Deutschlands wirtschaftliche Expansion und überseeische Bestrebungen
Noch im Jahre 1700 bedeutete Russland nicht viel. Es besass kaum zehn Millionen Einwohner und war an Macht geringer, als Schweden, Preussen oder die Türkei. Und nur zwanzig Jahre später reckte es sich schon zur Weltmacht auf, dachte an Erwerbungen auf Hawaii, Madagaskar und in Californien, und stand vor der Einverleibung südkaspischer Länder, Gilans und Mazenderans. Ähnlich war Deutschland noch 1864 ein bunter Haufe zusammengewürfelter Staaten, und 1884 war es zur Weltmacht erwachsen, die in Afrika und Neuguinea Fuss zu fassen suchte.
[269] Frühere Bestrebungen waren gescheitert, ohne viel Bedeutung zu gewinnen. So die preussische Niederlassung an der Guineaküste und auf der Insel Tobago in Westindien; so die Besetzung der Nikobaren und Andamanen, sowie Delagoas (1767) durch Österreich. Die Mahnungen von dem Hamburger Syndikus Sieveking, die Chatham Inseln im Norden Australiens zu nehmen, die Hinweise Friedels 1867 auf Formosa und von Webers auf Delagoa und Südafrika überhaupt (1875) verhallten ungehört. Noch 1880 musste Fürst Bismarck darauf verzichten, besonders auf den Widerspruch Bambergers hin, Samoa anzugliedern. Neues Leben kam erst in die koloniale Bewegung durch die Schriften von Hübbe-Schleiden und Faber und namentlich durch die Gründung der Deutschen Kolonialgesellschaft unter Hohenlohe.
Die Sehnsucht nach Kolonien traf auf eine kräftige Woge wirtschaftlichen Aufschwunges. Zahlreiche Zollschranken waren durch die Errichtung des neuen Reiches gefallen, ein einheitliches Münzsystem war eingeführt. Überall blühte Handel und Wandel. Das in seiner jungen Kraft sich fühlende deutsche Reich dehnte und reckte sich, und begehrte nach mehr Raum, um sich ausleben zu können. Dazu stachelte zweierlei an: Einmal der Schmerz über den jährlichen Verlust von Hunderttausenden deutscher Auswanderer, sodann die Wahrnehmung, dass die anderen Mächte, darunter sogar das besiegte Frankreich, sich ein überseeisches Gebiet nach dem anderen einverleibten. Bei Frankreich geschah dies unter der bewussten Mitwirkung Bismarcks. Der Kanzler wünschte die Augen der Franzosen von dem „Vogesenloch“ abzulenken, und ermutigte daher Ferry in seinen erdumspannenden Plänen, die auf Gewinnung grosser Einflusskreise in Madagaskar, Indochina, Nordafrika und am Kongo hin abzielten. Seit 1879 hatte sich das kleine Belgien am Kongo ein Reich aufgebaut, das zuletzt um das Achtzigfache das kleine Mutterland übertraf. Russland schritt in Mittelasien voran, und England vollends vergrösserte sich in allen Ländern und Meeren. Sollte da das deutsche Reich ganz zurückbleiben ?
Eine Wurzel unserer Kolonialbegeisterung ist nahezu wieder verdorrt. Es war die Hoffnung, unsere Auswanderung in weitgehendem Masse nach den neuen Pflanzstaaten zu ziehen. Da wir in einem einzigen Jahre, 1881, nicht weniger als 251 000 Landsleute – so nach amerikanischer Rechnung; nach deutscher, die die fremden Häfen, Le Havre und Genua, nicht berücksichtigt, 220 000 – allein an die Vereinigten Staaten verloren, so musste die Aussicht, einen so grossen, befruchtenden Menschenstrom in unsere Kolonien zu leiten, als etwas Köstliches erscheinen. Auch verquickte man vielfach damit moralisch-utopische Erwartungen, dass man, ledig so mancher Fesseln der Überlieferung, ledig bureaukratischer Einschnürungen, auf neuer Erde auch eine vollkommen neue, unverbildete, aus eigener Kraft quellende Lebensgebarung einrichten könne. Diese Blütenträume reiften nicht. Der berüchtigte Assessorismus machte sich in den Kolonien breit, und die Bureaukratie lastete noch schwerer als im Mutterland. Eine kopfreiche Auswanderung wollte erst recht nicht einsetzen. Heute, ein Menschenalter nach der ersten Fussfassung in Afrika, zählen wir in unseren sämtlichen überseeischen Besitzungen kaum 22 000 Deutsche. Was will das heissen gegenüber einem jährlichen Geburtenüberschuss von 850 000? Noch nicht 1/1300 dieses Überschusses wurde in den Kolonien untergebracht. Für die Zukunft sind nun zwar die Aussichten besser, allein, selbst wenn man sehr vertrauensvoll ist, wird man nicht annehmen dürfen, dass mehr als eine halbe Million Deutscher im Jahre 2000 unsere Pflanzstaaten bewohnen werde, sofern diese in ihrer jetzigen Ausdehnung verbleiben. Guten Boden für bäurische Siedler gibt es nur in Südwest, ferner in Uhehe und am Meru und Kilimandscharo. In Südwest aber wird schon ein Mindestkapital von 50 000 M. erfordert, um eine erfolgreiche Landwirtschaft zu beginnen. (Während in Marokko 5000 M. dazu genügten). Ein gutes Gegenstück liefern die Buren. Sie sind seit dritthalb Jahrhunderten im Lande, ohne die geringste Erwartung, jemals in die Heimat zurückzukehren, mithin vollständig mit der neuen Heimat verheiratet und auf sie angewiesen, und trotzdem haben sie es im Laufe dieser langen Zeit nur auf ¾ Million von Köpfen gebracht.
