berief der König auf Roons Rat den Botschafter in Paris, Otto v. Bismarck-Schönhausen (1815–1898) an die Spitze eines neuen Ministeriums. Dieser Staatsmann versuchte zunächst sich mit den Liberalen zu verständigen; als dies nicht gelang, hielt er trotzdem die Reorganisation aufrecht, obwohl das Abgeordnetenhaus die Mittel dazu verweigerte, und suchte durch Knebelung der Presse und Vereine, schliesslich 1866, auf Grund eines Beschlusses des Obertribunals, selbst durch gerichtliche Verfolgung von Parlamentsreden der oppositionellen Abgeordneten die Gegnerschaft zu erdrücken, welche die Bedürfnisse dieser zielbewussten deutschen Politik Preussens verkannte (Militärkonflikt 1862–66).
Die Unbeliebtheit, welche sich die preussische Regierung durch ihr vom Staatswohl gebotenes, aber rechtlich sehr anfechtbares Verhalten in Deutschland zuzog, erweckte in den Ratgebern des Kaisers Franz Joseph von Österreich 1863 die Hoffnung, Preussen dauernd in der Gunst der Nation zu überholen und die Lösung der deutschen Frage unter österreichischer Führung durch ein fünfköpfiges Direktorium und eine aus den Einzellandtagen „delegierte“ Volksvertretung herbeizuführen. Demgegenüber hielt Bismarck daran fest, dass die deutschen Staaten ausserhalb Österreichs sich unter Preussens Führung zu einem engeren Bunde mit einer direkt gewählten Nationalvertretung zusammenschliessen müssten; dieser Bund sollte dann mit Österreich durch ein weiteres Band zu gegenseitigem Schutz verbunden werden, bezw. verbunden bleiben. So standen sich das sog. grossdeutsche und das kleindeutsche, das österreichische und preussische Programm gegenüber; das erstere erlitt jetzt durch Preussens ablehnende Haltung eine völlige Niederlage, und der Plan Franz Josephs fiel in Wasser.
Unmittelbar darauf wurde am 15. November 1863 durch den Tod Friedrichs VII., des letzten Königs aus dem Mannesstamm des dänisch-oldenburgischen Herrscherhauses, die Verbindung zerschnitten, welche seit 1460 die Herzogtümer Schleswig-Holstein mit Dänemark umschloss, und Bismarck benutzte dies, um 1864 im Verein mit Österreich, dessen auswärtiger Minister Graf Rechberg aus verschiedenen Gründen auf den Versuch eines Zusammenhaltens mit Preussen einging, die Dänen durch die Erstürmung der Düppeler Schanzen (18. April) und der Insel Alsen (29. Juni) zur Aufgabe der Herzogtümer, welche sie widerrechtlich hatten festhalten wollen, zu zwingen (Wiener Friede vom 30. Oktober). Dänemark trat seine Rechte an die beiden Sieger ab, welche dann über der Frage, was nun mit den Herzogtümern geschehen solle, sich erneut entzweiten. Österreich kam schliesslich dahin, dass es den Wünschen des deutschen Bundestags und der übergrossen Mehrheit der Nation gemäss die Herzogtümer dem Erbprinzen Friedrich von Augustenburg übergeben wollte, dessen Anrechte in Deutschland allgemein als unanfechtbar angesehen wurden. Bismarck aber wollte die Herzogtümer mit Preussen vereinigen, weil ihm dadurch allein ihre dauernde Behauptung für Deutschland gesichert und die Ausnutzung ihrer wundervollen Lage an Nord- und Ostsee zur Gründung einer deutschen Flottenmacht möglich schien. Der drohende Krieg wurde noch einmal durch den Vertrag von Gastein (14. September 1865) beschworen, durch den Österreich die Verwaltung von Holstein, Preussen die von Schleswig übernahm; aber eine, dauernde Lösung war nicht erreicht, und 1866 brach der vertagte Kampf doch los. Dabei entschleierte Bismarck die letzten Ziele seiner Politik, indem er durch den Vorschlag vom 9. April [266] die Berufung einer aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen (gemäss der Reichsverfassung vom 28. März 1849) hervorgehenden Nationalvertretung forderte; mit ihr sollten die Regierungen die Grundzüge einer neuen deutschen Bundesverfassung vereinbaren. Aus der schleswig-holsteinischen Frage wuchs mit innerer Notwendigkeit die deutsche hervor; indem über das Schicksal der Herzogtümer zweckmässig entschieden werden sollte, musste