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Autor: Adolf Weissler
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Titel: Die Rechtsanwaltschaft
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Vierzehntes Hauptstück: Die Lage der geistigen Berufe, 75. Abschnitt, S. 97−103
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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[97]
75. Abschnitt.


Die Rechtsanwaltschaft.
Von
Justizrat Adolf Weissler,
Halle a. S.


Literatur: Bearbeiten

Weissler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft. Leipzig 1905.
Finger, Die Kunst des Rechtsanwalts. System. Darstellung ihrer Grundfragen. 2. Aufl. 1912.
Benedict, Die Advokatur unserer Zeit, 4. Aufl. Wien 1912.
Friedlaender, Die Rechtsanwalts-Ordnung. 1908. Nachtrag 1910.
Siegel, Die gesamten Materialien zur Rechtsanwalts-Ordnung. Leipzig 1883.
Entscheidungen des Ehrengerichtshofes, herausgegeben vom Schriftführer-Amte des deutschen Anwaltvereins. Berlin. Seit 1879.
Juristische Wochenschrift. Organ des Deutschen Anwaltvereins. Berlin. Seit 1872.
Deutsche Rechtsanwalts-Zeitung. Mainz. Seit 1906.
Zeitschrift des Internationalen Anwalt-Verbandes. Wien. Seit 1902.
Das Barreau. Organ für die Standes-Interessen der Anwälte Österreichs. Wien. Seit 1898.
Joachim, Gebührenordnung für Rechtsanwälte. 5. Aufl. 1908. Nachtrag 1909.
Pfafferoth, Dieselbe 4. Aufl. 1905. Nachtrag 1909.

Die Spuren eines Parteien-Wortführer-Amtes lassen sich bis ins früheste germanische Altertum verfolgen. In voller Klarheit erscheint das Amt aber erst im Sachsenspiegel und Richtsteig und den sich um diese beiden Hauptquellen gruppierenden mittelalterlichen Rechtsdenkmälern. Der Partei wird vom Richter ein Vorsprecher, meist aus den Urteilern des Gerichts, bestellt, dessen Amt es ist, ihr die streng vorgeschriebenen Formeln, insbesondere die an das Gericht zu stellenden Fragen, vorzusprechen, worauf er unbefangen auf die Urteilerbank zurückkehrt und in derselben Sache mit Recht spricht. An vielen Gerichten herrscht Vorsprecher-Zwang, darin bestehend, dass die Partei ohne Vorsprecher nicht reden darf.

Das Amt war der Idee nach ein unbezahltes Ehrenamt. Frühzeitig jedoch wurde die Unentgeltlichkeit aufgegeben; schon 1240 stellt das lübische Recht eine Gebührenordnung auf. Die Vorsprecherschaft wird zum Lebensberuf. Seit dem 13. Jahrhundert finden wir ständige, ein für alle Mal vereidete, sog. „gemeine“ Vorsprecher, die für ihr Gericht ein mehr oder weniger ausschliessliches Recht des Redens haben, dann aber in der Regel nicht mehr Urteiler sein dürfen.

Ende des 15. Jahrhunderts dringt mit dem kanonischen Prozesse auch dessen Sachwalterschaft in die weltlichen Gerichte ein, deren Verfassung beruht auf der Teilung in Prokuratur und Advokatur, die erste das Amt des Redners, die zweite das des Schriftsatz-Verfertigers. Nur der Prokurator ist Partei-Vertreter, der Advokat ist Hilfsperson, darf vor Gericht nicht auftreten. Die Prokuratur ist Amt, die Advokatur freigegeben. Nur die Prokuratur entsprach dem nationalen Gebilde des Vorsprechertums; sie verschmilzt mit ihm. Die ungelehrten Vorsprecher sehen sich jetzt aber genötigt, gelehrte Advokaten zuzuziehen, die, zunächst noch in der Rolle unverantwortlicher Hilfspersonen, den Prozess leiten, bald aber auch das Recht des Auftretens vor Gericht erlangen. Die nunmehr überflüssige Prokuratur fristet noch eine Zeit lang ihr Leben und verschwindet im Laufe des 18. Jahrhunderts (in Preussen 1748 durch den Codex Fridericianus); Reste haben sich über bis tief ins 19. Jahrhundert erhalten.[1]