Für Niederlassungen deutscher Bauern kommen also unsere Kolonien nicht in irgendwie erheblichem Masse in Betracht. Die Bedeutung der Kolonien liegt in den Rohstoffen, die ihre Pflanzungen unserem Grossgewerbe, namentlich den Webereien liefern, und in den Metallschätzen. Weiter ist der Handel wichtig, obwohl der deutsche Verkehr mit unseren Kolonien wenig mehr als die Hälfte von derem Gesamtverkehr ausmacht. Der Gesamt-Handel betrug 1912 an 260 Millionen [270] Mark. Von den Rohstoffen ist am wichtigsten die Baumwolle. Deutschland braucht alljährlich für 500 bis 600 Millionen Mark Rohbaumwolle, und ist, wie alle anderen Länder ausser dem Zarenreiche, in seinem Bezuge von den Vereinigten Staaten abhängig, wo der Preis der Baumwolle durch fortwährende Manipulationen und Börsenspekulationen bestimmt wird, und wilden Schwankungen unterliegt. In zweiter Linie kommen Faserngewächse, Sisalhanf und Kautschuk, in dritter Kakao und Kaffee. Es hat jedoch sehr lange gedauert, bis nach sehr häufigen und verlustbringenden Fehlschlägen unsere Plantagenwirtschaft auch nur einigermassen auf eine gesunde Grundlage geriet. Besonders machten sich Schädlinge unangenehm bemerkbar, während der anfangs störende Arbeitermangel jetzt so ziemlich behoben ist. Auch die Methode, die vor reichlich zehn Jahren erdacht wurde, nur die Einheimischen pflanzen zu lassen, und ihnen dann ihre Erzeugnisse abzunehmen, also lediglich Handelskontore statt Plantagen zu errichten, hat sich nicht als allein seligmachend erwiesen. Denn unter den Händen der Schwarzen entarteten sehr rasch die Gewächse, und das Erzeugnis wurde minderwertig. Von bergbaulichen Betrieben ist vor allem die Kupfermine von Otavi zu erwähnen, die Gewinnung von Diamanten im Südwesten des Südwestafrikanischen Schutzgebietes, die in ihrem besten Jahre 24 Millionen Mark abwarf, und die Kohlenförderung in Schantung.
In unserer Kolonialgeschichte lassen sich vier Perioden unterscheiden. Zuerst die Landnahme, die 1890 und 1893 für Afrika so ziemlich abgeschlossen wurde. Sodann ein Zeitalter bureaukratischer Versumpfung, bis 1904. Drittens die grossen Aufstände, die bis 1907 reichen. Endlich der Aufschwung unseres Kolonialwesens unter dem Zustrom von Kapitalien und Einwanderern, seit 1907. Eine bedeutsame, wirtschaftspolitisch interessante und viel angefochtene Rolle haben bei der Kolonisierung die grossen Erwerbsgesellschaften gespielt. Über ihre Tätigkeit in Südwest schrieb das Beste der ehemalige Gouverneur von Südwest, Leutwein, in der Hamburger „Zeitschrift“ 1911. In Kamerun war der Hauptschlag der Freibriefgesellschaften (die sich an das Muster der englischen Chartered Companies anlehnten), die Südkamerun-Konzession, an deren Lancierung an der Brüsseler Börse der Hamburger Rechtsanwalt Scharlach, Sholto Douglas und der Herzog von Ujest beteiligt waren. Vielfach kreuzen sich in solchen Gesellschaften widerstreitende nationale Bestrebungen. Fremde, besonders Engländer und Belgier, sitzen im Aufsichtsrate deutscher Kolonialgesellschaften und umgekehrt sind Deutsche an benachbarten fremdländischen Unternehmungen beteiligt. Von solch gemischter Art wird auch die Fusion sein, die sich in Neukamerun, dem durch Vertrag vom 3. November 1911 (bestätigt in Paris März 1912) gewonnenen Stücke am Sanga und Kongo, Büschen den alten französischen und hinzutretenden deutschen Interessenten anbahnt.
Eine Besitzung für sich, die auch nicht dem Kolonial-, sondern dem Marineamt untersteht, ist Kiautschou. Sie ist nicht für ewige Zeiten dem deutschen Reiche angegliedert, sonder für 99 Jahre von China gepachtet, und es ist in der Tat auch mehr als fraglich, ob 1996 die Pachtung erneuert wird. Nicht minder beansprucht Kiautschou dadurch eine Sonderstellung, dass es weder Pflanzungs-, noch Siedlungs-, sondern lediglich Handels- und Bergbaukolonie ist, und ausserdem seiner strategischen Stellung halber von einzigartiger Wichtigkeit ist. Dagegen haben weder Neuguinea, noch der Marschallsarchipel, noch die Mariannen und Karolinen, wo man zeitweilig von der Anlegung eines Kriegshafens sprach, sonderliche Bedeutung erlangt. Das einzige Guthaben von Belang wird durch die grossartigen Phosphatlager unserer Südseeinseln dargestellt, daneben könnte die Ausfuhr der aus Kokosnüssen gewonnenen Kopra Erwähnung verdienen. Etwas wichtiger ist die Samoagruppe, die jedoch durch die Abtretung des besten Hafens an Amerika erklecklich verlor. Der Hafen Pago Pago auf der Insel Tutuila, wurde auf Grund von Verträgen von 1872 und 1878 durch die Ver. Staaten 1898 besetzt und durch Vertrag vom 14. Nov. 1899, angenommen von der Union Februar 1900, endgiltig der Union überlassen, die dadurch, sowie durch die Mariannen-Insel Guam, seit 1898 amerikanisch, Gebietsnachbarin des deutschen Südseereiches ist.