über das der Nation selbst entschieden werden, deren bisherige Verfassung weder die innere Entwicklung noch die Sicherheit gegen aussen gewährleistete; die Verfügung über Schleswig-Holstein, welche Preussen anstrebte, sollte nicht dem alten Preussen zufallen, sondern einem neuen, dem Recht und Pflicht der Führung in Deutschland übertragen werden sollten. Die norddeutschen Staaten ausser Hannover, Kurhessen, Sachsen, Nassau, Meiningen und Frankfurt standen in dem Krieg von 1866 auf Preussens Seite, die genannten Staaten und der ganze Süden auf der Österreichs. Italien focht, um auch Venetien von Österreich zu gewinnen, als Preussens Bundesgenosse gegen eine Macht, die sowohl Deutschlands als Italiens nationale Ausgestaltung verhinderte. Durch den herrlichen Sieg von Königgrätz (3. Juli), den das preussische Heer unter König Wilhelm über Benedek erstritt, wurde Österreichs Macht zertrümmert, und der Vorfriede von Nikolsburg (26. Juli), den der endgültige Friede von Prag (23. August) bestätigte, zwang Österreich, darein zu willigen, dass es selbst aus dem deutschen Bunde austrat, dass Preussen mit den Staaten nördlich vom Main den norddeutschen Bund abschloss (während es den Staaten südlich vom Main freigestellt war, einen durch ein nationales Band mit dem Norden zu vereinigenden süddeutschen Bund zu schliessen) und dass Hannover, Kurhessen, Nassau, die freie Stadt Frankfurt a. M. und Schleswig-Holstein in Preussen einverleibt wurden, das dadurch auf etwa 348 000 qkm mit 24 Millionen Seelen anwuchs. Die Versuche Napoleons III., für Frankreich eine Vergrösserung durch Rheinhessen und die bayrische Rheinpfalz herauszuschlagen, scheiterten an der bestimmten Weigerung Wilhelms I., auch nur ein Dorf von Deutschland preiszugeben. Der Militärkonflikt wurde dadurch beigelegt, dass die Regierung bei dem neu gewählten Abgeordnetenhaus um Indemnität für die ohne parlamentarische Genehmigung geleisteten Ausgaben nachsuchte und am 3. September sie erhielt. Da die Fortschrittspartei unversöhnlich blieb, löste sich von ihr eine Anzahl von Abgeordneten ab und bildete die nationalliberale Partei. Ebenso riefen die gemässigten Konservativen im Herbst 1866 die freikonservative Partei ins Leben (seit 1871 im Reichstag „Reichspartei“ genannt). Die beiden neuen Parteien standen einander innerlich nahe; sie sahen ihre Hauptaufgabe darin, Bismarck bei der Herstellung des nationalen Staates zu unterstützen und standen in scharfem Gegensatz zum Ultramontanismus und Partikularismus.
Nun wurde durch Bismarck der Entwurf einer norddeutschen Bundesverfassung festgestellt, durch den Preussen das Präsidium dieses Bundes, seine Vertretung nach aussen, die diplomatische und militärische Leitung erhielt, und ein nach dem allgemeinen Wahlrecht gewählter verfassunggebender Reichstag gab diesem Entwurf am 16. April 1867 seine Zustimmung. Der norddeutsche Bund entwickelte sich von 1866–70 auf liberaler Grundlage (Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Reform des Strafrechts) und blieb mit den Südstaaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen wirtschaftlich durch das Band des Zollvereins verbunden, dessen Gesetzgebung mit einem gesamtdeutschen Zollparlament (1868–70) vereinbart wurde. Ausserdem waren der Norden und der Süden infolge der französischen Absichten auf süddeutsches Gebiet seit August 1866 durch militärische Schutz- und Trutzverträge für den Krieg unter Preussens Oberbefehl vereinigt: das erste Mal in unserer Geschichte, dass eine straffe und zuverlässige Zusammenfassung unserer ganzen Wehrkraft statthatte. Zunächst geheim, wurden die Verträge im März 1867 bekannt gegeben und mit dadurch Napoleons Versuch vereitelt, das Grossherzogtum Luxemburg seinem Herrscher, König Wilhelm III. von Holland abzukaufen. Infolge der Verträge führten die Süddeutschen auch die allgemeine Wehrpflicht ein, und mehr und mehr verwuchs die deutsche Nation militärisch wie wirtschaftlich zu einem Ganzen.
