Textdaten
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Autor: Adolf Loos
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Titel: Die Schuhmacher
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aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 92–98
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
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Erscheinungsort: Wien
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: PDF bei Commons
Kurzbeschreibung: Loos pflegte eine Kleinschreibung (außer bei Satzanfängen und Namen) auch bei seinen Titeln, wie den Inhaltsverzeichnissen zu entnehmen ist (im Buch selbst sind die Titel in Versalien gesetzt). Um Irritationen zu vermeiden, werden die Titel in der gewohnten Groß-Kleinschreibung gegeben
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[92]
DIE SCHUHMACHER
(14. august 1898)


Als an dieser stelle eine entgegnung auf den artikel, der die tätigkeit des hutmodevereines besprach, veröffentlicht wurde, konnte man sich die tragweite dieser maßnahme doch nicht recht vorstellen. Die folgen sind nun da. Die interessenten sind von einer dementierwut befallen. Jedermann, der anderer meinung ist, findet es selbstverständlich, daß seine ansichten auch abgedruckt werden. Es wird in aller form dementiert. So „erlaubt sich ein herr S.“ – seit zwanzig jahren in der schuhmacherbranche tätig!, wie er hinter seiner unterschrift samt dem ausrufungszeichen versichert – „um aufnahme der nachstehenden berichtigenden zeilen zu ersuchen“. Und nun folgt eine reihe mit „unrichtig ist, daß …“ beginnender abschnitte.

Vielleicht sind die leser neugierig, was wohl herr S. berichtigt. Greifen wir einige punkte auf gut glück heraus. Unrichtig ist, so versichert herr S., der vergleich des bergsteigens mit dem radfahren. Oder: unrichtig ist, daß jeder student seinen gaul hatte. Oder: unrichtig ist, daß die schnürschuhe das ganze nächste jahrhundert beherrschen werden. Ein anderer herr, namens Sch., bittet ebenfalls um aufnahme seiner zeilen, hoffend, dadurch einiges zur hebung unserer ohnehin gedrückten österreichischen schuhindustrie beitragen zu können. Dabei ist ihm aber ein malheur passiert. Die enthusiastischen worte, die ich dem hutmodeverein widmete, hat er für bare münze gehalten, denn er polemisiert gegen meine behauptung, daß bergsteigen, marschieren und radfahren die schnürschuhe in aufnahme gebracht haben, und meint [93] dann wörtlich: „Forschen wir also nach anderen gründen. Ich denke hier an das lichte schuhwerk, welches dem schnürschuh eine solche verbreitung gab; die schuster forcierten den schnürschuh und brachten hübsche formen heraus. Also da liegt der hund begraben. Der schuster macht die mode. Herr Loos erzählte uns neulich so hübsch die geschichte vom hutmodeverein, wie der mode macht. Hier findet man dasselbe.“

Nun, alles kann wohl nicht aufnahme finden, was um aufnahme bittet. Der unfreiwillige komiker ist immer amüsant – aber dieses blatt ist kein witzblatt. Jene zuschrift, welche die tätigkeit des hutmodevereines verteidigte, bot eine interessante ergänzung zu meinen angriffen und hat zur klärung der situation vieles beigetragen. Stärker noch als meine argumente, vernichtender als meine vorwürfe hat sie jenem wahlmodus wohl für immer ein ende bereitet. Stärker und vernichtender, weil sie aus dem eigenen lager kam. Mit recht fragte das publikum, wie es wohl mit dem guten geschmacke jenes lagers bestellt ist, das uns die hutformen angibt. Daß es menschen gibt, welche die formen des hutmodevereines für vornehm genug halten, wurde niemals in abrede gestellt. Doch wie sehen diese menschen aus, wie ist ihr geschmack? Die zuschrift des herrn Keßler drückte das präzis aus. Er hält es mit seinem geschmacke für vereinbar, wenn man das porträt seiner majestät in das hutfutter hineindruckt. Er beruft sich dabei auf die Bukowina, wo mit den bildnissen der nationalmänner ähnlich verfahren wird. Das publikum ist also jetzt im klaren. Hie England, hie Bukowina!