Aus diesem kurzen Überblicke geht hervor, dass unsere gesamte Kolonialwirtschaft nur einen kleinen Bruchteil von der erdumspannenden Expansionstätigkeit Deutschlands darstellt. Unserem Handel mit unseren Kolonien in einer Höhe von 140 Millionen Mark (nur 78 Millionen Mark noch 1909) steht ein überseeischer Gesamtverkehr Deutschlands von fast zehn Milliarden entgegen. Weit mehr als ein Drittel davon geht auf die Rechnung Englands und Nordamerikas. Ferner haben wir einen beträchtlichen Umschlag mit Südamerika, beiläufig anderthalbe Milliarde Mark im Jahr [271] und mit Ostasien. Unsere Beziehungen zu Australien und Westasien werden immer reger. Als Beispiel kann Persien dienen, Deutschland steht dort zwar erst an fünfter Stelle, mit 6,4 Millionen Mark, aber das bezeichnende ist das überaus schnelle Wachstum seiner Interessen. Setzen wir den Handel der einzelnen Länder mit Persien gleich 1 für das Jahr 1901/02, so betrug die Steigerung bis zum Jahre 1910/11 für Russland 4, England 1,5. die Türkei 1,8. Frankreich und Österreich je 0,8 und für Deutschland 6,2. Wir kamen so vom 8. auf den 5. Platz. Ähnlich hat sich unser Verkehr mit der Türkei (auf 105 Millionen Mark), und sogar mit Marokko (an 24 Millionen M.) gehoben. Der deutsche Handel steht in Marokko an erster Stelle. Dazu kommt der stattliche Landverkehr über unsere europäischen Grenzen mit Frankreich, Russland, Österreich usw. Der deutsche Gesamthandel beläuft sich jetzt auf 19 Milliarden, oder 5/7 von dem britischen (27 Milliarden), dessen Umfang bald zu erreichen er die allerbeste Aussicht hat.
Der Handel ist nur eine Art der Expansion. Andere Formen sind Schiffahrt und Bankengründung; endlich Beherrschung durch die Industrie. In der Reederei stehen wir zwar noch hinter England, viel weiter entfernt, als im Handelsumsatz; aber die Hapag und der Lloyd sind die individuell mächtigsten Schiffahrtsgesellschaften der Welt. Wir haben es sogar so weit gebracht, dass in dem so überaus leistungsfähigen Nordamerika und seinem atlantischen Verkehre die deutsche Reederei unvergleichlich wichtiger ist, als die einheimische. Alle Länder der Erde rechnen mit der deutschen Schiffahrt. Auch hier freilich, wie bei den Kolonialgesellschaften, fehlte es nicht an internationalen Fusionen. Solcher Art war Pierpont Morgans Oceantrust, der sich auf das atlantische Meer bezog.
Jünger ist die deutsche Bankeninvasion. Sie stammt erst aus den 90er Jahren; nur in Neu York und an ostasiatischen Plätzen waren schon früher belangreiche deutsche Bankgründungen erfolgt. Wir nennen die Orientbank, die Palästinabank, die deutsch-asiatische Bank, die südamerikanische Bank, die deutsch-brasilische Bank und für Russland Delbrück, Schickler und Co. und Mendelssohn.
Jede grosse deutsche Bank hat eine ganze Reihe von überseeischen Töchtern, die der Mutter meist reichlichen Gewinn abwerfen. Nicht selten ist die Gründung verschleiert, insofern deutsches Geld einen Teil oder die grössere Hälfte eines fremdländischen Bankunternehmens erworben hat, wie bei der Banca d’Italia und bei so manchen russischen Gründungen. In vielen Fällen, so namentlich in Neu York und London, wie bei Edgar Speyer, Kuhn u. Löb, Wernher, Nachod, Kühn u. Co., Beit u. Co., kann es fraglich erscheinen, ob sie als reichsdeutsche oder fremde Unternehmungen anzusprechen sind; richtiger wird sein, sie als amerikanische und englische zu bezeichnen, wenn auch der Zusammenhang mit der Heimat sehr rege geblieben ist. Weiterhin gibt es eine ganze Zahl von mehr oder weniger bedeutenden Privatbanken in Südamerika, Marokko, Italien, und anderen Ländern, die rein oder fast rein reichsdeutschen Charakter tragen. Soweit ist nun zwar die Macht des deutschen Geldes noch nicht gediehen, dass es, wie englisches und französisches, ganze fremde Staaten in seiner Gewalt hätte; immerhin fällt der Berliner Markt bei vielen Anleihen fremder Staaten stark im Gewicht. Russland denkt an keine Neu-Emission, ohne mit Mendelssohn vorher in Fühlung zu treten. Die skandinavischen Staaten sind stark von dem Wohlwollen der Berliner Börse abhängig. Mehrere chinesische Anleihen wurden durch die deutsch-asiatische Bank und die Hongkong and Shanghei Banking Co. gemeinsam übernommen. Die Türkei fand Freunde in unserer Hochfinanz. Venezuela könnte jetzt nicht ohne die Diskontogesellschaft vorgehen, und Mexiko rechnet mit den Börsen von Frankfurt und Berlin. Wir liehen bedeutende Summen in Persien, Griechenland, Portugal und Argentinien.
Ausserdem arbeitet deutsches Geld in fremden Eisenbahnen, Bergwerken und Fabriken.
Schon in den 1860er Jahren hätten vielleicht die Nordstaaten der Union ohne die Hilfe des deutschen Geldmarktes finanziell nicht bestehen können, namentlich Frankfurt hat den Yankees erkleckliche Summen geliehen. Die Northern Pacific, viele russische Linien, die anatolische und die Bagdadbahn wurden zu einem grossen Teile mit deutschem Gelde finanziert. Unser Kapital arbeitet in den Brauereien von St. Louis und Milwaukee, in chinesischen Reedereien, in marokkonischen Fabriken und Gütern, in argentinischer Landwirtschaft, in den Minen des Witwaterrandes.