Die politische Einheit stand noch aus; auch sie aber wurde rascher, als Bismarck selbst erwartete, durch das Verhalten Frankreichs herbeigeführt. Die öffentliche Stimmung Frankreichs sah in den preussischen Siegen französische Niederlagen, in dem Aufkommen eines geeinigten Deutschlands das Ende der französischen Führerschaft in Europa. Es war der Geist Ludwigs XIV., [267] der die französische Volksseele bestimmte. So wurde der Versuch der Spanier, mit Bismarcks Zustimmung dem Erbprinzen Leopold von Hohenzollern die 1868 durch die Absetzung der Königin Isabella erledigte Krone zu übertragen, in Paris als eine Massregel angesehen, durch welche Spanien in das preussische Machtsystem einbezogen und Frankreich zwischen zwei Feuer gebracht werden sollte. Der Kaiser Napoleon III., von dem Herzog von Gramont schlecht und leidenschaftlich beraten, verlangte von König Wilhelm, auch als Leopold von seiner Bewerbung zurückgetreten war, Bürgschaften gegen ein erneutes Zurückkommen des Erbprinzen auf den Plan, was der König am 13. Juli 1870 als ungehörig ablehnte. Bismarck gab der Welt von der Ablehnung durch die sogenannte Emser Depesche Kunde. Napoleon III. erklärte unter dem Eindruck der gegen Preussen entflammten Volksstimmung am 19. Juli 1870 den Krieg. Durch den festen Zusammenschluss Alldeutschlands unter dem preussischen Oberbefehl und die geniale Heeresleitung des Generalstabschefs v. Moltke, den eine grosse Anzahl tüchtiger Generäle unterstützten und der an dem deutschen Heer ein unvergleichliches Kriegswerkzeug hatte, wurde zuerst das Kaiserreich (Napoleons Gefangennahme bei Sedan 1. und 2. September) und dann nach dessen gewaltsamem Sturz durch eine Pariser Revolution (4. September) die dritte französische Republik niedergeworfen. Am 28. Januar 1871 musste sich Paris an Wilhelm I. ergeben, der seit dem 18. Januar, nachdem die süddeutschen Staaten sich im November 1870 mit dem Norddeutschen Bund zum Deutschen Reich vereinigt hatten, auf den Wunsch der Fürsten und freien Städte Deutschlands den Titel des Deutschen Kaisers führte. Am 1. März zogen 30 000 Mann deutscher Truppen als Sieger in Paris ein, am 2. März genehmigte die neugewählte französische Nationalversammlung in Bordeaux den Friedensvertrag, der am 10. Mai in Frankfurt a. M. seine endgültige Fassung erhielt. Danach trat Frankreich das ganze Elsass ausser Belfort und von Lothringen den deutschen Teil samt Metz und Diedenhofen an das Deutsche Reich ab und bezahlte eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Franken.
Der Krieg war von Frankreich unternommen worden, um seine Führerstellung in Europa wieder aufzurichten und zu befestigen; sein Ergebnis war, dass Deutschland, zum Nationalstaat geeinigt, die massgebende Rolle in Europa überkam. Gleich zu Anfang hat Kaiser Wilhelm I. in seiner Ansprache an das deutsche Volk vom 18. Januar 1871 es betont, dass die Aufgabe des Deutschen Reiches nicht auf dem Gebiet kriegerischer Eroberungen liegen solle, sondern auf dem der Wahrung der Güter und Gaben des Friedens, nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung. Diese Politik hat das Deutsche Reich auch unter Wilhelm I. (18. Juni 1871 bis 9. März 1888) unter der kurzen Regierung seines Sohnes Friedrich (1888) und unter Kaiser Wilhelm II. (seit 15. Juni 1888) unentwegt betätigt. Frankreich dürstete zwar nach Rache für die erlittene Niederlage und stellte mit bewunderungswürdiger Spannkraft sein zerrüttetes Finanz- und Heerwesen wieder her. Deutschland entwickelte aber ebenfalls seine Verteidigungsmittel durch Steigerung seiner Truppenziffer auf je sieben Jahre (1874, 1880 und 1887) und dann auf fünf Jahre (seit 1893, wobei die zweijährige Dienstzeit eingeführt wurde). 