Die Gartenlaube (1895)/Heft 27
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Nr. 27. | 1895. | |
Verlorene Spuren.
Ein Gartenviereck tief im Kiefernwald,
Gerodet einst von fleiß’gen Siedlerhänden;
Darin ein kleines Blockhaus, grau und alt,
Mit schiefem Dach und halb zerfallnen Wänden.
Deß hartes Leben einsam hier zerronnen,
Und was er mühsam einst geschaffen hier,
Schon hat’s die Wildnis halb zurückgewonnen.
Ein Weinstock, grün und hoch, ist noch allein
Und kündet, daß ein stilles Menschensein
Hier seine Spuren in den Sand geschrieben.
Florida. Konrad Nies.
Vater und Sohn.
Wirklichkeit, o gieb die Richtung,
Bilder gieb mir, gieb Gestalten!
Doch dann mag die Muse schalten,
Ihren Gaukelschlei’r entfalten:
Dreißig Wahrheit, siebzig Dichtung.
Volkmar stand am Fenster und hörte den Schnee auf der Straße singen; es war so kalt geworden, daß unter jedem Wagenrad und jedem Fußtritt der noch junge Schnee in hellen, hohen, fast wohlklingenden Tönen knirschte. Die Mittagssonne, die freilich noch niedrig stand – denn der Januar ging heute erst zu Ende – schien die Straße hinunter und sog an den langen Eiszapfen, die zwischen den Häusergiebeln gegenüber an den Dachrinnen hingen; ein bleich kaltes, doch heiteres Blau leuchtete vom Himmel herab. Volkmar sah hinaus, drückte sein Gesicht an die Fensterscheibe und ergab sich eine Weile dem bangen schmerzhaften Gefühl, das ihm auf der Brust lag. Trennung! Vereinsamung! Nur noch ein paar Wochen, und dieses Zimmer, in dem er auf seinen von der Schule kommenden Primaner wartete, war leer, still und tot. Auch das mündliche Examen war dann abgethan; die Bilder und Bücher da an den Wänden wurden eingepackt; aus dem Vaterhaus zog ein junger Student – sein Rudolf, sein Einziger – in die Welt hinaus ..... Wie sehr man sich auch gehärtet haben mag, wie sehr die Seele sich mit dem Rüstzeug der Philosophie gewappnet haben mag gegen jedes Schicksal: beklemmen muß es sie doch, wenn das schönste, innigste Zusammenleben zwischen Vater und Kind, wenn die Erziehungs- und Werdejahre Abschied nehmen. Der junge Vogel fliegt davon. Es ist aus!
[450] Ja, ja, ja! dachte Volkmar, auf die drei jungen Mädchen hinuntersehend, die drüben, lange blonde Zöpfe auf dem Rücken, mit ihren Schlittschuhen am Arm zum Fluß hinabgingen; sie hatten zu ihm in die Höhe geblickt, es mußte ihnen etwas an ihm aufgefallen sein. Sie blieben eine Weile stehen, lächelten, flüsterten. Dann zogen sie sich gegenseitig an den Armen, schwenkten sich ein wenig hin und her und zogen weiter, auf den Hafen zu. Ja, ja, ja! dachte er, ihr fidelen Dinger, die ihr euch noch so gern verwundert und die Köpfe zusammensteckt und tuschelt und huschelt: das wißt ihr noch nicht, was das heißt, wenn man so achtzehn, neunzehn Jahre ein Liebstes hat aufblühen sehen, und hat als Gärtner dabeigestanden, mit großen Augen und mit großem Herzen und nun wandert die Blume fort, man hat sie verkauft, an die „Welt“. Wenn man so einem Wesen Vater und Mutter war, seit der Mutter Tod. ...
Er biß die Zähne zusammen und studierte das zarte Blau des wolkenfreien Himmels, in dem ein Abglanz des Erdschnees mitzuleuchten schien. Die Sonne lockte so schön, wie wenn sie ihn zu trösten suchte. Nichts liebte Volkmar mehr als die Wintermittagssonne, da ist sie der richtige Freund, da wärmt sie einem so recht das Herz, ohne zudringlich oder schroff oder ermüdend zu werden, wie wohl im Sommer auch sie es, gleich anderen Freunden, thut. Sollt’ ich nicht hinausgehn? sagte er zu sich, gegen die Fensterscheibe sprechend. Rudolf kommt nicht. Er wird über den Wall zum Fluß gegangen sein, Schlittschuh zu laufen. Wenn ich ihn dort träfe? ihm bei seinen Künsten wieder einmal zusähe? Vielleicht schon zum letztenmal? – Er blickte mit einer Art von Lächeln auf den trüben Dunstkreis, den seine Worte auf die kalte Scheibe hingeatmet hatten. Dann wandte er sich, warf noch einen Blick durch Rudolfs Zimmer, einen kopfschüttelnden, vorausleidenden, nahm auf dem Vorplatz Mantel und Hut und ging die Treppe hinab.
Die Straße endete bald auf den großen Hafen, der sich an dem fast seebreiten Fluß entlang zieht, nicht mehr weit vom Meer; doch man sieht es nicht, da der Fluß sich krümmt. Am Bollwerk, auch an der nächsten Anlegebrücke lag eine lange Reihe von Schiffen, Dampfer und Segler. Sie ruhten aber alle in der „Winterlage“, im Eis, denn der Fluß stand fest, bis zur See hinunter. Das Tauwerk der Segelschiffe, besonders oben von Mast zu Mast, war weiß, ganz mit Reif umsponnen, nur hier und da hatte die saugende Sonne schon dunkel hineingefärbt. Weiß war auch der Fluß, so weit man ihn sah: es war mehrmals Schnee gefallen, nachdem er sich mit Eis bedeckt hatte. Die wintermüßigen Seeleute hatten aber Bahnen gefegt, für die Schlittschuhläufer; eine zum jenseitigen Ufer, andere in der Mitte flußauf und flußab. Volkmar sah viele große und kleine Gestalten auf diesen Bahnen entlang schweben am Ufer, wo die Hauptbahn begann, standen lange Bänke, zum An- und Abschnallen, daneben die dienstbereiten Seeleute, einer mit der Kasse. Er grüßte sie – sie kannten ihn alle, da der Hafen seine Frühlings-, Sommer- und Winterfrische war – warf sein Geldstück in die klingende Kasse und ging auf der nicht sehr glatten Bahn dem anderen Ufer zu.
Eine Weile sah er fast nichts als Kinder vor sich, glitschend oder laufend oder schlittenfahrend; nach seinem schlanken Sohn spähte er umsonst. Auf einem winzigen Schlitten zogen drei kleine Leute vor ihm her: zwei Mädchen, wie große Puppen, ganz eingemummt, saßen hinter einander, eng zusammengedrückt; hinter ihnen der „Steuermann“, ein rotbäckiges Bübchen mit mächtigen Fausthandschuhen, das auf dem Schlitten so wenig Platz hatte, daß es seitwärts knieen mußte, während es sein Fahrzeug mit der ins Eis hauenden Pike vorwärtstrieb. Dabei glitt es denn auch von Zeit zu Zeit auf das Eis hinunter, die Pike fiel ihm aus der Hand, größer als sein Schicksal rutschte aber das Püppchen auf den Knieen hinter der Pike her, fing sie auf, zog mit ihr den Schlitten heran, stieg wieder quer auf und fuhr knieend weiter. Seine kleinen Damen hatten inzwischen wie wirkliche Puppen regungslos gesessen ohne zu merken, was hinter ihnen geschah; als wären sie in der Kälte erstarrt und lebten nur noch ein wenig durch die Sonnenstrahlen, die hinter ihnen her zogen. Sie wareu so still wie die Krähen, die in langer Reihe vor einer Schneewehe hockten, alle das Gesicht zur Sonne gekehrt, sich mit bewegungsloser Andacht wärmend, nur eine, als wäre sie der Hauptmann der Schar, ging mit großen, langsamen, lächerlich majestätischen Schritten an der Front entlang.
Volkmar betrachtete diese drollige Versammlung; plötzlich rief ihn eine helle, kräftige Stimme an: Onkel Albert! Du hier? – Er wandte sich und sah in ihrem lichtgrauen Mantel die schlanke, dreizehnjährige Toni, seine Nichte, die auf ihren Schlittschuhen von einer der Querbahnen herangekommen war. Blutsverwandte Nichte war sie eigentlich nicht: seiner Schwester Mann hatte sie aus der ersten Ehe in die zweite mitgebracht. Vaterlos geworden, lebte sie nun mit der Stiefmutter (als zärtlich verhätscheltes Kind) unter Volkmars Dach, im alten „Familienhaus“. Sie war mit ihren dreizehn Jahren schon eine lange Pflanze, schlank und wohlgebaut; ihr Kindergesicht ging eben in den „Backfisch“ über. Es leuchtete von frischer, ganz eigentümlich goldig bräunlicher Gesundheit, das Dahinsausen in der scharfen Kälte hatte ihr jetzt die Wangen gerötet. Mit noch etwas ungeschicktem Uebermut lief sie grade auf den Oheim zu, wollte knapp vor ihm anhalten, kam aber nicht mehr zum Stehen und fiel ihm fast an die Brust; es gelang ihm, sie festzuhalten, ohne daß er selber zu Fall kam.
