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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[469]

Nr. 28.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Vater und Sohn.

Wahrheit und Dichtung.
Von Adolf Wilbrandt.

     (1. Fortsetzung.)

Es dauerte nicht lange, bis Rudolf wiederkam; Volkmar hatte eben die Tafel verlassen und sich auf das lange Sofa, das alte „Familiensofa“ mit den hohen, krummen Lehnen, gesetzt, als er auf der Treppe, die nach oben führte, ein gewaltiges Herunterpoltern hörte. Die Thür zum Vorplatz ward dann aufgerissen, der Jüngling und die „Dirns“ stürmten herein. Ihre Dankbarkeit kundzugeben, sprangen sie eins nach dem andern mit erstaunlicher Gelenkigkeit über die gebogene Lehne fort und in das lange Sofa hinein; Rudolf voran, hinter ihm die Mädchen. Dann warfen sich Sohn und Nichte um Volkmars Hals; zuletzt, mit einem raschen Entschluß, auch Helene.

Das nenn’ ich noch danken! sagte Volkmar, das ihm in die Stirn gezauste Haar zurückwerfend. Geturnter Dank, doppelter Dank!

O Gott! seufzte Toni vor Glück. Aber wenn’s nur noch Plätze giebt! Theas Benefiz!

Das wäre nun Eure Sache, Kinder, sagte Volkmar, indem er aufstand. „Fremdenloge“ womöglich –

Toni und Helene nickten beide. Wir stürzen hin! sagte Helene.

Wir schwören! setzte Toni hinzu, ihre lange Hand hebend. Sie schien damit sagen zu wollen: Giebt es noch eine menschliche Möglichkeit, Sitze zu bekommen, so werden sie von uns erkämpft!

Schloß Hohenzieritz.
Nach dem Gemälde von W. Riefstahl.
Photographie im Verlage der Barnewitzschen Hofbuchhandlung Verlags-Conto (Emil Frehse) in Neustrelitz.

Der Schwur bewährte auch seine Kraft: etwa eine Stunde später kamen die Mädchen mit vier Fremdenlogenkarten zurück; heimlich hatten sie sich noch mit einem halben Dutzend kleiner, aber duftender Sträußchen ausgerüstet, um sie aus der Loge zu „schleudern“. Es war noch übermäßig früh, als die Vier dann am Abend ins Theater einzogen, das sich erst zu füllen begann, und sich auf ihren vornehmen Plätzen über dem schmalen Orchester niederließen. Volkmar hatte Zeit genug, über das kleine, schmucklose, kalte Haus zu staunen – ursprünglich nur ein Sommertheater, später notdürftig winterfähig gemacht – und der Zeit zu gedenken, da er selber in Tonis Alter in dem alten, nun abgebrannten Stadttheater gesessen und wohl manchesmal ebenso aufgeregt und schwergeatmet hatte wie nun Toni und Helene rechts und links von ihm. Er saß zwischen ihnen. Er hörte und sah, wie sie Glück atmeten. Sie dufteten beide nach Kölnischem Wasser. Auf Tonis anderer Seite saß Rudolf, mit großen, ernsten starrenden Augen; ein unbestimmtes Lächeln zuckte zuweilen um seinen Mund. Ja, ja! dachte Volkmar. Ich war noch nicht in Prima, sondern in Sekunda, als ich im alten Stadttheater ein ähnliches Gesicht machte – nur er blond, ich braun – und für die junge Tragödin glühte. Wie viele Verse hat sie mich gekostet!

[470] Ich hab’s überstanden! Das wird er wohl auch. So werden wir auch diese Orchestermusik überstehen; – heiliger Gott! es ist wie im Cirkus. Als würde jetzt gleich Fräulein Thea auf drei ungesattelten Pferden – – Sie kratzen mir die Ohren entzwei. Wie die Dissonanzen schmettern! So werden wir auf Goethe vorbereitet …. Nur Mut! Sie hören schon auf. Das Zeichen. Goethe fängt an!

Der Vorhang ging in die Höhe; in diesem Augenblick kamen vor Volkmar zwei Hände zusammen – die Linke Tonis und Helenens Rechte – fanden sich, drückten sich geschwind und zogen sich wieder zurück. Man sah „Wilhelm“ auf der Bühne an seinem Pulte stehen; einen langen jungen Menschen, der seine Hüften bald sehr unruhig und merkwürdig ungeschickt bewegte. Er blieb auch nicht lange an seinem Platz, er begann auf der kleinen Bühne mit großen Theaterschritten umherzugehen; aber wie auf fremden, geliehenen Beinen. Doch mit besonderer Andacht hörte Volkmar seiner Rede zu; es überkam ihn wieder ein tiefes Staunen, wie naturwidrig manche Schauspieler sprechen können: jedes Wort etwas anders, als es der Dichter gemeint hat. Zum Glück erinnerte Wilhelm sich bald seiner „Schwester“ Marianne und sprach ihren Namen aus, mehrmals, immer lauter, bis sie ihn draußen in der Küche hörte. Die Thür rechts ging auf, und Marianne-Thea erschien.

Toni fuhr zusammen; Helene preßte beide Hände gegen die Brüstung; Rudolf that einen tiefen, langen Atemzug. Die nicht große, fein gebaute, anmutig weich gerundete Gestalt bewegte sich auf Wilhelm zu; mit einer träg wiegenden, gemütlich faulen Art zu gehen, die ihr ganz eigen zu sein schien; denn so etwas spielt man nicht, wenigstens eine so Junge nicht. Ihre Stimme ertönte weich und frisch, mit einem behaglich süddeutschen Anklang. Sie sprach natürlich, drollig; nicht wie eine Marianne aus dem vorigen Jahrhundert, sondern etwas „fin de siècle“, zwischen Schneidig und Urgemütlich, mit einem Anflug von aufgeklärtem Backfisch und von Münchner Kellnerin. Dazwischen kamen auch liebliche, süße, offenbar angelernte Töne; – von allem etwas! dachte Volkmar. Sie war aber in ihrem Hauskleidchen aus der Junggoethe-Zeit allerliebst anzuschauen. Ihre hellbraunen, mehr lustigen als poetischen Augen ruhten nie länger auf Wilhelm, als sie mußten; sie benutzten jeden „freien Augenblick“, um entweder zum Souffleurkasten zu fliegen, mit dem sie offenbar nicht zufrieden waren, oder geschwind einmal in den Zuschauerraum zu sehen. Ihr erster Ausflug galt, wie Volkmar bemerkte, der Fremdenloge gegenüber, in der zwischen zwei jungen Offizieren ein höchst elegant gescheitelter und gekleideter Civilist mit schöngekräuseltem blondem Vollbart saß. Das ist Fellenberg! flüsterte Toni fast in dem nämlichen Augenblick. Rudolfs Brauen zuckten. Die kurze Eingangsscene Mariannens war übrigens bald ausgespielt; „jetzt verbrenn’ ich die Tauben!“ sagte sie mit einem drollig herzhaften Zusammenschlagen ihrer kleinen Fäuste und ging zu ihrer Küche zurück. Ein lebhaftes Händeklatschen begleitete sie. Die Backfische klatschten feurig mit; dann fühlte Volkmar etwas an seinem Rücken; er rührte sich aber nicht. Toni und Helene hoben hinter ihm die versteckten Blumensträußchen empor, zeigten sie einander, wie um sich zu sagen: wenn am Schluß des Stückes geklatscht wird, dann fliegen die hinunter!

„Fabrice“ kam, Marianne kam wieder, das Schauspiel ging weiter und weiter; Volkmar hörte bald wenig mehr von diesem verneudeutschten Goethe, er beobachtete seinen Sohn. Das junge ernste Profil mit dem noch flaumigen Bärtchcn war fest auf die Bühne gerichtet; der Kopf hatte sich vorgestreckt, sein ganzes Leben schien da unten zu sein. Es war, als söge er ein wunderbares Glück mit den leise erzitternden Nüstern ein; wie wenn sich ein Antlitz ganz, in den Wohlgeruch eines Straußes oder in einen Becher mit starkduftendem Wein versenkt. Fast immer, wenn Marianne-Thea zu reden begann, hob sich sein Kopf ein wenig; so oft sie lächelte, spielte eine leichte Bewegung auch um seine Lippen. Nun ja – so war ich wohl auch! dachte Volkmar. Doch die innere Heiterkeit schwand ihm mehr und mehr; allmählich beklemmte ihn doch dieser tiefe Ernst des Glücks in dem weichen Jünglingsgesicht. Er freute sich, als das Stück zu Ende ging. Marianne stieß einen „seelenvollen“ Schrei aus, der ihm aber mehr die Nerven als das Herz bewegte; „Wilhelm,“ rief sie am Halse des jungen Schauspielers mit den fremden Beinen, „Wilhelm, es ist nicht möglich!“ und während der Vorhang vor ihr niederging, begann schon im ganzen Hause schallendes, stürmisches Klatschen.

Rudolf erwachte, gleichsam widerwillig, wie aus einem Traum, und seine großen Hände begannen mächtig gegeneinander zu schlagen; die kleineren der Mädels bemühten sich, es ihm gleichzuthun, einer von Tonis Handschuhen platzte. Es kam aber eine rätselhafte Unruhe über die beiden jungen Geschöpfe; sie rutschten auf ihren Stühlen, sie zischelten hastig hinter des Onkels Rücken, als der Vorhang wieder aufging und die hervorgeklatschte „Himmlische“ erschien. Tonis Gestalt hob sich ein wenig, eines ihrer drei Sträußchcn erschien in ihrer rechten Hand; ihr versagte aber der Mut, vor all diesen Menschen in dem vollen Haus ihre Huldigung vor Theas Füße zu „schleudern“. Helene rührte sich gar nicht; sie schüttelte nur beklommen den Kopf. Plötzlich drückten beide ihren Strauß in Rudolfs Hand; Toni stieß ihn an. Du! flüsterte sie. Wirf Du!

Der Vorhang war wieder unten, doch er hob sich nochmals, Thea stand wieder da, lächelnd, sich verneigend, dankend. Rudolfs Träumeraugen hatten nun erst begriffen, was die Backfische wollten; mit raschem Entschluß, obwohl ebenso rasch errötend, warf er erst das eine, dann das andere Sträußchen zu Thea hinunter. Das zweite traf sie an der Brust und fiel dann, wie in reuiger Verehrung, vor ihre Füße. Die junge Schauspielerin verwunderte sich wie ein Vogel; ihr Blick flog hinauf, sie erkannte nun offenbar ihren Bogenläufer. Sie lächelte ihm anmutig zu, den Kopf ein wenig neigend. Die Röte in Rudolfs Gesicht stieg bis an die Schläfen. Er ermannte sich aber geschwind; mit dem redlichen Blick seiner guten Augen deutete er nach links, auf die eigentlichen Geberinnen, er wies auch, etwas unbeholfen, mit der Hand auf sie. Nun lächelte Thea sehr lustig; mit raschem keckem Humor verbeugte sie sich auffallend, tief, wie vor höchsten Herrschaften. Toni und Helene dachten zu vergehen; sie schlossen beide die Augen, um nicht zu sehen, daß man auf sie sah. Sie hörten nur neues, wildes Klatschen; das brach los, weil die Schauspielerin die Sträußchen aufgehoben und an ihre Lippen gedrückt hatte. Noch einmal rauschte der Vorhang, nieder, hinauf und hinab. Endlich ward es still.

Ich kann nicht mehr! seufzte Toni vor Glück, eine Hand mit der andern zerrend.

O Gott! hauchte Helene.

Das war zu viel! Ich kann nicht mehr! wiederholte Toni. – O, wie süß sie war. Und wie hat sie gespielt!

Vollendet! flüsterte Helene.

Rudolf sagte nichts. Er starrte noch eine Weile auf den Vorhang, den ausgeblichenen, phantasielos häßlichen, als läge der jetzt wie ein Grabtuch über einem märchenhaften Glück. Langsam, zögernd wandte er sich endlich nach links, und seine Augen strahlten den Vater an. Wie hat sie Dir gefallen? fragte seine weiche Stimme.

Volkmar lächelte freundlich. Was soll ich da sagen? Meine Freunde, verlangt keine Aeußerungen von mir; so wie Ihr kann ich nicht mit. Ich ziehe mir nur Haß und Verachtung zu, wenn ich –

Nein, Vater, unterbrach ihn Rudolf, immer mit gedämpfter Stimme; sag’ uns, was Du denkst!

Gut; das will ich denn also thun. Fräulein Thea sah sehr angenehm aus und hat frisch drauf los gespielt; nicht wie ihr Wilhelm in Theatertönen. Was sie noch nicht kann, mag sie ja noch lernen. Sie kokettierte nur zu viel mit dem Souffleur; was geht der Souffleur sie an. Und dann sprach sie nicht lauter Goethe; es war auch einiges von Thea Schüler dabei.

Woher weißt Du das, Onkel? fragte Toni kleinlaut.

Dieses Stück kenn’ ich fast auswendig, meine gute Toni. Ich höre wenigstens jedes falsche Wort.

Nu ja, murmelte das Mädchen; ein Litteraturprofessor wie Du!

Auch Schauspielerinnen sollten ihre Rollen –

Verzeih’, Vater, sagte Rudolf leise. Du hast uns doch öfter gesagt: diese armen Schauspieler an den kleineren Theatern, die eine Rolle nach der andern „fressen“ müssen – manchmal über Nacht –

Ja, ja; aber die Marianne in Goethes „Geschwistern“! Und beim Benefiz!

Die drei jüngeren waren eine Weile still; als wäre ihnen etwas Erde in den Himmel gekommen. Toni, die jüngste und die trotzigste, beugte sich endlich hinter Volkmars Rücken zu Helene hinüber und flüsterte geschwind: Sie hat aber doch vollendet gespielt!


[471]
3.

Es folgten noch zwei einaktige Lustspiele; eines von der beliebten Art der Verwechslungsstücke, wo eine Hauptperson für eine andere gehalten wird, als die sie eigentlich ist (in der vorletzten Rede klärt es sich dann auf); das zweite war eine Bauernkomödie aus den Bergen, mit Sommerfrischlern gemischt. Fräulein Thea zeigte in beiden Stücken ihre wahre Stärke: ihre ansteckende, gemütliche Fröhlichkeit, durch ein gewisses süßes Phlegma gewürzt, und ihre kindlich unbefangene Freundschaft mit dem Publikum, als spielten die alle mit. Sie teilte jetzt ihre Vorzugsblicke zwischen der rechten und der linken Fremdenloge; so oft Toni und vielleicht sonst noch jemand auf den Herrn von Fellenberg da drüben eifersüchtig wurde, flog ein ausgleichender, unwiderstehlich vergnügter Blitz aus den Rehaugen herauf. Die Zuschauer nahmen das hin, als könnt’ es nicht anders sein, als sei das eben die Thea; das „fidele Madel“ von der Isar riß sie alle mit. Als die Verwechslungskomödie zu Ende ging, warf Rudolf wieder zwei von den kleinen Sträußchen. Wieder dankte Thea mit einer drollig großen Gebärde. Die Backfische hielten diesmal mutig ihre Augen offen; aber hinter dem Onkel flochten sie ihre Hände ineinander und drückten sie, bis der Lärm vorbei war.