Auf die nunmehrige Advokatur gingen die Eigenheiten der Prokuratur, Amtseigenschaft, geschlossene Zahl, Sachwalterzwang über. Sogar ein kurzlebiger Versuch wurde gemacht, sie zu einem reinen Staatsamte umzugestalten, und zwar in Preussen durch die grosse Carmersche Gesetzgebung [98] von 1780. Die Advokatur wurde abgeschafft. Zur Beratung und Vernehmung der Parteien wurden festbesoldete Assistenzräte ernannt, aber nur für grössere Sachen, daher in geringer Zahl. Zur Entschädigung der entlassenen Advokaten wurde das Amt der Justizkommissare geschaffen, denen die freiwillige Gerichtsbarkeit, vorzugsweise das Notariat, daneben eine ganz beschränkte Prozesstätigkeit, eingeräumt war. Aber gerade diese letzte wurde schon 1782 erweitert und 1783 ihnen ganz zurückgegeben, die Assistenzrat-Einrichtung aufgehoben. Das Ergebnis der auf Abschaffung der Advokatur gerichteten Bewegung war sonach, dass unter den Namen Justizkommissare die Advokaten mit bedeutend (durch das Notariat) erweitertem Wirkungskreise wieder einzogen. Die am 6. Juli 1793 verkündete Allgemeine Gerichtsordnung bestätigte diesen Zustand, und gab dem Stande die Verfassung, die er im wesentlichen bis 1879 beibehalten hat. Darnach werden die Justizkommissare von der Justizverwaltung ernannt, und zwar für ein bestimmtes Gericht. Ihre Vorbildung ist die richterliche. Sie sind Beamte. Aufsicht und Disziplin übt das Obergericht, seit der Verordnung vom 30. April 1847 ein von den Justizkommissaren aus ihrer Mitte gewählter Ehrenrat. Das Notariat ist regelmässig mit dem Amte verbunden. Die Ernennungen erfolgten so sparsam, dass das Amt in der Regel ein sicheres und gutes Einkommen gewährte und von Richtern vielfach erstrebt wurde;[2] andererseits wurde dafür gesorgt, dass auch die kleineren Gerichte mit Anwälten versorgt waren. Die grosse Umwälzung von 1848 liess diese Verfassung unberührt; nur dass die Kgl. Verordnung vom 2. Januar 1849 den Namen „Rechtsanwalt“ einführte, der seit Anfang des Jahrhunderts gebräuchlich geworden war und nichts anderes als den Gerichts-Prokurator (Rechts = Gerichts; Anwalt = Bevollmächtigter oder Prokurator) bedeutet.

Alles dies galt nur für Altpreussen. In der Rheinprovinz war, als sie an Preussen kam, die französische Verfassung in Geltung, welche die Zweiteilung des Berufs in der Form beibehalten hatte, dass die Partei vertreten wird durch einen procureur, später avoué genannt, der die Sache vorbereitet und dann zur Fertigung der Schriftsätze und mündlichen Verhandlung an den avocat abgibt, der seinerseits aber nicht Parteivertreter ist und daher in der mündlichen Verhandlung den avoué neben sich haben muss. Zum mündlichen Vortrag ist in der Regel nur der Advokat berechtigt. Die Prokuratur ist ein Amt, allerdings ein käufliches, die Advokatur ist freigegeben. Die Advokatur unterwirft sich keiner Gebührenordnung und klagt Gebühren nicht ein. Anwaltszwang besteht in der Gestalt, dass die Partei zur Bestellung eines avoué verpflichtet ist. Anwaltskammern bestehen für beide Berufe. Das Notariat ist von ihnen getrennt.

Diese Verfassung war der deutschen entgegengesetzt, nach welcher umgekehrt der Prokurator, nicht aber der Advokat, zum Auftreten vor Gericht berechtigt war. Sie wurde denn auch sofort nach dem Sturze der französischen Herrschaft aufgehoben und das Amt der avoués mit dem der Advokaten unter dem Namen Advokat-Anwaltschaft zu einem Amte vereinigt, neben dem aber eine freigegebene Advokatur bestand, der grundsätzlich das Recht, vor Gericht aufzutreten, entzogen war. Diese Verfassung bestand in allen linksrheinischen Gebieten und wurde 1850 auch in Hannover und Braunschweig eingeführt.

