Textdaten
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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Die Theater in Paris
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 474-476
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Theater in Paris.

Von Rudolf von Gottschall.

Paris ist eine echte Theaterstadt; nicht blos die Hochfluth des Fremdenbesuchs strömt in die Theater der Weltstadt. Freilich, über die eigentliche Pariser Bevölkerung breitet sich eine große europäische und amerikanische Schicht, die auf den Boulevards und in den Theatern sich am meisten bemerkbar macht und den Pulsschlag der Weltstadt zu einer fast krankhaften Regsamkeit steigert; doch auch die Theater an den äußeren Boulevards, in Batignolles und anderen Gemeinden, ja selbst in Belleville, dem Hauptsitze der Revolutionairs, Theater, in welche die Neugierde nur selten einmal einen Fremden lockt, beweisen, daß die Theaterlust in allen Kreisen der Pariser Bevölkerung heimisch ist.

Und haben die Pariser Poeten nicht das echte Theatergenie? Man muß es doch glauben, wenn man unsere deutschen Direktoren jahraus, jahrein nach der Seinestadt wallfahren sieht, um sich dort mit dem nöthigen Repertoirefutter zu verproviantiren. Glücklich, wer das goldene Vließ in der Tasche mit nach Hause bringt, wer seinem Gegner glücklich zuvorgekommen ist oder ihn durch ein größeres Gebot geschlagen hat; denn was deutsche Direktoren den deutschen Dichtern nie bewilligen, das bewilligen sie den französischen: eine oft sehr bedeutende Prämie für das Aufführungsrecht, ganz abgesehen von den hohen Tantiemen. Und muß man an dies überlegene Theatergenie der Pariser nicht glauben, wenn man die deutschen Kritiken liest, in denen jedes französische Stück als ein classisches Meisterwerk bewundert und mit einer Sorgfalt zergliedert wird, als handle es sich um eine Schöpfung, welche es verdiente, deutsches Nationaleigenthum zu werden? Und wie über die deutsche Bühne, so gehen die französischen Stücke auch über die englische, russische, italienische, spanische; Paris ist die Hauptstadt des europäischen Theaters.

Zwar von der großen Oper geht nicht mehr der Glanz aus wie zu den Zeiten Rossini’s, Auber’s und des deutsch-französischen Meyerbeer; neuerdings beginnt die Richard-Wagner-Oper ihr eine internationale Concurrenz zu machen. Dagegen haben die Operetten von Offenbach und Lecocq alle Bühnen Europas wie im Sturm erobert; von den kleinen Bouffes Parisiennes, diesem bescheidenen Nachbartheater der Italienischen Oper, wo zuerst Offenbach’s ironische Violinen kicherten und bacchantische Trommeln wirbelten, überkam ganz Europa die hunderttausend Teufel und Teufelchen des musikalisch-dramatischen Champagnerrausches, dieser prickelnden und trippelnden Vergnüglichkeit, die ihre Sache auf nichts gestellt hat. Und die Lorbeern Offenbach’s ließen die deutschen Kapellmeister nicht schlafen; mit mehr Glück als die deutschen Lustspieldichter ahmten sie die französischen Vorbilder nach und hatten gleiche Erfolge: mehr als hundert Aufführungen an den Operettenbühnen der Hauptstädte.

Und welchen Kreis beschreiben die Dramen Augier’s, Sardou’s, des jüngeren Dumas’, Pailleron’s? Zugstücke überall, Lieblingsstücke der deutschen gastirenden Künstlerinnen, beengen sie nicht nur das deutsche Repertoire; sie rufen schwache Nachahmungen hervor, welche die Kritik schonend behandelt oder glänzend verherrlicht, weil auch sie sich ganz im Fahrwasser der französischen Muse befindet. Die Autoren jenseits des Rheins haben das echte Theaterblut: es cirkulirt auch in der Hauptstadt. Freilich, die Theater allein reichen dafür nicht aus; sie braucht große Schau- und Spektakelstücke; sie braucht nicht blos einen Talma, sondern auch einen Napoleon.

Die neue Republik ist wenig theatralisch – und das ist ihre Achilleus-Ferse. Gambetta hatte wenigstens theatralische Gesten und Attitüden; er wußte die Toga in Falten zu legen: doch auch das letzte darstellende Talent der französischen Haupt- und Staatsactionen ist hinter den Coulissen verschwunden, um nie auf die Bühne wiederzukehren.