Im dritten und letzten Stück stieg die „Himmlische“ noch einen Himmel höher: sie war Sennerin im Hochgebirge, sie ließ alle Töne ihrer Heimat los, sie sang Schnadahüpfl, sie juchezte, sie jodelte, endlich tanzte sie, steierisch, bayerisch, alles. Es stand ihr gar gut. Der Beifall ward wild und toll, als der Vorhang fiel; Volkmar war, als hätte er seine Landsleute noch nie so gesehen. Toni trommelte mit den Füßen, um ihr Herz zu entladen. Rudolfs Lippen zuckten von einem ruhelosen Lächeln. Als nun die große Blumenhuldigung begann und aus dem Orchester mächtige Sträuße und Blumenkörbe zur Bühne hinaufgereicht und geworfen wurden, aus Herrn von Fellenbergs Hand ein riesiger Lorbeerkranz mit goldbedruckten Schleifen der Beneficiantin zu Füßen flog, jetzt kam die große Ueberraschung: auch Rudolf stand auf, und hinter den letzten Sträußchen der Backfische schleuderte er einen Lorbeerkranz hinab, gegen den der Fellenbergsche zur Brezel wurde. Man hatte ihn ihm heimlich im Zwischenakt aus der Blumenhandlung gebracht. Ein Blick wie ein Sonnenstrahl dankte ihm dafür … Eine gute Weile tobte noch der Beifall; endlich starb er hin, wie alles. Thea erschien nicht mehr. Das Haus leerte sich. Auch die vier gingen hinaus, in die kalte Nacht.

Schneidig! stieß Toni hervor und drückte Helenens Arm. Helenens sanfte graue Augen funkelten; schneidig! wiederholte sie. Arm in Arm gehängt gingen sie voraus, um sich frei zu sprechen, um dieses neue Wort, das sie für die Himmlische gefunden hatten, noch so oft wie möglich der Nachtluft anzuvertrauen. Als sie vor Helenens Hausthür Abschied nahmen, hauchten sie sich statt des „Gutenacht“, wie ein heimliches Losungswort, ein allerletztes „Schneidig!“ zu.

Rudolf sprach fast kein Wort. Er sah zu den Sternen auf oder vor sich hin, er schien diesen ganzen festlichen Abend in seiner stummen Seele nochmals zu erleben. Auch zu Hause, beim Nachtmahl mit dem Vater und der Tante – Toni war oben bei ihrer Mutter – saß er schweigsam da. Erst als die Tante Sophie sich erhoben hatte und nach ihrer Gewohnheit ins andere Zimmer ging, trat Rudolf vor den Vater hin, und mit all der liebreichen Offenherzigkeit seiner leuchtenden Augen lächelte er ihn an. Hätt’st Du ein bißchen Zeit für mich? fragte er. Hab’ Dir was zu sagen. Es ist nur für Dich.

Volkmar nickte seinem Jüngling zu, stand auf, und einen Arm auf dessen Schulter legend – prachtvolle Muskeln! dachte er mit Vaterstolz – führte er ihn in sein Arbeitszimmer. Die wenigen Stühle dort waren, wie gewöhnlich, mit großen Büchern und Atlanten belegt; er räumte einen ab, für den Sohn, und warf sich auf die Chaiselongue an dem letzten Fenster. Du kannst Dir wohl denken, begann er das Gespräch, daß ich mir denken kann, was Du sagen willst.

Rudolf nickte lächelnd; die Brust hob sich ihm aber stark. Vater! stieß er heraus. Ich sag’ Dir ja alles. Ich hätte auch schon früher – – wenigstens durch mein Tagebuch – –. Aber Du weißt ja: das Tagebuch war lange voll. Du hast es, es liegt bei Dir. Ich wollt’ immer ein neues anfangen; ich komme nicht mehr dazu. Für diese Ergüsse bin ich, wie es scheint, doch zu alt geworden. … Kurz – Vater! Diese Thea!

Das dacht’ ich, sagte Volkmar, fast mitleidig lächelnd; wie ein Vater lächelt, der zugleich ein Freund ist. Hast das etwas dumm gemacht, lieber Junge: Dich vor dem mündlichen Examen zu verlieben –

Schon vor dem schriftlichen, Vater! verbesserte ihn Rudolf.

Nach dem Examen, als „Maultier“, da hätt’st Du wenigstens freie Zeit; jetzt ist es der reine Raub! Was hilft es; Du mußt nun durch. Mußt zeigen, daß Du ein Kerl bist, der zugleich unter dem Brustkasten schweren Unfug treiben und unterm Schädel die „reine Vernunft“ sein kann! – Eine Schauspielerin; da haben wir’s. Das kommt wie die Masern. Ich hab’s auch gehabt; und noch früher als Du. Wann geht sie wieder weg?

Diese Leidenschaft?

Nein; die Thea mein’ ich. Aber „Leidenschaft“ – was für ein Wort. Du bist wieder einmal, nach alter Gewohnheit, verliebt. Warst aber aus der Gewohnheit gekommen, hattest als Oberprimaner ein ganz freies Herz; nun wunderst Du Dich, was für ein neues, sonderbares Ding das ist. Wann geht sie wieder weg?

Ach, ich weiß nicht, Vater, sagte Rudolf, mit düsterem Blick auf die Wand. Ich mag nicht daran denken. Es ist – nicht wie früher. Verzeih’ mir. Es wird Dir – Kummer machen, fürcht’ ich. So war ich noch nie –!

Er unterdrückte das Wort „verliebt“, das noch folgen sollte. Es schien ihm zu schwächlich, zu verbraucht, zu heiter zu sein für das, was er heute fühlte. Ein langer Atemzug, den er that, befreite ihn doch nicht. Vater –! seufzte er tief.

Volkmar schwieg einige Augenblicke, doch etwas betroffen. Er faßte sich aber, seinem verstörten Jüngling mit den Augen zulächelnd, stand auf und ging zu seinem Schreibsekretär. Aus einem verschlossenen Fach, das er öffnete, nahm er ein schön gebundenes, aber offenbar vielbenutztes Buch, das seinen eigenen Schlüssel und auf der oberen Messingklammer des Schlosses eine Inschrift hatte: „Rudolfs Tagebuch“. Er trat damit zur Hängelampe, lehnte sich an den Tisch voll Bildermappen und Albums, der darunter stand, und schlug das Tagebuch auf. Ueber so ein Buch geht nichts! sagte er heiter. Darin kann man die Geschichte seines Herzens studieren wie in einem Erddurchschnitt: all die abgelagerten Schichten liegen da übereinander. Heut’ nachmittag, als ich dachte: holla, holla! da hab’ ich wieder einmal lange darin gelesen. Als Du anfingst, es zu schreiben, warst Du – laß sehen – warst Du zwölf Jahre und sieben Monate alt – und schon nicht zum erstenmal in einer „Leidenschaft“. Ich hab’ hier und da ganz zarte blaue Striche gemacht … Soll ich Dir Einiges vorlesen?

Rudolf rückte auf seinem Stuhl. Es nützt ja nichts, Vater, sagte er, die furchtbar ernsten Augen auf den Boden heftend. Jetzt ist’s ja ganz anders. Damals war ich ein Kind – und jetzt –

Hm! murmelte Volkmar; sprach aber nicht aus, was er dachte, und die vierte Seite aufschlagend, fing er sogleich an: Hör’ nur ein wenig zu! „Ich habe aufgehört, die schöne Else von drüben zu lieben. Mein Herz wendet sich zu einer andern Blume, auch eine Else; wenn sie mich doch liebte! – – An Else habe ich ein Gedicht gemacht, es ist an eine Tote in meinem Herzen. – – Auch sonst habe ich gedichtet: ‚Das Lied von Lust und Liebe‘…“ Schau den Schwerenöter!

Aber lieber Vater –

Hör’ zu! – Etwa einen Monat später – es fehlt hier das Datum – in einer Art von Geschwindstil: „Besondere Ereignisse: Zeitung gegründet. Else oft gesehen, sie mich wohl auch lieben. Else heißt jetzt ‚Cimon‘. Herausgekommen, daß ein andrer auch Else liebte. Er nannte sie ‚Epaminondas‘. Er hat sie mir abgetreten.“ – Wieder etwas später, zur Pfingstmarktszeit: „Ich fuhr mit Else im Schiffskarussell. Wir unterhielten uns prachtvoll. Wir sind wie für einander geschaffen. Und lieben uns gegenseitig.“ Und hier im Herbst, nach einer kleinen Stockung der Gefühle: „Götterkind! Engel! Ich bin in Dich ganz wahnsinnig verliebt!“ Vier Ausrufungszeichen. In demselben Monat, da: „Mir ist zu Ohren gekommen, daß Dimitri von Gröben und meine Geliebte Else sich Liebesbriefe schreiben. Ist das wahr, so wird Gröben zu Weihnachten furchtbar verhauen. Ich will ihn aber auf jeden Fall verhauen!“

Bitte, Vater, ein Wort! sagte Rudolf, da Volkmar einige Augenblicke schwieg. Hat sie Dir denn gar nicht gefallen?

Eure Thea? – Warum nicht; gewiß hat mir an ihr allerlei gefallen. Eine gefährliche, reizende – – Sie hat ja auch zwei unsrer hoffnungsvollsten Backfische um ihren Verstand gebracht.

[472]

Die Einweihung des Kaiser Wilhelm-Kanals.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Pape.

[473] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [474] Aber, guter Rudolf! Was Dir jetzt diese junge Künstlerin ist – wohl so gegen zwanzig alt –

Ja, so sagt man, Vater –

Das waren Dir damals die Elses, und die ihnen folgten! Denn es kamen ja andre; wart’ nur! – Er blätterte wieder im Tagebuch. Mit Dimitri endete es noch gut, fing er an, denn nach Weihnachten schreibst Du: „Mit Gröben bin ich versöhnt; er possiert (so steht da) Else schon lange nicht mehr, und das mit den Briefen war nur erlogen.“ Bald danach ein großer Tag: „Ich habe lange Hosen bekommen, und ich gefalle mir gut in meiner männlichen Tracht.“ Aber – sind es diese langen Hosen, oder was sonst – nachdem Du vierzehn Jahre und etwas alt geworden, nimmt auch Dein Herz ganz andere Dimensionen an. Ich hab’ da einen Zettel eingelegt; ja, da steht’s: „Ich liebe augenblicklich eigentlich drei Mädchen: immer noch Else, dann ein Mädel, sehr hübsch, aber älter wie ich: Grete Müller, und drittens ein sehr hübsches Kind, dessen Namen ich nicht einmal weiß.“ Dieses hübsche Kind erscheint auf dem nächsten Blatt als „seelenvoll-dunkeläugig“ wieder –

Du willst mich verspotten, Vater.

Nein, gewiß nicht, erwiderte Volkmar; nur Dich ein wenig beruhigen, wenn Du Deine jetzige „Leidenschaft“ etwa zu tragisch nimmst. Uebrigens, wer sagte denn dieser Tage, Fräulein Thea gehe nach ihrer Benefizvorstellung fort?

Rudolf schüttelte den Kopf. Das ist nur so ein Gerede; weil sie mit dem Direktor einen bösen Zusammenstoß hatte. Sie bleibt aber doch wohl bis zum Schluß der Spielzeit; sie hat mir’s heute selber gesagt.

Hm! Sie bleibt ... Da fällt mir Dein Lorbeerkranz ein; alle Achtung, Rudolf. Mir kam’s vor, als sei er größer als Dein Geldbeutel –

Ja, Du hast wohl recht, sagte Rudolf mit etwas zerknirschtem Lächeln. Ich sah Nachmittags beim Blumenhändler den Kranz des Herrn von Fellenberg für Thea; da riß mich’s: „machen Sie meinen um die Hälfte größer!“ – Das find’st Du kindisch; nicht wahr?

Nun – so eigentlich männlich noch nicht! – Und doch faßtest Du schon damals, als Vierzehnjähriger, den Entschluß, Dich „zum Manne zu schmieden“; Du schriebst das sogar an Else, in einem „liebevollen Brief“, – da steht’s: „in welchem ich ihr erkläre, daß wir für unser Verhältnis zu alt geworden seien“ ... Aber das arme Herz kommt doch nicht zur Ruhe. Das Schlittschuhlaufen war Dir schon damnals gefährlich; gleich auf der nächsten Seite steht: „Auf dem Eise wurde ich zwei jungen Damen vorgestellt, von denen mir Grete Müller“ – die schon erwähnte – „sehr gut, aber Marie Walter noch besser, fast zu gut gefällt. Ich unterhalte mich prachtvoll mit ihr; beide sind sehr hübsch. Buridans Esel!“

Das war ja doch nicht Liebe, Vater. Kindliche Tändelei –

Du liesst auch damals schon Bogen, Rudolf: fast so gut wie jetzt! – Nur noch eine kleine Blütenlese aus dem Tagebuch, aus dem nächsten halben Jahr. Seite 190 „... Die entzückende Marie, die ich jetzt wirklich liebe und von der ich weiß, daß sie mich auch wiederliebt. Sie ist ein dolles Mädel, aber so berückend hübsch und hold!“ – Seite 226: „Heute ist Gründonnerstag, himmlisches Wetter, und ich bin verliebt. Und zwar bin ich wieder einmal doppelt verliebt; Marie liebe ich noch immer, aber augenblicklich ein noch hübscheres Mädchen, Fräulein Weiß, noch mehr. O, sie ist so hübsch – und ich kriege so liebe Blicke von ihr!!!“ – Seite 228: „... Am Abend desselben Tages kehrte ich von einem reizenden Abend bei Wilhelmis heim – mit einem neuen Pfeil im Herzen: die hübsche Bertha hat mir’s angethan!“ – Seite 253: „Meine Liebe zu Marie“ – wir sind also wieder bei Marie – „ist seltsam: manchmal liebe ich sie leidenschaftlich, dann wieder gedenke ich ihrer tagelang gar nicht“ ... Und Seite 264 – da haben wir’s! – Seite 264 „begräbst Du sie als Tote Deines Herzens“ – – Amen! – Mein geliebter Junge! So, hoff’ ich, wird Dir’s auch mit der himmlischen Thea ergehen. Zuerst „Tage lang gar nicht“, sondern als tapfrer Abiturient über Deinen Büchern; und dann, etwas später, „Tote Deines Herzens“!

Rudolf stand auf er trat vor den Vater, ihn gerührt, doch wehmütig anblickend; ging von ihm hinweg, durchs Zimmer hin, und kam wieder zurück. Ach, Vater, Du meinst mir’s gut, sagte er bewegt; die Dankbarkeit lag wie ein Schleier über seiner Stimme. Es kann mir’s auch nie ein Mensch so gut meinen wie Du! Es giebt auch keinen solchen Vater wie Du –

Das sagen viele Söhne, unterbrach ihn Volkmar lächelnd.