Die minderberechtigte Advokatur dieser Gebiete war etwas ganz anderes als die Advokatur in den übrigen deutschen Staaten; in diesen hätte also eine Freigabe der Advokatur eine ganz [99] andere Bedeutung gehabt als dort; was der deutschen Advokatur dort entsprach, war die Advokat-Anwaltschaft, und diese war nicht freigegeben, ebensowenig wie in Frankreich das Amt der avoués. Dieser Punkt wurde von der grossen Prozessreform-Bewegung des 19. Jahrhunderts übersehen. Neben der Mündlichkeit des Verfahrens, die man sich wiederum ohne Anwaltszwang nicht vorstellen konnte, wurde die Freigabe der Rechtsanwaltschaft am lautesten gefordert, besonders geschickt von Rudolf Gneist in der Schrift: Freie Advokatur 1867. Baden, Mecklenburg, die Hansestädte hatten sie damals bereits; Österreich führte sie ein durch die Advokaten-Ordnung vom 6. Juli 1868. Die um dieselbe Zeit einsetzenden Arbeiten zur Herstellung einer gemeinsamen Gerichtsverfassung fanden in diesem Punkte bereits eine so starke öffentliche Meinung vor, dass die Frage als entschieden gelten konnte. Die deutsche Rechtsanwalts-Ordnung vom 1. Juli 1878 sprach die Freigabe unumwunden aus.

Nach dieser (abgeändert durch Gesetz vom 22. Mai 1910) ist die Verfassung der deutschen Rechtsanwaltschaft heute folgende:

Es gibt nur eine Rechtsanwaltschaft; die Teilung in Prokuratur und Advokatur, Advokatur und Advokat-Anwaltschaft ist aufgehoben. Zugelassen wird, wer die Fähigkeit zum Richteramte erlangt hat, dieser aber nur in seinem Bundesstaate und nur für ein bestimmtes Gericht (Lokalisierung), unter Umständen für mehrere Gerichte zugleich (Simultan-Zulassung). Vor den Kollegialgerichten müssen sich die Parteien durch einen dort zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen (Anwaltszwang); ein anderer Rechtsanwalt darf nur neben dem zugelassenen, mit seiner Bewilligung auch anstatt des zugelassenen, auftreten; jedoch verteidigen und als Beistand auftreten kann jeder Rechtsanwalt vor jedem Gerichte des Reiches. In den öffentlichen Sitzungen der Kollegialgerichte trägt er eine Amtstracht. Armen wird vom Gerichte ein Rechtsanwalt zur unentgeltlichen Vertretung beigeordnet. Die innerhalb des Bezirks eines Oberlandesgerichts zugelassenen Rechtsanwälte bilden eine Anwaltskammer, die einen Vorstand zur Ausübung der Aufsicht und ehrengerichtlichen Strafgewalt wählt, welche letztere Warnung, Verweis, Geldstrafe bis 3000 Mk. und Ausschliessung umfasst. Berufung findet an den Ehrengerichtshof statt, der in der Besetzung mit einem der Präsidenten des Reichsgerichts, drei Reichsgerichtsräten und drei Rechtsanwälten des Reichsgerichts urteilt. Eine besondere Anwaltskammer ist neuerdings für Berlin eingerichtet worden.

Die Rechtsanwaltschaft am Reichsgerichte ist nicht freigegeben, wird vielmehr vom Präsidium des Reichsgerichts nach Ermessen besetzt. Sie hat eine besondere Anwaltskammer.

Ob und wie das Notariat mit der Rechtsanwaltschaft zu verbinden, ist dem Landesrechte überlassen. Demzufolge besteht in Preussen, Sachsen und fast allen norddeutschen Staaten diese Verbindung in der Gestalt, dass ein Teil der Rechtsanwälte zu Notaren ernannt ist, während in Süddeutschland (und auch in Rheinpreussen) das Notariat regelmässig von der Rechtsanwaltschaft getrennt ist. Doch beginnt Preussen seit einigen Jahren in den Grossstädten selbständige Notariate zu errichten.