Die zuschriften der herren aus der schuhbranche tragen aber zur klärung gar nichts bei. Im allgemeinen [94] laufen alle darauf hinaus, daß durch die aufnahme des schnürschuhs die österreichische schuhmacherei geschädigt wird, da dieser die stieflette, die merkwürdigerweise für den österreichischen nationalschuh gehalten wird, verdrängt. Eine solche anklage ist natürlich unhaltbar. Denn schuhe und stiefel werden verbraucht, ob sie nun nach diesem oder nach jenem system gemacht sind. Dem schuhmacher ist das gleichgültig. Nicht so dem gummizugfabrikanten, der aber jetzt eben auf die herstellung anderer erzeugnisse bedacht sein muß. Gegen den zug der zeit kann kein mensch arbeiten, und millionen zentner druckerschwärze können die stieflette nicht mehr zu neuem leben erwecken.

Das lehrt uns wohl die ausstellung selbst. In der vitrine der schuhmacher-genossenschaft, die 192 schuhe zeigt, zählen wir nur drei damen-, drei herren- und drei uniformstiefletten. Die statistik ist eine unbarmherzige sprache. In zehn jahren? Da werden wir auch diese letzten neun vergeblich suchen.

Nach den englischen schustern machen gewiß unsere schuhmacher die besten schuhe der welt. Man wird zwar in den verschiedenen europäischen hauptstädten hervorragende schuster aufzählen können, aber der gleichmäßige, tüchtige durchschnitt erhebt die österreicher, was die fußbekleidung angeht, über jedes andere volk. Dies ist um so verwunderlicher, als unsere schuster für ihre leistungen schlecht gezahlt werden. Das publikum drückt die preise immer mehr und mehr, und das manko wird, wenn der gewerbsmann nicht zugrunde gehen will, in den schuhen selbst ausgeglichen werden müssen. Oh glaubt ja nicht, daß es dem schuster freude macht, schlecht zu arbeiten! Aber ihr zwingt ihn dazu. Er träumt von dem [95] besten leder, der besten arbeit. Wie gern möchte er einen tag länger bei den schuhen verweilen. Wie ungern zwingt er seine gehilfen, schneller zu arbeiten, wohl wissend, daß dadurch manche schlamperei ungerügt bleiben muß. Aber das leben ist unerbittlich. Er muß, muß und muß die schuhe um diesen preis fertigstellen, und daher entschließt er sich schweren herzens, den guten, aber langsamen gehilfen zu entlassen und beim rohmaterial zu sparen. Schon beim zwirn muß angefangen werden. Ihr aber, denen es ein besonderes vergnügen macht, euren schuster wieder um einen gulden gedrückt zu haben, ihr, die ihr doch diesen gulden mit leichtigkeit für einen besseren fauteuil im theater ausgebt, sobald eure gewohnten sitze vergriffen sind, ihr seid die ärgsten feinde unseres gewerbestandes! Das handeln und feilschen und drücken wirkt demoralisierend auf produzent und konsument.

Und trotzdem so gute schuhe. Unsere schuhmacher sind eben tüchtige menschen. Es steckt viel geist und individualität in ihnen. Es ist kein zufall, daß der größte dichter, den uns das handwerk geschenkt hat, und sein größter philosoph schuster waren. Und wieviel Hans Sachse und Jakob Böhmes saßen und sitzen noch auf dem schusterschemel, die ähnlich gefühlt und gedacht, aber nie geschrieben haben. Vielleicht hat das deutsche volk deswegen so gute schuster, weil jedem tüchtigen, individuellen, daher nach der meinung der eltern schlechten buben warnend zugerufen wird: „Wenn du nicht folgst, kommst du zu einem schuster in die lehr“. Und manchmal wirds wahr gemacht.