Ich glaube doch, keiner von ihnen –

Volkmar unterbrach ihn wieder: Da müßten wir doch auch erst von dem Sohn sprechen. Meiner hat viel Liebe zu mir, das ist gewiß!

Ja, das ist es, Vater. Glaub’ mir – – Du hast aus dem Buch da von allerlei Verliebungen vorgelesen; glaub’ mir, Vater, so wie Dich hab’ ich von denen keine geliebt! Nie! nie! – – Aber jetzt – ich muß Dir ja alles sagen – jetzt hab’ ich so ein verrücktes, quälendes, schlechtes Gefühl in der Brust; als wär’s zum erstenmal anders; als ging’ mir diese Thea – – Ich kann ja nichts dafür, Vater. Es ist so gekommen. Zuerst als Schauspielerin – dann auf der Straße, als – – und nun auf dem Eis, so gut, so lieb – gleich wie eine Freundin. Es ist alles so harmonisch in ihr ... Du lächelst. Vielleicht versteh’ ich das auch noch nicht. Ich bin ja noch jung. Ich mußte Dir nur sagen, Vater: wie ich Dich liebe, das kann nie anders werden, nie geringer werden; aber so wie für Thea – hab’ ich noch nicht gefühlt!

Ja, der hat herzensgute Augen! dachte Volkmar; auf der Tischkante sitzend, versenkte er sich in das junge, liebeausstrahlende, nur jetzt etwas zu elegische Gesicht. Kann ja sein, sagte er nach einer kurzen Stille, mit seiner gewöhnlichen Ruhe und Fassung. Vielleicht irrst Du – vielleicht auch nicht. Wer weiß das im Augenblick! ’s ist wie mit Deinem Examen, Rudolf: vielleicht bist Du schon durch, das mündliche wird Dir erlassen; aber vielleicht auch nicht. Wird es Ernst mit dem mündlichen, nun, dann mußt Du außer dem Frack auch Deine Stärke anziehen, Dich in geistige Gala werfen. Wird es mit dieser Thea Ernst – treibt der Teufel sein Spiel mit Dir – so mußt Du Dich wehren, bis Du den Teufel am Boden hast. Aber nur nicht weich sein und denken: ja, ja, es hat mich, es hat mich! Nicht wie diese Fürsten und Feldherrn, die vor dem großen Napoleon so ’nen höllischen Respekt hatten, daß sie immer dachten: er hat uns schon; sondern wie der alte Held, der Blücher, auf ihn los ging, ohne Menschenfurcht: „Da kann der Bonaparte die schönsten Schmiere kriegen!“ Oder wie der kleine Bengel heute ... Auf dem Eis sah ich ein Kerlchen, das immer wieder vom Schlitten fiel, weil es zu wenig Platz hatte; aber unverzagt immer wieder hinauf. Denk’ Du nur: „Der Teufel foppt mich, es ist nicht so schlimm. Ich sitz’ schon auf einem ganzen Berg von Verliebungsschichten.“ Darum nahm ich ja das Tagebuch! Nur zu Deiner Stärkung!

Ja, ja, sagte Rudolf leise. Ja. Ich will’s versuchen ...

Er faßte plötzlich des Vaters Hand und küßte sie. Dann sah er ihn voll Dankbarkeit an; um seine Lippen zog sich aber doch etwas Unheimliches, und er zuckte die Achseln, als wollte er sagen: mir ist nicht zu helfen! – Gute Nacht! sagte er nur noch, scheinbar ruhig wie sonst, machte eine unbestimmte, grüßende Bewegung mit beiden Händen und stürzte aus der Thür.

(Fortsetzung folgt.)


Die Eröffnung des Kaiser Wilhelm-Kanals.

Von Paul Lindenberg
(Mit dem Bilde auf S. 472 und 473.)

Die festfrohen Tage in Hamburg und Kiel sind vorübergerauscht, die bunten glänzenden Bilder, die sie brachten, sind verschwunden, aber ihr farbenreicher Zauber wird nicht nur bei denen, die sie an sich vorbeiziehen lassen konnten, haften bleiben: sie sind allüberall im weiten Vaterlande miterlebt worden. Tage des Glanzes und der Freude waren es in Hamburg wie in Kiel, Tage, die neben einer stolzen Versammlung der deutschen Fürsten und Volksvertreter, auch die maritimen und offiziellen Vertreter sämtlicher großer Kulturnationen vereinigt sahen, um der Einweihung des bedeutsamen Friedenswerkes beizuwohnen, Tage, in denen der Ruhm deutschen Geistes und deutscher Arbeit, die beide vereinigt in erster Linie die großartige Verbindung von Ost- und [475] Nordsee geschaffen, ein lautes Echo in der gesamten civilisierten Welt gefunden hat.

Bildete der seitens des Hamburger Senats und der Stadt in prunkvoller Weise veranstaltete Empfang des Kaisers und der übrigen offiziell geladenen Gäste in unserer größten Handelsstadt die stimmungsreiche, wenn auch in engerem Rahmen gehaltene Einleitung zu den Festlichkeiten, so fanden dieselben in Kiel und Holtenau eine nicht minder prächtige, aber doch weit volkstümlichere Fortsetzung. Hinter diesen Hunderttausenden, die sich am 21. und 22. Juni in dichten schwarzen Massen von dem lieblichen grünen Ufersaume an der Kieler Föhrde lebhaft abhoben, konnte man sich ganz gut eng und brüderlich geschart das gesamte deutsche Volk vorstellen, dessen weitaus größerer Teil mit warmem Empfinden und hohem Interesse, wenn auch nur im Geiste, der Eröffnung des Kanals beigewohnt hat.

Unvergeßlich jener Augenblick, als um die Mittagsstunde des 21. Juni, nach der vollendeten Durchfahrt durch den Kanal, die weißschimmernde „Hohenzollern“, das herrliche Kaiserschiff, gleich einem riesigen Schwane in der Kanalmündung auftauchte und langsam in die blaugrüne Flut der Föhrde auslief, während vom Deck die ersten Töne des von der Matrosenkapelle gespielten „Nun danket alle Gott“ in die klare, sonnenglanzerfüllte Luft hinausklangen und der Kaiser in Admiralsuniform ganz allein hoch oben auf der Kommandobrücke stand! Welch ein Jubelgebraus am Ufer, in das sich jetzt mit donnerndem Dröhnen die Salutschüsse der deutschen und fremden Kriegsschiffe mischten, die in doppelter, kaum übersehbar langer Reihe, in ihrem Flaggenschmucke wie umrankt von buntwimpeligen Guirlanden, die weite Bucht beherrschend ausfüllten. Das große Unternehmen hatte nunmehr die Probe bestanden und mit der Genugthuung darüber vereinigte sich die Vorstellung, was der Kanal unserem Handel, unserem Wohlstand, was er als Organ des friedlichen Weltverkehrs und als Mittel unserer Landesverteidigung bedeutet.

Und nun erst der nächste Tag mit seiner Fülle wechselnder Eindrücke! Früh, sehr früh erwachte diesmal zu rauschendem Leben das sonst ziemlich stille Kiel, welches sich zum Empfang der Gäste festlich geschmückt, und in sich immer aufs neue ergänzenden Scharen zogen all diese ungezählten Tausende und Abertausende hinaus gen Holtenau, die Tribünen und benachbarten Höhen besetzend, von denen man einen herrlichen Rundblick hatte auf die glitzernden Wellen der Bucht, die unserer Marine ein so stolzer Kriegshafen ist, auf die Hunderte von Schiffen aller Art und den Festplatz selbst mit seinem prunkenden Durcheinander von hohen Würdenträgern, Offzieren, Diplomaten und Beamten, über deren goldgestickte Uniformen und Ordenssterne die Sonnenstrahlen funkelnd huschten. Auch die historischen hohen Blechmützen der Leibcompagnie des ersten Garderegiments zu Fuß, die sich mit einer Compagnie Marine-Artillerie in den Ehrendienst teilte, blitzten im strahlenden Lichte des festlichen Tages.

Diese Truppen säumten teilweise den Weg ein, den das Kaiserpaar und die Fürstlichkeiten vom Ufer her zu dem für sie errichteten offenen Festzelte nehmen mußten; letzteres war von in goldenen Greifen endenden Flaggenmasten gebildet, die untereinander durch frische Guirlanden und Wimpelreihen verbunden waren, und im Verein mit seinen reichen Flaggen- und Wappendekorationen wirkte dieser Aufbau überaus lustig und anmutig. Für das Kaiserpaar standen auf dem rotausgeschlagenen Podium zwei reichgeschnitzte Sessel, von denen man mit wenigen Schritten zu dem Schlußsteine des Kanals gelangen konnte, der als solcher zwar nur sinnbildlich gedacht ist, dafür aber die Bestimmung hat, den Grundstein für das neben dem Holtenauer Leuchtturm zu errichtende Denkmal Kaiser Wilhelms des Ersten zu bilden.

Bald nach zehn Uhr war der unter diesem Leuchtturme sich befindende Landungssteg das Ziel vieler schmucker Gigs, welche von den Schiffen her die Fürstlichkeiten, die Admirale der Geschwader und Kommandanten der einzelnen Kriegsschiffe ans Land brachten. Da sah man die ehrwürdige, doch nicht vom Alter gebeugte Gestalt des Königs von Sachsen, dort tauchte das sonnenverbrannte Antlitz des Prinzen Heinrich, des Bruders des Kaisers, auf, die hohe, stattliche Figur des Prinzen Albrecht wurde sichtbar, mit kräftigen Händedruck begrüßten sich der Prinzregent von Bayern und der König von Württemberg, elastischen Schrittes ging auf sie der Herzog von Sachsen-Koburg-Gotha zu, der in der nächsten Minute dem Großherzog von Sachsen-Weimar behilflich war, ans Land zu steigen. Wieder naht ein schlankes Boot, die Marineposten präsentieren und mehrere Flügeladjutanten eilen hastig heran; aber schon sind die vier ältesten kaiserlichen Prinzen munter auf den Steg gesprungen, sich sogleich zu einigen Generalen wendend und ihnen die Hände reichend; der Kronprinz und Prinz Eitel Friedrich tragen die Uniform des ersten Garderegiments zu Fuß, Prinz Adalbert diejenige eines Unterlieutenants zur See, Prinz Waldemar noch Matrosenkostüm; heiter und zwanglos schreiten die vier Prinzen auf die Fürstlichkeiten zu, mit ihnen herzliche Begrüßungen austauschend.

Elf Uhr ist’s gleich; von der „Hohenzollern“ dröhnt ein Schuß herüber, als Zeichen, daß der Kaiser soeben seine Jacht verlassen hat. Dort schießt schon, von nervigen Seemannshänden gerudert, das Kaiserboot heran, der Kaiser, in der Garde-du-Corpsuniform mit dem Orangebande des Schwarzen Adlerordens, neben seiner Gemahlin sitzend, die zu dem heliotropfarbenen Seidenkostüm und dem zierlichen Frühjahrshütchen ein kostbares dunkelrotes Sammetmantelet mit breiten Goldstickereien trägt. An der Landungsbrücke harren der Reichskanzler Fürst Hohenlohe, Staatsminister von Bötticher, der Chef der Marinestation der Ostsee und der Direktor der Kanal-Kommission des Kaiserpaares, das mit den Herren einige freundliche Worte wechselt. Dann reicht der Kaiser seiner Gemahlin den Arm und führt sie unter dem klingenden Spiel der Truppen und dem rauschenden Jubel der Tausende, die auf den Festtribünen Platz gefunden haben, die Front der präsentierenden Ehrencompagnie entlang hin zu dem Kaiserzelte, wo sich die deutschen und fremden Fürstlichkeiten bereits in weitem Halbbogen aufgestellt haben.

Der Reichskanzler tritt heran, er bittet um die Erlaubnis zum Beginn der Feier und verliest dann die Urkunde, die dem Schlußsteine eingefügt werden soll. Sie hebt den lebhaften Anteil hervor, den Kaiser Wilhelm der Erste, der am 3. Juni 1887 im Namen des Reiches den Grundstein zu dem Kanale legte, an diesen Werke genommen. Sie weist auf den nationalen und völkerverbindenden Charakter seiner Bestimmung hin und spricht den Wunsch aus, daß er, ein Friedenswerk, allezeit nur dem Wettkampfe der Nationen um die Güter des Friedens dienstbar sein möge. Sie schließt mit dem Hinweis, daß der Akt der Eröffnung des Kanals zugleich ein solcher der Grundsteinlegung für ein Denkmal des großen Kaisers sei, der vor nunmehr 25 Jahren die deutschen Stämme zu einem ewigen Bunde geeint und in weiser Voraussicht das jetzt vollendete Werk begonnen habe.

Unter den schmetternden Musikklängen des ersten Garderegiments schritt nach dieser Verkündigung der Kaiser, in den Mienen die Bedeutung des wichtigen Momentes ausgeprägt, auf den Stein zu, dem zu seiten neben dem Stenographen des Kaisers die Minister von Bötticher und Köller und, diesen gegenüber, Meister des Baugewerkes standen. Der bayerische Ministerpräsident von Crailsheim überreichte dem Kaiser mit einer kurzen Ansprache die Kelle, mit welcher dann der Herrscher den Mörtel auf den Stein warf. Dann gab ihm der Reichstagspräsident von Buol namens der deutschen Volksvertretung den Hammer, indem er den vaterländischen Charakter des Baus hervorhob, und wuchtig fielen, während die in Parade aufgestellten Truppen präsentierten, die drei von der Hand des Kaisers geführten Hammerschläge auf den Stein unter den Worten: „Zum Gedächtnis Kaiser Wilhelms des Großen taufe ich den Kanal Kaiser-Wilhelm-Kanal. Im Namen des dreieinigen Gottes, zur Ehre Kaiser Wilhelms, zum Heile Deutschlands, zum Wohle der Völker!“ Die Kapellen stimmten das „Heil dir im Siegerkranz“ an, von den Schiffen rollte Kanonendonner herüber und die vielen Tausende von Zuschauern brachen in stürmische Hochrufe aus. Diesen Augenblick stellt unser Bild dar. Auch die Kaiserin, der Kronprinz, der Prinzregent von Bayern, die Könige von Sachsen und Württemberg sowie die anderen deutschen Fürsten vollzogen den Hammerschlag; der Reichskanzler brachte alsdann das Hoch auf den Kaiser aus, welches von neuem jubelndes Echo erweckte; dieser selbst verneigte sich dankend und geleitete dann die Kaiserin zu dem Boot zurück, welches nach wenigen Minuten bereits der „Hohenzollern“ zusteuerte – – die denkwürdige Feier war zu Ende.