Die Gebühren sind reichsgesetzlich festgestellt in der Gebühren-Ordnung vom 7. Juli 1879 (abgeändert durch Art. IV der Zivilprozess-Novelle vom 1. Juni 1909 und Art. IX des Gesetzes vom 22. Mai 1910). Sie werden nach dem Werte des Gegenstandes erhoben. Es wird beispielsweise erhoben für Führung eines ganzen Prozesses einschliesslich Schriftsatzwechsel, mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme

bei einem Werte von 60 bis 120 Mk. 12 Mk.,
bei einem Werte von 200 bis 300 Mk. 30 Mk.
bei einem Werte von 650 bis 900 Mk. 72 Mk.
bei einem Werte von 2100 bis 2700 Mk. 120 Mk.
bei einem Werte von 6700 bis 8200 Mk. 180 Mk.

Daneben wird für Schreibwerk und Porto ein Pauschsatz von 20 Prozent der Gebühren erhoben. Abweichende Vereinbarungen sind zulässig; es wird von ihnen vorwiegend im Strafverfahren, da aber sehr allgemein, Gebrauch gemacht. Rechtsanwalts-Gebühren hat der im Prozesse unterliegende [100] Teil dem andern stets zu erstatten. Für nichtprozessuale Tätigkeit sind durch Landesgesetze (in Preussen unterm 21. März 1910) die Gebühren festgelegt.

1871 wurde auf einem Anwaltstage zu Bamberg der Deutsche Anwaltverein gegründet, der sich seit 1872 in der Juristischen Wochenschrift ein eigenes Organ geschaffen hat, das an Umfang fortwährend zunimmt. In neuester Zeit ist er besonders mächtig hervorgetreten in den Kämpfen um die Zivilprozess-Novelle von 1909, auf deren Gestaltung er bedeutenden Einfluss ausgeübt hat. Er zählte am 1. Januar 1912 8966 Mitglieder, den weitaus grössten Teil aller deutschen Rechtsanwälte. Von ihm ging die Gründung der Hülfskasse für Deutsche Rechtsanwälte aus, welche aus Jahresbeiträgen ein Kapital von 500 000 Mark für eine Ruhegehalts-, Witwen- und Waisenkasse aufgesammelt, inzwischen aber Hülfsbedürftige sehr kräftig (zur Zeit mit weit über 100 000 M. jährlich) unterstützt hat und doch noch über ein Kapital von weit über 1 Million verfügt. Die Ruhegehalts-, Witwen- und Waisenkasse ihrerseits, Mitte 1909 mit 700 Mitgliedern ins Leben getreten, zählte Anfang 1914 bereits 1030 Mitglieder. Alle diese Anstalten haben ihren Sitz in Leipzig. Seit 1910 besteht in Düsseldorf auch eine Sterbekasse und neuestens auch ein Erholungsstätten-Verein der Rechtsanwälte.

Unabhängig vom Anwaltverein gibt Soldan-Mainz eine Deutsche Rechtsanwalts-Zeitung heraus und leitet den Wirtschaftlichen Verband deutscher Rechtsanwälte mit einer Zentral-Buchhandlung für Rechtsanwälte. In neuester Zeit hat sich ein Verein der Amtsgerichts-Anwälte (der nur an den Amtsgerichten zugelassenen, des Anwaltszwanges entbehrenden Rechtsanwälte) gebildet, der „Mitteilungen“ herausgibt. Zu internationaler Zusammenfassung der Advokatur werden neuerdings Versuche gemacht; bisher besteht nur ein in Wien residierender Verband zur Namhaftmachung ausländischer Advokaten.

Die Zahl der Rechtsanwälte ist seit der Freigabe, die am 1. Oktober 1879 in Kraft trat, gewaltig gewachsen.

Im ganzen Reiche betrug
im Jahre die Zahl der Rechtsanwälte
1880 4143
1886 4794
1889 5249
1892 5535
1895 5985
1898 6642
1900 6992
1902 7262
1904 7852
1907 8583
1909 10064
1911 10800
1913 11546

Seit 1880 hat die Zahl der Rechtsanwälte um 160, die Bevölkerung des Reichs nur um 51 Prozent (von 43 auf 65 Millionen) zugenommen. 1880 kamen auf einen Rechtsanwalt 10 314 Seelen, 1911 nur noch 6018. Noch viel stärker ist die Zunahme, wenn man die Grossstädte allein betrachtet. Am allerstärksten in Berlin.

