LXXXXIII. Jerusalem; innere Ansicht bei’m Teiche Bethesda Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band (1836) von Joseph Meyer
LXXXXIV. Die Schnellen des Niagara
LXXXXV. Der Berg Carmel
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DIE SCHNELLEN DES NIAGARA

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LXXXXIV. Die Schnellen des Niagara.




Dem Alterthume war der größte und schönere Theil des Erdballs ein tieferes Geheimniß als die Räume des Himmels. Erst dem Genius der Neu-Zeit, dem Geist der Forschung, war es vorbehalten, die Wunder der halben Welt aufzulösen. Dem Jetztgeschlecht ist kein Winkel seines Planeten mehr verborgen. Ungehindert schweift der menschliche Geist von Pol zu Pol, sonder Gefahr sich zu verirren in Labyrinthe der Fabel. Mit der Leuchte des Wissens dringt er in die fernsten Gegenden, versetzt sich unter die fremdesten Völker. – Wir haben durch diese Fähigkeit einen großen Vorzug vor den Alten. Aus ihr entspringt eine Quelle mannigfaltigen Vergnügens; – des wohlthuendsten dann, wenn wir jene Fähigkeit gebrauchen, um dem Kummer auszuweichen über das, was uns umgibt und was geschieht, oder um den Verkehr zu vergessen mit Menschen, die uns belästigen oder zuwider sind, unter welchen wir aber doch leben müssen. Erscheint uns dann das Fremde, was wir betrachten, in schönern Farben und Formen, sind reizender die Gegenden, glücklicher die Menschen: so freuen wir uns darüber ohne Neid; finden wir aber das Gegentheil: so versöhnt es uns mit der Scholle, auf der wir wohnen, und in den Leiden der fernen Brüder finden wir Trost und Kraft, die eigenen leichter zu ertragen.

In diesem Umstande ist ein Hauptgrund zu suchen, warum Beschreibungen fremder Gegenden und Völker ein so allgemeines und doch so ganz eigenthümliches Interesse erregen. Noch lebhafter würde dieß seyn, wäre die Sprache überall vermögend, Menschen und Natur vollkommen treu und mit der Farbenfrische zu schildern, in der sie vor das geistige und leibliche Auge treten. Welcher Sprachgewaltige aber möchte behaupten, die Herrlichkeit des Meeres zum Beispiel, oder das Erhabene der Alpen, die Pracht des flammenspeienden Aetna vollkommen beschreiben zu können? Wer getraute sich, die Wunder der Vegetation in den Tropenkreisen erschöpfend zu schildern, oder die Schönheit des Laufs der Ströme der neuen Welt? Umsonst nimmt der Beschreiber die Kunst zu Hülfe und verweist, wenn Worte nicht ausreichen, auf ein Bild. Er stellt doch nur Schatten neben Schatten. –

Eine Wanderung dem Niagara entlang zu seinem Falle, „diesem wilden Wogenhühnen Canada’s“ zeigt uns eins der Naturgemälde, für welche der Rahmen der Sprache immer zu klein bleibt. Man denke sich einen Strom von dreifacher Mächtigkeit des Rheins, der mitten durch dichte Wälder fließt; man denke sich alle die wunderbaren Zwielichter, [4] welche aus den Riesenbäumen fallen, die längs dem Ufer hin schatten: – hier erblickt man klafterdicke Weiden, vom Alter niedergestürzt, welche ihre grauen Wipfel in den Fluthen baden; dort spiegeln sich in den Wellen hohe Platanen, aus deren Zweigen die Lianen kosend zum Fluße sich neigen; hier stehen Canadische Feigenbäume in Gruppen; da, in Reihen, erheben sich Virginische Pappeln; dort schauen vom Sturm und Alter ihrer Krone beraubte, moosbewachsene Fichten von schwarzer Felswand auf die dunkeln, rauschenden Wasser der Tiefe traurig hinab. – Bald vermählt sich ein Fluß, der aus der Nacht eines herrlichen Hochwalds hervorbricht, voll Ernst mit den Wellen des strömenden Meers; bald stürzt demselben ein Bach, jugendlich wild, als tosende Caskade von hoher Felswand in die breiten Arme, seine Vereinigung im weissen Dunstschleier verhüllend. Hier weichen die Ufer, dort krümmen sie sich anmuthig; bald wird das Strombett breiter, bald enger; hier hängen nackte Felsen über, dort schattet das junge Laub der Bäume, deren Wipfel der Ebene gleichen, welche sie nährt. Kein Glockengeläute weidender Heerden, kein Hundegebell, kein Schall rodernder Aexte erinnert den Wanderer an die Nähe menschlicher Wohnungen. Der einsam jagende Indianer, das flüchtige Reh und der scheue Hirsch, die ihm zuweilen begegnen, der Fischadler, der hoch über den Wassern nach Raub späht, oder den erhaschten auf einer Felszacke verzehrt, sie sind keine störende Staffage im Bilde der Stille und Ruhe und mindern den Genuß der Einsamkeit nicht. – In angebauten Gefilden müht sich in weiten Räumen zu schweifen vergebens die Phantasie; der civilisirte Mensch, dem sie überall begegnet, ist das Blei an ihren Fittigen: – aber in jenen Gegenden mag sich die Seele gern in den Ocean der Wälder senken und auf den Wogen der Ströme sich wiegen und, gleichsam die Fesseln der Civilisation abstreifend, sich vermischen und verschmelzen mit der wilden, freien Natur.

In solchen Gefühlen verloren denke man sich den Reisenden, als ihm plötzlich ein nie gehörtes, seltsam-hohles Murmeln in das Ohr dringt; schauerliches Getön, wie ganz ferner Donner, bald wiederkehrend, bald sich verlierend. Herzklopfend steht er und horcht, bis plötzlich auf den Fittigen eines Windzugs, von Einöde zu Einöde getragen, ihm deutlich das feierliche Tosen des Niagarafalls entgegenhallt, seines Ziels, dem er beflügelten Fußes nun zueilt. – –

Das Großartige, das Wunderbar-Herrliche dieser Naturscene haben wir bereits auf einem frühern Blatte dieses Werkes[1] zu beschreiben versucht. – Dort gaben wir vom Niagarasturze eine Ansicht, welche unterhalb desselben aufgenommen war. Die nebige Abbildung zeigt uns den Strom oberhalb des Falls, da, wo er über eine stark geneigte Felsenlehne hinweg, siedend und schäumend, mit unglaublicher Kraft, der hohen Steinmauer [5] zurollt, über welche er in den Abgrund donnert. – Die Insel in der Mitte des Stroms ist die Ziegeninsel, (Goatsisland), zu der ein Steg führt und wo seit ein paar Jahren ein Würtemberger eine Wirthschaft unterhält, welche bei der Menge seines Zuspruchs den Mann reich macht. Furchtbar-herrlich ist von diesem Punkte die Aussicht stromauf- wie abwärts. –