Unband! sagte er, ihr die blühende Wange streichelnd. Ich such’ hier meinen Jungen. Hast Du ihn gesehen?
Sie nickte stumm und deutete mit dem Kopf hinter sich nach Westen. Das kluge Gesicht nahm einen andern, frühreif schwärmerischen Ausdruck an, der ihn überraschte, ergötzte. Nach einer Art von Seufzer, der die kleine Brust hob, setzte sie hinzu: Er läuft da hinten, mit ihr.
Mit wem? fragte Albert Volkmar.
Mit der Himmlischen!
Mit der Himmlischen?
Na ja. Mit der Süßen!
Die kenn’ ich nicht. Wer ist das?
Thea Schüler, die Schauspielerin. O Onkel, Onkel! Weißt Du denn nichts von Thea Schüler? Lebst Du wie ’n Murmeltier? – Thea, die Himmlische!
Volkmar war dem Lachen nahe, so verzückt sah ihn der Backfisch an; er machte aber doch ein sonderbares, kritisches Gesicht. O ja, sagte er langsam, ich weiß wohl von ihr, gesehn hab’ ich sie noch nicht. Mit der läuft mein Rudolf? Wie kommt er dazu?
Ich beneid’ ihn, Onkel, antwortete die Kleine mit den guten hraunen Augen; ich beneid’ ihn wütend! Sie soll von ihm Bogenlaufen lernen. Denn eigentlich kann sie noch nichts, auch nicht mehr als ich. Aher alles steht ihr so gut .... Auch wenn sie mit dem Schlittschuh hinten ausschlägt; denn sie ist so –
Himmlisch, ergänzte Volkmar. Aber wie kommt denn Rudolf zu ihr?
Durch einen Referendar und durch einen Lieutenant, die haben ihn ihr vorgestellt, und sie hat zu ihm gesagt: „Sie laufen ja wie ein Gott!“ – Du, das thut er auch. Er kann mehr Kunststücke als all’ die andern, und wie kann er Bogen sausen! – Aber der Referendar, der ist kulig; der –
Was ist der Referendar? fragte Volkmar, ihr in den Geschwindmarsch ihrer Rede fallend.
Kulig ist er, Onkel.
Um Vergebung! Was heißt das?
Ja, wenn Du das nicht kennst – ! – Das kann man nicht gut beschreiben, Onkel. Meine Freundinnen und ich, wir sagen immer „kulig“. Wenn zum Beispiel einer – Sie stockte.
Nun? Wenn einer was?
Na zum Beispiel wie der Kaufmann Marten; der sich immer so hat; „das wollen wir schon machen, mein Fräulein“, „das wird wohl gelingen“. Kulig, na, das ist, wenn man bei allem so wichtig thut – und sich so zierlich macht – und so süß. Aber nicht süß wie Thea, sondern –
Sondern eben kulig, ergänzte der Oheim. Ich verstehe schon. Nun möcht’ ich aber doch einmal zusehn, wenn Rudolf mit dieser Thea –
Er wandte sich der Querbahn zu, die flußabwärts führte. Auf dieser Bahn lief eben ein zweites junges Fräulein heran, etwa ein Jahr älter als Toni, aber eher kleiner als größer, eine zierliche, wenn auch noch unreife Gestalt mit leuchtender Blondinenhaut und gar feinem Näschen. Er erkannte sie sogleich, es war Tonis beste Freundin Helene, die „poetische“, wie er sie im Scherz wohl nannte. Heute sah sie wirklich so aus: auf dem rundlichen Gesicht lag eine ähnliche, drollig aufgeregte Verklärung wie auf Tonis „Tollkopf“; nur verhaltener, etwas mehr bemüht, sich zu verschließen.
Helene! rief er sie an. Du kommst ja von da unten her. Hast Du meinen Rudolf gesehn?
[451] Ja, antwortete sie. Er läuft mit ihr.
Volkmar lachte auf. Er läuft mit ihr, sprach er ihr nach. Du auch?
Toni lächelte. Helene ist ja ebenso schwie wie ich, was Thea betrifft!
Schwie? fragte er, als habe er nicht recht gehört.
Na ja! wir nennen das „schwie“. Wenn einer so ’ne gewisse Schwärmerei hat, weißt Du; „schwärmerisch“ klingt aber gar so majestätisch. Da sagen wir einfach: „schwie!“
Schwie, schwieer, am schwiesten, sagte Helene mit dem feinen Mündchen. Dann lachte sie ein wenig.
Kinder, es wird Zeit, daß ihr ein neues deutsches Wörterbuch herausgebt! – Aber seit wann befindet ihr euch denn in diesem Zustand?
Wegen Thea? fragte Toni, während sie den Oheim auf ihren Schlittschuhen umkreiste; Helene that es ihr nach.
Nun ja!
O! seit wir sie haben spielen sehen; nur wird’s immer schwieer. Zuerst als „Kind des Glücks“; da war sie süß; weißt Du noch, Helene?
Helene nickte, ihre grauen Augen gingen in die Höhe. Und dann, sagte sie, in dem großen historischen Trauerspiel, mit den Pagen am Anfang –
O Gott, Helene, Du schwefelst! Erst kam doch die „Grille“ –
Ja, ja, erst kam die „Grille“; aber dann das historische mit den hübschen, gähnenden Pagen; Toni, weißt Du noch?
Freilich weiß ich noch, erwiderte Toni, die wieder den Onkel umkreiste. Aber am himmlischsten war sie doch – – weißt Du noch, worin?
O Gott! rief Helene, die ihr wieder nachlief. In dem Verkleidungsstück. Bald als Mädchen, bald als Knabe, bald als junger Mann –
Als junger Mann mocht’ ich sie nicht sehen! fiel ihr Toni ins Wort. So in modernen Hosen – das sollte sie gar nicht thun – das ist gar nicht himmlisch. Und eigentlich ein dummes Stück; nicht? – Aber zuletzt als erkannte Prinzessin – o Gott, o Gott!
Ja, seufzte Helene. Zum Niederknieen. Ueber alle Begriffe; nicht?
Toni nickte; Helene dann auch. Sie sahen sich in die Augen, schüttelten den Kopf; dann liefen sie eine Strecke fort, als ließ’ es ihnen keine Ruhe, als müßten die überfüllten Herzen etwas zu schaffen haben. Volkmar sah ihnen nach, mit den schalkhaften Augen und den mitfühlenden Lippen lächelnd. Besser laufen, dachte er, müssen sie noch lernen; Begeisterung haben sie schon genug! – Mit einem Bogenversuch, der beiden noch nicht glückte, kamen sie dann zurück. Die jungen Wangen glühten allerliebst; von der Kälte, schien es, fühlten sie nichts, nur von der Sonne.
Also Thea Schüler! sagte Volkmar, als die beiden Backfische vor ihm Front machten, ihre Stahlschienen auf dem Eise drehend. Also so einen Stern vom Himmel haben wir in der Stadt, und ich kenn’ ihn nicht –
Weil Du nicht ins Theater gehst! rief Toni; ihre sonst so zärtlichen Augen funkelten ihn vorwurfsvoll an. Das begreif’ ich auch gar nicht, Onkel. Das begreift auch niemand. Und alle, die Thea spielen sehen, sind doch so entzückt –
Warum gehen Sie eigentlich nicht ins Theater? fragte Helene mit ihrem sanften, klugen, neugierigen Lächeln.
Und Du lies’st doch zu Hause so viele Theaterstücke, setzte Toni hinzu. Und lies’st mit Deiner Donnerstimme daraus vor –
Und Sie sind Professor! bemerkte Helene.
Und Du bist ein Dichter!
Der Dichter und Professor verneigte sich vor den beiden reizenden Geschöpfchen und lüftete seinen Hut. Vielleicht geh’ ich ja in mich, antwortete er, wenn man mir so zuredet. Ich bemühe mich ja noch immer, meinen Lebenswandel zu verbessern. Aber eure Leidenschaft für Thea – bleibt die so genügsam? Ich meine, habt ihr ihr noch keine Blumen geschickt, keine Liebesbriefe geschrieben? Seid ihr ihr noch nicht auf die Bude gerückt?
Toni sah Helene an; sie erschraken offenbar beide über den furchtbar verwegenen Gedanken, ihr „auf die Bude zu rücken“. Nein, Onkel, sagte sie dann, sich fassend, auf die Bude gerückt sind wir ihr noch nicht. Einen Lorbeerkranz wollten wir ihr werfen; da hat Mutting uns ausgelacht. Aber wir sehn sie oft; wir laufen ihr ja nach, wo sie geht und steht. Zum Beispiel, wenn sie aus dem Theater von den Proben kommt; oder wenn sie spazieren geht; neulich fuhr sie mit Herrn von Fellenberg im Schlitten ... Wir finden sie überall!
Und ich nirgends! sagte Volkmar, scheinbar sehr verwundert. Ich hab’ sie noch nicht gesehn!
Weil Du immer am Hafen herumspazierst; oder weit draußen in den Wäldern. Da kommt die süße Thea nicht hin; natürlich. Die geht in die Anlagen – oder auf dem „Bummel“ –
Wo die Backfische und die jungen Herren sie bewundern!