Weniger lobenswert sind unsere schuhträger. Im letzten aufsatze wurde erwähnt, daß sich der schuster an die fußform der herrschenden gesellschaftsklasse halten [96] muß. Für die passen dann die schuhe. Aber leute, die solche füße nicht haben, verlangen von ihrem schuster dieselbe form. Die folgen sind die zahlreichen verkrüppelten füße, die man nur bei leuten treffen kann, die der herrschenden gesellschaftsklasse nicht angehören. Für deren eitelkeit wird aber der schuhmacher verantwortlich gemacht. Der niedere preis gestattet ihm nicht, einen eigenen leisten für den kunden anzufertigen, und daher kann er, wenn auch ein alter leisten durch das auflegen angepaßt werden könnte, die genaue richtung des schuhes, von der das gleichmäßige austreten abhängig ist, nicht erreichen. Diese genaue richtung der fußsohle – wohl eines der schwierigsten probleme der schuhmacherei – wird nicht nur vom grundriß des fußes, sondern größtenteils vom gange und von den gewohnheiten des trägers bestimmt.

Schuhmacher, die teuere schuhe liefern, haben leider einen kleineren verdienst als solche, die von vorneherein darauf ausgehen, minderwertige ware herzustellen. Nehmen wir zum beispiele den achtzehn-gulden-schuster und den sechs-gulden-schuster. Jener läßt einen leisten schneiden, der, mit seiner eigenen arbeit gerechnet, sechs gulden kostet, läßt die oberteile von einem gehilfen anfertigen, dem er, seiner vorzüglichen arbeit wegen, drei gulden taglohn bezahlt, und verbraucht für die oberteile drei gulden an material. Der sechs-gulden-schuster nimmt einen alten leisten und bezieht die oberteile um zirka zwei gulden fertig aus der fabrik. Auf diese weise wendet jener sechsundsechzig perzent, dieser dreiunddreißig perzent des ganzen preises für die schuhe auf. Aber auch für die konservierung des schuhwerkes wird zuwenig getan. Man sucht die kosten guter hölzer zu sparen und [97] verbraucht daher mehr schuhwerk als jene leute, die ihre schuhe nachts über hölzer spannen.

Die ausstellung zeigt uns, seitdem die „unsittlichen“ schuhe verbannt wurden, nur tüchtiges schuhwerk. Daß es erst der unsittlichkeitserklärung bedurft hatte, schuhe zu entfernen, die keinen anderen zweck haben als den, die blicke der beschauer auf sich zu lenken, ist bedauerlich. Viel würdiger für den ganzen stand wäre es gewesen, wenn man diese schuhe ihrer unbrauchbarkeit wegen gleich von allem anfange an zurückgewiesen hätte. Wir wollen sehen, was unsere schuhmacher leisten können, ehrliche, tüchtige schusterarbeit, nicht, wie sie reklame machen können. Eine ausstellung sei ein fest der arbeit und nicht der reklame. Doch halt! Das schicksal der „unsittlichen“ schuhe verdienen auch drei paar, die wie straßenschuhe gearbeitet sind, grüne peluchesohlen haben, und von denen ein paar sogar mit golddruck, nach der art alter bucheinbände, versehen ist.

Wir können beruhigt sein. Wir in Österreich werden mit gutem schuhwerk in das kommende jahrhundert treten. Und gutes schuhwerk wird im nächsten jahrhundert nötig sein, denn das wird marschieren. Mit prophetischem blick hat Walt Whitman, der amerikaner, der größte dichter, den die germanen seit Goethe hervorgebracht haben, dieses jahrhundert gesehen. Er singt:

Stehen sie still, die alten rassen?
Fallen sie? Ist aus die lehre? Sind sie müde jenseits der see?
Nun der große ruf wird unser, und die last, und auch die lehre,
Pioniere! Pioniere!
[98]
Wenig kümmert uns vergangnes.
Unsre welt ist neuer, größer, wechselvoller unsre welt.
Frisch und stark ergreifen wir sie, welt der arbeit und des marsches,
Pioniere! Pioniere!

Nein, wir stehen nicht still, alter Walt Whitman. Noch fließt in uns das alte, marschbereite germanenblut. Wir werden das unsrige dazu beitragen, die stehende und sitzende welt umzuwandeln in eine welt der arbeit und des marsches.