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LXXXXIV. Die Schnellen des Niagara.




Dem Alterthume war der größte und schönere Theil des Erdballs ein tieferes Geheimniß als die Räume des Himmels. Erst dem Genius der Neu-Zeit, dem Geist der Forschung, war es vorbehalten, die Wunder der halben Welt aufzulösen. Dem Jetztgeschlecht ist kein Winkel seines Planeten mehr verborgen. Ungehindert schweift der menschliche Geist von Pol zu Pol, sonder Gefahr sich zu verirren in Labyrinthe der Fabel. Mit der Leuchte des Wissens dringt er in die fernsten Gegenden, versetzt sich unter die fremdesten Völker. – Wir haben durch diese Fähigkeit einen großen Vorzug vor den Alten. Aus ihr entspringt eine Quelle mannigfaltigen Vergnügens; – des wohlthuendsten dann, wenn wir jene Fähigkeit gebrauchen, um dem Kummer auszuweichen über das, was uns umgibt und was geschieht, oder um den Verkehr zu vergessen mit Menschen, die uns belästigen oder zuwider sind, unter welchen wir aber doch leben müssen. Erscheint uns dann das Fremde, was wir betrachten, in schönern Farben und Formen, sind reizender die Gegenden, glücklicher die Menschen: so freuen wir uns darüber ohne Neid; finden wir aber das Gegentheil: so versöhnt es uns mit der Scholle, auf der wir wohnen, und in den Leiden der fernen Brüder finden wir Trost und Kraft, die eigenen leichter zu ertragen.

In diesem Umstande ist ein Hauptgrund zu suchen, warum Beschreibungen fremder Gegenden und Völker ein so allgemeines und doch so ganz eigenthümliches Interesse erregen. Noch lebhafter würde dieß seyn, wäre die Sprache überall vermögend, Menschen und Natur vollkommen treu und mit der Farbenfrische zu schildern, in der sie vor das geistige und leibliche Auge treten. Welcher Sprachgewaltige aber möchte behaupten, die Herrlichkeit des Meeres zum Beispiel, oder das Erhabene der Alpen, die Pracht des flammenspeienden Aetna vollkommen beschreiben zu können? Wer getraute sich, die Wunder der Vegetation in den Tropenkreisen erschöpfend zu schildern, oder die Schönheit des Laufs der Ströme der neuen Welt? Umsonst nimmt der Beschreiber die Kunst zu Hülfe und verweist, wenn Worte nicht ausreichen, auf ein Bild. Er stellt doch nur Schatten neben Schatten. –

Eine Wanderung dem Niagara entlang zu seinem Falle, „diesem wilden Wogenhühnen Canada’s“ zeigt uns eins der Naturgemälde, für welche der Rahmen der Sprache immer zu klein bleibt. Man denke sich einen Strom von dreifacher Mächtigkeit des Rheins, der mitten durch dichte Wälder fließt; man denke sich alle die wunderbaren Zwielichter,