Toni lächelte etwas bitter: Das hast Du wohl von den alten Damen, Onkel; die sagen ja alle: sie ist kokett! – Ach, die alten Ueze. Das ist doch ein Unsinn; nicht wahr, Helene? So ein himmlisches, poetisches, göttliches Geschöpf!
Zum Niederknieen! setzte Helene hinzu; sie lief dann eine Strecke, weil sie nun doch zu frösteln begann. Toni lief ihr nach; sie kamen aber sogleich zurück.
Also nicht kokett; das freut mich! erwiderte Volkmar ruhig. Man sagt ja sonst allerlei von der jungen Dame –
Ach, ich weiß, was Du meinst, rief Toni mit ihrem altklügsten Eifer aus; Du meinst Herrn von Fellenberg!
Mit dem sie im Schlitten –
Ja, und sonst. Das sehen wir ja alles, Onkel. Darüber lachen wir! Der ist in sie verliebt, natürlich; das sind wir ja auch. Und sie ist nett zu ihm; aber sie spielt mit ihm. Wie mit einem Hündchen; nicht wahr, Helene? Das sind Huldigungen. So sind sie beim Theater. Das wissen wir ja alles, Onkel. Es huldigen ihr ja auch noch andere –
Alle unsere „Gigerln“ –
Die Elegantesten, verbesserte Toni; die am besten tanzen – und so. Ach, laß sie nur, Onkel! Alle vergöttern sie; aber Thea, die schwebt darüber wie – – Die alten Ueze verstehn das nicht. Ach, sie ist so himmlisch. Heute abend spielt sie wieder; sogar ihr Benefiz!
Ah?
Ja; „Die Geschwister“ von Goethe – und dann noch zwei Stücke.
Helene, die wieder im Kreise lief, seufzte laut. Ach, wir gingen so gerne hin! Wir gingen so gerne hin!
Aber Mutting will nicht, sagte Toni kleinlaut. Helenens Mutting auch nicht. Wir gehen viel zu oft ins Theater, sagen beide Muttingse und wir werden noch ganz verrückt!
So sagen sie, setzte Helena hinzu, mit den Achseln zuckend.
Toni schlug mit ihrem kleinen braunen Muff in die Luft: Ach, man hat es schwer auf der Welt!
In diesem Augenblick fuhr auf der Querbahn, auf der sich eine Zeit lang wenig geregt hatte, eine ganze Menschenwolke auf einmal in mächtigem Schwung heran. Vier Damen und vier Herren – zwei davon Offiziere – liefen in kurzen, raschen Bogen miteinander; vier vorauf, vier dahinter, alle acht aber mit den Händen aneinander hängend. Sie waren so fest im Takt, daß sie fast wie ein einziger wunderlicher Körper erschienen, der sich auf vielen Beinen bewegte; nur eine der jungen Damen schien von den andern mehr mitgerissen zu werden, sie hielt sich aber tapfer. Alle waren hübsch. Schau, schau! sagte Volkmar zufrieden. Das konnte man hier früher nicht; und so feine Mädels. Unser Städtchen macht sich!
Onkel! rief Toni ais. Ein „Städtchen“! Fünfzigtausend Menschen!
Ganz so viel doch noch nicht. Aber jedenfalls verschönert sich unsere Jugend. Ihr Backfische, nehmt euch zusammen: laßt den Wagen nicht rückwärts fahren, thut auch eure Pflicht!
Toni, die Schlagfertige, konnte jetzt nicht antworten, sie stieß ein unwillkürliches, aufgeregtes „Ha!“ aus. Ein einzelnes Paar kam auf der Querbahn heran, ein auffallendes: eine schlanke, schöne Jünglingsgestalt, trotz der Kälte im einfachen Rock, und eine junge Dame im Pelz; sie lief an seiner Hand, langsam in großen Bogen, aber noch unsicher und ungleich. Es war Volkmars Rudolf; offenbar mit Thea. Seine Augen ruhten auf ihr; sie lächelte ihn flüchtig an und bewegte die Lippen, dann achtete sie wieder, etwas ängstlich, auf ihren Bogenlauf. Volkmar hätte sie wohl erkannt, auch wenn er sie nicht mit seinem Primaner gesehen hätte: auf ihrer linken Wange bemerkte er den „Feuerfleck“, von dem man ihm erzählt, ein fast rundes Stück geröteter, verbrannter Haut. Es entstellte sie eigentlich nicht; es gab dem auffallenden, lustigen, [452] reizenden Gesicht, mit den braunen „Ponies“ auf der Stirn, noch etwas Fremdes, Außerordentliches, das wohl für jeden, der „schwie“ war, ihren Wert erhöhte.
Der dunkelblonde Rudolf, der sie führte – seine Bogen waren untadelhaft – zog den Hut und grüßte, da sie nun vorbei kamen; er versuchte zu lächeln, herzlich und strahlend, wie es seine Art war; aber sonderbarerweise ward sogleich wieder tiefer, gleichsam befangener Ernst daraus. Nun begann er auch zu erröten, fast über das ganze Gesicht. Vater Volkmar, der dies alles bemerkte, nahm den Hut vom Kopf, die Dame zu grüßen; sie erwiderte durch eine leichte, reizende Bewegung; dann entschwand ihm schon ihr Antlitz. Das Paar „holländerte“ weiter, der sechzehnfüßigen Gruppe folgend, die man in der Ferne noch nach rechts und nach links konnte schwanken sehen.
O Gott, wie ihre Augen blitzten, sagte Helene leise. Was sind das für Augen!
Hast sie recht angeguckt, Onkel? fragte Toni, die erst jetzt wieder Atem holte.
Volkmar nickte lächelnd.
Ist sie nicht entzückend? – Nun müssen wir ihr aber nach, Onkel; nimm mir das nicht übel. Das müssen wir, Helene; nicht? – Also, Onkel Albert, adjö!
Wir wollen an ihr vorbeiläufen, sagte Helene und seufzte. Damit lief sie schon. Die beiden Mädels holten aus, fast als wären sie Strandjungens, und sausten auf der langen Bahn flußauf, dem oberen Hafen zu.
Nachdenklich, langsam ging Volkmar zur Stadt zurück. Das wehmütige Gefühl, das ihn aus Rudolfs Zimmer hinausgetrieben hatte, war einem anderen gewichen, das ihn auch nicht frei machte: einer dumpfen Sorge. Das wunderliche Gesicht seines Jungen, das tief errötende, ernste; dieses Gesicht, das er so gut kannte, so leicht durchschaute wie kein anderes auf der Welt … Verliebt! Offenbar in Thea verliebt! – Nun ja, das war er schon oft: verliebt. Sein leichtentzündetes Herz war ja fast stadtbekannt; in seiner Flatterhaftigkeit fand es immer seine Rettung. Doch eines bedrückte Volkmar: dieser offenherzigste aller Söhne, dessen höchster Stolz es war, vor seinem geliebten Vater kein Geheimnis zu haben, der ihm alles gebeichtet hatte als dem „besten Freund“, von Mund zu Mund oder durch sein Tagebuch – warum war er über Thea stumm? Wie konnte er vor diesem besten Freund heute so erröten? – Nun, wenn er eben erst heute Thea kennengelernt hatte … Aber warum das? Weil er es gewünscht, gesucht. Seit Wochen ging sie ihm offenbar viel im Kopf herum. Sie beschäftigte seine Phantasie. Er sprach gern von ihr. Es war, als beneide er den Fellenberg …
Immer tauchte es wieder vor Volkmar auf, dieses befremdend ernste Gesicht. Eine Schauspielerin wie die: in dieser guten Stadt nicht von gutem Ruf … Aber der unerfahrenen Jugend, die sie in edlen Rollen sieht, erscheinen sie als Engel. Warum auch nicht, für eine Weile; möcht’ er immerhin verrückt für sie schwärmen – dachte Volkmar – wie diese Backfische; und mag er auch in heimlicher Verzückung mit ihr Bogen laufen. Nur daß er nicht verstummt gegen mich! Und nicht dies Gesicht!
Er kam nach Haus und ging in sein Zimmer; er vertiefte sich in ein Buch, um die Unruhe abzuschütteln, bis zur Essenszeit. Sophie rief ihn zu Tisch, seine jüngste Schwester, die seit dem Tod seiner Frau mit ihm und dem Jungen lebte. Als er ins Speisezimmer kam, stand Rudolf schon an der Tafel; seine Wangen glühten; ob nur von der raschen Bewegung in der kalten Luft, oder auch aus irgend einem unsicheren Gefühl, konnte man nicht sehen. Volkmar, seiner Art getreu, begann in behaglicher Unbefangenheit von dem angenehmen Eindruck zu sprechen, den ihm sein Sohn als kunstgerechter Bogenlehrer einer hübschen jungen Dame gemacht habe; und von dieser schönsten und gesündesten aller Bewegungen, dem Schlittschuhlaufen, doppelt nützlich für einen Abiturienten, der sonst so viel über den Büchern hockt. Er verhehlte nicht, daß ihm Theas „Feuerfleck“, von dem die Stadt so viel spreche, durchaus nicht mißfallen habe, so wenig der auch zu den akademisch anerkannten „Schönheiten“ der menschlichen Gestalt gehöre. Endlich erzählte er, mit seiner dramatischen Lebendigkeit, sein Gespräch mit den Backfischen, und wie der Schwie-Zustand dieser beiden werdenden Menschen sich entladen habe.