Der Nachmittag und Abend sowie die nächsten Tage brachten noch viele andere mannigfach festliche Eindrücke, aber der großartigste war doch jene Grundsteinlegung, mit welcher in würdigster Weise das in acht Jahren angestrengter Arbeit zur Vollendung gebrachte Friedenswerk seine Weihe und Krönung fand. Möchte der Wunsch der kaiserlichen Urkunde immerdar in Erfüllung gehen, möchte der Kaiser-Wilhelm-Kanal allezeit nur dem Wettkampfe der Nationen um die Güter des Friedens dienstbar sein, bis in die fernste Zukunft hinein!


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Kleine Künstler.

Von Professor Dr. Lampert.

Warm und kräftig scheint die Sonne in das Zimmer; ihre Strahlen, die wir während der langen Wintermonate so oft herbeigesehnt, fangen schon an, lästig zu werden, und wir schicken uns an, den Vorhang herabzulassen. Aber was ist das? Von den rechts und links an der Fensternische befindlichen Hülsen, in welche wir den Eisenstab des Vorhangs einschieben wollen, erscheint die eine mit Lehm verstopft und völlig verschlossen; wir bohren die Erde heraus und zu unserer Verwunderung sehen wir, daß es sich nicht um einfachen trockenen Lehm handelt, sondern wir finden eine braune schmierige, süßlich riechende, klebrige Masse. Während wir noch damit beschäftigt sind, die Hülse zu reinigen, fällt unser Blick auf eine Biene, die soeben abgeflogen und in die Hülse der anderen Seite hineinschlüpfte; bald kommt sie wieder heraus, schaut sich einen Augenblick um, aber ehe wir sie ergreifen können, hat sie sich schon wieder erhoben, um hinaus zu fliegen in den goldigen Sonnenschein und unseren Blicken zu entschwinden. Wir halten Umschau an den anderen Röhren, alle sind sie verstopft, ja erkundigen wir uns weiter, so erfahren wir, daß es keine Eigentümlichkeit unserer Wohnung ist, sondern daß fast in jedem Hause die Röhren der Fenstervorhänge in gleicher Weise zugebaut sind.

Der Verfertiger dieser geheimnisvollen Bauten hat sich bereits verraten; wir haben eine Biene als die Künstlerin kennengelernt. Unwillkürlich denken wir bei diesem Wort an unsere Honigbiene, die uns als die typische Vertreterin dieser Insektenordnung erscheint, und mit Erstaunen werden wir vielleicht von einem zoologisch weniger gebildeten Freunde gefragt, wie denn eine einzelne Biene dazu komme, in die Röhre eines Fenstervorhanges ihre Wabe zu bauen. Ist uns doch gerade die Biene das geläufigste Beispiel eines Staaten bildenden Insekts; von Jugend auf ist es uns ja bekannt, wie in einem Bienenstaat Tausende von Individuen in musterhafter Ordnung unter dem absoluten Regiment einer Königin dahinleben; wie in diesem großen Gemeinwesen jede Thätigkeit, Erwerb der Nahrung, Aufzucht der Nachkommenschaft, Instandhaltung der Wohnung genau geregelt ist und pünktlich ausgeführt wird; wie auch in diesem Tierstaat jedoch nicht eitel Friede und Freude herrscht; wie für die Arbeitsbienen die Köstlichkeit des Lebens Mühe und Arbeit heißt, während die Lebensaufgabe der Drohnen im Genuß der schönen Sommertage besteht, bis ihnen in der großen herbstlichen Drohnenschlacht der dies irae der Tag des Untergangs, anbricht.

All dies ist uns so geläufig, daß es der Laie als Norm, als Regel für die Hautflügler gelten zu lassen geneigt ist. Außer den Ameisen sind jedoch nur wenige Repräsentanten der reichen Insektenabteilung der Hautflügler zu einer so hohen sozialen Gesellschaftsordnung gelangt wie die Honigbiene. Denken wir der Hummeln, so sind zwar auch sie bis zur Staatengründung vorgedrungen, allein eine rauhe Herbstnacht macht allem ein Ende, und die stolzen Wespenbauten, die wir, ihre zum Teil ungewöhnliche Größe bewundernd, in unsern Sammlungen aufbewahren, sie sind das Werk eines Sommers. Nur wenige der vom Zoologen zu der Familie der Blumenwespen oder Bienen vereinten Hautflügler gründen Staatengebilde, die auch unserer winterlichen Witterung Ungunst überstehen, und viele gehen ganz einsam durchs Leben; kurz ist ihre Lebenszeit bemessen, gering sind ihre persönlichen Bedürfnisse, sie bauen keine großen Wohnungen, in denen sich Zelle an Zelle drängt, die Behausung vieler Hunderte und Tausende; sie sorgen nicht für Wintervorräte, die ihnen das Leben fristen, wenn Schnee und Eis die erstorbenen Fluren bedecken; ihr ganzes Leben hat nur einen Endzweck: die Erhaltung der Art. Eine passende Wohnung zu bauen, in welcher die dem Ei entschlüpfende winzige Larve Futter vorfindet zum weiteren Wachstum, in welcher sie, soweit es überhaupt möglich, geschützt ist vor äußeren Feinden, das ist der Lebenszweck einer solchen „Solitärbiene“, wie die Wissenschaft diese Gruppe bezeichnet; hat sie diese mütterlichen Pflichten erfüllt, so stirbt sie wie die ungeheure Mehrzahl ihrer Schicksalsschwestern im großen Reich der Insekten. Sie erlebt es nicht mehr, daß die dem Ei entschlüpfte Larve unbeachtet von der Außenwelt heranwächst, daß sie sich zur Puppe verwandelt und bald dann zum geflügelten Insekt; die jungen Larven der Einsambienen wachsen heran, ohne daß sie, wie bei der Honigbiene, ihre Nahrung sorgsam und durch die treue Aufopferung der erwachsenen Genossen zugeteilt erhalten.

Es lohnt sich, auch auf den Lebensgang dieser Solitärbienen einen Blick zu werfen!

Unser Spaziergang hat uns auf eine kleine Anhöhe geführt; zu unseren Füßen liegt der Spiegel des klaren Gebirgsees, und unfern erheben die Berge der bayerischen Alpen ihre Häupter in den Himmel; traumbefangen nehmen wir das stimmungsvolle Bild in uns auf und es dauert eine Weile, bis unser Blick, sonst wohl gewohnt, das kleinste Insekt am Boden zu entdecken, sich wieder der nächsten Umgebung zuwendet. Auf dem kiesbestreuten Fußpfad zu unseren Füßen treiben große, glänzend blauschwarze, bienenartige Tiere ihr Wesen; was haben sie hier zu suchen? Mit Erstaunen bemerken wir, wie sie kurze Zeit im Boden umherwühlen, um sodann mit einem kleinen Steinchen in den kräftigen Kinnladen wieder davon zu fliegen. Schon Plinius war dieses Gebahren bekannt; er hielt die Tiere für Honigbienen, die bei starkem Wind sich mit Steinchen beschweren, um erfolgreicher gegen die Kraft des Sturmes bei ihrem Flug ankämpfen zu können. Heute aber weht kein Lüftchen, heiß brennt die Sonne herab auf die zu unseren Füßen arbeitenden Bienen; sie geben uns leichte Gelegenheit, uns zu überzeugen, daß Plinius sich im Irrtum befindet. Unweit unseres Kiespfades findet sich eine Mauer, die einen geräumigen Garten umgiebt; an ihr sehen wir wiederum unsere Bienen in Thätigkeit. Ununterbrochen fliegen sie an, die eine faßt hier, die andere dort festen Fuß an der Mauer; schauen wir aufmerksamer zu, so sehen wir bald, daß alle in lebhafter Bauthätigkeit begriffen sind. Alle kommen mit Steinchen in den Kinnladen angeflogen; mit Speichel angefeuchtet, wird Steinchen auf Steinchen gefügt, bis eine inwendig geglättete, fingerhutartige Zelle fertiggestellt ist.

Nun ändert sich die Thätigkeit der Baumeisterin; der Kiesweg wird mit der blumigen Wiese vertauscht und statt der Steine als Baumaterial wird nun Stoff zum Futterpollen, der Nahrung der künftigen Larve, zugetragen. Ist hiermit die Zelle genügend gefüllt, so wird oben auf den Futterbrei ein Ei gelegt und möglichst rasch die Zelle geschlossen. Ohne sich Ruhe zu gönnen, beginnt das fleißige Tierchen sofort den Bau einer neuen, an die erste sich anschließenden Zelle. Zuletzt werden alle nebeneinander, teilweise auch übereinander liegende Zellen in der Weise verbunden, daß der ganze Komplex einem halbkugelförmigen, an die Mauer geworfenen und daselbst angetrockneten Erdballen gleicht, der nicht im geringsten ahnen läßt, daß er das mühsame Produkt der Thätigkeit eines Insekts ist. Es ist natürlich, daß derartige Bauten in ihrer wahren Natur leicht verkannt werden; nachdem wir sie einmal kennengelernt haben, sehen wir fast mit Erstaunen, daß die ganze Mauer voll derselben ist.

Unsere Maurerbiene, welche die Wissenschaft mit dem Namen Chalicidoma muraria belegt hat, gehört nicht gerade zu den häufigen Tieren, wo sie aber einmal sich findet, da begegnen wir ihr oder ihren Bauten auch in großer Zahl. Sie wählt für die Anlage ihrer Nester rauhe, nicht geglättete Steine; wir fanden sie somit hie und da an Wegsteinen, häufiger an Leichensteinen der Kirchhöfe, eine besonders reiche Fundquelle aber waren uns häufig Mauern oder Gebäude aus rauh behauenen Steinen ohne Bewurf derselben, eine Bauart, wie sie vielfach die Bahngebäude kleinerer Stationen zeigen. Als der Bahnhofsvorstand einer kleinen fränkischen Station in einer ästhetischen Anwandlung das Gebäude von den „häßlichen Anwürfen“ hatte reinigen lassen, traten sie sofort im nächsten Jahre in großer Zahl wieder auf.

Bald regt sich in der geschlossenen Zelle junges Leben; dem Ei entschlüpft eine winzige junge Larve, die sich mit Behagen über den ihr fürsorglich bereiteten Futtervorrat hermacht und bei dieser reichlichen, guten Nahrung bald zu einer feisten Made heranwächst; nach kaum 2 Monaten hat sie ihre normale Größe erreicht und spinnt sich in eine glasige Hülle ein, um sich dann in die Puppe zu verwandeln; erst im nächsten Frühjahr aber durchbricht die junge Biene mit kräftigem Gebiß und unterstützt von der das Gefüge der Steine lockernden Feuchtigkeit ihr steinernes Gefängnis, um [477]

Freund Sepp.
Zeichnung von W. Leo Arndt.


nun ihrerseits die von der Natur ihr auferlegten Pflichten der Erhaltung der Art zu übernehmen.

Freilich glückt es nicht jeder jungen Larve der Maurerbiene, ihre volle Entwicklung zum fertigen Insekt zu erleben; wer die Ausdehnung des Schmarotzerwesens im Tierreich kennt und z. B. weiß, daß selbst im Wasser lebende Insekten nicht verschont bleiben von den Angriffen des heimtückischen Parasitenvolkes, der wird sich nicht wundern, daß auch die Steinfestung, die unsere Maurerbiene sorglich schützend um ihre junge Brut baut, diese nicht vor Verderben zu wahren imstande ist. Schon während die Mutterbiene eifrig die fertiggestellte Zelle mit Futterbrei füllt, droht das Verderben, und so sehr sie sich sputet, die Zelle, in die sie am Schluß das Ei gelegt, zu schließen, so gelingt es doch dem einen oder anderen Feind, sein Kuckucksei hineinzupraktizieren. Ja, selbst wenn die Larve durch die manchmal mehrere Millimeter dicke Steinhülle nach außen hermetisch abgeschlossen erscheint, verstehen es andere Feinde, mit ihrem Stachel die schützende Wand zu durchbohren und ihr Schmarotzer-Ei anzubringen. Nicht weniger als 16 beträgt die Zahl der Parasiten, die wir aus den Nestern der Maurerbiene gezogen haben, zum Teil sind es Bienen selbst, dann Schlupfwespen und Käfer, und auch die Natur selbst trägt dazu bei, manchen Keim zu zerstören; in vielen Nestern finden mir vertrocknete Larven oder bereits entwickelte Insekten, die augenscheinlich infolge besonderer klimatischer Verhältnisse zu Grunde gegangen sind.

Wir haben lange bei dem Lebensgang der Maurerbiene geweilt; er mag als Prototyp gelten für diese einzelstehenden Hautflügler und ihre Art und Weise, für ihre Nachkommen zu sorgen. Zahlreich sind die Vertreter dieser Sippe, aber jede Art besitzt ihre eigene Ueberlieferung, nach welcher sie der jungen Nachkommenschaft ihr wohnliches Haus bereitet. Die Wahl des Ortes, der der jungen Larve zur Geburtsstätte dienen soll, das beim Bau zur Verwendung kommende Material, die ausführende Technik sind fast stets mehr oder weniger verschieden; immer nur ist das Prinzip gewahrt, die Zelle, die das heranwachsende junge Leben und die Nahrung der Larve enthält, möglichst vor äußeren Gefahren zu sichern.

Unsere Maurer- oder Mörtelbiene unterscheidet sich von ihren in der Lebensweise ihr nahe stehenden Verwandten wesentlich dadurch, daß sie ihr Nest, wenn dieser Ausdruck für den von ihr angefertigten Zellenbau erlaubt ist, stolz ganz frei an eine Wand befestigt, allen sichtbar, die zu sehen verstehen und doch sind die Inwohner der Zellen geschützt durch die Festigkeit und Härte des zum Bau verwendeten Materials, welches Hammer und Meißel zum Loslösen des Nestes erfordert. Wohl bauen auch andere Bienen, z. B. Vertreter der Gattung Osmia, freie Zellen, allein mit Vorliebe wählen sie Winkel und Klüfte des Gesteins, die durch die Zellen ausgefüllt werden, ohne daß diese selbst zu sehr der Entdeckung und dem Einfluß äußerer Witterung ausgesetzt sind.