1913 ist die tatsächlich abgekommene allgemeine Wehrpflicht durch Mehreinstellung von 63 000 Mann wieder durchgeführt worden. Durch die Steuer- und Zollreformen von 1879, 1906, 1909, 1912 und 1913 („Wehrbeitrag“) schuf sich das Reich neue Grundlagen seiner Finanzen und seiner wirtschaftlichen Kraft. Der 1871 ausgebrochene „Kulturkampf“ Preussens mit der katholischen Kirche ward nach langen Verhandlungen mit Leo XIII. 1887 durch Nachgeben beider Teile beendigt. Dem Anwachsen der Sozialdemokratie stellte Bismarck zuerst ein Ausnahmegesetz vom 21. Oktober 1878, dann aber auf Grund der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 eine gross und weit angelegte Sozialreform durch Versicherung der Arbeiter gegen Unfall, Krankheit, Alter und Gebrechlichkeit entgegen. Ebenso eröffnete er seit 1884 durch Gewinnung von Kolonien in Afrika und im stillen Ozean der steigenden Volksmasse des Mutterlandes die dringend notwendigen überseeischen Absatzgebiete und Bezugsquellen von Rohstoffen. Nach Bismarcks Sturz am 20. März 1890 wurde die Sozialreform auch auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes fortgesetzt (1911 Reichsversicherungsreform). Den französischen Rachebestrebungen stellte Bismarck 1872 das sog. „Dreikaiserverhältnis“, ein freundschaftliches Zusammenhalten der grossen Monarchien von Russland, Österreich und Deutschland gegen die revolutionären Mächte, entgegen, und als dieses Verhältnis unter der Einwirkung des russisch-türkischen [268] Krieges (1877–78) und seiner Folgen, trotz der auf dem Berliner Kongress vom Juni und Juli 1878 erzielten Neuordnung der Balkanhalbinsel, zusammenbrach und Russland eine drohende Haltung gegen seine zwei Nachbarn einnahm, schloss Bismarck am 7. Oktober 1879 mit Österreich ein zeitlich unbegrenztes Bündnis zur Abwehr eines russischen Angriffs. Dieser Zweibund ward am 20. Mai 1882, da Italien 1881 von Frankreich durch die Besitznahme von Tunis schwer herausgefordert worden war, durch den Beitritt Italiens zum Dreibund erweitert, der 1887 auf fünf, 1891 und 1902 auf zwölf Jahre erneuert wurde und den Teilnehmern ihren gesamten Besitz verbürgte. Er überstand auch die Balkankrisis von 1909, in der Österreich sich die 1878 besetzten türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina endgültig einverleibte, was in Italien wegen der Frage der Vorherrschaft in der Adria nicht gern gesehen wurde, und er ward infolge der Balkanwirren von 1912–13, durch welche die Türkei auf Adrianopel zurückgeworfen wurde und die Gefahr des Entstehens einer slawischen Macht an der Adria nahe rückte, im Dezember 1912 zum vierten Mal haltbarer als je abgeschlossen. Dem Dreibund stellte sich seit 1891 der Zweibund Russlands und Frankreichs und seit 1904 und 1907 die triple entente von Russland, Frankreich und England entgegen. Die Beziehungen Deutschlands zu Russland sind gleichwohl nie in vollen Gegensatz ausgeartet; 1887–90 bestand der Rückversicherungsvertrag, durch den beide Staaten sich im Falle des Krieges mit einer dritten Macht wohlwollende Neutralität verhiessen, und am 4. November 1910 verpflichteten sich beide in Potsdam, nichts zu unternehmen, was eine aggressive Spitze gegen den andern Teil hätte. Unser Verhältnis zu England dagegen ward durch die Entwicklung unserer Handels- und Kriegsflotte (1898 und 1900 erstes und zweites Flottengesetz) und durch die Parteinahme der öffentlichen Meinung für die Buren 1899–1902 ein gespanntes, und 1911 drohte anlässlich des Streites über Marokko ein militärisches Zusammengehen Englands mit Frankreich gegen Deutschland. Der Zusammenstoss ward aber durch den Vertrag vom 4. November 1911 vermieden, vermöge dessen Deutschland Frankreichs Schutzherrschaft über Marokko anerkannte und Frankreich die wirtschaftliche Gleichberechtigung Deutschlands in Marokko zugestand; auch trat es von seiner Kongokolonie ein 275 000 qkm grosses an Kamerun grenzendes Stück an Deutschland ab. Die Balkanwirren von 1912 hatten ein Zusammengehen Deutschlands und Englands zur Folge, und daraus erwuchs 1914 ein Abkommen über die beiderseitigen Interessen in Afrika und Vorderasien.