Ein Pariser Theater bietet im Allgemeinen einen etwas anderen Anblick dar, als ein deutsches: das Parquet, les stalles d’orchestre, gehört ausschließlich den Herren, die Damen sitzen in den Logen und Baignoires, in den großen Theatern, besonders in der Italienischen Oper, in der elegantesten Toilette. Das Pariser Feuilleton erwähnt, wenn es sich um erste Aufführungen handelt, die hervorragenden Damen, mögen sie nun der Aristokratie, der reichen Bourgeoisie, der Künstlerwelt oder der Halbwelt angehören, und versäumt es nicht, die Kritik mit dem Modebericht zu verknüpfen, indem es diese Toiletten schildert. Und dabei läßt sie ihre Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte, und eine schöne Courtisane erhält reicheres Lob, als eine minder schöne Prinzessin.

Die galanten Verehrer finden sich in den Logen ein; jeder bringt eine kleine Gabe, Confitüren, Apfelsinen, und manche der Damen macht den Eindruck, als säße sie an einer Verkaufsstelle in einer Wohlthätigkeitsausstellung. Doch ist diese Sitte in der Republik etwas eingeschlafen; man ist nicht mehr so galant, wie unter dem Kaiserthum; es gehört dies vielleicht zur republikanischen Tugend, von der man sonst in Paris, trotz Montesquieu, jetzt wenig genug bemerkt.

Im Zwischenact werden die Pariser Theater lebendig: da finden sich die Ausrufer ein, welche Erquickungen jeder Art, Theaterzettel und „le livre“ feilbieten. Das Buch: es ist dies eine [475] gute Pariser Sitte, von welcher das Publicum wie der dramatische Dichter den gleichen Vortheil hat. Das im Buchhandel erschienene Drama, das auf den Brettern gespielt wird, kann dadurch in den Besitz eines Jeden gelangen, welcher schon während der Aufführung sich die genauere Kenntniß des Stückes verschaffen oder nach derselben sich noch einmal in den Zusammenhang des Ganzen und die einzelnen Wendungen vertiefen will. Der Preis dieser Bücher ist durchaus kein geringer und nicht entfernt mit demjenigen zu vergleichen, mit welchem die Hefte der Reclam’schen Universalbibliothek bezahlt werden, die jetzt auch an manchen Theatercassen zum Verkauf ausliegen, wenn das Stück gegeben wird, das sie enthalten.

Während sich im Theater selbst ein lärmender Jahrmarkt entwickelt, geht ein großer Theil des Publicums in den Foyers spazieren. Nur das Foyer der Großen Oper macht indeß einen imposanten Eindruck; hier promenirt fast alles in Gesellschaftstoilette; Fracks und weiße Halsbinden trifft man öfter; obligatorisch ist aber in allen Foyers, auch der zweiten Theater, der Cylinderhut für die Herren. Dort baarhäuptig zu wandern, wäre ein Verstoß gegen die übliche Sitte.

Das Foyer des Théâtre Français besteht aus einer Reihe von Zimmern, die mit den Bildern und Statuetten schauspielerischer oder schriftstellerischer Berühmtheiten geschmückt sind. Auch in den andern Theatern sind es nur größere oder kleinere Salons, in denen man hin und her spaziert. So schöne große und geschmückte Rundgänge, wie das Foyer des Leipziger Stadttheaters, findet man dort nirgends. Dagegen können mit den großen prachtvollen Säulen-, und Spiegelhallen des Opernhauses nur die Wiener Oper und einigermaßen die Foyers in den großen Theatern von Dresden und Frankfurt a. M. concurriren.

An allen Pariser Theatern sind die ersten Aufführungen neuer Stücke am besuchtesten; das fashionable und urtheilsfähige Paris giebt sich hier ein Rendezvous. Ein solcher erster Abend gehört fast ganz den Autoren: sie vertheilen die große Mehrzahl der Billets selbst. Eine première ist stets ein Ereigniß; die Kritik bespricht nicht blos das Stück und die Schauspieler, sondern auch das Publicum. Im Ganzen ist die Kritik, neuen dramatischen Erzeugnissen gegenüber, bei weitem wohlwollender, als in Deutschland, wo oft verunglückte Dramatiker oder Schriftsteller aus den niederen Rängen der Literatur das große Wort führen. In den großen Theatern der deutschen Hauptstädte wird zwar eine première auch seitens des Publicums mehr beachtet; doch an mittleren Bühnen bewahrt dasselbe eine mehr abwartende Haltung; man ist da frei von jedem Ehrgeiz in Bezug auf literarische Dinge und schont sein Geld, bis die Kritik sich darüber ausgesprochen, ob das Stück wirklich sehenswerth sei.