Die Schwester Sophie, eine kleine, lebhafte, heitere Dame, schüttelte doch über diese „tollen Mädels“ den Kopf. Rudolf lächelte über sie, ohne laut zu lachen, wie er sonst wohl pflegte. Die Glut auf seinen Wangen war mittlerweile vergangen, er sah eher blaß aus.
Der Vater blickte ihn liebevoll lächelnd an. Es geht Dir doch allmählich auf die Nerven, sagte er, dieses Examengefühl; diese Spannung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Prüfung. Du bleichst doch ab, mein alter Junge.
O nein, mein junger Alter, antwortete Rudolf, mit etwas erzwungener „Fidelität“. Glaub’ mir, das sieht nur so aus. Diese Zeit strengt mich gar nicht an; ich bin eher zu leichtsinnig. Die andern behaupten auch, daß man mir das mündliche Examen ganz erlassen wird; eigentlich sei ich schon durch!
Und was meinst Du selbst? fragte Volkmar.
Jeden Morgen was anderes, sagte Rudolf mit selbstverspottendem Lächeln. Die Frage ist ja nur: hab’ ich beim schriftlichen Examen in allen Fächern ganz genügt? Dann lassen sie mich vom mündlichen fort. Das Dumme ist, daß ich das, wenn’s wahr ist, erst am Prüfungsmorgen und erst in der Schule erfahre. Armer Vater, den Frack hast Du mir doch müssen machen lassen. Na – er sitzt wenigstens gut!
Der Vater ist seinem Sohn einen Frack schuldig, erwiderte Volkmar; zum Glück konnt’ ich ihn auch bar bezahlen, bin ihn also nicht auch dem Schneider schuldig. Zu meiner Zeit gab es solche Dispensationen vom mündlichen Examen nicht, auch für den besten nicht; die Welt wird doch gemütlicher! – Was ich übrigens noch sagen wollte: die aufgeregten Backfische haben mir vorgeworfen, daß ich hier nie ins Theater gehe. Es ist wahr, ich bin darin etwas wehleidig: ich erspare mir gern den Schmerz, schlecht spielen zu sehen. Und in unserer alten Stadt – obwohl sie doch auch eine Musenstadt, eine Universitätsstadt ist – wird so im ganzen, um gerecht zu sein, hundsföttisch schlecht gespielt. Aber nun haben wir ja einen „Stern“: diese Thea Schüler. Sie wird ja nicht bloß von halben Menschen, wie Toni und Helene, sondern auch von ganzen als Talent gepriesen. Du hast sie ja einigemal gesehen; was sagst Du dazu?
Rudolf, der die treuherzigen Augen fest auf den Vater geheftet hielt, konnte doch eine aufsteigende Röte nicht ganz unterdrücken. Was ich schon neulich sagte, gab er mit etwas bedeckter Stimme zur Antwort; ich glaube, sie hat viel Talent. So ’was Frisches hat sie; so ’was – wunderbar Natürliches. So wie sie auch im Leben ist; ich hab’s ja heute gesehen und gehört. Aus Bayern soll sie sein; das hört man ihr auch an –
Und es steht ihr gut? fragte Volkmar.
Sehr gut! – Die beiden Worte kamen heraus wie hervorgestoßen; Rudolf fühlte das, und in einem jähen Unmut darüber verzog der gute Junge den Mund.
Dann muß man sie also sehen, sagte Volkmar ruhig. Auch muß ich mich bei den Backfischen wieder in Achtung setzen, wenn’s noch möglich ist. Nicht wahr, Helene speist heute oben?
Ja, bei ihrer Toni, antwortete die Schwester. Die beiden Mädels sind ja seit Weihnachten rein wie die Kletten.
Dann könnt’st Du ihnen sagen, Rudolf, daß ich sie einlade, heute als meine Gäste, mit mir ins Theater zu gehn. Und der Tante Anna laß’ ich sagen, daß ich für die Mädels fürbitte, für dies eine Mal. Es müsse etwas für unsre Bildung geschehen. Auch wird heut Goethe gespielt.
O! sagte Rudolf, sich für die Mädchen freuend. Das will ich ihnen sogleich – – Er blieb aber stehen. Eine Frage, die er nicht aussprechen mochte, lag ihm auf der Lippe.
Ja, und was dabei aus Dir wird? fragte Volkmar, der diese Frage erriet. Du gehst natürlich mit – wenn Du magst. Und wenn Du nicht fürs Mündliche notwendig arbeiten mußt –
Rudolf schüttelte nur den Kopf. Ein ganz eigener Ausdruck von Rührung, der das weiche, edle Gesicht noch verschönte, lag jetzt um die strahlenden blaugrauen Augen herum. Plötzlich ging er auf seinen „jungen Alten“ zu, um ihn zu umfassen. Was hab’ ich für einen Vater! sagte er leise, während er ihn in seinen kräftigen Armen hielt. Er hätte offenbar gern noch mehr gesagt; sein Herz schien von allerlei voll; mit einem flüchtigen Blick auf die Tante trat er aber zurück. Ich dank’ Dir, sagte er nur. Ich hab’ Zeit und geh’ mit. Also hinauf zu den „Dirns“! – Damit lief er schon aus der Thür.
(Fortsetzung folgt.)
Im Bann von Mekkas Thoren.
Der mörderische Ueberfall, den kürzlich in der Umgebung von Dschedda fanatische Beduinen an europäischen Konsulatsbeamten verübt haben, hat die Aufmerksamkeit von ganz Europa der dem gesamten Islam teuren Hafenstadt von Mekka zugewendet. Eine Schilderung derselben darf daher gerade jetzt auf besonderes Interesse rechnen.
Es war im Monat August, als ich zu Schiff in Dschedda vor einigen Jahren ankam. Ein Sturm hatte dem aus Persien kommenden Pilgerschiff übel mitgespielt, wir dankten Gott, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Aber der Eindruck, der uns auf der arabischen Küste des Roten Meeres empfing, war kein verlockender. Uebelriechende Schwefeldünste stiegen vom Strande auf und sengende Sonnenglut brütete über dem flachen Küstenstrich der Tehama-Wüste rings umher, kein Brunnen, kein Baum, kein Schatten, nur fahlgelber Sand. Auf kahler felsiger Höhe terrassenförmig aufsteigend, liegt die Stadt inmitten der flachen Oede. Eine Menge ausländischer Konsulatsflaggen flattert drüber hin. Auf der Reede liegt eine stattliche Flotte von Pilgerschiffen, wohl an die fünfzig Dampfer, vor Anker.
Bald erfahren wir, daß seit einer Woche die Cholera in Dschedda wütet. Da wälzen sich auch schon einige davon Befallene im heißen Sande auf dem wüsten, mit Geröll und Kehricht bedeckten Platz, der zwischen Strand und Stadtthor liegt. Niemand kümmert sich um sie. An jedem Morgen macht ein großer Karren, von zwei Maultieren gezogen, die Runde und sammelt die Leichen, die in den Straßen umherliegen. Wenn es mit einem noch nicht ganz zu Ende ist, läßt man ihn einfach liegen für den nächsten Tag. Die einheimische Bevölkerung geht ruhig daran vorüber ihren Geschäften nach. Keine Aufregung, nichts von einer Panik deswegen in der Stadt. Die Leute sind an all diese Schrecken gewöhnt. Jedes Jahr bringen ihnen die Pilgerscharen von den Gestaden des Euphrat und Ganges, die hier landen, außer dem Geld, das sie ausgeben, die mörderische Seuche. Wem das Ende seiner Tage von Allah noch nicht bestimmt ist, der verdient innerhalb der paar Wochen des Pilgerverkehrs an dieser Hauptstation ein schönes Stück Geld und lebt dann davon ruhig und zufrieden bis zum nächsten Jahr. Da es in Dschedda sonst wenig regelmäßigen Verdienst giebt und das Klima hier wohl ein glühend heißes, aber dabei doch gesundes ist, kann man füglich sagen, die guten Leute dort leben und sterben nur von den Pilgern, die jedes Jahr ums Kurban-Beiramfest – das übrigens infolge der Rechnung nach Mondjahren im Verlauf von 32 Jahren in alle Jahreszeiten fällt – zu Hunderttausenden bei ihnen ihren Einzug halten, um von hier aus die zwei Tagereisen lange Pilgerfahrt zum Grab des Propheten in Mekka anzutreten.
