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interessierten Mächten ausser acht gelassen wurde, dass er den „Staatlichen Notwendigkeiten“ weichen musste. Dergestalt wurde Formosa und Korea so ziemlich gesperrt, und alle französischen Kolonien setzten der deutschen, wie überhaupt jeder fremden Einfuhr turmhohe Zölle entgegen. In jedem Falle ist der Grundsatz schwankend und in der Praxis der verschiedensten Behandlung ausgesetzt. Mitunter ist die Tür nur dazu offen, damit die anderen hinausspazieren. Für Deutschland ist es geradezu eine Lebensfrage, dass die Deutung des Begriffes nicht schwanke, denn seine Expansion ist auf einen Ring von Klientelstaaten angewiesen, die zwar territorial selbständig, aber finanziell und industriell von uns abhängig sind. Auf solche Staaten besitzen wir gewissermassen eine Hypothek. Sehr viel kommt dann freilich darauf an, mit welchem Nachdruck bei einem Konkurse der Hypothekengläubiger seine Forderungen vertritt. Man rechnet, dass ungefähr 30 Milliarden Mark deutschen Kapitales in dem Auslande arbeiten; davon kommen schätzungsweise je 4 Milliarden auf Südamerika und Russland, und 5/4 Milliarde auf die Türkei. Die Gesamtsumme kommt in das richtige Licht, wenn man ihr gegenüberstellt, dass die einheimischen Einlagen in unseren Sparkassen 10½ Milliarden betragen. In diesem Lichte erscheint die Summe sehr bedeutend; England lässt 70 bis 75 Milliarden seines Geldes im Auslande arbeiten, das stellt 1/5 seines Gesamtvermögens dar. Dagegen macht das deutsche Interesse im Auslande 1/10 unseres Volksvermögens aus.

Schon mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass wirtschaftliche Expansion ein zweischneidiges Schwert sei. Man stärkt eben dadurch die anderen. Die einstweilen wirtschaftlich Schwächeren lernen und ahmen nach, so namentlich die Japaner. Ein Meister muss immer darauf gefasst sein, dass sein Geselle sich bald selbständig macht, und als sein Mitbewerber eine Werkstätte gegenüber eröffnet. Ja, sogar Nordamerika, das jetzt den bedeutendsten Nebenbuhler Europas darstellt, ist lediglich durch Europa gross geworden. Wieso? Nun, in erster Linie dadurch, dass Europa ihm für viele Milliarden Getreide, Baumwolle, Obst und Fleisch abkaufte und noch abnimmt. Hierdurch wurden die Yankees so leistungsfähig, dass sie daran denken konnten eigene grosse Industrien zu errichten. Auch diese stammen fast durchweg von Europa, bis auf die Flugzeuge und Luftschiffe herauf. Noch 1890 war die Union ein ausgesprochener Agrarstaat; jetzt ist sie ein ebenso ausgesprochener Industriestaat, jetzt ist sie vollkommen europäisiert.

Auf den Stoss folgt der Gegenstoss. Das Ja ist nach Jacob Böhme nur der Gegenwurf des Nein. So sehen wir, dass auch in dem verschlungenen Getriebe des heutigen Imperialismus eine jede Wirkung eine Gegenwirkung auslöst, und dass die Fäden der Macht sich in seltsamster Weise kreuzen. Eine Waffe des Imperialismus ist die Reederei. Deshalb geniesst sie ja eine Unterstützung von Seiten des Staates. Nun ist es eine Tatsache, dass die deutsche Ostafrikalinie für Güter, die nach den kleinen Plätzen Deutsch-Ostafrikas gehen, höhere Preise fordert, als für Güter derselben Klasse nach dem entfernteren Beira. Die Linie fördert also die Portugiesen auf Kosten des deutschen Steuerzahlers. Genau so ist es in der Waffenindustrie, wo doch sonst gerade das Ausland die höchsten Preise für Kleinwaffen zahlt, was mit politischen Verhältnissen, mit Aufstand, Schmuggel und dergleichen zusammenhängt. Das hindert aber nicht, dass eine neue Mauserpistole in Sibirien weniger kostet, als in Berlin. Es ist kaum gerechtfertigt, hier die Notwendigkeit, die Konkurrenz zu unterbieten, ins Feld zu führen; denn die gedachte Pistole hat keine nennenswerte Konkurrenz. Der Grund ist vielmehr darin zu suchen, dass die Fabrik einfach allgemein, und durch jedes Mittel ihren Umsatz zu steigern sucht. Der gleiche Grund ist offensichtlich bei der Politik der Zechen wirksam. Garnicht selten führen wir deutsche Kohlen nach Belgien und England aus, und unterstützen dadurch ganz klärlich belgische und englische Industrie. Es wäre jedoch nicht angezeigt, jetzt ohne weiteres zu sagen: das ist ein Verbrechen an dem Vermögen des deutschen Volkes! Denn wenn die Zeiten flau sind, und die Kohlenförderung bei uns darniederliegt, so müssten von Rechts wegen, um einen Ausgleich zu schaffen, Zehntausende von Kohlenarbeitern entlassen werden. Um diesen Arbeitern weiterhin ihr ordentliches Auskommen zu sichern, dazu müssen wir eben unseren Gegnern und schlimmsten Mitbewerbern in dem Ausbau ihrer Industrien helfen. Ein gleicher Vorgang ist gar oft innerhalb der einzelnen Industriezweige zu beobachten. Die Langendreer Werke erhalten einen Regierungsauftrag auf 35 000 Tonnen Stacheldraht für Südafrika. Sie können dem Aufträge nicht allein genügen, und beziehen daher eine Menge des bestellten Drahtes aus Belgien. Also trägt belgische Industrie dazu bei, die deutsche zu verstärken und zu vergrössern, wobei sie, die Belgier,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/289&oldid=- (Version vom 9.12.2021)