Der Erfolg der ersten Aufführungen in Paris ist nicht vom Beifall der Claque abhängig, denn diese wohlorganisirte Claque thut immer gleichmäßig ihre Schuldigkeit. Die chevaliers du lustre, die Ritter des Kronleuchters, versammeln sich unter kundiger Führung; doch sie beschränken sich nicht auf enthusiastisches Beifallklatschen und auf die Ausbrüche lärmender Fröhlichkeit, durch welche sie das Publicum in die gleiche Stimmung zu versetzen suchen; sie gebieten über eine große Menge feinerer Kunstgriffe. Schon das Weinen ist schwieriger als das Lachen: der moucheur, der in Augenblicken der Erregung zum Schnupftuch greift, der sangloteur, der sich bei rührenden Situationen auf das Schluchzen versteht, das für zartbesaitete Gemüther eine unwiderstehliche Ansteckungsfähigkeit besitzt: das sind schon Claqueurs von feinerer Kunstbildung, die aus der Masse hervorragen.

Auch Frauen wirken mit, wenngleich nicht unter dem Kronleuchter; sie finden sich als Kränzewerferinnen auf den Gallerien ein, oder als pâmeuses in den Logen des ersten Ranges. Eine pâmeuse ist eine Jüngerin der Claque, welche die Verpflichtung übernommen hat, an geeigneter Stelle in Ohnmacht zu fallen. In dem interessanten Rodenberg’schen Skizzenbuche: „Paris bei Sonnenschein und Lampenlicht“, wird eine ergötzliche Anekdote von einer solchen pâmeuse erzählt: Sie tritt als Zeugin vor Gericht auf und der Präsident fragt sie nach ihrem Beruf; sie antwortet: „je m’évanouis!“ („ich falle in Ohnmacht!“). Der Präsident ruft nach Wasser und läßt ihr einen Stuhl bringen. Sie trinkt und setzt sich. Nach längerer Pause wiederholt der Präsident die Frage nach ihrem Beruf; sie ertheilt dieselbe Antwort: „je m’évanouis!“ „Schon wieder?“ ruft der Präsident, auf’s Höchste erstaunt, bis ihn ein jüngerer Secretär über diesen Beruf der pâmeuses aufklärt.

Auch über ein anderes, höchst geniales Kunststück der Claque berichtet Rodenberg:

„Neulich wurde ein Stück zum ersten Mal gegeben. In einer Loge des Prosceniums hatte ein Vater mit seiner ganzen Familie, Frau, Töchter und Söhne, Platz genommen. Mitten im Act, bei einer anstößigen Stelle, erhebt sich der Vater sehr brüsk; er murmelt ziemlich laut, daß es empörend sei, dergleichen einer honneten Familie zu bieten. Geräuschvoll erheben sich die Frau, die Töchter, die Söhne: die Loge wird leer und bleibt leer. Alle Welt ist aufmerksam geworden und alle Blätter erzählen am andern Morgen, daß in dem und dem Theater eine neue Pièce zur Aufführung gekommen, welche so unanständig sei, daß mitten im Act ein Familienvater mit Frau, Töchtern und Söhnen sich gezwungen gesehen habe, das Theater zu verlassen. Das wirkte. Ganz Paris wollte das unanständige Stück sehen, und der Erfolg desselben war im voraus für hundert Abende gesichert.“

Wenn man von der Napoleonischen Kirche, der Madeleine, die Boulevards entlang geht, so öffnet sich zur Linken bald der Platz der Großen Oper, und dies Prachtgebäude mit seiner monumentalen Treppe, seinen drei mächtigen Portalen, der Loggia des Foyer, den Marmorgruppen der Seitenthore fesselt den Blick. Im Innern, im Treppenhause unter der Kuppel, steigen Marmortreppen mit dem carrarischen Geländer empor; es fesseln den Blick die Gänge des Treppenhauses mit ihren kleinen Balcons, und über der Haupttreppe hoch oben der sein Viergespann lenkende Neptun. Auch das Foyer schimmert von Gold und hat schöne Plafondbilder. Der Plafond des Zuschauerraums mit dem Stundentanz, und der prachtvolle Kronleuchter bilden einen seltenen Schmuck des Gebäudes. Und welche Dimensionen hat die Bühne!