Wir brauchen ein Obdach. Hotels nach unseren Begriffen existieren nicht, aber es giebt einen großen „Hadji-Chan“, eine Pilgerkarawanserai, wo „schöne Zimmer“ zu haben sind, wie uns ein alter, weißbärtiger Araber sagt. Er will uns auch hinführen, weil er gerade nichts anderes zu thun hat. Wir treten durch den engen, hohen Stadtthorbogen und passieren einige [455] Bazare. Dann gelangen wir aus den düsteren, kühleren Gewölben ins Freie und kommen durch ein glühendheißes Straßenlabyrinth an unseren Chan, allwo wir die verheißene Unterkunft finden sollen, „ein sehr schönes Zimmer, ganz à la franca“, wiederholt unser neuer Freund und Wegweiser. Wir treten durch ein hohes Thor auf einen von hohen Mauern umfriedeten weiten Hofraum. An die tausend Kamele lagern da im Sonnenbrand, erschöpft, lautlos, ein mächtiges Stillleben: Pilgerkarawanen von Mekka. Im Hintergrunde dieses Wüstenbildes liegt der eigentliche Chan, ein Komplex von Gebäuden, die teilweise verfallen sind. Im Erdgeschoß sind mehrere große, gewölbte Hallen, eine jede bietet Platz für zwei- bis dreihundert Gäste, wenn deren Raumansprüche bescheiden sind. Sie sind jetzt gefüllt mit einer Menge eben angekommener Pilger, die, dicht wie in einer Häringstonne, zwischen ihren Habseligkeiten am Boden liegen. Gesunde, Kranke und auch ein paar Tote, die von ihren Angehörigen eben nach ritueller Vorschrift gewaschen werden.
Der Wirt selbst ist so einsichtsvoll, zu erklären, daß er dieses wüste Massenquartier für uns nicht geeignet halte; er habe aber oben ein standesgemäßes Gemach, „Camera“ nennt er es, mit dem wir voraussichtlich zufrieden sein dürften. Nun ging’s hinan über eine bedenklich baufällige Steintreppe. Die Thür zu der „Camera“ stand offen. Es ist ein etwa neun Quadratmeter großer Raum, der außer einem Holzladen an der glaslosen Fensteröffnung keine weiteren Einrichtungsgegenstände besitzt. Dafür liegen aber zwei Pilger auf ihren Strohmatten am Boden. In der Mitte des Gemaches steht ein Mangal, das landesübliche Kohlenbecken, und darüber ein Dreifuß mit einem Kupferkessel. Ein etwa fünfzehnjähriger Junge, der auch mit zur Gesellschaft gehört, bereitet darin einen Reisbrei mit Melanganaapfel-Schnitten.
Hier wäre noch Platz für eine Person, meint der freundliche Wirt, indem er auf die noch freie Ecke weist. Er murmelt noch etwas von guter Gesellschaft und hebt hervor, daß die schon anwesenden Mieter ehrenwerte Leute seien, die bereits für eine Woche vorausbezahlt hätten. Trotz dieser Anpreisung können wir uns nicht entschließen, den braven Leuten ihren ohnedem schon karg bemessenen Wohnraum noch mehr zu verkümmern, und empfehlen uns mit den landesüblichen Segenswünschen. Alsbald befanden wir uns wieder auf der glühenden Straße. Noch einige andere Chane suchen wir auf; doch unser Führer behält recht: der erste war der beste.
Das kam uns nicht gerade unerwartet. Die heutigen Chane des Orients sind allesamt nicht besser. Sie gewähren niemals eine auch nur annähernd anständige Unterkunft. Die in Europa noch vielfach übliche Bezeichnung „Karawanserai“ für diese Unterkunftsstätten stimmt wenig zu der heutigen Verfassung dieser Herbergen. „Kerwan“ heißt die Karawane und „Serai“ der Palast, aber Karawanenpaläste sind das nicht, sondern – Einkehrställe, wie Fallmerayer sie treffend genannt hat. Die wirklichen Karawanenpaläste, wie sie die persischen Könige einst mit großer Pracht erbauten, liegen längst in Trümmern. Man findet hie und da noch die Ruinen. So zu Kaschan in der Provinz Irak Adschemi die von Schah Abbas dem Großen erbaute Karawanserai. Sie war die größte und schönste in Persien und vielleicht im ganzen Morgenlande. Die Wände waren mit weißem Marmor bekleidet, kühle Brunnen sprangen im Hofe unter schattigen Bäumen, und selbst die Stallungen für die Lasttiere, die Lagerräume für die Waren wie die Wohnungen der Kamel- und Pferdeknechte waren reich ausgestattet mit architektonischem Schmuck. Ueber dem prächtigen Hauptportal hatte Abbas die Inschrift angebracht: „Die Welt ist eine Karawanserai und wir sind eine Karawane.“ Auch auf dem Wege zwischen Tela und dem Dschebel-Sindschar in Mesopotamien las ich einmal über dem noch erhaltenen Marmorthorbogen einer gewaltigen Chan-Ruine eine Inschrift des Erbauers, die auf die einstige Größe dieses Karawanenpalastes schließen ließ: „Ich habe diesen Chan erbaut und alle seine Räume mit Rosinen vollgefüllt; ihr aber, die ihr später leben werdet, versucht es, ihn auch nur mit Stroh zu füllen.“ Der Name des mit solchem Rosinenreichtum gesegneten Bauherrn ist nicht mehr erkennbar; die Bewohner der Landschaft sagen, es sei Sultan Lul gewesen, der lange vor der Kalifenzeit zu Mossul am Tigris residierte.
Aus unsrer Verlegenheit rettete uns das Erscheinen eines Bekannten. Es war der türkische Marinekommandant von Dschedda, mit dem wir früher einmal, zu Basra, gut Freund gewesen. Damit hatte die Not ein Ende. In der Nähe seiner Wohnung befand sich ein leerstehendes Haus, das wir sofort beziehen konnten. Kostenfrei ward es uns zur Verfügung gestellt. Der Kommodore ließ die nötigen Möbelstücke aus seinem eigenen Haushalt hinüberschaffen Ein Matrose der Kriegsmarine stellte sich ein, Bedienung und Ehrenwache zugleich. Wir gelangten dadurch zu bedeutendem Ansehen bei der Nachbarschaft. Bald kamen Leute aus derselben und fragten uns, ob wir nicht etwas benötigten: Kupferkessel, Wasserkrüge, Holzkohlen, Kehrbesen oder eine Theekanne? Mein Matrose lehnte dankend mit einem stolzen Lächeln ab. „Wir besorgen alles,“ sagte er, nämlich er und sein Kommandant. Mit einem Wort, wir waren geborgen.
Doch was nun thun in Dschedda?! Was sonst wohl, als ein wenig bummeln und nebenbei nach der besten Gelegenheit für die Weiterkunft sehen.
Am Stadtthor vor dem Zollamte ist ein größerer Platz, in den sternförmig ein Dutzend Bazare mündet, der Meïidan.
Dort sind einige Kaffeehäuser etabliert, kleine Buden; man sitzt davor auf den niedrigen Stühlen ohne Lehne und blickt dabei auf die wechselnden Augenblicksbilder des Volksgewimmels, das sich hier vor den Augen entfaltet. Die mannigfaltigen, oft farbenprächtigen Kostüme, die vom Kopfe bis zum Fuß in Gazellenfell gekleideten hohen Männergestalten vom Stamme Beni-Slêb in buntem Wechsel mit fast gänzlicher Kostümlosigkeit gelber und schwarzer Menschenleiber, geben ein märchenhaft buntes Bild. Der ganze Islam hat eine vollständige Mustersammlung all’ seiner Völkerschaften hier zur Schau gestellt. Die verschiedenartigsten Menschenrassen dreier Weltteile sind darin vertreten: Türken, Albanesen, Tscherkessen, Turkmenen, Kurden, Perser, Araber, Nubier, Hindu, Malayen und was Allah sonst noch an mehr oder minder vernunftbegabten Lebewesen zu seinen Gläubigen zählt.
Durch wie weite Räume die Bekenner der Lehre des arabischen Propheten auch voneinander getrennt sein mögen, vor der Kaaba finden sie sich zusammen. Von Belgrad, von Madagaskar und den Inseln des östlichen Archipels, von den Mündungen des Senegal und aus den westlichen Provinzen Chinas, vom unteren Niger, aus dem Innern des Schwarzen Afrika, aus Bulgarien, Kaschkar, Samarkand und allen Gegenden, welche zwischen diesen Endpunkten in unermeßlicher Weite sich dehnen, führen die Wege nach Mekka.
Das sinnbetäubende Durcheinander eines wahrhaft babylonischen Sprachengewirrs durchbraust die Bazare. Keiner versteht den andern. Das einzige allgemeine Vermittlungsidiom ist noch einigermaßen das Arabische. Der mohammedanische Schriftgelehrte an den Donau versteht es zur Not ebenso wie jener von Singapur oder vom Ganges; allerdings gerade nur ausreichend zur notdürftigsten Verständigung. Es giebt der Schriftgelehrten aber nicht allzuviele am Ort, denn die gelehrten Herren gehen selten nach Mekka.
Am Meïdan haben die Schmiede ihren Stand; sie beschlagen die Hufe kalt, wie dies überhaupt im ganzen Orient Brauch ist. An den Ecken der Budenreihen sitzen Aerzte, die zugleich eine tragbare Apotheke bei sich führen, und öffentliche Schreiber; in den Winkeln stehen fellbehangene Derwische, mit langem zottigen Haarwuchs, stets bereit, für Geld und gute Worte Gebete herzusagen. Im Freien sammeln Märchenerzähler und fahrende Barden, welche die Liebeslieder des Hafis oder Stellen aus Saadis „Gulistan“ vortragen oder in zumeist schlechten Versen die Schiitenheiligen Hassan, Hussein, Ali und den Nationalhelden Rustem preisen, andächtig lauschende Gruppen persischer Pilger um sich.