[272] Unsere Industrie ist ganz vorzugsweise auf Expansion, namentlich auf überseeische Ausdehnung angewiesen. Die chemische und die Elektrizitätsindustrie verdanken ihren erstaunlichen Aufstieg zu einem grossen Teile den Aufträgen des Auslandes. Auf unseren Werften lassen fremde Staaten ihre Kriegsschiffe bauen. Aus unseren Zechen beziehen nicht selten Belgien und England Kohlen. Maschinen, Stacheldraht, Voigtländer Spitzen, Gewebe, Arzneimittel, Goldarbeiten, Farben, Chemikalien, Spielwaren, Pelzwerk und Bücher gehen aus Deutschland in alle Welt. Sogar fremdsprachliche Bücher werden recht oft in Leipzig gedruckt, um im Ausland verwandt zu werden. Auch hier freilich durchkreuzt das internationale Element die nationalen Bestrebungen. Unsere grossen Elektrizitätskonzerne gehen mit amerikanischen und schweizerischen, mit ungarischen und belgischen Gesellschaften Interessengemeinschaften ein; die A.E.G. stellt sich durch die Viktoriawerke in den Dienst der Randminen. Tochtergesellschaften von Elektrizitäts- und Hüttenwerken, die im Auslande errichtet werden, vermindern vorläufig jedoch kaum den Absatz reichsdeutscher Erzeugnisse nach aussen.
Die wirtschaftliche Expansion wird vielfach durch unsere Landsleute im Auslande unterstützt. Unsere Auswanderung richtete sich ja, wie oben ausgeführt, ganz überwiegend nach fremden Ländern. Die Auswanderer aber suchten in den meisten Fällen von deutschen Firmen ihre Waren zu beziehen; sie brachten schon vorhandene Geschäftsverbindungen mit in die Ferne, oder knüpften von der Fremde aus solche in der Heimat an. So hat zwar die Auswanderung dem Mutterlande einen gewaltigen Verlust an Menschenkraft und Kapital gebracht, hat aber doch andrerseits Handel, Reederei und Industrie des Mutterlandes gefördert. Staatlich dagegen ist die Auswanderung nicht ausgenutzt worden. Im Gegenteil! Die Deutschen, die in der Londoner City, in Paris, in Amerika, und bei den Buren zu Ansehen und Reichtum gelangten, haben lediglich fremde, und mitunter feindselige Staaten gestärkt. Alle Versuche dagegen, einen staatlichen Zusammenhang mit dem deutschen Reiche herbeizuführen, wie sie von Texas (1836), von Südafrika und von Südbrasilien aus gemacht wurden, sind vollkommen gescheitert. Auch dem „Ausserreichischen“ Deutschtum in Europa, besonders in Österreich, und in Russland, hat die reichsdeutsche Regierung jede politische Hilfe verweigert.
Man rechnet, dass seit dem Sturze Napoleons etwa 6 Millionen Deutsche über das Weltmeer gegangen sind, davon 9/10 nach den Vereinigten Staaten. Sehr strittig ist die Zahl der Deutschen, die gegenwärtig im Auslande leben. Es ist das rein Sache subjektiver Schätzung, denn es kommt einzig und allein darauf an, ob sich die Betreffenden noch als Deutsche fühlen. Der eine Landsmann gebraucht ausschliesslich deutsch, ein anderer spricht es bloss noch im Hause, ein dritter hat es auch aus der Familie schon verbannt, und bedient sich seiner höchstens noch im Verkehr mit anderen Deutschen. Unbedingt abzuweisen ist das Einbeziehen der Holländer, Vlamen und Buren in den Rahmen des Deutschtums. Aber auch ohne diese Ueberspannung der Begriffe schwanken die Schätzungen unendlich, in den Vereinigten Staaten von 3 bis 27 Millionen. Die. letzte Zählung ergab 2,4 Millionen der Unionsbevölkerung, die in Deutschland geboren war. In Canada und Brasilien leben je 420 000 Deutsche, in Australien 105 000, in Südafrika 40 000. In ganz Asien 80 000. In Russland 21 Millionen. Eine weitere Schwierigkeit bietet die Entscheidung darüber, ob deutsch sprechende Juden, deren Zahl im russischen Reiche beinahe 6 Millionen ausmacht, zu den Deutschen zu rechnen seien.
Der Reichskanzler Graf Caprivi äusserte: Wir müssen entweder Menschen oder Waren exportieren. Dies Wort legt in meisterhafter Kürze den Kern der ganzen Frage dar. Es handelt sich darum, ob die Ausdehnung Deutschlands oder überhaupt irgend eines Staates durch Auswanderung oder Ausfuhr, durch die Gewinnung von Siedlungsländern oder die Stärkung der Industrie zu fördern sei. Andere Staaten haben beides fertig gebracht, so Grossbritannien, Nordamerika und Russland. Das deutsche Reich jedoch ist in eine Zwangslage geraten, die einstweilen nur ein Wachstum der Industrie erlaubt. Es gilt demnach, unserer Industrie neue Märkte zu sichern, und die alten zu behaupten. Zu dem Ende ist die Lehre von der offenen Tür von Deutschland besonders unterstrichen worden, weil eben gerade wir bei einer Sperrung der Märkte am meisten zu verlieren haben. Der Grundsatz der offenen Tür wurde bei Verhandlungen um China, Persien und Marokko angewendet. Zu leugnen ist allerdings nicht, dass dieser Grundsatz mehr wie einmal von fremden [273] interessierten Mächten ausser acht gelassen wurde, dass er den „Staatlichen Notwendigkeiten“ weichen musste. Dergestalt wurde Formosa und Korea so ziemlich gesperrt, und alle französischen Kolonien setzten der deutschen, wie überhaupt jeder fremden Einfuhr turmhohe Zölle entgegen. In jedem Falle ist der Grundsatz schwankend und in der Praxis der verschiedensten Behandlung ausgesetzt. Mitunter ist die Tür nur dazu offen, damit die anderen hinausspazieren. Für Deutschland ist es geradezu eine Lebensfrage, dass die Deutung des Begriffes nicht schwanke, denn seine Expansion ist auf einen Ring von Klientelstaaten angewiesen, die zwar territorial selbständig, aber finanziell und industriell von uns abhängig sind. Auf solche Staaten besitzen wir gewissermassen eine Hypothek. Sehr viel kommt dann freilich darauf an, mit welchem Nachdruck bei einem Konkurse der Hypothekengläubiger seine Forderungen vertritt. Man rechnet, dass ungefähr 30 Milliarden Mark deutschen Kapitales in dem Auslande arbeiten; davon kommen schätzungsweise je 4 Milliarden auf Südamerika und Russland, und 5/4 Milliarde auf die Türkei. Die Gesamtsumme kommt in das richtige Licht, wenn man ihr gegenüberstellt, dass die einheimischen Einlagen in unseren Sparkassen 10½ Milliarden betragen. In diesem Lichte erscheint die Summe sehr bedeutend; England lässt 70 bis 75 Milliarden seines Geldes im Auslande arbeiten, das stellt 1/5 seines Gesamtvermögens dar. Dagegen macht das deutsche Interesse im Auslande 1/10 unseres Volksvermögens aus.