Die Mehrzahl dieser Einzelbienen aber sucht sich ein stilles verborgenes Plätzchen zum Bau der Zelle, welcher sie ihr Ei anvertraut. Wenig wählerisch sind in der Wahl dieses Ortes wiederum Vertreter der artenreichen Gattung Osmia; das Material, welches diese Bienen zur Herstellung ihrer Zellen verwenden, ist Lehm, und so [478] ist ihnen der deutsche Name Mauerbiene zugekommen, eine Quelle häufiger Verwechslungen mit der Maurer- oder Mörtelbiene. Ihre Tendenz ist, ihre Zelle in einem Hohlraum von dem ungefähren Durchmesser der Zelle unterzubringen, doch ist sie wenig geneigt, sich selbst solche Lokalitäten zu schaffen. So dienen ihr alte Bohrlöcher von Insekten, Löcher in Wänden, vor allem auch hohle Pflanzenstengel als eine willkommene Nistgelegenheit. In hohlen Stengeln wird Zelle auf Zelle gesetzt, die Zwischenwände derselben sind aus Lehm hergestellte; daß unsere Osmia-Arten in ihrem Suchen nach passender Wohnung für Anlage ihrer Brutzelle oft eine merkwürdige Wahl treffen, haben wir schon eingangs erwähnt, denn die Künstlerin, welche die Fensterröhren zubaute, erwies sich ebenfalls als eine Mauerbiene, und vor uns liegt eine Fadenrolle, deren mittlerer Gang an beiden Enden verschlossen ist und welche, wie sich beim Durchsägen ergab, drei Osmia-Zellen enthält. Friese, der treffliche Kenner der Lebensweise unserer Solitärbienen, führt noch eine weitere Reihe ergötzlicher Beispiele dafür an, welche merkwürdige und oft recht ungeschickte Wahl die Osmia-Arten in ihrer Bauthätigkeit hier und da treffen. Einmal war es eine in einem Gartenhaus liegen gebliebene Flöte, die sich vortrefflich zur Anbringung von 14 Brutzellen eignete, ein anderes Mal diente ein Taschenuhrgehäuse zur Aufnahme von etwa 12 Zellen, die in zwei Kreisen angeordnet waren; eine gewisse Anziehungskraft scheinen auch Schlüssellöcher auf die baulustige Biene auszuüben, und der Gast eines Wirtshauses im Schwarzathal, der sich beschwerte, daß während seiner Abwesenheit das Schlüsselloch seines Schreibtisches „mit Lehm verklebt“ worden sei, war im Unrecht, den Wirt für die Thätigkeit einer Mauerbiene verantwortlich machen zu wollen.

Mit fast sicherer Aussicht auf Erfolg suchen wir nach den Nestern der Osmia-Arten an Lehmwänden; die Mauerbiene teilt diese Vorliebe mit vielen anderen Verwandten und wir wissen manchen Platz, der uns eine reiche Ausbeute an solitären Blumenwespen und ihren zahlreichen Schmarotzern bietet.

Kopfschüttelnd beobachten die Spaziergänger, die der prächtige Tag zahlreich ins Freie gelockt hat, die Männer, die die hohe, steil ansteigende Lehmwand erklettern und hier ein ihnen völlig unverständliches Treiben entfalten; der eine schlägt mit dem Netz nach Insekten, die in der Luft herumfliegen, der andere bohrt in der Lehmwand herum, um dann eine Flasche herauszuziehen und mit ängstlicher Sorgfalt die augenscheinlich glücklich gewonnene Beute darin verschwinden zu lassen; es muß etwas Besonderes sein, dessen Fang ihm geglückt ist, denn mit lautem Zuruf macht er den Genossen darauf aufmerksam und bemüht sich, auf seinem steilen Standpunkt so weit sicheren Fuß zu fassen, daß er einige Bemerkungen in ein Notizbuch eintragen kann.

Dicht zu unseren Füßen, nur durch die Straße von dem Fuß der Wand getrennt, fließt munteren Laufes der Fluß dahin, über blühendes, grünendes Feld schweift der Blick zu den nahen rebentragenden, waldgekrönten Bergen, allein wir haben keine Zeit und jetzt auch fast kein Interesse, die im Glanz des Frühsommers vor uns liegende Landschaft zu bewundern, und wenden uns lieber der Beobachtung und Ausbeutung der zahlreichen Bienenbauten zu. Die Mauer scheint ein Lieblingsplatz der verschiedenartigsten Bienen zu sein; dicht drängen sich an vielen Stellen die Oeffnungen der Zellen, so daß es aussieht, als ob ein Kleingewehrfeuer auf die Lehmwand gerichtet worden wäre. Eines aber fällt uns vor allem auf; vor einer große Anzahl von Nistlöchern der Bienen sehen wir eine aus Lehm hergestellte Röhre bogenförmig nach unten gerichtet; ganz Aehnliches kennen wir von der Mauerlehmwespe, die den Eingang zu ihrem Nest ebenfalls mit einem solchen Rohr versorgt; in diesem Fall jedoch handelt es sich um die Mauer-Pelzbiene, Anthophora parietina. Die Röhre ist aus Lehmteilchen zusammengebaut, hauptsächlich gegen das Ende zu sehr locker, so daß häufig die Größe der Zwischenräume der Größe des verwendeten Materials gleichkommt. Ein unvorsichtiger Druck mit dem Finger und die Röhre ist zerbrochen, ein paar tüchtige Gewitterregen und von der überwiegenden Mehrzahl aller Nester ist die Schutzröhre hinweggewaschen. Was demnach der Zweck dieses gebrechlichen Objektes ist, ist schwer zu sagen. Die Mehrzahl der Biologen scheint sich zu der Ansicht zu neigen, daß die Biene die beim Ausgraben des Nistganges gewonnenen Erdteilchen nicht direkt wegwerfen mag, sondern als „schätzbares Material“ aufstapelt, denn sowie alle Zellen versorgt sind, wird der Eingang zugeschmiert und die ganze Brutanlage hierdurch unsichtbar gemacht. Allzuviel Wahrscheinlichkeit scheint uns diese Erklärung nicht für sich zu haben, denn der Vorteil, das Material, welches ja überall zu haben ist, durch diesen Bau in nächster Nähe bei der Hand zu halten, wird durch die Mühe des Baues kaum aufgewogen; doch wollen wir gleich gestehen, daß wir allerdings keine bessere Hypothese an die Stelle zu setzen wissen.

Giebt uns diese Art der Pelzbiene durch den Röhrenbau die Lösung eines Problemes auf, so bewundern wir bei einer anderen Art der gleichen Gattung, Anthophora personata, die Anlage der Zellen. Während die überwiegende Mehrzahl der in Lehmwänden bauenden Blumenwespen einfach eine an ihrem Ende sich etwa noch gabelnde Röhre in der Wand aushöhlt und diese durch Querwände in mehrere Zellen teilt, treibt die letzterwähnte Art der Pelzbiene zunächst eine wagerechte Röhre in die Wand und die Zellen werden rechts und links von diesem Hauptgang angelegt; die ausschlüpfenden Bienen gelangen also von ihren Zellen in den Hauptgang und von diesem aus ins Freie, ohne daß, wie dies sonst fast stets bei den Bauten dieser Blumenwespen der Fall ist, die eine Biene beim Verlassen ihrer Zelle ihren Weg durch die Geburtszellen ihrer Schwestern nimmt und diese oft in ihrer Entwicklung hierdurch stört. Friese hebt richtig hervor, wie diese scheinbar so geringfügige Aenderung in der Bauart des Nestes bei der Anthophora personata thatsächlich einen ganz wesentlichen Fortschritt bedeutet.

Viel wäre noch zu sagen von der Kunst und den speziellen Liebhabereien dieser Architekten, die für die Wahl ihrer Wohnungen Erde, Lehm und Gestein bevorzugen; bauen die einen ihre Lehmzellen in hohle Pflanzenstengel u. dergl., bevorzugen die anderen künstliche und natürliche Lehmwände, um in ihnen ihre Gänge und Zellen anzulegen, so begegnen wir weiteren Arten auf unserem Spaziergang, der uns über harten, lehmigen, festgetretenen Boden führt. In großer Zahl oft umschwärmen uns Bienen, und ohne langes Suchen entdecken wir in dem harten Boden eine reiche Anzahl von Löchern; sie führen zu den Brutzellen all der Arten, die sich hier tummeln. Hier finden sich die Schmalbiene, die Hornbiene und die Sandbiene, und mit und neben ihnen fliegen Wespen, die in gleicher Weise ihre Zellen dem Boden anvertrauen.

Ein großer Teil der Solitärbienen jedoch sucht sich das Material zu seinen Zellenbauten im Pflanzenreich. Wiederum giebt uns hier die Gattung Osmia die nächstliegenden Beispiele. Für diejenigen Arten, die ihre Zellen in Pflanzenstengeln anbringen, ist es natürlich das Einfachste, durch Abnagen und Verkauen der Pflanzenmasse selbst sich das Material zur Herstellung der Zellzwischenwände zu beschaffen, wie dies die stattliche Holzbiene thut. Durch ihre Größe, wie durch ihre dunkle Färbung fällt sie unter allen deutschen Bienen sofort auf; der Hinterleib ist schwarz, die Flügel sind dunkelblau schillernd und sie erinnert durch diese Färbung an die weiblichen Maurerbienen, die ebenfalls ein düsteres Gewand tragen, während die Männchen sich in lichteres Gelbrot kleiden. Zur Anlage ihrer Brutzellen, eine Thätigkeit, welche bereits Réaumurs Interesse erweckte, wählt die Holzbiene älteres Holz, morsche Bäume, altes Lattenwerk u. dergl.; sind etwa schon Löcher vorhanden, die dem prüfenden Blick der suchenden Biene verwendbar erscheinen — um so besser; wenn nicht, so macht sich das eifrige Tier ungesäumt an seine Zimmermannsarbeit; den kräftigen Kinnladen, die als Meißel und Zange wirken, vermag das morsche Holz nicht zu wiederstehen, und bald ist ein bis 30 cm langer Gang von 1½—2 cm Durchmesser gebohrt. Nun beginnt, wie bei allen in dieser Weise bauenden Bienen, die zweite Hälfte der Thätigkeit. Es wird die Nahrung der künftigen Larve, der Futterbrei, eingetragen und oben drauf ein Ei gelegt; in einiger Entfernung oberhalb der Futterballen wird aus Sägespänen eine Querwand hergestellt und die erste Zelle ist fertig; der Deckel der ersten dient der zweiten zugleich als Boden, und ist die Witterung günstig, so baut die fleißige Biene bis zu einem Dutzend solcher Zellen, in welchen in stiller Abgeschiedenheit ihre Nachkommenschaft heranwächst.

Wie erwähnt, hat schon Réaumur den Nestbau der Holzbiene beobachtet und dieselbe ist dadurch besonders bekannt geworden; eine Reihe ihrer Verwandten jedoch, die ebenfalls Pflanzenmaterial zum Bau der Brutzelle verwenden, sorgt in höherem Maße für wohnliche und bequeme Ausstattung der Zellen. Da ist z. B. die Wollbiene, mit der wissenschaftlichen Bezeichnung Anthidium geheißen; sie hat ihren deutschen Namen von der Gewohnheit, ihre Zellen aus abgeschabter Pflanzenwolle zu bauen; nach Frieses Untersuchungen sind es besonders Stachys- und Salviaarten, von deren Blättern das Tierchen die Wolle abschabt, um daraus in einer [479] passenden Röhre ihre Zellen zu verfertigen. Ganz eigenartig verfährt ferner die Blattschneiderbiene bei Verfertigung ihrer Zellen; auch sie sucht sich eine passende röhrenartige Höhlung in einem Baum oder sonst in Holzwerk, um ihr Nest unterzubringen; zur Herstellung der Zellen aber nimmt sie Blattstücke von bestimmter Größe und Form.

Mit stillem Ingrimm steht im Frühsommer mancher Rosenfreund vor seinen hochstämmigen Lieblingen und sieht, wie aus der Mehrzahl der Blätter Stücke derselben fehlen. Daß es sich nicht um den Fraß von Insektenlarven handelt, beweist der erste Anblick, denn mit mathematischer Genauigkeit sind vom Rande des Blattes her Stücke bestimmter Größe herausgeschnitten und die Schnittlinie ist scharf und genau wie mit einer Schere geführt. Die fehlenden Blattstücke sind, wie die Blätter zeigen, von zweierlei Größe, entweder rund im Durchmesser von etlichen Millimetern oder oval und ziemlich doppelt so groß wie die runden Stücke. Wer mag der Uebelthäter sein? Mit Unrecht geraten die Kinder der Nachbarschaft in Verdacht, von deren unnützen Streichen unser Rosenfreund allerdings manches zu erzählen weiß; diesmal ist es ein anderer Uebelthäter. Lassen wir es uns nicht verdrießen, einige Zeit geduldig zu warten, so können wir ihn leicht auf frischer That ertappen; summend kommt eine stattliche Biene angeflogen und nimmt ohne langes Besinnen rittlings auf einem Rosenblatte Platz. Stehen wir nahe genug, so können wir leicht ihr Beginnen beobachten. Mit scharfen Kiefern schneidet sie aus dem Blatt ein Stück heraus, es hierbei zugleich zwischen den Beinen aufrollend; bald ist sie zu Ende, und das aufgerollte Blattstück zwischen den Beinen festhaltend, fliegt sie eiligst davon. Wir treten nun näher hinzu und finden ein genau kreisförmiges Stück herausgeschnitten. Kaum haben wir unsere Beobachtungen ausgetauscht über die Gewandtheit und Genauigkeit, mit welcher das Insekt es fertig bringt, scharf kreisförmig ihre Schnittlinie zu führen, so summt es schon wieder leise in unser Ohr; unsere kleine Künstlerin ist wieder erschienen. Der Rosenstrauch hat entschieden ihre Anerkennung gefunden; kaum sind wir zurückgetreten, so nimmt sie auf dem gleichen Blatt wie vorher Platz und mit gleicher Gewandtheit schneidet sie wieder ein Stück heraus, um, dasselbe zwischen den Beinen haltend, abermals eiligst zu verschwinden; dieses Mal ist es ein ovales Stück, welches sich die Biene geholt hat. In rascher Aufeinanderfolge wiederholt sich dasselbe Schauspiel mehrmals, und indem wir die Richtung verfolgen, welche die Biene bei ihrem Wegflug stets einhält, gelingt es uns am Ende auch, zu entdecken, wohin sie die abgeschnittenen Blattstückchen trägt und was sie mit denselben anfängt.

In einem alten Baumstamm, in einem wohl von einer Käferlarve ausgehöhlten Gang, hat sie für die junge Brut die Kinderstube eingerichtet; an die Wand der Röhre werden die ovalen Blattstückchen angelegt, durch ihre eigene Federkraft schmiegen sich die zusammengerollt gewesenen Stückchen eng an die Wand der Röhre an, drei bis vier Stück genügen, um die Wandung auszukleiden, auf die erste Lage wird eine zweite und dritte in der Weise gelegt, daß die Fugen der einen Lage immer durch die andere gedeckt werden, und endlich ist eine fingerhutartige Zelle fertig gestellt; in gewohnter Weise wird sie mit Futterbrei und Ei gefüllt, um sodann mit einem kreisrunden Blattstück als Deckel verschlossen zu werden, welches zugleich wieder als Boden für die folgende Zelle dient. 6–8 Zellen werden in dieser Weise aufeinander getürmt. Mit Vorliebe wählt diese gewandte Baumeisterin Rosenblätter als Baumaterial; Schenck giebt ferner Roßkastanien, Ulmen, Birn- und Apfelbäume als weitere Bezugsquellen an; auch andere Pflanzen können heimgesucht werden. In einem Garten beobachteten wir beispielsweise, wie fast sämtliche Fuchsien von der Blattschneiderin in dieser Weise verunstaltet waren. Stets aber bleibt die eine Biene bei dem gleichen einmal von ihr gewählten Material, so daß die ganze Zellenreihe aus den Blättern der gleichen Pflanze hergestellt ist.