In gewissen Entfernungen münden die Budenreihen des Meïdan in Thore, die zu den Chans führen. In diesen werden die Waren der Karawanen aufgestapelt, und hier versorgt sich der kleine Handelsmann des Bazars mit seinem Bedarf gegen wöchentliche Abzahlung.
Alle Arbeit ist öffentlich, die Leute haben keinerlei „Fabrikationsgeheimnisse“, jedes Geschäft, wie es auch immer heißen möge, wird frei am Markte betrieben. Der Gewerbtreibende hängt Muster nicht nur fertiger Industrieerzeugnisse, sondern auch des zu verwendenden Rohmaterials an seiner offenen Bude aus; der Schuster Sohlen von ungegerbter Kamelshaut, der Sattler einige Büffelfelle, der Schneider ein seidenes Wams, der Schwertfeger ein halbfertiges Panzerhemd. Die Pasteten- und Zuckerbäcker putzen ihre Ladentische zierlich mit bunten Zeuglappen und Papierblumen auf und finden stets Liebhaber für ihre Erquickungsgetränke.
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Gegenüber meinem Stammsitze ist ein Barbier. Er macht wie alle anderen Leute in Dschedda jetzt glänzende Geschäfte und vermag der Nachfrage nicht zu genügen. In langer Zeile sitzt die Kundschaft vor der Bude auf der Straße und wartet geduldig stundenlang, bis die Reihe an sie kommt. Der Nachbar Kaffeewirt reicht Wasserpfeifen, Scherbet und Kaffee dazu. Der Meister drin in der Bude schert drauf los, so gut er kann. Er hat keinen Gehilfen, nur ein Lehrjunge steht mit einem kleinen runden Handspiegel in Bereitschaft, um ihn, wenn die Prozedur zu Ende ist, dem Geschorenen vorzuhalten, damit dieser seinen Bakschisch darauf lege. Der Figaro ist auch Fußheilkünstler und Zahnarzt. Die ausgezogenen Zähne, darunter viel gesunde, hängen, wie Perlenschnüre an Faden gereiht, am Fenster als Trophäen seiner Kunst.
Es kommen drei Männer, lassen sich an meiner Seite nieder und bestellen Thee, der ihnen in kleinen Gläschen gebracht wird, und Wasserpfeifen. Der eine ist ein persischer Pilger, aus dem Gebiet von Irak, der andere, mit mächtigem Turban, eine Art Grandseigneur von Dschedda; der dritte, ein Tellal, d. h. ein Warenmakler, trägt über dem Arm einen kleinen Teppich. Er hat ihn vom Perser zum Verkauf erhalten und eine Kundschaft dafür gefunden. Der Handel soll nun abgeschlossen werden. Käufer und Verkäufer sitzen ruhig nebeneinander, rauchen ihre Pfeifen und reden von Tagesneuigkeiten, während der Tellal leise bald mit dem einen, bald mit dem andern spricht; er bittet diesen, etwas zuzulegen, jenen beschwört er, etwas nachzulassen, und erhält von beiden ebenso leise eine kurze Antwort. Allmählich werden seine Gebärden lebhaft, seine Bewegungen dramatisch, seine Augen feurig rollend; er wird dringend, als der Abschluß sich etwas lange hinzögert. Er sagt dem Einen: „Ich bitte Dich, lege noch 10 Piaster zu! Beim Leben Deines Hauptes! Wir bekommen sonst nichts!“ Gleich nachher raunt er dem andern ins Ohr: „Nun höre mein letztes Gebot! Um Deines Bartes willen, gieb den Teppich dafür hin, er ist, bei Allah, nicht mehr wert; traue meiner Erfahrung!“ Der Verkäufer willigt endlich ein; da tritt der Tellal schweigend einige Schritte zurück, nimmt seinen Tarbusch samt dem darum gewundenen Tuch vom Kopfe, wischt sich damit den Schweiß von der Stirn, atmet auf und sagt mit feierlicher Stimme: El hamdu lillah! Gott sei Dank! Käufer und Verkäufer scheiden voneinander mit höflichem Gruß, ohne von nun an weiter ein Wort zu verlieren, denn der Tellal besorgt alles weitere.
Eine solche Art, Geschäfte abzuschließen, hat manche Vorzüge in einem Lande, wo man gewohnt ist, immer vorzuschlagen und zu feilschen.
Vom Meidan gehen sternförmig die Bazare aus, meist zwei bis drei Meter breite, überwölbte oder mit Matten bedeckte lange Gänge, die ihr Licht von oben erhalten. Der ganzen Länge nach laufen die Läden der Kleinkrämer, der „Bakals“, Viktualienhändler, Obstverkäufer, Kesselflicker, mit aller Art Waren gefüllt, alles derart ausgekramt und aufgestellt, daß man es mit einem Blicke übersehen kann, gleichsam eine fortwährende Messe. Andere, welche Budenmiete nicht bezahlen können oder nicht bezahlen wollen, Brotverkäufer, Flickschuster, Stiefelputzer, haben ihren Kram daneben am Boden oder irgendwo in einer stilleren Ecke auf einer Matte ausgebreitet.
Die Bazarstände sind durchschnittlich nur vier Schritte breit und ebenso tief, der Raum der schmalen Straße dazwischen ist dicht gefüllt von der Menge, welche sich mit Mühe und nicht ohne Gefahr durch- und aneinander hindrängt, denn auch Reiter, beladene Pferde und Kamele kommen durch den Bazar, und ihnen muß das Gewühl der Pilger, Packträger, Handlungsgehilfen, Schreiber, Soldaten, Diener, Wasserträger, Tabakspfeifenvermieter, Weiber, Kinder und Straßenköter Platz machen.
Ein dichter unerträglicher Weihrauchqualm durchzieht den [457] Bazar. Vor jeder Bude steht ein kleines Glutbecken mit diesem „wohlriechenden“ Harze. So „reinigt“ man im arabischen Orient die Luft bei herrschenden Epidemien. Und in der That, ich würde wahrlich die Stätte dieser widerwärtigen Dämpfe fliehen, wenn ich ein – Bacillus wäre. Hier und da wird die Leiche eines verstorbenen Pilgers vorbeigetragen.
Beinahe ein jeder Fremde trägt eine Flasche Cognac unterm Arm oder in der Tasche seines Kaftans. Man hält im Orient dieses Destillat für ein wirksames Heil- und Präservativmittel gegen die Cholera. Der Koran verbietet geistige Getränke nicht unbedingt, zu Heilzwecken ist der Genuß derselben gestattet. Die braven Hadji, besonders die sogenannten klugen Leute unter ihnen, machen denn auch den ausgedehntesten Gebrauch von dieser Toleranz ihrer Propheten. Nur schade, daß sie das Arcanum so unglaublich teuer bezahlen müssen! Eine Flasche dieses gelbgefärbten Kartoffelschnapses kostet 20 bis 30 Franken. Ich glaube, der elende Fusel schadet den armen Pilgern übrigens noch mehr als die Cholera. Die Griechen, die hier, wie überall an den Gestaden des Mittelländischen und Roten Meeres, den Schnapshandel betreiben, verdienen bei dem Geschäft ein Heidengeld.
Die Bewohner Dscheddas sind ein aus allen Teilen der Nachbargebiete zusammengewürfeltes Mischvolk mit verschiedenartigen Dialekten. Man muß die arabische Sprache schon sehr vollkommen beherrschen, um alle zu verstehen oder, was noch schwerer ist, sich ihnen auch verständlich zu machen, denn der ungebildete Araber versteht keinen anderen Dialekt seiner Sprache als den eigenen. Hört er nur ein einziges Wort von etwas fremdem Klang im ganzen Satz, so ist alles verloren und er macht ein unaussprechlich dummes Gesicht dazu. An der eigentümlich krankhaft dunkelfahlgelben Gesichtsfarbe, den breiten Backenknochen und den behäbigen Gestalten erkennt man die Leute der Tehama, des tiefliegenden Küstenstrichs am Roten Meere. Begegnet man einer schlanken, schneidigeren Gestalt mit schmalem Gesicht und großen feurigen Augen, so ist es Beduinenblut, entweder aus Syrien oder Arabien hierhergekommen. Durch ihren regen Handelsgeist zeichnen sich die Do’âner aus, eingewandert vom Wadi Do’ân im Belâd beni Isâ. Unter ihnen findet man die reichsten Leute der Stadt, die alle, als sie kamen, nichts besaßen als ihr Fodda, ein Lendentuch, das ihre gesamte Bekleidung bildete.