Als ich im letzten Herbst in Paris war, sah ich den „Freischütz“ aufführen, nicht ohne einige bedenkliche Regiestriche, mit einer glänzenden, aber durchaus nicht stimmungsvollen Inscenirung. Das Wilde, Gespenstige der Wolfsschlucht kam weniger zur Geltung: freilich, es war wie ein verzauberter Wald, magische Gestalten überall, im Gebüsch, in den Wipfeln, an den Felswänden, eine Uebervölkerung mit traumhaften Bildern; doch es war dies mehr wie ein Feengarten, alles gebannt vom Zauber wie die Bilder eines Wachsfigurencabinets, nicht die wilden vom Sturm gescheuchten Gestalten.

Und fragt man überhaupt, welche künstlerische Perle in dieser prachtvollen Muschel sich findet, so kann die Antwort nur ein bedauerliches Achselzucken sein. Die Große Oper hat seit dem Bestehen des grandiosen Kunsttempels keinen einzigen Erfolg mit einer neuen Schöpfung aufzuweisen, ebenso wenig Künstler von phänomenaler Bedeutung. Sie lebt von den Reprisen der Meyerbeer’schen und Gounod’schen Opern. Nur einmal wagte sie es, eine Novität zu bringen, die „Jeanne d'Arc“ von Mermet, welche im Jahre 1877 über die Bühne ging, aber das Publicum in hohem Maße langweilte, trotz des patriotischen Stoffes oder vielleicht wegen desselben; denn im Opernhause will man keinen Patriotismus, da herrschen andere Götter. Eine große Rolle spielt hier das Ballet; aber zu voller Selbstständigkeit hat es sich auch hier nicht emporgerungen: es darf nie den Abend füllen. Sonst hat ihm die bildende Kunst, die das Opernhaus schmückte, zahlreiche Huldigungen zu Theil werden lassen. Die etwas kecke Tänzergruppe Carpeau’s am Eingange, die Bilder, in denen Boulanger die verschiedensten Tänze im Foyer de la danse, dieser glanzvollen großen Börse des Kunst- und Skandalgesprächs hinter den Coulissen, dargestellt hat, beweisen zur Genüge, daß Terpsichore hier eine bevorzugte Rolle spielt.

Weiterhin auf dem Boulevard steht das neue Theater de Vaudeville, das sich früher gegenüber der Börse befand. Es ist dies nächst dem Gymnasetheater die beste Vorschule für das Théâtre Français, eine vorzügliche Lustspielbühne: hier sind viele Stücke von Sardou zum ersten Male gegeben worden. Ich sah in diesem eleganten Schauspielhause ein höchst ergötzliches Stück: „Tête de linotte“, das unter dem Titel: „die Confusionsräthin“ am Wiener Stadttheater in Scene ging, ohne sonderlich zu gefallen. Es ist dies begreiflich, denn die Voraussetzungen der Handlung sind ganz aus dem Pariser Leben gegriffen und für ein deutsches Publicum etwas anstößig.

Auf dem Boulevard des Italiens hat sich ein neues Operettentheater [476] aufgethan, das Théâtre des Nouveautés, welches mit seinen Zugstücken große Erfolge erringt.

Das Gymnasetheater auf dem Boulevard Bonne-Nouvelle hebt sich von demselben durch eine Vortreppe etwas stattlicher ab. Hier haben Scribe und sein Nachfolger Sardou ihre hauptsächlichsten Erfolge errungen. Daß hier die Darsteller des feinsten Conversationstons mächtig sind, bewies mir eine Darstellung der „Heloïse Paranquet“, der ich beiwohnte; es war dies eine Réprise jenes zusammengequälten Dramas, welches das in Frankreich so beliebte Thema der „unwürdigen Mütter“ behandelt.