Es waren zugelassen am Berliner Stadtgerichte am 30. September 1879 78 Rechtsanwälte, an dem an dessen Stelle getretenen Landgerichte I am 22. November 1879 111. Diese Zahl stieg

im Jahre 1881 auf 144       im Jahre 1894 auf 528
1883 200 1896 547
1885 273 1898 577
1887 332 1900 586
1890 408 1902 614
1892 473 1904 634

[101] Im Laufe dieser 25 Jahre hat sich die Zahl der Gerichts-Eingesessenen verdoppelt, die der Rechtsanwälte verachtfacht. Im Beginne der Periode kam auf 13 627 Gerichts-Eingesessene ein Rechtsanwalt, am Schlusse auf 2979. Von da ab setzt eine neue noch gewaltigere Steigerung ein. Es waren nämlich an dem 1905 verkleinerten Landgerichte I zugelassen

1906      722 Rechtsanwälte,
1907 893,
1908 952,
1909 976,
1910 1015,
1911 1063,
1913 1182.

von welchen allerdings eine (stetig sinkende, 1913 noch 659 betragende) Zahl bei allen drei Berliner Landgerichten zugleich zugelassen war. Alles in allem wirkten in den Bezirken der drei Berliner Landgerichte (die über Berlin hinausgreifen), einschliesslich der am Kammergerichte zugelassenen, im Jahre 1911 1511, im Jahre 1913 aber schon 1983 Anwälte, einer auf 2010 Einwohner. Zieht man immerhin in Rechnung, dass die Zahl der Anwälte 1879 unzulänglich gewesen, dass eine Anzahl der neu Hinzugekommenen nicht auf die Einnahmen aus der Rechtsanwaltschaft angewiesen sein mag, dass Geschäftsverkehr und Wohlhabenheit sehr stark zugenommen haben, so übertrifft dennoch diese kolossale, die Bevölkerungs-Zunahme weit hinter sich lassende und immer noch anhaltende Steigerung die schlimmsten Erwartungen. Dass Wien Ende 1910 1207, das kleinere Budapest Ende 1909 sogar 1645 Advokaten besass, beweist nur, dass dort eine noch grössere Überfüllung herrscht.

Nicht ganz so stark, aber immer noch übermässig war der Andrang in den andern Grossstädten:

Landgerichts-
Bezirk
Zahl der Rechtsanwälte einschl.
der nur bei den Amtsgerichten,
ausschl. der nur bei den Ober-
landesgerichten zugelassenen
Zahl der Gerichts-Ein-
gesessenen.
Es kamen auf einen Rechts-
anwalt Gerichts-Ein-
gesessene
1880 1889 1911 1880 1889 1911 1880 1889 1911
München I 90 83 403 237895 308650 584841 2642 3718 1440
Hamburg 131 132 282 388618 518620 1015795 2961 3828 3602
Hannover 51 62 132 340111 396250 600577 6668 6391 4549
Cöln 73 77 205 405249 478727 774657 5551 6217 3778
Breslau 41 68 155 417433 485970 660693 10181 7146 4252
Dresden 138 136 358 537841 641618 1046640 3897 4718 2923
Leipzig 157 148 364 473992 593038 924547 3019 4007 2540
Frankfurt 56 74 163 169301 224593 394979 3023 3035 2423
Stuttgart 41 43 117 341653 363681 530009 8333 8457 4529
Danzig 21 44 74 413401 443266 551704 19685 10074 7455
Nürnberg 28 32 126 228568 269707 431545 8163 8428 3424
Essen 23 45 122 350696 465573 984206 15204 10346 8066

Es ergibt sich, dass bis zum Jahre 1889 die Steigerung in den Grossstädten nicht übermässig gewesen, oft sogar von der Steigerung der Bevölkerungsziffer überholt worden ist, besonders da, wo schon vor 1879 die Rechtsanwaltschaft rechtlich oder tatsächlich freigegeben war, wie in Hamburg, Hannover, Cöln, Dresden, Leipzig, Frankfurt, Stuttgart. Von 1889 zu 1911 hingegen zeigt sich überall eine sehr bedeutende, in München, Breslau, Stuttgart, Nürnberg ungeheuerlich zu nennende Steigerung der Anwaltszahl, die in der Erniedrigung der Durchschnittsziffer zum Ausdruck kommt.