Schon mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass wirtschaftliche Expansion ein zweischneidiges Schwert sei. Man stärkt eben dadurch die anderen. Die einstweilen wirtschaftlich Schwächeren lernen und ahmen nach, so namentlich die Japaner. Ein Meister muss immer darauf gefasst sein, dass sein Geselle sich bald selbständig macht, und als sein Mitbewerber eine Werkstätte gegenüber eröffnet. Ja, sogar Nordamerika, das jetzt den bedeutendsten Nebenbuhler Europas darstellt, ist lediglich durch Europa gross geworden. Wieso? Nun, in erster Linie dadurch, dass Europa ihm für viele Milliarden Getreide, Baumwolle, Obst und Fleisch abkaufte und noch abnimmt. Hierdurch wurden die Yankees so leistungsfähig, dass sie daran denken konnten eigene grosse Industrien zu errichten. Auch diese stammen fast durchweg von Europa, bis auf die Flugzeuge und Luftschiffe herauf. Noch 1890 war die Union ein ausgesprochener Agrarstaat; jetzt ist sie ein ebenso ausgesprochener Industriestaat, jetzt ist sie vollkommen europäisiert.
Auf den Stoss folgt der Gegenstoss. Das Ja ist nach Jacob Böhme nur der Gegenwurf des Nein. So sehen wir, dass auch in dem verschlungenen Getriebe des heutigen Imperialismus eine jede Wirkung eine Gegenwirkung auslöst, und dass die Fäden der Macht sich in seltsamster Weise kreuzen. Eine Waffe des Imperialismus ist die Reederei. Deshalb geniesst sie ja eine Unterstützung von Seiten des Staates. Nun ist es eine Tatsache, dass die deutsche Ostafrikalinie für Güter, die nach den kleinen Plätzen Deutsch-Ostafrikas gehen, höhere Preise fordert, als für Güter derselben Klasse nach dem entfernteren Beira. Die Linie fördert also die Portugiesen auf Kosten des deutschen Steuerzahlers. Genau so ist es in der Waffenindustrie, wo doch sonst gerade das Ausland die höchsten Preise für Kleinwaffen zahlt, was mit politischen Verhältnissen, mit Aufstand, Schmuggel und dergleichen zusammenhängt. Das hindert aber nicht, dass eine neue Mauserpistole in Sibirien weniger kostet, als in Berlin. Es ist kaum gerechtfertigt, hier die Notwendigkeit, die Konkurrenz zu unterbieten, ins Feld zu führen; denn die gedachte Pistole hat keine nennenswerte Konkurrenz. Der Grund ist vielmehr darin zu suchen, dass die Fabrik einfach allgemein, und durch jedes Mittel ihren Umsatz zu steigern sucht. Der gleiche Grund ist offensichtlich bei der Politik der Zechen wirksam. Garnicht selten führen wir deutsche Kohlen nach Belgien und England aus, und unterstützen dadurch ganz klärlich belgische und englische Industrie. Es wäre jedoch nicht angezeigt, jetzt ohne weiteres zu sagen: das ist ein Verbrechen an dem Vermögen des deutschen Volkes! Denn wenn die Zeiten flau sind, und die Kohlenförderung bei uns darniederliegt, so müssten von Rechts wegen, um einen Ausgleich zu schaffen, Zehntausende von Kohlenarbeitern entlassen werden. Um diesen Arbeitern weiterhin ihr ordentliches Auskommen zu sichern, dazu müssen wir eben unseren Gegnern und schlimmsten Mitbewerbern in dem Ausbau ihrer Industrien helfen. Ein gleicher Vorgang ist gar oft innerhalb der einzelnen Industriezweige zu beobachten. Die Langendreer Werke erhalten einen Regierungsauftrag auf 35 000 Tonnen Stacheldraht für Südafrika. Sie können dem Aufträge nicht allein genügen, und beziehen daher eine Menge des bestellten Drahtes aus Belgien. Also trägt belgische Industrie dazu bei, die deutsche zu verstärken und zu vergrössern, wobei sie, die Belgier, [274] ja allerdings auch etwas verdienen. Dergestalt ist von einer reinlichen Gegenüberstellung der einzelnen Staaten und ihres Erwerbslebens gar keine Rede mehr.
Am auffallendsten ist dies bei der Bestellung von Kriegsmaterial. Ein jeder Staat kann irgend einmal der Feind eines anderen Staates werden. Allein selbst dem Lande, das in nächster Zukunft aller Voraussicht nach feindlich wird, werden bereitwilligst von dem zukünftigen Gegner Patronen und Geschütze und ganze Kriegsschiffe geliefert. Fortwährend bezog Deutschland Kriegsschiffe von England, während eine englische Fabrik, bei der der Kolonialminister Chamberlain in eigener Person beteiligt war, kurz vor Oktober 1899 einen stattlichen Posten von Patronen an die Buren lieferte. Wenn solches zur Zeit des Krieges selbst getan wird, wie denn chinesische Häuser 1894 Kriegsmaterial nach Japan lieferten, so wird das füglich Hochverrat genannt (obwohl jene Chinesen nicht bestraft wurden), geschieht es aber unmittelbar vor dem Ausbrauch des Krieges, so ist die Tat nach heutigem Gesetze straflos. Füglich konnte jedoch Admiral v. Lans darüber ergrimmt sein, dass sein „Iltis“ vor Taku durch deutsche Kruppkanonen beschossen wurde. Krupp behauptet, dass er nur durch Lieferungen ins Ausland gedeihen kann.