Die Blattschneiderin erscheint neben der Maurer- oder Mörtelbiene, mit welcher wir unsere Skizze begonnen haben, als die kunstfertigste der Einzelbienen; bei allen aber finden wir die gleiche Tendenz: in bester Weise für die Erhaltung der Art, für ihre Nachkommenschaft zu sorgen. Alle diese Blumenwespen sind noch nicht zu der Höhe der Staatenbildung gelangt; nicht minder sorgsam und eifrig aber erfüllen auch sie ihre von der großen Mutter Natur ihnen auferlegten Pflichten, und die Kunstfertigkeit, die sie hierbei entwickeln, sichert ihnen nicht geringere aufmerksame Beobachtung des Naturfreundes, als wie ihren in der kulturellen Entwicklung höher stehenden Schwestern zu teil wird.


Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

 (14. Fortsetzung.)


Oben in dem Hotelzimmer wirft Ditscha den Mantel ab, und als der Kellner verschwunden ist, nachdem er die beiden herkömmlichen Kerzen auf der Spiegelkonsole angezündet hat, ruft sie, die Hände nach dem Bruder ausstreckend: „Joachim, komm mit mir nach Beetzen, heute nacht noch — ich bitte Dich!“

Es ist eine solche jammernde Angst in diesem Aufschrei, daß er sie in die Arme schließt und sie zu beruhigen versucht.

„Ditscha, was ist denn? Um Gotteswillen, Du bebst ja!“

„Du darfst sie nicht wiedersehen,“ ruft sie, und ihre farblosen Lippen zittern — „komm mit mir!“

Er führt sie zum Sofa, schenkt ihr ein Glas Wasser ein und sagt dann: „Du weißt, Ditscha, wieviel ich stets auf Deinen Rat gegeben habe, aber Du mußt mir diesmal wenigstens erklären, warum ich ihn ohne weiteres befolgen soll.“

„Sie ist keine Frau für Dich!“ stößt sie hervor.

„Warum?“

„Die Familie — die Mutter — Joachim, es ist unmöglich, Du kannst uns das nicht anthun — Deinen alten Namen nicht dazu hergeben wollen!“

„Können wir denn nicht ruhig darüber sprechen?“

„Nein — nein — darüber ist nicht zu sprechen!“ ruft sie außer sich. „Onkel wird Dir fluchen, statt Dich segnen — glaube mir!“

„Kennst Du diese Frau denn?“ fragt er plötzlich, sie verwundert ansehend.

„Ja!“

„Woher, Ditscha?“

Sie wird jetzt erdfahl und tastet nach einen Sessel. „Sie ist — sie stammt aus Beetzen, ist die Tochter von unserem ehemaligen Gärtner Busch —“

„Ach, Du hast Dich versehen!“ Er lacht herzlich auf. „Ditscha, Du — Du liebe Thörin, Du!“

„Sie ist es,“ sagt die Schwester, „wir haben uns beide erkannt. Sie ging damals mit ihrem Mann und dem Kinde nach Amerika — mit der Tochter hast Du gespielt, Joachim, als kleiner Jung’ — erinnere Dich — sie nähte in unserem Hause, die Mutter.“

Er schüttelt den Kopf, kann sich nicht besinnen. „Heißt sie denn Perth?“ fragt er, noch immer der Ansicht, daß Ditscha sich täuscht.

„Nein, wie sie zu dem Namen gekommen ist, weiß ich nicht.“

Jetzt stutzt er, Ellen Perth hat ihm erzählt, Mister Perth sei ihr Stiefvater. Er ist in einen Sessel gesunken und starrt vor sich hin und auf einmal liegt Ditscha vor ihm auf den Knieen.

„Mein lieber Jung’,“ bittet sie, und die Thränen rinnen ihr über die Wangen, „mein Leben würde ich hingeben, könnt’ ich Dich glücklich machen, aber vor der Nothwendigkeit, dieses Mädchen vergessen zu müssen, kann ich Dich nicht bewahren, so schmerzlich es Dir sein mag. Ich würde Onkel flehentlich bitten, ihre Herkunft zu vergessen, aber es ist ja nicht nur das — — Ich kann es Dir nicht sagen, frage mich nicht — der Onkel hat einst dieses Weib mit Schlägen aus seinem Hause getrieben.“

„Ditscha, steh’ auf,“ sagt er leise, „es bedarf keiner Worte mehr — ich — ich komme mit Dir.“

Er ist sehr ruhig und sehr bleich und beginnt, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie hat ihn noch nie so gesehen, so zerschlagen, so vernichtet, aber sie kennt ja die Schmerzen, die er durchmacht, und die sie nicht zu lindern vermag.

„Jochen, mein alter Herzensjunge!“ flüstert sie.

Er nickt nur und geht weiter. Endlich bleibt er vor ihr stehen. „Mama muß ich doch wohl Adieu sagen und meinen Koffer packen. — Wann geht denn ein Zug?“

„Um ein Uhr, Joachim.“

„Es ist zehn Uhr vorbei jetzt.“

Ein Weilchen geht er wieder auf und ab, dann sagt er: [480] „Ich werde es rasch abmachen, das ist das Beste. Mama ist heute abend nicht daheim; ich schreibe ein Billet an sie, packe ein paar Sachen ein und bin zur Zeit wieder hier. – Es ist das Richtigste, sie erfahren gar nicht, daß Du hier gewesen bist, Ditscha.“

„Hattest Du eigentlich etwas vor, heute abend, Joachim?“ fragt sie.

Er sieht sie groß an. „Ja,“ sagt er dann kurz, „ich glaube – ich wollte mich verloben – weiter nichts.“

„Mein Gott!“ stottert sie.

„Ich war bei ihnen eingeladen heute, zum erstenmal.“

„Bei den Perths?“

„Ja!“ –

„Ums Himmelswillen – Du willst doch nicht hin, Joachim?“

Er antwortet nicht, er sucht nach seinem Ueberzieher und Stock. „Ein Feigling bin ich nicht, Ditscha,“ sagt er dann, „und sehen will ich sie noch einmal. Leb’ wohl indes!“

Ditscha ist es, als müsse sie ihn mit Gewalt festhalten, aber sie steht da inmitten des Zimmers, die Arme schlaff herunter hängend, und betrachtet die Thür, hinter der er verschwunden ist, als könne sie von dieser einen Rat ablesen. Jetzt erst, wo sie allein ist, überkommt sie das Schreckliche dieser Begegnung, und alle alten Erinnerungen sind aufgewühlt.

Ein Kellner erscheint und bringt ein kleines Souper – der Herr habe es bestellt. Sie flüchtet ins Nebenzimmer, setzt sich auf das Bett und windet die Hände ineinander. Wenn er doch erst zurück wäre, wenn er erst neben ihr säße! Als das Geklapper der Teller und Tassen verstummt ist, kehrt sie zurück, packt ihre Sachen ein und wartet; an Essen denkt sie nicht. Endlich Schritte draußen, ein kurzes Klopfen und dann tritt er ein.

Sie starrt ihn befremdet an, er sieht so schrecklich verändert aus, wie verfallen; sein Gesicht erinnert sie an das Kindergesicht, das er in schweren Krankheitsfällen hatte. So verständnislos die Augen, die sich in die ihren förmlich hineinbohren, wie angstvoll fragend, als habe er seine Schwester noch nie gesehen.

„Du mußt allein reisen,“ sagt er, und ehe sie noch reden kann, fährt er fort, „ich komme morgen oder übermorgen nach – ich habe hier noch – ich kann heute nicht gleich fort – –“

Er setzt sich im Ueberzieher an den Tisch und nimmt die Serviette vom Teller. „Willst Du nicht etwas essen, Ditscha?“

„Nein! Sage mir, weshalb Du hier bleibst.“

„Aber wirklich – um nichts! Um Mama noch ’mal zu sehen.“

„Du belügst mich.“

„Ich habe wirklich nur noch mit Mama zu reden, habe außerdem Kopfweh, die Nachtfahrt ist mir unangenehm.“

Sie setzt sich ins Sofa. „Soll ich warten, bis Du mitkommst?“

„Nein!“ antwortet er kurz. Er gießt ihr Wein ein und reicht ihr die Schüsseln. Dabei immer wieder dieser eigentümliche Blick. Auf einmal setzt er sich neben sie auf das Sofa, faßt sie um und sagt: „Ach, Ditscha, Ditscha –“

„Was denn, mein alter Junge?“

„Nichts!“

„Hast Du Abschied genommen?“

„Ja, ja, frage mich nicht.“

„Aber weh thut es, sehr weh!“ flüstert sie und streichelt sein Haar.

„Weißt Du das auch?“ fragt er laut.

Sie sieht befremdet auf ihn hinunter. „Ja, Achim, ich weiß es auch! Aber man lernt ruhiger werden, Herz.“

„Recht rasch manchmal,“ sagt er halblaut.

„Ja, Ihr Männer!“ bemerkt sie ebenso, sich zum Lächeln zwingend.

„Du warst doch immer sehr gut zu mir, Ditscha,“ beginnt er dann ganz unvermittelt, „ich muß es Dir heut’ abend noch einmal wiederholen; Du bist nun wieder hergekommen um meinetwegen, hast mich vor Unglück bewahrt, und doch – –“

„Siehst Du das letztere schon ein?“ fragt sie aufatmend.

Er zögert ein Weilchen. „Man muß wohl!“ murmelt er. „Aber nun komm, es ist Zeit!“

„Welch ein Unsinn, daß Du mich zu dieser nächtlichen Reise zwingst,“ schilt sie.

„Ach, es ist viel besser so, Ditscha, ich möchte nicht, daß Mama von der Geschichte erfährt.“

Er hüllt sie in den Reisemantel und führt sie auf den Bahnhof zurück, so sorgsam, wie er sie hergeführt. Und jetzt redet er von allem möglichen, von Sachen, die sie gar nicht interessieren. Morgen sei Rennen, er wolle vielleicht auch hinaus; jedenfalls bis spätestens übermorgen abend werde er auf Beetzen sein. – Grüß Onkel und die Alte! – Wie fandest Du eigentlich die Vorstellung heute abend? Famos – nicht wahr? Wir wollen doch im Winter öfter einmal ein paar Wochen in eine Großstadt gehen, Ditscha.“

Sie schreitet neben ihm in der Halle auf und ab, deren Gasflammen im feuchten Regenwind zittern; es ist empfindlich kühl und ihr ist zum Weinen schwer zu Mut. Endlich kommt der Zug. Ditscha steigt ein und beugt sich aus dem Fenster, die Hand erfassend, die sich ihr entgegenstreckt.

„Joachim, komm bald!“ sagt sie mit schwankender Stimme.

„Ich hoffe so, Ditscha!“ Er sieht sie wieder an, so groß, so fragend, dann fliegt sein altes, liebenswürdiges Lächeln über das blasse Gesicht. „Danke Dir, Ditscha, tausend Dank!“

Er geht noch neben dem Zuge hin, seine Hand in der ihren, bis ein Beamter ihm zuruft, er solle zurücktreten. Dann erst bleibt er stehen, den Hut in der Hand, und sieht ihr nach, auch jetzt noch lächelnd. Sobald der Zug nicht mehr zu sehen ist, setzt er den Hut mit einer hastigen Gebärde auf, das Lächeln ist verschwunden und er geht mit raschen Schritten vom Bahnhof fort durch die Straßen, ziellos, planlos. – Die letzten Stunden sind ihm vergangen, als ob er wüst und schwer geträumt habe, und als komme nun allmählich das Bewußtsein wieder, aber noch unter dem Banne des Traumes.

Wie war es doch?

Ditscha ist hier gewesen, hat in der Oper Ellen gesehen und hat behauptet, die Mutter zu kennen, eine frühere Untergebene der Kronens, die von Onkel Jochen mit Schlägen aus dem Hause gejagt wurde. Ehrlich gestanden, er hat an Ditschas Behauptung gezweifelt, so bestimmt sie auch gemacht wurde, und so unbedingt er ihr sonst glaubt … Da hat er sich denn auf eine Stunde von ihr beurlaubt und ist zu Perths gegangen; er will Gewißheit haben.

Was da geschehen, ist ihm nicht voll gegenwärtig, und doch so klar, so unbarmherzig klar.

Offenbar war die Familie noch nicht lange aus dem Theater zurück. Er hatte ein Weilchen allein im Salon zu warten, der mit einigen rotverschleierten Lampen erleuchtet ist und dessen Hauptdekoration das riesige seidene Sternenbanner ausmacht, das über einem Oelbild arrangiert wurde, einer Ansicht von New York mit der Statue der Freiheit. Sonst ist es die herkömmliche Einrichtung eines amerikanischen Salons in Dresden, mit geliehenen Möbeln, Vorhängen und Teppichen, wenig geschmackvoll und keine Spur von Individualität, wenn man nicht die üppigen Blumenarrangements dafür nehmen will, die Miß Ellen so liebt.

Sie tritt nach einigen Minuten ein, noch in der weißen Seidenrobe, die sie im Theater getragen hat, und gleicht in dem Purpurlicht einer lebenden Marmorstatue. Sie kommt ihm etwas befangener entgegen als sonst, bietet ihm aber mit aller Herzlichkeit die Hand.

„Wie nett von Ihnen,“ sagt sie freundlich, „daß Sie trotz der Ritterpflichten gegen Ihre Schwester noch zu uns kommen.“

„Sie wissen, daß die Dame – meine Schwester ist?“ fragt er mit einem Anflug von Erstaunen und Mißtrauen.

„Ich vermutete es – Sie erzählten mir ja oft von ihr. Wollen Sie nicht Platz nehmen?“

Er setzt sich ihr gegenüber. „Ich danke, Miß Ellen, ich bin nur gekommen, um Ihnen Lebewohl! zu sagen, denn ich gehe noch in dieser Nacht mit meiner Schwester nach Beetzen zurück, unser alter Onkel wünscht meine Gegenwart.“

Ueber das schöne Antlitz des jungen Mädchens fliegt einen Augenblick lang eine Purpurglut, ein tiefes Erschrecken zeigt sich in ihren Augen, nur eine Sekunde lang, dann sagt sie spöttisch:

„Heimgeholt? Man ist wohl besorgt um den kleinen Bruder?“

Er antwortet nicht.

„Wie pietät- und rücksichtsvoll doch die Deutschen sind,“ fährt sie fort, „fast zu sehr, denn es kann ja niemand hier sein eignes Leben voll ausleben vor lauter Rücksichten auf seine lieben Angehörigen.“ Sie hat eine feine Falte zwischen den Brauen und zerpflückt mit den weißen Zähnchen die Maiglöckchen, die sie noch in der Hand hält.

Sie ist furchtbar enttäuscht, sie ist so erregt. Ihre Mutter war in einem wahren Anfall von Tobsucht zu Hause angelangt. Was geschehen – sie weiß es nicht, sie fragt auch nicht danach, sie ist so völlig Amerikanerin, daß sie das, was ihre Mutter aufregt, äußerlich nicht beunruhigt. Aber soviel Deutsche ist sie doch, daß sie sich ganz rechtschaffen sentimental in den hübschen Jungen verliebt hat, daß sie sehr unglücklich sein wird, nicht mit ihm

[481]

Photographie im Verlag der Photographischen Union in München.
Vorsichtiges Spiel.
Gemälde von E. J. Botts.

