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andere Bedeutung gehabt als dort; was der deutschen Advokatur dort entsprach, war die Advokat-Anwaltschaft, und diese war nicht freigegeben, ebensowenig wie in Frankreich das Amt der avoués. Dieser Punkt wurde von der grossen Prozessreform-Bewegung des 19. Jahrhunderts übersehen. Neben der Mündlichkeit des Verfahrens, die man sich wiederum ohne Anwaltszwang nicht vorstellen konnte, wurde die Freigabe der Rechtsanwaltschaft am lautesten gefordert, besonders geschickt von Rudolf Gneist in der Schrift: Freie Advokatur 1867. Baden, Mecklenburg, die Hansestädte hatten sie damals bereits; Österreich führte sie ein durch die Advokaten-Ordnung vom 6. Juli 1868. Die um dieselbe Zeit einsetzenden Arbeiten zur Herstellung einer gemeinsamen Gerichtsverfassung fanden in diesem Punkte bereits eine so starke öffentliche Meinung vor, dass die Frage als entschieden gelten konnte. Die deutsche Rechtsanwalts-Ordnung vom 1. Juli 1878 sprach die Freigabe unumwunden aus.

Nach dieser (abgeändert durch Gesetz vom 22. Mai 1910) ist die Verfassung der deutschen Rechtsanwaltschaft heute folgende:

Es gibt nur eine Rechtsanwaltschaft; die Teilung in Prokuratur und Advokatur, Advokatur und Advokat-Anwaltschaft ist aufgehoben. Zugelassen wird, wer die Fähigkeit zum Richteramte erlangt hat, dieser aber nur in seinem Bundesstaate und nur für ein bestimmtes Gericht (Lokalisierung), unter Umständen für mehrere Gerichte zugleich (Simultan-Zulassung). Vor den Kollegialgerichten müssen sich die Parteien durch einen dort zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen (Anwaltszwang); ein anderer Rechtsanwalt darf nur neben dem zugelassenen, mit seiner Bewilligung auch anstatt des zugelassenen, auftreten; jedoch verteidigen und als Beistand auftreten kann jeder Rechtsanwalt vor jedem Gerichte des Reiches. In den öffentlichen Sitzungen der Kollegialgerichte trägt er eine Amtstracht. Armen wird vom Gerichte ein Rechtsanwalt zur unentgeltlichen Vertretung beigeordnet. Die innerhalb des Bezirks eines Oberlandesgerichts zugelassenen Rechtsanwälte bilden eine Anwaltskammer, die einen Vorstand zur Ausübung der Aufsicht und ehrengerichtlichen Strafgewalt wählt, welche letztere Warnung, Verweis, Geldstrafe bis 3000 Mk. und Ausschliessung umfasst. Berufung findet an den Ehrengerichtshof statt, der in der Besetzung mit einem der Präsidenten des Reichsgerichts, drei Reichsgerichtsräten und drei Rechtsanwälten des Reichsgerichts urteilt. Eine besondere Anwaltskammer ist neuerdings für Berlin eingerichtet worden.

Die Rechtsanwaltschaft am Reichsgerichte ist nicht freigegeben, wird vielmehr vom Präsidium des Reichsgerichts nach Ermessen besetzt. Sie hat eine besondere Anwaltskammer.

Ob und wie das Notariat mit der Rechtsanwaltschaft zu verbinden, ist dem Landesrechte überlassen. Demzufolge besteht in Preussen, Sachsen und fast allen norddeutschen Staaten diese Verbindung in der Gestalt, dass ein Teil der Rechtsanwälte zu Notaren ernannt ist, während in Süddeutschland (und auch in Rheinpreussen) das Notariat regelmässig von der Rechtsanwaltschaft getrennt ist. Doch beginnt Preussen seit einigen Jahren in den Grossstädten selbständige Notariate zu errichten.

Die Gebühren sind reichsgesetzlich festgestellt in der Gebühren-Ordnung vom 7. Juli 1879 (abgeändert durch Art. IV der Zivilprozess-Novelle vom 1. Juni 1909 und Art. IX des Gesetzes vom 22. Mai 1910). Sie werden nach dem Werte des Gegenstandes erhoben. Es wird beispielsweise erhoben für Führung eines ganzen Prozesses einschliesslich Schriftsatzwechsel, mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme

bei einem Werte von 60 bis 120 Mk. 12 Mk.,
bei einem Werte von 200 bis 300 Mk. 30 Mk.
bei einem Werte von 650 bis 900 Mk. 72 Mk.
bei einem Werte von 2100 bis 2700 Mk. 120 Mk.
bei einem Werte von 6700 bis 8200 Mk. 180 Mk.

Daneben wird für Schreibwerk und Porto ein Pauschsatz von 20 Prozent der Gebühren erhoben. Abweichende Vereinbarungen sind zulässig; es wird von ihnen vorwiegend im Strafverfahren, da aber sehr allgemein, Gebrauch gemacht. Rechtsanwalts-Gebühren hat der im Prozesse unterliegende

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/115&oldid=- (Version vom 17.11.2021)