Vorbei an den Triumphbogen der Porte Saint-Denis und Saint-Martin und an zwei neuen Operettenbühnen, von denen das Renaissancetheater in seinem Innern ein wahres Schmuckkästlein ist, führt uns der Weg zum altberühmten Theater der Porte-Saint-Martin, wo früher die großen romantischen Trauerspiele, später die wunderbarsten Feerien, Revuen und Spectakelstücke gegeben wurden. Hier ist auch die Stätte für das patriotische Drama, wo die Helden sich an die Brust schlagen und „La France“ mit Begeisterung in die freudig wiederhallenden Räume des Hauses schleudern. Mag das Stück in China, Kamtschatka und am Nordpol spielen: immer spielt ein Franzose mit, der die große Nation mit Heldenmuth und Edelmuth und volltönenden Phrasen vertritt. So war’s auch in Dennery’s „Michel Strokoff“, einem großen Ausstattungsstücke, das ich dort sah. Da fehlte es nicht an brennenden Städten, an Schlachtfeldern, die mit Leichen bedeckt sind, an Naphthaflüssen, Tatarenfesten, an Sensationsscenen, indem z. B. ein russischer Courier geblendet wird, aber das Augenlicht wieder erhält durch ein psychologisches Wunder. Doch auch der tapfere, edle Franzose fehlt hier nicht, der, als Kriegsjournalist mit einem drolligen Engländer gleichen Berufs im Bunde, die merkwürdigsten Abenteuer erlebt.

Weiterhin am Boulevard liegt das Ambigu-Comique, ein Volkstheater, das sich während meiner Anwesenheit in Paris vorzugsweise damit beschäftigte, die Streiche des wackeren Cartouche seinem Publicum vorzuführen.

Auf der andern Seite der Boulevards liegt das Théâtre des Variétés, eine Lustspiel- und Opernbühne, die Vieles und Allen Etwas bringt, und an der Place Favard, nicht weit von der Großen Oper, die Opéra comique, die Stätte, wo Auber’s, Boieldieu’s und Thomas’ Lorbeern blühen.

Es ist unmöglich, in dem beschränkten Raume meiner kurzen Skizze alle Pariser Theater Revue passiren zu lassen; wir erwähnen nur noch das Gaîté-Theater an der Place des Arts et Metiers, das mit Ausstattungs- und Conversationsstücken wechselt, das größte Theater von Parts, das Châtelettheater, welches über 3300 Zuschauer faßt und in welchem wir zur Zeit des second empire eine prachtvolle Aufführung des französischen „Aschenbrödel“ („Cendrillon“) sahen, und das ihm gegenüberliegende Théâtre Lyrique, wo früher vorzugsweise die deutsche Oper gepflegt wurde. Die neuesten Schicksale dieser beiden Bühnen sind mir unbekannt. Thatsache ist das Ueberwuchern der Operette im letzten Jahrzehnt, welche jetzt mit drei bis vier Bühnen den Boulevard beherrscht. Doch wo bleibt das Trauerspiel? Die Comédie Française, die es eigentlich nicht im Wappen führt, hat Corneille und Racine auf ihrem Repertoire, bringt auch gelegentlich Victor Hugo eine Huldigung durch Aufführung eines seiner Trauerspiele dar, aber die neueste dramatische Dichtung höheren Stils findet hier nur selten ein Asyl: Ponsard war der letzte namhafte Poet, den dies Theater begünstigt hat. Die andern flüchten sich auf die Versuchsbühne des Quartier Latin, das Odéon, wo Stücke in gereimten Alexandrinern noch den Beifall des akademischen Publicums finden. Dort hat Louis Bouilhet seine Lorbeern geerntet. Wer der Aufführung klassischer Trauerspiele am Théâtre Français beigewohnt hat, der wird erstaunt sein über das eigenthümliche Pathos, mit welchem die Darsteller hier die Verse der unsterblichen Dichter in’s Publicum lanciren und das in so auffallendem Contraste steht zu der großen Lebenswahrheit und künstlerischen Feinheit, mit welcher sie die moderne Komödie spielen. Allen Respect vor der Darstellungskunst der Sociétaires der ersten Bühne Europas; aber ihre dramaturgische Einsicht kann mir nicht imponiren. Ich hatte das Unglück, allzu oft Stücke zu sehen, welche Fiasco machten und es zu machen verdienten: vor Jahren einmal Le fils von Vacquerie, jetzt Les Corbeaux von Becques, ein Schauspiel ohne jeden künstlerischen Aufbau, von krasser Lebenswahrheit und verletzendem Abschlusse.

Das Theater von Paris ist nach wie vor das Welttheater; aber die Weltbühne selbst, die Bühne, wo sich die Geschicke Europas entscheiden, ist nicht mehr an der Seine zu suchen.