Die wirtschaftliche Lage der Rechtsanwaltschaft lässt sich zahlenmässig nicht dartun. Sicher ist sie durch die Freigabe ungünstiger geworden, aber wohl immer noch wesentlich besser als die der Ärzte. In der Provinz haben die meisten Anwälte ihr oft recht reichliches Auskommen; in den Grossstädten finden sich neben überbeschäftigten, fürstliche Einnahmen abwerfenden zahlreiche verödete Kanzleien. Das ist bei freien Berufen nicht anders möglich und wird immer so [102] sein; die Frage ist aber, ob das Verhältnis zwischen beiden noch gesund und natürlich. Jedenfalls sieht die Zukunft düster aus. Der Anwaltsberuf, weil der Korruption in viel höherem Grade als andere Berufe ausgesetzt, bedarf mehr als diese der Unabhängigkeit nach unten, die eine gesicherte wirtschaftliche Stellung verleiht. Diese aber ist bei der andauernden Überfüllung nicht anders zu erreichen als durch Beschränkung der Zahl. Bis jetzt haben die Organe der Rechtsanwaltschaft diese streng abgelehnt; 1909 hat eine Versammlung der deutschen Anwaltskammer-Vorstände, 1911 der Anwaltstag zu Würzburg mit grosser Mehrheit den numerus clausus in jeder Form für unannehmbar erklärt. Es scheint sich aber ein Umschwung vorzubereiten. Eine Umfrage, die ein eigens zu diesem Zwecke gebildeter Verein rheinisch-westfälischer Rechtsanwälte 1913 veranstaltete, hat ergeben, dass von 7527 abgegebenen Stimmen 6482 sich für Zulassungs-Beschränkungen ausgesprochen haben, „die weder die Unabhängigkeit noch die Freizügigkeit des Standes antasten und keine Hintansetzung aus politischen oder konfessionellen Beweggründen zulassen.“

Die Rechtsanwaltschaft ist im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Ansehn und Einflusse gelangt, die ihr früher versagt waren. An den deutschen Verfassungskämpfen war sie in auffallend hohem Masse beteiligt: Stüve in Hannover, Oetker in Kurhessen, Beseler in Schleswig-Holstein, v. Itzstein, v. Soiron, Hecker, Struve, Brentano in Baden, Schott und Römer in Württemberg, Braun und Schaffrath in Sachsen, Giskra und Berger in Österreich waren Advokaten. In der Paulskirche sassen ihrer 90, fast ein Sechsteil der Versammlung, darunter glänzende Redner wie Ludwig Simon-Trier. Die Forderungen der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Rechtspflege, des schwurgerichtlichen Verfahrens und der Anwaltskammer-Verfassung wurden schon im Vormärz von den wenigen damals bestehenden Anwalt-Vereinigungen erhoben, der Gedanke eines einheitlichen deutschen Privatrechts schon 1840 durch den Advokaten Purgold-Darmstadt lebhaft aufgegriffen und 1843 auf die Tagesordnung eines allgemeinen deutschen Anwaltstages, des ersten in seiner Art, gesetzt, der aber infolge Einspruchs der Regierungen nicht zustande kam. An den Arbeiten zum Strafgesetzbuche zur Zivilprozessordnung und zum Bürgerlichen Gesetzbuche ist die Rechtsanwaltschaft amtlich und weit umfangreicher unamtlich beteiligt gewesen; allein zum letzteren ist neben unzähligen kleineren Arbeiten ein starker Band „Gutachten aus dem Anwaltstande“ erschienen. Allgemein anerkannt ist der ausserordentliche Umfang, in dem die Rechtsanwaltschaft an der wissenschaftlichen Durchdringung des neuen Rechts beteiligt ist; Hachenburg-Mannheim, der tiefschürfende Gelehrte, Staub-Berlin, der scharfsinnige Praktiker, Fuchs-Karlsruhe, der kühne und beredte Vorkämpfer der soziologischen Schule, sind nur einige aus der grossen Schar. Von den Praktikern müssen Verteidiger ersten Ranges, wie Holthoff, Munckel und Sello, hier erwähnt werden; aus den übrigen auch nur die hervorragendsten zu nennen ist unmöglich. In allen Selbstverwaltungs-Ämtern ist die Rechtsanwaltschaft überaus zahlreich; die einflussreichsten Politiker gehen fortwährend aus ihr hervor: Schulze-Delitzsch, Forckenbeck, Miquél, Windthorst, in neuester Zeit Bassermann, Krause, Trimborn sind nur einige wenige aus der Menge. Vielleicht kein Beruf ist in so hohem Umfange an der Staats- und Gemeindeverwaltung beteiligt wie die Rechtsanwaltschaft.