Derartige internationale Verzettelungen sind im grossen und ganzen kein Hindernis für den Aufschwung der Nationalwirtschaft. Es sind Prämien, die man dafür an das Ausland zahlt. Und in letzter Linie kommt die Stärkung anderer Länder auch dem eigenen, auch dem deutschen Markte zu Gute. Welche Befürchtungen hat man nicht vor dem durch Schutzzoll geförderten Wachstum der nordamerikanischen Industrie und vor der Invasion des selbständig gewordenen ostasiatischen Grossgewerbes gehegt! Das Gegenteil ist eingetreten. Unsere Ausfuhr ist sowohl nach Amerika, als auch nach Japan fortwährend gestiegen. Je leistungsfähiger die einheimische Industrie in Amerika und Japan wurde, um so grössere Bestellungen machte sie in Deutschland wie in anderen Kulturstaaten, um ihre Leistungen auf der Höhe zu halten und noch immer mehr zu steigern. Man bedenke nur, dass jede neue Fabrik, jede Werft, die frisch errichtet wird, eine ganze Anzahl wertvoller Maschinen von aussen bezieht.
Zu den überseeischen Bestrebungen Deutschlands gehört endlich auch die Errichtung und die Tätigkeit der Missionen. Ihre Wirksamkeit entfaltet sich vornehmlich im Gebiete der „Heiden“ und in der Welt des Hinduismus und Buddhismus, während der Islam bisher allen Versuchen zur Bekehrung spröde widerstrebt hat. Ausführliches bringt über den Gegenstand das erschöpfende Buch von Warneck „Geschichte der evangelischen Missionen“. Die ältesten deutschen Missionen wurden von den Herrnhutern gegründet, von denen einer, Ziegenbalg, schon um 1720 nach Indien gelangte. Jänecke rief 1800 die Missionsgesellschaft zu Berlin ins Leben; 1815 wurde die Baseler Missionsgesellschaft gegründet, die noch jetzt mit grosser Emsigkeit arbeitet, und die aus dem deutschen Reiche ihre Inspektoren und Lehrer, wie die meisten ihrer Sendlinge, und einen grossen Teil ihrer Einnahmen bezieht. Im Jahre 1824 entstand die Gesellschaft zur Beförderung des Evangeliums unter den Heiden zu Berlin, 1828 die Rheinische Missionsgesellschaft in Barmen, 1836 die Norddeutsche Mission in Hamburg, dann Bremen, die Gossnersche in Berlin, und die evangelisch-lutherische in Dresden, dann Leipzig, endlich 1894 die Hermannsburger Missionsgesellschaft durch den Hannoveraner Harms, die z. B. für Natal und Zululand massgebend wurde. Ein Frauenverein für christliche Bildung des weiblichen Geschlechts im Morgenlande tat sich 1842 auf, und 1850 der Berliner Frauenmissionsverein für China. Ein Jerusalemverein wurde 1852 in Berlin errichtet. Eine frische Regsamkeit erblühte im neuen Deutschen Reiche. Jenssen stiftete 1877 die schleswig-holsteinische, Doll 1882 die Neukirchener Mission, beide mit pietistischem Einschlag. Aus liberalem Geiste ging der allgemeine evangelisch-protestantische Missionsverein 1884 hervor, für den der Grossherzog von Weimar und Oberkonsistorialrat Ehlers viel taten. Weiter wäre die Seemannsmission und die Auswanderermission zu nennen. Die Kolonialära brachte sodann eine ganze Reihe von evangelischen und katholischen Kolonialmissionen hervor. Um die Wende des Jahrhunderts betrug die Zahl der deutschen ev. Missionaren getauften Heidenchristen an 4 320 000. In vierzig Sprachen wurde der Unterricht erteilt. Ueber die Zahl derer, die von deutschen Katholiken bekehrt wurden, scheint keine Statistik vorhanden zu sein.
Manche Missionare sind bedeutende Sprachenforscher und Historiker. So schrieb Haas eine grundlegende Geschichte des Christentums in Japan, und Christaller und Meinhof sind die ersten [275] Autoritäten über afrikanische Sprachen. Dies führt uns auf die überseeischen Bestrebungen kulturlicher Art. Deutsche Wissenschaft und Kunst hat alle Länder der Erde irgendwie beeinflusst. Die japanische Medizin und Jurisprudenz ist ganz, und die geschichtlichen Wissenschaften sind zu einem grossen Teile auf deutscher Grundlage aufgebaut. Ich erinnere an die Austauschprofessoren und die Hochschätzung deutscher Gelehrsamkeit. Die Musik Richard Wagners hat die ganze Welt erobert. Politisch kommen derartige Bestrebungen insofern zum Ausdruck, als die Reichsregierung Kirchen und Schulen im Auslande unterstützt. Der beständig wachsende Betrag, der von Reichswegen für jene Schulen ausgeworfen wird, beläuft sich jetzt auf 1 000 000 Mark. Man darf dem gegenüberstellen, dass das kleinere Italien schon vor fünfzehn Jahren eine Million Lire für den gleichen Zweck ausgab und jetzt 2 Mill. jährlich bereitstellt. Der „Verein für das Deutschtum im Ausland“ und der Alldeutsche Verband wie Langhans’ „Deutsche Erde“, wirken ebenfalls darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen den Auslandsdeutschen und der Heimat gewahrt bleibe; die Tätigkeit der Kolonialgesellschaft und des Flottenvereins dient wenigstens indirekt der gleichen Absicht. Der Einfluss, den die deutsche Kultur ausübt, hat demgemäss zwei Wurzeln. Einmal gründet er sich auf die Bildungsmacht des grossen Deutschen Reiches, dann aber auf die Wirksamkeit der Deutschen, die an Ort und Stelle im Auslande tätig sind. Sehr häufig ist das ungemein rege Vereinsleben unserer Landsleute im Auslande mit wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen verquickt, deren Ausstrahlungen nicht verfehlen, auch das Wirtsvolk mit in ihren Bann zu ziehen. In diesem Sinne hat vor allem die Deutsche Ostasiatische Gesellschaft in Tokio, und haben die deutschen Akademien in Buenos Aires und St. Jago de Chile weitgehende Anerkennung errungen. Andere Kulturströme werden durch Studienreisen vermittelt, die immer mehr in Schwang kommen. Jahr für Jahr wird Deutschland von englischen Bürgermeistern und Arbeiterführern, von amerikanischen Professoren, von japanischen und chinesischen Offizieren, wird Bayreuth von einer Schar ausländischer Musiker, München beständig von Hunderten fremder Maler besucht, um von uns zu lernen. Daneben werden deutsche Monteure, Minen-Ingenieure und Elektriker, deutsche Ärzte und Kaufleute zu Hunderten in ausländische Dienste übernommen, um draussen deutsche Errungenschaften zu verbreiten. Die Volker fühlen instinktiv, dass sie noch einer Ergänzung bedürfen, und dass sie diese im deutschen Wesen finden.