Nachdem vor einigen Jahrzehnten die bis dahin gegen die Christen stets aufsässige Bevölkerung einmal gründlich das Pulver der Ungläubigen zu riechen bekommen, hat sich der fanatische Geist dieser Sippschaft leidlich zahm verhalten. Aber der meuchlerische Ueberfall, dessen Opfer kürzlich die schon oben erwähnten Konsularbeamten in der Umgebung von Dschedda geworden sind, hat deutlich gezeigt, wie namentlich unter den raubgierigen Beduinen der benachbarten Wüste der eingefleischte Haß gegen Andersgläubige keineswegs erloschen ist. Nur hat das Volk, das da im Bann von Mekkas Thoren sein Wesen treibt, auch für die eigenen Glaubensgenossen wenig brüderliches Empfinden. Jeder Pilger gilt ihnen für eine gute Beute. „In den heiligen Städten wohnt der Teufel,“ sagt selbst der Araber. Es giebt nur zweierlei Beschäftigung da, von welchen die Leute leben, Handel mit den Pilgern und Tempeldienst; selbst die Tempeldiener und die Priester aber verschmähen es nicht, sich mit dem ersteren zu befassen, und der Mekkawi wie der Dscheddawi, der eigentliche Stadtbewohner, begnügt sich bei dem, was er an die Pilger verkauft, mit keinem Vorteil, der weniger als fünfzig Prozent beträgt. Die arabischen und persischen Hadjis haben weniger dabei zu leiden, weil sie selber geriebene Gesellen sind, doch das etwas dämliche Malayenvolk wird unglaublich arg betrogen.
Aber auch die Pilger selber verbinden nicht minder mit dem Verdienstlichen das Nützliche und betreiben gleichfalls regen Handel auf ihrer Wallfahrt.
Der Prophet erklärte die Wallfahrten nach Mekka für eine der fünf Hauptstützen seines Islamtempels. Die Zeiten, während welcher sie [458] stattfinden, sind geheiligt; während derselben soll keine Blutrache gelten und jedweder Kampf ruhen, denn der Pilger ist symbolisch auf der großen Reise in die Ewigkeit begriffen. Daher soll er auch im vorgeschriebenen Pilgerkleide einhergehen, einem leichentuchartigen weißen Ueberwurf, und unbedeckten Hauptes. Das letztere hat schon manchem nichtarabischen Pilgersmann, der die glühenden Sonnenstrahlen der Tehama nicht vertragen konnte, den Tod durch Sonnenstich gebracht. Allen Reichtum soll man fahren lassen. „Die Wallfahrt geschehe in den bekannten Monaten,“ sagt Mohammed in der zweiten Sure des Korans. „Wer in diesen die Wallfahrt unternehmen will, muß sich enthalten jedweder Lust, allen Unrechtes und eines jeden Streites während der Reise. Das Gute aber, so ihr thut, sieht Gott. Versehet euch auch mit dem Notwendigen zur Reise, doch das am meisten Notwendige ist Frömmigkeit; darum verehret mich, die ihr vernünftigen Herzens seid. Auch ist es kein Vergehen, wenn ihr Vorteile von eurem Herrn euch erbittet.“ Die mohammedanischen Ausleger haben aus dieser Stelle gefolgert, daß es den Gläubigen unverwehrt ist, auf der Pilgerreise vorteilhafte Handelsgeschäfte zu machen. Auch betont in derselben Sure Mohammed ausdrücklich den Wert des Handels und widerspricht der Anschauung, daß Kaufhandel gleich dem Wucher sei. Er sagt: „Gott hat den Handel erlaubt und den Wucher verboten.“ Das lassen die Pilger sich denn auch gesagt sein, halten sich dabei aber mehr an den ersten Satz als an den zweiten. Mit Kisten und Bündeln schwer bepackt kommen sie an, kramen in den Bazaren der heiligen Städte und in Dschedda, auch wohl häufig bereits unterwegs noch, einen unglaublich buntgemischten Plunder aus, und der Handel kann beginnen. Jeder Pilgersmann, der nicht gerade ganz bettelarm ist, bringt irgend einen Gegenstand des Verkaufes mit. Unterwegs ist die Karawane ein wandernder Markt, in Mekka und in Dschedda bilden die Pilger eigentlich ein Meßpublikum mit frommen Nebenabsichten. Viele wollen wenigstens so viel Profit herausschlagen, daß sich die Kosten der Reise damit decken; andere sind Kaufleute von Beruf. Von dem türkischen Zollamt ist vor mehreren Jahren einmal die Berechnung aufgestellt worden, daß unter den Pilgern von etwa 40000 Männern jeder für durchschnittlich dreitausend Franken Ware an den Platz mitbringt.
Die einzelnen Pilger handeln mit leicht zu transportierenden Erzeugnissen ihrer Heimatländer. Die eigentlichen Kaufleute haben ganze Sortimente, unter denen die indischen namentlich eine große Rolle spielen und gute Geschäfte machen. Von der Malabarküste bringen sie viel Agila-, sogenanntes Aloeholz, die Moghrebiner vorzugsweise rote Mützen und wollene Mäntel (Burnus), die Mohammedaner aus Europa Schuhwerk, goldgestickte Pantoffeln, Seidenstickereien, Bernstein und seidene Beutel. Aus Kleinasien bringt man Teppiche, gewebte Seidenstoffe und Shawls aus Angorawolle, erzengt in Kurdistan, mit; die Perser ebenfalls Teppiche, seidene Tücher, buntbedrucktes Baumwollenzeug und Kaschmirshawls; die Hindu allerlei exotische Fabrikate und Droguen; die Pilger aus Yemen Schlangenhäute zum Ueberziehen für Pfeifenrohre, Sandalen und Lederwerk, und aus dem Innern Afrikas kommen – Sklaven. Sonst sind häufige Handelsartikel noch Silberarbeiten aus Damaskus, Seife von Aleppo, gedörrte Aprikosenschnitte aus Malatia und Amasia in Kleinasien, neben mancherlei europäischen Industrieerzeugnissen.
Als Rückfracht nehmen sie dann Landesprodukte mit auf den Weg, Perlmutter und Korallen von Dschedda, Kaffee aus Yemen, Henna, das gelbe Pflanzenmehl, mit welchem die Damen des Orients sich Hände, Füße und Haare färben, Straußenfedern, Weihrauch und allerhand Gegenstände, die von Pilgern aus einer anderen Weltgegend dahingebracht wurden.
Der Mittelsmann, welchen wir fast überall im Orient und bei Völkern von sehr verschiedenen Kulturstufen beim Abschluß von Handelsgeschäften in sehr mannigfacher Weise eingreifen sehen, fehlt auch hier nicht. Bei den Arabern ist er aber nicht immer gerade Makler von Beruf, wie wir ihn im Kaffeehause am Meïdan kennenlernten, sondern häufig der erste beste Mann, welcher sich gerade in der Nähe befindet und augenblicklich nichts anderes zu thun hat, beiden Teilen oft ganz und gar unbekannt. Der Verkäufer stellt niemals einen bestimmten Preis fest, sondern wartet ab, bis etwa die Hälfte der Summe geboten wird, für welche er loszuschlagen gedenkt. Dann spricht er: „Efta Allah“, „Gott ist gütig“. Der Andere legt eine Kleinigkeit zu und erhält dieselbe Antwort, so geht die Sache mit einigen Pausen eine Weile lang fort. Endlich will der eine nicht mehr bieten, der andere nichts mehr ablassen, und nun kommt die Angelegenheit an den dritten Mann, der bisher anscheinend teilnahmlos abseits stand, nun aber den Augenblick gekommen glaubt, um als Vermittler einzugreifen. Er tritt heran, ermuntert den Käufer zu einem höheren Gebot, stimmt den Verkäufer herab und handelt im Interesse beider Teile. Ueberzeugt er sich, daß beide zum Abschluß wirklich geneigt sind, dann nimmt er ihnen das Geschäft sozusagen aus der Hand, stellt einen billigen Mittelpreis fest, legt die Hände beider ineinander und zwingt mit sanfter Gewalt den Käufer zum Aussprechen der Worte: „Allah ibarek l'ek“, „Möge Gott es Euch gedeihen lassen“. Damit ist der Handel abgeschlossen und der erfolgreiche Vermittler bittet beide Teile um einen Bakschisch, der ihm auch selten verweigert wird.
In der Abendkühle spazieren wir am Strand und um die Stadt herum. Vor dreißig Jahren noch war Dschedda ein elendes schmutziges Nest. Die ersten indirekten Verdienste um die Stadtverschönerung erwarben sich die Engländer im Jahre 1858 dadurch, daß sie zur Strafe für das vorher dort unter den Christen angerichtete Blutbad die Stadt bombardierten. Nach der großen Choleraepidemie von 1865 wurde auch der Rest des Spelunkenlabyrinths von der türkischen Regierung niedergebrannt, und so entstand eine neue Stadt. Sie präsentiert sich nun, vom Meere aus gesehen, auch gar nicht übel.
An Stelle der einstigen Lehm- und Mattenbuden stehen solide [459] Steinhäuser, viele drei bis vier Stockwerke hoch, sonst eine Seltenheit in kleineren Städten des Orients. Die Fronten derselben sind mit erkerförmig hervorragenden großen Fenstern und Balkonen übersät, aus kunstvoll geschnitztem und mosaikartig fein gefügtem Holzwerk. Von fernher sieht es aus, als ob die Wände ganz mit zierlichen Vogelbauern vollbehangen wären. An Stelle der Glasscheiben sind sie mit netzartigen, feinen Holzgittern versehen. Auch das Innere dieser Häuser ist schön, geräumig und luftig angelegt, besonders die große Empfangshalle im Erdgeschoß, die zumeist mit Stuck und Schnitzwerk reich verziert ist.