Aber auch an Angriffen hat es der Rechtsanwaltschaft nicht gefehlt; ja es kann beobachtet werden, dass diese in der neuesten Zeit an Zahl und Heftigkeit zugenommen und bereits den Erfolg gehabt haben, dass die Rechtsanwälte gesetzlich von dem Auftreten vor den Gewerbe- und Kaufmanns-Gerichten ausgeschlossen sind. Allerdings liegen die Gründe hierfür zum grossen Teil in Umständen, für welche die Rechtsanwaltschaft nicht verantwortlich ist: in der unvermeidlichen Verteuerung, die durch Zuziehung von Rechtskundigen, und der unvermeidlichen Verlangsamung, die durch Verhandeln mit Bevollmächtigten eintritt. So richten sich auch die Klagen über Verteuerung, welche in der Deutschen Richterzeitung immer wieder erhoben werden, weniger gegen die Rechtsanwaltschaft als gegen das Gesetz, welches den Verurteilten verpflichtet, seinem Gegner in jedem Falle die Rechtsanwaltsgebühren zu erstatten. Aber es wird ihr auch Verwickelung und Vervielfältigung der Prozesse, Verschleppung und Unwahrhaftigkeit, Unrechtsvertretung und Klientenfang vorgeworfen. Es sind das Vorwürfe, die von jeher gegen den Anwaltstand erhoben worden sind und in der Eigentümlichkeit dieses Berufs immer eine gewisse Grundlage finden werden. [103] Ob sie heut mit mehr Recht erhoben werden als früher, ob sie einen grossen oder einen kleinen Teil der Rechtsanwaltschaft treffen, wird wohl niemals auszumachen sein. Sicher ist, dass die Rechtsanwaltschaft selbst durch ihre massgebenden Organe derartige Erscheinungen entschieden missbilligt, dass die Ehrengerichte mit Strenge gegen sie einschreiten und erst jüngst wieder der Anwaltstag von 1913 die unbedingte Wahrheitspflicht als beruflichen Grundsatz verkündet hat. Dass das Eindringen verderblicher Gewohnheiten durch die nun schon Jahrzehnte, andauernde Überfüllung des Standes wesentlich gefördert wird, kann kaum bestritten werden. Aber so wahr Rechtssinn und Ehrenhaftigkeit deutsche Tugenden sind, so wahr das gebildete Bürgertum ein hervorragender Vertreter deutschen Wesens ist, so wahr wird die deutsche Rechtsanwaltschaft nicht in Niedrigkeit versinken.





  1. Im Reichskammergerichte war der Prokurator zugleich Advokat, der Advokat aber nicht zugleich Prokurator, die Prokuratur das angesehenere, meistens auch ertragreichere Amt, die Advokatur die Vorstufe dazu. Aber hier war von Anfang an gelehrte Bildung, Prüfung und Vorbereitungsdienst gefordert, die Zahl der Prokuratoren (nicht der Advokaten) fest bestimmt. Eine ähnliche Verfassung herrschte bei den Hofgerichten.
  2. Ein Bild geben folgende Zahlen:
    Jahr Zahl der preussi-
    schen Rechts-
    anwälte
    Auf einen Rechts-
    anwalt entfiel eine
    Seelenzahl von
    1851 1629 09997
    1856 1542 10766
    1861 1595 11114
    1870 2376 10050
    1876 2102 11705
    1879 2100 12218