Über die Ausgestaltung unserer Expansion gibt es im wesentlichen zwei, nicht leicht miteinander versöhnbare Ansichten. Die eine Meinung ist die, dass Deutschland auf Territorialerwerb verzichten müsse, dafür jedoch kommerzielle und kulturelle Eroberungen anstreben solle. Ihren erschöpfenden Ausdruck hat diese Meinung, die weitaus am meisten Anhang in Deutschland hat, in dem Buche Rohrbachs „Der Deutsche Gedanke in der Welt“ gefunden. Zur Beförderung unserer kulturellen Einwirkungen sind gerade in letzter Zeit verschiedene Gesellschaften entstanden; überwiegend beziehen sie sich auf die Verbreitung deutscher Kultur in der Türkei, in Schweden, Griechenland, Aegypten, in China und Südamerika. Das kulturelle Moment ist mit dem industriellen verknüpft. Die Verfechter der industriellen Ausdehnung weisen darauf hin, dass Neuland für unsere Bauern schon deshalb unnötig sei, weil der Geburtenüberschuss mühelos von der Industrie aufgesogen werde, und weil ausserdem unsere eigene Landwirtschaft der Tagelöhner ermangele. Die entgegengesetzte Ansicht erstrebt Landzuwachs für das Deutsche Reich, besonders Bauernland. Wenn alljährlich acht- bis neunhunderttausend neue Kräfte der Industrie zugute kämen, so entstünde schon in zwanzig Jahren ein derartiges Uebergewicht der Industrie über die Landwirtschaft, dass die ganze Schichtung unserer Gesellschaft dadurch umgestürzt würde. Wohin übermässiger Industrialismus führe, das zeige England mit seinen Nahrungssorgen. Die Grundlage unserer Weltmacht müsse notwendig durch territoriellen Zuwachs erweitert werden, auch werde Bauernsiedelung sofort erfolgen, wenn der Boden billig zu erhalten sei. Das könne allerdings – das wird zugestanden – nur durch einen Krieg errungen werden. Es gibt noch eine dritte Gruppe von Politikern, deren Ansicht einigermassen in der Mitte steht, nämlich von solchen, die zwar neuen Territorialerwerb für wünschenswert halten; jedoch nur einen in aussereuropäischen, vorzugsweise in tropischen Gegenden. Solcher Erwerb sei nützlich, um unserer Industrie neue Rohstoffe zuzuführen. Ausser Pflanzenstoffen, die für unsere Fabriken unentbehrlich sind, handelt es sich da vor allem um Metalle. Um neue Bezugsquellen für Metalle zu gewinnen, ist jedoch nicht unbedingt Territorialerwerb von nöten, auch Kauf von Erzfeldern usw. unter fremder Flagge wird erstrebt.
[276] Am geringsten ist der Vorsprung der Engländer und Amerikaner in der Kohlenförderung; gegenüber von 418 Millionen Tonnen der Vereinigten Staaten, und den 306 Millionen Weltbritanniens nahm das Deutsche Reich 1909 mit 217,4 Millionen keinen allzu schlechten Stand ein. In der Eisenerzeugung behauptet Deutschland sogar den zweiten Platz. Die Ziffern sind: in dem genannten Jahr rund 26 Millionen Tonnen Roheisen für Nordamerika, 13 für Deutschland und 10 für England. Dagegen ist um so auffallender das Überwiegen der Angelsachsen sonst; Grossbritannien erschmolz nicht weniger als 1371 Tonnen Silbers und Nordamerika gar 1702, während Deutschland nur mit 166 Tonnen aufwarten konnte. An Gold förderte Weltbritannien 395 Tonnen, wobei Südafrika den Löwenanteil beitrug, Nordamerika 150 Tonnen, und Deutschland 0,1. Auch in Kupfer, das von Jahr zu Jahr für die Weltindustrie, und namentlich auch für die Kriegsindustrie, belangreicher wird, können wir es nicht entfernt den zwei grossen Konkurrenten gleichtun; denn die Yankees, die schon jetzt den Markt beherrschen, und die von einem Kupferuniversaltrust träumen, erzeugten 1909 nicht weniger als 496 000 Tonnen, weit mehr als die Hälfte der Weltproduktion, die auf 893 000 Tonnen veranschlagt wurde, das britische Reich den immerhin noch in die Augen fallender Betrag von 73 000 t, das Deutsche Reich aber – trotz Mansfeld und Otavi – nur 25 000 t, also nur 1/35 der Weltproduktion. Nehmen wir endlich Erdöl! Man hat mit grossem Eifer die Mär ausgesprengt, dass unsere Lager im Norden und Nordosten von Hannover in absehbarer Zeit imstande seien, den ganzen deutschen Bedarf zu decken. Es ist gewiss höchst erfreulich, dass dort, in einer zuvor fast wertlosen Steppe, so wertvolle Vorkommen erschlossen worden sind, aber die 143 000 t deutschen Petroleums sind nur 1/280 der Weltausbeute, die sich auf 40 Millionen erhebt. Die Vereinigten Staaten erbohren davon über ⅔. In jüngster Zeit suchen wir unseren Ölbedarf aus dem Kaukasus, aus Galizien und Rumänien teilweise zu decken, um uns von der drückenden Uebermacht der Standard Oil Co. zu befreien.
