LXXIV. Honfleur und die Seinemündung Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LXXV. Der Niagara-Fall
LXXVI. Durham und seine Cathedrale
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DER NIAGARA-FALL

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LXXV. Der Niagara-Fall.




Das Innere von Nordamerika ist eine Hochebene, von der unzählige Flüsse herabfließen. Die östlich strömenden sammeln sich in und um Canada in fünf weiten Landtiefen, und bilden so die größten Seen der Erde: den Oberen, [75] den Huron, Michigan, Erie und Ontario. Sie stehen mit einander durch den abfließenden Strom in Verbindung, der bei seinem Austritt aus dem Ontario den Namen Lorenzo annimmt und seine Fluthen, auf einer Strecke von 200 Meilen, majestätisch, wie ein wogendes Meer, dem atlantischen Ozean zuwälzt. – Der Canal, welcher den 500 Fuß höher liegenden Erie mit dem Ontariosee verbindet, heißt der Niagara. Die Landenge zwischen beiden ist ein Bergrücken, der sich anfangs sanft der Ebene zuneigt, dann aber in einer lothrechten Felsenmauer von zwei bis dreihundert Fuß Höhe endigt. Durch diesen Damm hat sich der Niagara sein Bett gewühlt, und sein Sturz über dessen Wand in die Ebene herab, in einer Breite von 200 Fuß, bildet, 6 Stunden vom Niagara-Fort, den herrlichsten aller Wasserfälle der bekannten Welt.

Schon eine Viertelstunde vom Sturze neigt sich das Flußbett so sehr, daß man, den Strom hinauf sehend, einen Wasserberg zu erblicken glaubt, der seine hunderttausend Wogen mit unbeschreiblicher Schnelligkeit und Gewalt der gähnenden Oeffnung eines tiefen Schlundes zudrängt. Noch ehe er die Wand erreicht hat, sind seine Wasser in weißen Gischt, der aber dicht und glänzend wie Krystall scheint, aufgelös’t. Der Wasserfall wird in zwei Arme von ungleicher Breite durch einen schwarzen Felsen getrennt, der mit breitem, bewaldeten Haupte, Einsturz drohend, weit über das Wogen-Chaos sich herüberbeugt.

Lange hielt man dieses Eiland für unzugänglich; aber der Versuch, schiffbrüchige Indianer zu retten, welche den Felsen erklettert hatten und dem Hungertode preisgegeben schienen, führte zur Entdeckung, daß der Strom auf einer Seite ein seichtes Bett habe, und nach unglaublicher Mühe gelang es der Besatzung des Niagara-Forts, eiserne Pfähle in das Felsenbett von Ufer zu Ufer festzurammeln und durch einen darüber gelegten Steg den Zweck ihrer menschenfreundlichen Anstrengung zu erreichen. – Später wurde dieser Steg befestigt, und er wird jetzt ohne Gefahr von denen überschritten, welche das prachtvolle und graußende Schauspiel des Wogenkampfes inmitten desselben betrachten wollen. Von der Felsenstirne führte früher ein schwindlicher Steg abwärts zu einem weithervorragenden Felsenportale, das die Fluthen in weitem Bogen überstürzten. Vor einigen Jahren riß aber des Wassers Sturmgewalt diesen Theil der Insel ab und in den Abgrund. –

Die Wassermasse, welche auf der Süd-Seite herabstürzt, wölbt und rundet sich wie eine ungeheuere Walze in dem Augenblick, wo sie über den Rand braust, und rollet dann, einer Schneelavine gleich, herab, in den Strahlen der Sonne mit allen Farben des Regenbogens prangend. Der ungleich breitere Sturz auf der Mitternachtseite steigt, wie eine Wassersäule der Sündfluth, lothrecht in den furchtbaren Schattengrund. Meilenweit erzittert die Erde von dem Anprall der ungeheuern Woge auf den Boden der Tiefe und in Schaumwirbeln lös’t sie sich auf, welche, über die Wälder sich erhebend, von ferne Rauchsäulen gleichen, als von einem Brande vieler zugleich flammender Städte. Die Wände des furchtbaren Catarakts bestehen aus schwarzgrauen Felsenzacken, die unter’m weißen Wogenschleier wie schauerliche Gespenster sich ausnehmen und mit jedem Augenblick ihre Gestalt zu ändern [76] scheinen. Ober- und unterhalb des Sturzes sind die Gestade mit wilden Nußbäumen und Fichten, denen Alter und Sturm die Kronen ausgebrochen, überwachsen – und rechts und links weit in das Land hinein ist alles schauerlicher Hochwald. Kein lebendiges Thier sieht man in der Nähe, Adler und Geier ausgenommen, welche, Beute suchend, den Abgrund umschweben, in welchen die Wogenstrudel mit unwiderstehlicher Gewalt Alles ziehen, was sie erfassen. Zu allen Zeiten des Jahres sind die Stromufer unter’m Falle mit todten Bären, Hirschen u. s. w. bedeckt, welche oberhalb desselben den Fluß zu durchschwimmen versuchten; aber zu schwach, dem Wogendrang zu wiederstehen, hinabgeschleudert wurden. Im Herbste ist die Menge des so herabgeführten Geflügels und Wildes so groß, daß es hinreicht, die Garnison des Niagara-Forts, die es jeden Morgen sammeln läßt, mit frischem Fleische zu versorgen. Selbst Adler finden, wenn sie im Fluge von den Schaumwirbeln ergriffen werden, oft in dem Schlunde ihren Tod.

Die Begierde, das größte Naturwunder der neuen Welt zu sehen, führt jährlich über 30,000 Reisende hierher, und seit einigen Jahren haben sich Spekulanten aus New-York und Boston unfern des Falles angebaut, die Gasthöfe anlegten und die schon so romantischen Umgebungen verschönerten. Chausseen führen jetzt dahin, wo noch vor wenig Jahren das Geleite eines Indianers durch eine unwegsame Wüste nöthig war. – Das glänzende Gelingen jener Unternehmungen ist zur Veranlassung geworden für die großartige, jetzt in Ausführung begriffene Idee, auf amerikanischer Seite unmittelbar am Fall eine prachtvolle Stadt und in der Nähe 400 Landsitze mit Parks auf Aktien anzulegen. Aehnliches soll von den reichen Britten auf kanadischer Seite geschehen, und so wird das prachtvollste Werk der Natur bald der Mittelpunkt einer Stadt von Palästen und deren Umgebung ein Park seyn, dessen Herrlichkeit alle Vorstellung überbietet.