[482] auf seinem weltfernen Edelsitz leben zu sollen, daß sie meint sterben zu müssen, wenn er sie verläßt.

Ein paar Thränen funkeln plötzlich in ihren Augen; er sieht sie nicht, er starrt an ihr vorüber auf das Sternenbanner.

„Und eigentlich,“ fährt sie leise und mit weicher Betonung fort, da er schweigt, „ist es doch hübsch in diesem Lande, wo man mit jedem Atemzuge Vergangenheit, glorreiche Vergangenheit einzieht. Die ganze Atmosphäre ist eine so süße, träumerische, selbst unsere alte deutsche Erzieherin in New York mutete mich so an. Denken Sie, Baron, sie hatte eine Porzellanvase auf ihrer Kommode stehen, darin waren getrocknete Blumen. Wenn ich sie darum bat, lüftete sie den Deckel und dann zog ein wunderbarer Duft daraus hervor, ein bißchen verwelkte Rosen und Lavendel, ein bißchen Staub, ein bißchen Moder, aber so geheimnisvoll, so feierlich war das, und sie sagte dann mit ernstem Gesicht: ‚Atmen Sie, Miß Ellen, das ist deutsche Luft!‘ – –

Ach, ich möchte gern in diesem Lande bleiben und ich weiß, auch Mama wünscht es, aber – es müssen dann auch die Leute um mich sein, die ich gern habe.“ Mehr kann sie nicht thun, um ihn festzuhalten, und er schweigt noch immer.

„Wann kommen Sie zurück, Baron?“ fragt sie jetzt halb erstickt.

Er richtet die Blicke auf das reizende Geschöpf und sucht nach einer Antwort. Er sucht noch immer, als das Rauschen eines Kleides und der keuchende Atem Mistreß Perth ankündigt; hinter ihr erscheint der Hausherr.

„Baron Kronen will sich verabschieden, Mama,“ sagt das junge Mädchen traurig, die nichts von allem ahnt.

Jochen ist aufgesprungen, Mistreß Perth lacht, ein nervöses, gereiztes Lachen, Mister Perth läßt sich in einen Schaukelstuhl fallen.

„Wann kommen Sie zurück?“ wiederholt Ellen, und ihre Augen glänzen ihn an, als funkelten sie in Thränen, „wir sind noch nicht auf gleich mit unserer Lawntennis-Partie.“

„Du mußt fragen: ‚wann erlaubt Ihnen das gnädige Fräulein Schwester die Rückkehr, Herr von Kronen?‘“ belehrt Mistreß Perth und lacht wieder.

„Was wissen Sie von meiner Schwester, Madame?“ erkundigt er sich in gereiztem Tone.

„Viel!“ sagt sie boshaft. „O, sehr viel!“

Er hat plötzlich sein hochmütigstes Gesicht aufgesetzt, nimmt seinen Hut vom Stuhl und verbeugt sich. „Es wird Zeit, daß ich Sie verlasse – ich habe die Ehre, den Damen einen guten Abend zu wünschen, Mister Perth, leben Sie wohl!“

Grete Busch steht noch in derselben kampfbereiten Haltung. Sie weiß, den Freier hat sie verscherzt für ihre Ellen, den, den sie der Tochter am liebsten gegönnt in ihrem dummen Hochmut, in ihrem Streben, Ditscha zu demütigen. Nach ihrer Meinung ist diese verhaßte Schwester vierundzwanzig Stunden zu früh gekommen – wäre die Verlobung perfekt gewesen, sie hätte auch fortbestehen sollen, dafür würde sie als Mutter gesorgt haben.

„Viel!“ betont sie jetzt nochmals laut und schrill, genug, um begreiflich zu machen, daß sie vollberechtigt ist, so stolz zu sein, wie sie sich gebärdet.

„Wiederholen Sie mir das noch einmal!“ fordert Joachim von Kronen sehr ruhig, „ich verstehe nicht recht.“

Grete Busch hat bereits die Herrschaft über sich verloren vor den drohenden Augen, die ihr aus dem leichenblaßen Gesicht des jungen Mannes entgegen blitzen.

„Sie ziehen vor, zu schweigen,“ sagt er, „aber sicher wird Mister Perth eine Aufklärung geben können, nicht wahr, Mister Perth?“

Mister Perth hält mit Schaukeln inne und blickt von der Zeitung auf. „Aber dear child!“ ruft er vorwurfsvoll, „was redest Du da! – Herr Baron, Mistreß Perth ist etwas sehr erregt heute, achten Sie nicht auf ihre Worte –“

„Sie, mein Herr, sind verantwortlich für das, was in Ihrem Hause geredet wird,“ beharrt der junge Mann. „Ich wende mich an Sie – was will Madame mit der eigentümlichen Redensart sagen?“

„Sie haben sich ganz an die richtige Stelle gewendet,“ schreit jetzt die erboste Frau, „ganz an die richtige Stelle! Kein Mensch kann Ihnen genauer Bescheid geben über die fragliche Dame als mein Mann.“

„Aber, Gretchen,“ ruft er heftig – „ich bitte Sie, Herr Baron – Kindergeschichten – Jugendthorheiten – –“ Er hat sich von seinem bequemen Stuhl erhoben und steht vor Achim von Kronen. „Nichts von Bedeutung, Herr Baron; die Damen urteilen so streng in gewissen Dingen, eh –“

„Weiter!“ sagt der junge Mann befehlend.

„Wenn Sie darauf bestehen – aber ich weiß nicht –“

„Ich bestehe darauf, ja!“

„Nun – ich hatte vor Jahren die Ehre, der Verlobte Ihres Fräulein Schwester zu sein – das ist alles.“

„Ellen, geh’ hinaus!“ ruft Madame. – Ellen ist bereits gegangen. – „Es ist nicht alles,“ fügt sie dann hinzu, und nun sagt sie etwas, sagt es mit dürren, kurzen, höhnischen Worten, daß der junge Mann zurücktaumelt und nach einer Stütze greift.

Wie Hilfe suchend, irrt sein Auge zu dem Mann hinüber, aber dieser zuckt die Schultern und macht eine bestätigende Gebärde, als wollte er sagen: „Sie haben es hören wollen, mein Herr!“

In Joachims Ohr klingt nur noch das eine Wort: „Davongelaufen.“ – „Sie sind ein Lügner, mein Herr!“ schreit er, „ein gemeiner Lügner!“

„Nun, er ist mein zweiter, lieber Mann geworden, nachdem er acht Jahre lang in unserer Manege Bereiter war, in Chicago,“ erklärt Frau Perth. „Fragen Sie nur Ihre Schwester nach ihm, sie kennt ihn, den Hans von Perthien.“

„Sie werden von mir hören, mein Herr,“ sagt Joachim.

„Ich verstehe vollkommen,“ ist die Antwort.

Im nächsten Augenblick befindet sich der junge Mann auf dem Wege zum Hotel, zu Ditscha. Dann ist er in ihr Zimmer getreten, seine Seele blutend, sein Heiligenbild beschmutzt, in den Staub getreten, so jammervoll, wie er sich noch nie gefühlt hat in seinem ganzen Leben. Es ist nicht wahr – es kann nicht wahr sein! Er hat nicht gewagt, es ihr anzudeuten, er hat sie immer nur angestarrt, die Ditscha, seine Ditscha – – es ist nicht möglich, es ist Wahnsinn! Und nun ist sie fort und ihn überkommt die Verzweiflung. Ganz früh, in der blaugrauen Dämmerung des Frühlingsmorgens kehrt er erst wieder heim.


Ditscha ist auf Beetzen angelangt. Von irgend einer Station hat sie telegraphiert, man solle ihr den Wagen schicken, und der Wagen erwartet sie auch wirklich. Es ist kühl und regnerisch geworden; man hat das Coupé geschickt, das Achim seiner Schwester schenkte, weil sie ihre Besorgungen in Bützow bei schlechtem Wetter nicht in der Halbchaise machen soll, wie bisher; sie hat sich im vorigen Jahre eine heftige Erkältung dabei geholt.

Es ist ein Wagen wie ein Schmuckkästchen, mit braunem Seidendamast ausgeschlagen, mit einem Täschchen für das Notizbuch, einer allerliebsten Uhr in braunem Sammtgehäuse, einem Spiegel und einem Gummiluftball, der dem Kutscher das Signal zum Halten giebt. „Ein Wagen, der viel zu schön für mich ist,“ hatte sie freudenrot gesagt, als er ihr geschenkt wurde, und der Bruder hatte erklärt: „Ditscha, es giebt gar nichts, was zu schön für Dich wär’!“

Heute weint sie, daß er, der so gern Freude bereitet, leiden muß, daß eine so widerwärtige Verkettung von Umständen und Verhältnissen seinen ersten Liebestraum so unselig kreuzt. – Ach, es ist ja auch geradezu unglaublich!

Zu Hause angekommen, erfährt sie, daß der alte Herr noch schläft. Sie sucht ihr Zimmer auf und läßt Hanne bitten, zu ihr zu kommen, und während sie sich umzieht, sitzt die alte treue Seele auf einem Stuhl, den ihr die Herrin freundlich geboten, und berichtet, was geschehen ist in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit.

„Ich und der gnä’ Herr sind spazieren gefahren,“ beginnt sie und hat dabei die Hände gefaltet, als erzähle sie ein Unglück.

„So?“ sagt Ditscha zerstreut, „trotz des Regens?“

„Nich ein Droppen, gnä’ Fröln! Abers ich wollt’, es hätt’ gegossen wie mit Mollens, dann wär’ die Tour ja woll unterblieben.“

„Warum denn, Hanne?“

„Weil uns’ oll Herrn Baron ’ne richtige Ahnmacht öwerkamen is.“

„Aber – Hanne!“

„Ja, dat was nich g’rad’ pläsierlich, un wenn auch – –“

„Wie ist denn das gekommen? So rede doch!“ ruft Ditscha.

„Wi sün um Klock drei von hier wegfahren, un Slag negen gestern abend sün wi nah Hus kamen, gnä’ Fröln.“

Ditscha sieht die alte Frau an, als ob sie zweifelhaft sei, daß sie ihren rechten Verstand habe.

„Ja, un das kam so – der Herr Baron wollt’ partuh nach [483] Dombeck to, un ich sag’ noch, ich sag’: ,Gnä’ Herr, is dat nich toveel vor Ihre Konstituschon, denn de oll Frühjahrsluft nimmt en ollen Menschen so mit‘ – aber hei will, un wenn En’ will, denn kann man ja nix dabi don. Wi fuhren also los, un as wi an dat Wehr kamen von de Krumme Beetze, da wo’s an Herrn Rothen seinen Park herumgeht, da säd he to mi: ‚Hanne, mir is so slecht, Hanne – laß umkehren!‘ Un da lag he schon in de Küssens wie tot. – – Un nu, wat beginnen! Se wet’n, gnä’ Fröln, ick verlier’ nich so licht minen Kopp, aber diesmal – ich hev dacht, he is dot, reinemang dot, und wil dat wi nu dicht bi’t Dombecker Sloß woren, schrei ich oll Franzen zu, he süll int Dohr fahren un seihn, dat wi Hülp bekamen. Na – un da – –“ sie macht eine Pause – „na ja, un wor denn man good, daß g’rad’ de Herr to Hus is un uns’ armen ollen Herrn plegen kann. Un dat hat he denn ok dahn, as wär he sin leibhaftige Söhn, gnä’ Fröln, un Klock halvnegen, da hat he den ollen Herrn auf seine Armens die Trepp’ hendal dragen un in den Wagen, un is mit uns her fahren, un hat ihn hier ins Bett getragen un is hier bliven, bis de Herr Baron inslapen is, de Herr Rothe.“

Und die alten Augen sehen aus ihren Runzeln gespannt zu der Herrin hinüber, als wollten sie die leiseste Bewegung erspähen, die dieser Bericht in dem blassen Antlitz erwecken muß. Aber Ditscha kann sich beherrschen; sie bleibt völlig ruhig und sagt kein Wort, nur jeder Nerv zittert in ihr.

Sie sitzt auf der Chaiselongue ihres Schlafzimmers und sieht zum Erbarmen elend und erschöpft aus. Hanne steht auf, ordnet ein paar Kissen und holt eine weiche Decke. „Legen Se sich, gnä’ Fröln! So’n Perforcetour is nix vor Ihnen. So, un nu mach’ ich gleich dunkel in de Stuv, slapen Sie. – Wenn mar satt is und utslapen, hat mar gleich ’nen andern Glauben. So – un wenn uns’ jung’ Herr erst wieder hier is, denn wird’s allens besser, auch mit ’m alten Herrn.“ –

Es ist Theezeit, als Ditscha herunterkommt. Das alte trauliche Wohnzimmer ist von einer grauen, fast winterlichen Dämmerung erfüllt, im Kachelofen brennt ein Feuer. Ditscha, die aus einem kurzen unruhigen Schlaf erwacht ist, sieht man die vergossenen Thränen noch an, mit denen sie eingeschlummert war. Der alte Herr in seinem Stuhl, mit wollenen Decken verpackt, bemerkt es gar nicht. Er scheint sich kaum daran zu erinnern, daß Ditscha verreist war.

„Joachim läßt Dich grüßen, Onkelchen,“ sagt sie, „und in zwei Tagen spätestens ist er hier.“

„Hast Du ihn denn – ach, richtig – war er wohl und vergnügt? Bringt er seine Verlobung mit?“

„Noch nicht, Onkel, aber das hat ja noch Zeit. Nicht? Wie geht Dir’s denn heute?“

„Gut, gut, Kind; aber gestern – alle Wetter, ich dachte, nun ist Halali! Hanne hat Dir wohl erzählt?“

„Ja, Onkel.“

„Und denke Dir, wie denn wieder einigermaßen die alte Maschine in Gang gesetzt war, da haben wir uns allerlei erzählt. Hab’ auf dem Sofa gelegen in Dombeck und mich bedienen lassen wie ein Pascha. Ach, da hat man denn auch allerhand gehört. Das alte Mutterle ist tot, und eine Schwester tot, und er hat da oben in Ostpreußen so umher gesessen, meilenweit keine Nachbarschaft und im Winter total eingeschneit, Wolfsjagd und allerhand kleine Grenzabenteuer – ein ledernes Dasein! Schließlich, wie die alte Frau gestorben ist, hat sie ihm das Versprechen abgenommen, wieder hierher zu gehen, wenn er doch einmal das Ding nicht verkaufen will. Nun ist er da – sonderbarer Zufall, daß man einander gleich wieder in die Pfoten rennt. – Hm! Na, schließlich muß alles ’mal vergessen werden! Ich hab’ ihm auch von Dir erzählt und gesagt, Du wärst ganz fidel, ganz fidel, und beinah’ noch hübscher wie als junges Mädchen, und hättest einen Narren gefressen an dem Jungen; und ich sei doch teufelsmäßig froh, daß aus der Sache nichts geworden wär’ damals, ja, ja – denn ohne Dich wär’s nicht zum Aushalten – nicht, Ditscha?“

Sie hat Thee eingegossen, die Tasse klirrt ein wenig in ihrer Hand. „Und bleibt er wirklich immer hier?“ fragt sie leise.