Wir haben davon gesprochen, dass unsere Eisenherstellung eine vorteilhafte Rolle spielt. Man darf jedoch nicht vergessen, dass diese Herstellung nur zu zwei Dritteln auf der Erschürfung einheimischer Erze beruht. Wir sind bereits für ein Viertel der Tonnenzahl und ein Drittel des Ferrumgehaltes von dem Auslande abhängig. Wir besitzen namentlich viel zu wenig hochwertige Erze und müssen solche von Schweden, Frankreich, Algerien, Brasilien und dem Kaukasus beziehen. Die dringende Notwendigkeit, Erzlager unter eigener Flagge zu besitzen, hat bei der Marokkofrage eine ansehnliche Rolle gespielt. Frankreich und Schweden haben nämlich bereits Exportzölle auf Erze eingeführt. Einstweilen versuchen nun mit Erfolg unsere Hüttenbesitzer, eigene Erzfelder in Spanien (bei Bilbao), in Frankreich (im Brieygebiet), in Marokko, besonders im Sus, und in Brasilien zu erwerben. Damit ist es aber offenbar nicht genug.
Der Verbrauch der ganzen Welt steigt. Man nehme die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie gewannen 1850 etwas über eine halbe Million Tonnen Roheisen, und erreichten die erste Million 1864; sie gelangten zur fünften 1886, zur zehnten 1898, zur zwanzigsten 1905. Mithin ein geradezu erstreckendes Wachstum, dessen Tempo von Jahrzehnt zu Jahrzehnt schneller wurde. Gewiss, es fehlte nicht ganz an Rückschlägen; so brachte das Jahr nach dem ungeheuren Krach, das Jahr 1908 weniger Tonnen, als das voraufgehende: allein der Rückgang wurde schon 1909 wieder ausgeglichen. Deutschland insbesondere sieht auf eine Steigerung zurück, die kaum je weniger als 7%, und im Jahre 1910 sogar 14½% in einem einzigen Jahre betrug. Es ist kein Anzeichen vorhanden, das in absehbarer Zeit auf eine dauernde Minderung der Ausbeute hinweisen würde; im Gegenteil! Fortwährend vergrössern die Hüttenwerke ihren Betrieb, fortwährend nehmen, in Europa, wie in Amerika, die Bestellungen zu. Wir werden also füglich schätzen dürfen, dass der Weltverbrauch am Roheisen, der 1910 beinahe 66 Millionen Tonnen erreichte, im Jahre 1920, oder spätestens 1925 auf 132 Millionen anschwellen wird. Nun wurden aber von dem Stockholmer Kongress, dessen Ziffern zwar im einzelnen anfechtbar sein mögen, im ganzen jedoch von den Bergwerk-Interessenten der Erde als massgebend hingenommen werden, die nach bisherigen Methoden verwertbaren Erzvorräte der Welt auf insgesamt 12 Milliarden Tonnen in Europa, weniger als zehn Milliarden in Amerika, und mehr als eine halbe Milliarde in den anderen Erdteilen, zusammen 22½ Milliarden geschätzt. Eine Autorität, Professor Neumann, erklärt daraufhin: „Wenn in derselben Steigerung wie bisher die Eisengewinnung fortschreitet, reichen die benutzbaren Vorräte nur noch für 60 Jahre [277] aus.“ Man muss dabei veranschlagen, dass zur Gewinnung des Eisens eine ungefähr dreifache Masse von Erz notwendig ist, dass also in spätestens 15 Jahren schon 400 Millionen Tonnen Erz notwendig sein werden. Eigentlich also würde sich eine noch weit geringere Summe von Jahren ergeben, als Professor Neumann voraussetzt. Allein auch ein Aufhören in schon 60 Jahren ist beängstigend genug.
Die fremden Staaten verschmelzen aber in steigendem Masse ihre Erze selber. Das klassische Beispiel hierfür ist Schweden. Wir bezogen im Jahre 1910 aus Schweden nicht weniger als ein Drittel unserer gesamten Erzeinfuhr, nämlich 3¼ Millionen Tonnen. Schon aber lässt sich die unangenehme Tatsache nicht verschweigen, dass jenes nordische Land immer mehr selbst seine Erze benötigt, dass es Werke errichtet, deren Verbrauch geradezu unheimlich anwächst. In dem einen Jahre von 1909 bis 1910 hat Schwedens Eisenerzeugung von 443 000 Tonnen auf 604 000 zugenommen, also um 36⅓.
Nun hat Schweden den ungeheuren Vorteil, dass es über ganz gewaltige Wasserkräfte verfügt. Diese Kräfte werden bisher nur ganz schwach ausgenützt, und teilweise an ausländische, namentlich deutsche Elektrizitäts- und Karbid-Unternehmungen überlassen. In Zukunft wird man diese Kräfte für die Herstellung einheimischen Elektrostahls heranziehen. Ganz ähnlich, wie in dem skandinavischen Lande ist auch in Russland, das namentlich unseren schlesischen Hütten Erze liefert, und ist in Norwegen, das ebenfalls über die herrlichsten Wasserkräfte verfügt, und ist sogar in Algerien, wenn auch einstweilen noch in bescheidenen Anfängen, eine einheimische Eisenindustrie im Aufblühen begriffen.
Vorläufig freilich ist davon eine ernstliche Gefahr für unsere Industrie nicht zu erwarten.[1]
- ↑ Jüngste Literatur über Erzverbrauch Schwedens in „Weltverkehr“ 1913. Wirth, ebendort. Friedensberg, Preuss. Jahrbuch 1913.