„Wer? Der Rothe? Doch wohl, jedenfalls – hab’s so verstanden.“

„Sagtest Du ihm, daß ich verreist bin?“

„Ja, ich glaube – nein, ich weiß es gewiß. Ihr wolltet Kunst kneipen in Dresden, hab’ ich erzählt – sagtest Du nicht so?“

In diesem Augenblick meldet der Diener Herrn Rothe, und ehe noch Ditscha den Gedanken einer Flucht, der ihr blitzartig durch den Kopf fährt, verwirklichen kann, ist er schon im Zimmer. Die Arme sind ihr heruntergesunken, sie steht, das Gesicht dem Fenster zugewandt, blaß bis in die Lippen, die Augen groß geöffnet, den Mund zusammengepreßt wie im Krampf – doch im nächsten Augenblick hat sie sich gefaßt und mit einer Selbstbeherrschung ohnegleichen reicht sie dem Manne die Hand, in dessen Bart schon weiße Fäden schimmern, dessen sonnenverbranntes Gesicht das alte nicht mehr ist; es steht viel von in Einsamkeit und Leid verlebten Jahren darin.

„Ich hoffe, Sie nehmen an, gnädiges Fräulein, daß ich keine Störung beabsichtige. Ihr Herr Onkel sagte mir, Sie –“ er hält ein und betrachtet sie – „wie Sie unverändert sind,“ sagt er langsam, und sie entzieht ihm die Hand – „daß Sie verreist seien,“ vollendet er und wendet sich zu dem alten Herrn. „Wie geht es Ihnen heute, Herr Baron?“

„Danke, viel besser. Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Rothe?“

„Ich danke! Ich wollte mich nur überzeugen, daß Sie wieder wohlauf sind, Herr Baron, und ich sehe es ja, sehe, daß Sie sich in vortrefflicher Pflege befinden.“ Er schüttelt dem alten Mann die Hand und verbeugt sich vor Ditscha.

„Ich danke Ihnen für die Hilfe, die Sie Onkel gewährten,“ sagt sie und streckt ihm die Hand entgegen.

Er faßt sie leise in die seine. Es ist dasselbe Zimmer, in dem sie ihre Jugendträume geträumt haben; dieselben Bilder, dieselben Möbel, die nämliche Uhr tickt an der Wand, nur die Menschen sind nicht mehr dieselben.

„Sie sind glücklich?“ fragt er leise. „Ihr Herr Onkel sagte es mir schon, und Sie sehen auch so aus; ich weiß nicht, ob ich Ihnen das Gleiche von mir erzählen könnte. Also, es ist gut geworden für Sie, Sophie? Das macht mich ruhig und froh. Leben Sie wohl!“

„Wann kommen Sie wieder? Kommen Sie doch!“ ruft ihm der alte Herr nach.

Er zögert mit der Antwort.

„Bitte,“ sagt auch sie, „kommen Sie wieder! Onkel freut sich so sehr darüber; wir sind jetzt sehr einsam hier auf Beetzen.“

Eine stumme Verbeugung, und er ist verschwunden.

„Er kommt nicht wieder, Onkel,“ sagt sie ruhig. „Wer sucht auch gern peinliche Erinnerungen auf?“

Am andern Morgen, nach schlafloser Nacht, hat sie Joachims Zimmer selbst geordnet, seine Lieblingsblumen, seine Lieblingsspeisen, alles erwartet ihn. Er hat einmal eine kleine Uhr, die sie von einer Patin geerbt, so hübsch gefunden; sie trägt sie auf seinen Schreibtisch, sie zieht das Kleid an, das er gern an ihr sieht. Und nun hat sie ein paar Stunden Zeit, bevor der erste Zug aus Dresden in Bützow eintrifft. Sie sitzt dann an ihrem Schreibtisch und vor ihr liegt ein Buch; sie will, wie sie das stets gethan hat, in ganz kurzen Zügen ihre Erlebnisse eintragen. Und sie blättert zurück und vertieft sich in den Abschnitt ihres Lebens, der nur von Joachim handelt.

Es sind ganz nüchterne, trockene Notizen, aber welch’ eine Welt von Liebe spiegelt sich in ihnen ab. Da steht z. B.: Heute ist unser kleiner Patient zum erstenmal im Garten gewesen; ich schob seinen Fahrstuhl, er will es von niemand anders leiden. – Wie hat er sich gefreut über die knospenden Bäume! – Ein paar Jahre weiter liest sie: Heute ist meines Jungen Hauslehrer entlassen, und ich war mit ihm in der Stadt, um ihn zum Gymnasium anzumelden; es ist nötig, daß er zwischen Altersgenossen kommt. Bisher war ich sein Kamerad, nun hat er den ersten Schritt von mir hinweg gethan. Er kommt jeden Nachmittag heim, oft werde ich ihn abholen; unser Diner ist jetzt auf die fünfte Nachmittagsstunde verlegt. – Später liest sie: Heute hat unser Joachim das Abiturientenexamen bestanden!!

Sie erinnert sich noch so genau an diesen stolzen Tag. Sie hatte Achim natürlich abgeholt; in der Frau Gymnasialdirektor guter Stube hatte sie auf ihn gewartet. – Es war im Frühjahr, ein richtiges Aprilwetter, und Ditscha trug einen Schneeglöckchenstrauß in der Hand, als nun der Junge strahlend eintritt. „Durch!“ sagt er, weiter nichts, und sie weint vor Freude und küßt ihn und muß lächeln zu gleicher Zeit, so fremd und stattlich sieht er in seinem ersten Frack aus. Ach, und die Fahrt nach Hause, Onkel Jochens Seligkeit und Hannes Stolz! Und die kleine festliche Tafelrunde mit Pastors und der humoristischen Rede des geistlichen Herrn, der allerliebsten Gegenrede des Jungen. Wo sind die Zeiten hin!

(Schluß folgt.)

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Blätter und Blüten


Die neue Gedächtnishalle für die Königin Luise im Schloßgarten von Neustrelitz. (Zu dem nebenstehenden Bilde und dem auf S. 469.) Daß die edle Königin Luise von Preußen, die Mutter des späteren Kaisers Wilhelm I., am 19. Juli 1810 im Schloß zu Hohenzieritz bei Neustrelitz verschieden ist, und daß im Auftrage ihres trauernden Gatten, des Königs Friedrich Wilhelm III., der Bildhauer Christian Daniel Rauch eine herrliche liegende Statue der Königin für deren letzte Ruhestätte in Charlottenburg angefertigt hat, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Rauch selbst fand sich durch sein vielgepriesenes Werk aber nicht ganz befriedigt, er meinte, es entspreche noch nicht ganz dem künstlerischen Ideal, das ihm von seiner edlen Wohlthäterin vorschwebte. Er ging deshalb nach Rom und fertigte dort in aller Stille ein zweites, wohl noch vollkommneres Werk an. König Friedrich Wilhelm III. kaufte es und ließ es in der Nähe des Neuen Palais bei Potsdam in einer Sammlung von Kunstgegenständen aufstellen, wo es sich noch heute ziemlich verborgen befindet. Von diesem Original giebt es überhaupt nur zwei Gipsabgüsse, deren einer sich in der Sammlung der Abgüsse Rauchscher Werke befindet; der andre, von Rauch dem Großherzog Georg von Mecklenburg-Strelitz geschenkt, ward in einem Gartenhäuschen im Schloßgarten zu Neustrelitz einstweilig aufgestellt und hat jetzt seinen Platz im Sterbezimmer der Königin Luise in Hohenzieritz, wohl für immer, gefunden.

Der Sarkophag der Königin Luise in der Gedächtnishalle zu Neustrelitz.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph H. Krull in Neustrelitz.

Der jetzt regierende Großherzog Friedrich Wilhelm, der Neffe der Königin Luise, faßte aber vor einigen Jahren den Entschluß, dies herrliche Kunstwerk Rauchs in Marmor nachbilden und in einem in griechischem Stil zu erbauenden Mausoleum aufstellen zu lassen. Mit der Ausführung der Arbeit ward der inzwischen verstorbene, zeitweise in Rom weilende Professor Albert Wolff, ein Schüler des Meisters Rauch und Neustrelitzer von Geburt, betraut. Der Bau der Gedächtnishalle ward dem Hofbauamt, bezw. dem Hofmarschall Grafen Schwerin und dem Baurat Müschen in Neustrelitz, übertragen, das ihn nach einem vom Großherzog selbst festgestellten Plan in edelstem Stile unter Zuziehung des Baumeisters Sehring in Charlottenburg ausgeführt hat. Die Gedächtnishalle für die Königin hat die Gestalt eines griechischen Tempels; sie ist aus schwedischem Granit und schlesischem Sandstein erbaut und hat auf einer vom Großherzog dazu erwählten, vor vielen Jahren künstlich aufgetragenen Höhe im Neustrelitzer Schloßgarten ihren Platz erhalten. Vier Stufen führen zu den vier Säulen hinan, die das Dach tragen und durch die man an eine eiserne Gitterthür mit Glasscheiben gelangt, die einen Blick in das Innere gewähren. Zunächst fällt der Blick auf das herrliche Monument der Königin, das dem im Charlottenburger Mausoleum völlig ebenbürtig ist, von manchen Kunstverständigen ersterem sogar vorgezogen wird. An der Wand, zu Häupten der hehren Frau, befindet sich eine Marmortafel, auf der in goldnen Buchstaben geschrieben steht:

Edle Frau aus edlem Stamme,
Ruhe sanft in ewgem Frieden
Nach des Lebens wilden Stürmen.

Die Wände im Innern der Gedächtnishalle sind mit gelbem italienischen Marmor (Giallo di Siena) bekleidet, der Fußboden ist mit schwarzem Granit und gelbem und grauem Marmor belegt. Das Ganze gewährt einen wohlthuenden, äußerst würdigen Anblick. Allsonntäglich, mittags von 1 bis 3 Uhr, ist das Mausoleum dem Publikum geöffnet. P–n.     

Freund Sepp. (Zu dem Bilde S. 477.) Wohl haben Alter und Armut dem alten Mann die kräftige Statur etwas zu beugen vermocht, aber mit gemütlichem Behagen blickt er in die Welt. Doch nicht in der Freiheit der Berge, wie es seine Tracht glauben macht, sondern mitten im Großstadtleben Berlins hat sich der Alte da vor uns die behagliche Lebensstimmung, die seine Züge beseelt, errungen und erhalten. Der Maler Leo Arndt hat in diesem Bilde die Erscheinung und das Wesen eines Berliner „Modells“ wiedergegeben, das bis zu seinem vor einiger Zeit erfolgten Tode sich in der Berliner Künstlerwelt besonderer Beliebtheit erfreut hat. Das Urbild des „Freund Sepp“ hatte einst bessere Tage gesehen; der Mann war in jüngeren Jahren ein wohlbegüterter Gasthofsbesitzer gewesen. Widrige Umstände hatten ihn um sein Vermögen gebracht; das Interesse, das sein prächtiger Charakterkopf bei Malern erregte, führte ihn später dazu, seinen Lebensunterhalt sich durch Modellstehen zu verdienen. Immer war er guter Laune, die Last seiner Jahre – er zählte deren 84 als unser Bild entstand – schien ihn nie zu drücken. Die Gewohnheit, als Modell etwas anderes, oft auch Besseres vorzustellen als er selber war, hatte in seinem Innern offenbar die Neigung entwickelt, auch sein eigenes Los in einem verklärenden Lichte zu schauen.

Vorsichtiges Spiel. (Zu dem Bilde S. 481.) Ja, wenn die Ueberraschungen nicht wären! .. Papa spielt grundsätzlich mit äußerster Vorsicht und nimmt sich zu jedem Zuge Zeit, fünf, unter Umständen auch zehn Minuten, da dauert die Sache regelmäßig viel länger, als dem Töchterlein lieb ist, und auch die zum Abholen kommenden Freundinnen haben keine andere Wahl, als der interessanten Partie noch eine Weile zuzusehen. Schweigend selbstverständlich, denn der Herr Oberst a. D. duldet keine zerstreuende Unterhaltung! Desto größer ist ihre Schadenfreude, wenn, wie eben, ein plötzliches Ende mit Schrecken bevorsteht. Dem sorgsam erwägenden Papa ist ein böses Uebersehen passiert: noch ein Zug und dann matt! Das ist so sonnenklar, daß es sogar der leichtfertige Backfisch auf dem Diwan lachend einsieht, während die glückliche Siegerin ein gemäßigtes Lächeln halb hinter dem Fächer verbirgt. Unerhört! … Schrecken und Zorn furchen die Stirne des so schmählich Ueberrumpelten, aber es ist nicht anders: der weiße Springer und die Königin bieten heimtückisch Schach, während er mit seiner schwarzen einer tiefangelegten Kombination auf der andern Seite allzu eifrig nachging! … Die Situation scheint rettungslos, es müßte denn sein, daß einer unserer schachturnierenden Leser einen Ausweg sähe und dem alten Herrn zur Hilfe beispränge. Aber eilen muß er sich damit, denn es ist höchste Zeit! Bn.     


Kleiner Briefkasten.

Langjährige Abonnentin in Moskau. Wenn wir ein Tagesereignis rasch berücksichtigen wollen, so müssen wir dies auf der Beilage thun, welche zuletzt gedruckt wird und deren Herstellung keine so lange Zeit in Anspruch nimmt, wie die der Nummer selbst. Das und nichts anderes war auch der Grund, weshalb das betreffende Bildnis auf der Beilage erschien.


Inhalt: Vater und Sohn. Wahrheit und Dichtung. Von Adolf Wilbrandt (1. Fortsetzung). S. 469. – Schloß Hohenzieritz. Bild. S. 469. – Die Einweihung des Kaiser Wilhelm-Kanals. Bild. S. 472 und 473. – Die Eröffnung des Kaiser Wilhelm-Kanals. Von Paul Lindenberg. S. 474. (Mit dem Bilde S. 472 und 473.) – Kleine Künstler. Von Professor Dr. Lampert. S. 476. – Freund Sepp. Bild. S. 477. – Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (14. Fortsetzung). S. 479. – Vorsichtiges Spiel. Bild. S. 481. – Blätter und Blüten: Die neue Gedächtnishalle für die Königin Luise im Schloßgarten zu Neustrelitz. S. 484. (Zu den Bildern S. 469 und 484.) – Freund Sepp. S. 484. (Zu dem Bilde S. 477.) – Vorsichtiges Spiel. S. 484. (Zu dem Bilde S. 481.) – Kleiner Briefkasten. S. 484.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.