Unser Bild, S. 458, zeigt nur eine vom Centrum abgelegene einfache Seitengasse. Am Meere aber und in der Nähe der Bazare giebt es wahre Paläste, deren Anblick auch solchen imponiert, die von der Welt mehr gesehen haben als das östliche Uferland des Roten Meeres.
Außerhalb der Stadt, dicht vor dem Medinathale, befindet sich ein eigentümlicher Bau, das Grab unserer Mutter Eva. Eine hundert Meter lange, wenig breite Einfriedung von weißem Stein, die nach der mohammedanischen Anschauung dem Körperumfange der hier ruhenden Verstorbenen, demnach einer sehr stattlichen Dame, entsprechen soll. Darüber erhebt sich, nicht ganz in der Mitte, etwas näher dem Fußende zu, unter einer Kuppel ein viereckiger, mit Inschriften bedeckter Stein. Arme Eva, geboren im Paradiese, gestorben und begraben zu Dschedda! Allein begraben im heißen Sande, nicht einmal im Tode vereint mit ihrem Gemahl, mit dem sie Freud’ und Leid geteilt während eines langen, musterhaften Ehelebens, denn Adams letzte Ruhestätte befindet sich irgendwo droben in Syrien, während ihr mißratener Sohn Kain in Aden liegt. Für die Besichtigung dieses Heiligtums muß man den Wächtern ziemlich viel bezahlen.
Hier versammeln sich auch die Pilgerkarawanen für den Zug nach Mekka, der heiligen Stadt. Auf dem sonst öden Plan stehen Zelte von allen Farben und Gestalten, von der bescheidenen Bude des Tabakshändlers bis zum prächtigen Pavillon des Paschas. Neben den großen weißen Kamelen aus Syrien nehmen sich die arabischen wie Klepper aus; jene schütteln gravitätisch ihre Glocken und die hohen Sänften, die sie tragen müssen. Perser, Türken und Kurden lärmen in wilder Lustigkeit. Andere, ermüdet von der langen Reise, lagern in Gruppen am Boden. Beduinen und Händler treiben Schafe und Ziegen zum Verkaufe, Sorbet- und Tabaksverkäufer preisen laut rufend ihre Ware an. Eifrige Wallfahrer, die, vom Drange der Frömmigkeit getrieben, den Aufbruch nicht mehr ruhig erwarten können, kriechen zwischen den Beinen der Kamele herum und stolpern über Stricke und Zeltpflöcke. Arabische Häuptlinge reiten auf edlen Rossen würdig umher und ihre Diener führen zur Ehre und zum Vergnügen der Pilgerkarawane einen Kriegstanz auf. Andere schießen ihre Flinten ab, verbrennen Pulver, schwenken ihre Säbel in der Luft umher oder werfen Speere, die mit Straußenfedern verziert sind. Vornehme Männer lassen sich durch ihre Läufer einen Weg durch die wirre Menge bahnen, während arme, abgehungerte Leute ächzend einen stillen Winkel aufsuchen, um dort ungestört auszuruhen und vielleicht zu sterben.
Nachdem endlich zur festgesetzten Zeit alle beisammen, die vom Islam vorgeschriebenen Gebräuche verrichtet und die üblichen Gebete hergesagt und hergesungen sind, setzt sich die Karawane langsam in Bewegung. Gewöhnlich bricht sie gegen drei Uhr am Nachmittage auf und während des Zuges darf die Ordnung und Reihenfolge nicht verändert werden. Die ganz Armen gehen zu Fuß am Pilgerstabe. Wer über einige Mittel verfügt, reitet auf Esel, Maultier oder Kamel, wohlhabende Leute auf Dromedaren. Die als Bedeckung die Karawane begleitenden Soldaten sind zu Pferde, Frauen, Kinder und Kranke sitzen auf dem Gepäck. Sehr reiche Pilger haben schöne, sogar zum Teil vergoldete Sänften und neben denselben gesattelte Rosse. Der halbnackte Takruri trottet neben den prächtig aufgeschirrten Kamelen des Paschas. Alles ist in hohem Grade bunt und farbig. Später fehlt es dann allerdings nicht an mancherlei kleinen und großen Un- und Ueberfällen, namentlich während der Nachtwanderungen, denn die räuberischen Beduinenstämme im Heiligen Lande halten keinen Gottesfrieden. Man zieht aber doch die Nacht für die Reise vor, teils um nicht während der in den Sommermonaten unerträglichen Tageshitze und Sonnenglut zu wandern, teils auch weil der Prophet gesagt hat: „Beginne Deine Reise, wenn es dunkel ist; denn was häßlich ist auf der Erde, Schlangen und wildes Getier, siehst Du nicht bei Nacht.“ Dieser Rat mag ja „schwachen Nerven“ allerdings manche Erregung ersparen, praktisch indes ist er jedenfalls nicht. Zuweilen eben schläft nicht nur Vater Homer, sondern es irren sogar die Propheten.
Auch wir rüsten uns zum Aufbruch. Der Aufenthalt in Dschedda ist auf die Dauer keineswegs angenehm. Heiße Tage und qualvoll schlaflose Nächte! Tausende von großen Moskitos und Milliarden kleiner gelber Ameisen mit roten Köpfen machen jedwede Nachtruhe einfach unmöglich. Es ist schwer zu sagen, welche von den beiden Bestiensorten eigentlich bösartiger ist; die eine sticht, die andere beißt, das ist der ganze Unterschied.
Also fort – aber wie? Post- oder Passagierdampfer berühren diesen Strand nicht, es liegen nur Pilgerschiffe auf der Reede, die man bis Port-Said benutzen könnte, welche aber nach einigen Wochen erst abgehen. Auch sonst sind noch mancherlei Schwierigkeiten mit der Sache verbunden. Es sind durchweg gewöhnliche Frachtschiffe; die schlechtesten sogar, über welche die betreffenden Gesellschaften verfügen, besitzen weder Kabine noch Küche. Deck und oberer Laderaum werden mit Pilgern so vollgepfropft, als das Fahrzeug nur zu tragen vermag, um noch halbwegs über Wasser zu bleiben. Inmitten dieser unglaublich schmutzigen Gesellschaft eine Anzahl von Tagen zu verleben, hält wohl nur der für erträglich, der es noch nie versucht. Und in diesem Falle wird es viel länger dauern. In Tor muß jedes von Dschedda abfahrende Pilgerschiff 25 Tage lang Quarantäne halten. Ein wüster glühender Küstenstrich am Fuß des Sinai! Schlechtes warmes Trinkwasser, weder genügend Lebensmittel, noch Obdach, kein Schatten, nur Sand und Sonnenglut. Daß an Bord und in Tor unter den infizierten Pilgern die Cholera ganz sicher zum Ausbruch kommen wird, hätte an sich nicht sonderlich viel mehr zu bedeuten, aber jeder einzelne Cholerafall zieht immer wieder von neuem eine fünfundzwanzigtägige Quarantänefrist nach sich, und so kann es, wenn das Verhängnis besonders widrig ist, ein ganzes Jahr lang dauern, bis man endlich über den Kanal von Suez hinausgelangt oder in einen europäischen Hafen.
So lag ich eines Abends wieder im Sand am Ufer, sah ins weite Meer hinaus und dachte dabei an die Geschichte von Robinson Crusoe, die ich mit so viel Vergnügen gelesen einst in jungen Jahren.
Da kam ein Boot heran durch die Korallenriffe. Es führte die holländische Flagge und brachte Rettung. Ein Herr im weißen Tropenhelm entstieg demselben, kam an mir vorüber, grüßte englisch und, ich weiß nicht, wie es kam, wir gingen miteinander zur Stadt hinein. Der Rotterdamer Lloyd-Dampfer „Gelderland“, der ankam, um die hier anwesenden Pilger aus Niederländisch-Indien nach ihrer tropischen Inselheimat zu befördern, bot uns günstige Gelegenheit, nach Europa zurückzukehren.
Pfahlbauten.
Seit Boucher de Perthes in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts im Schwemmlande des Sommethales bei Abbeville die ersten Spuren des „diluvialen“ Menschen auffand, ist wohl kaum eine zweite Entdeckung von so weittragender und so fruchtbringender Bedeutung für die Erforschung und die Erkenntnis der Vorgeschichte unseres Geschlechts geworden als die Auffindung der Pfahlbauten im Züricher See durch Ferdinand Keller im Jahre 1854. Während jener Franzose aus dem geologischen Alter der Schichten, denen er die ältesten, aus Feuerstein geschlagenen Werkzeuge entnahm, nachwies, daß der Mensch in Europa als Zeitgenosse der heute ausgestorbenen großen Dickhäuter, des Mammut und Rhinoceros, gelebt hatte, lehrten Kellers Entdeckungen, daß bereits in früher Vorzeit eine Bevölkerung, der der Gebrauch der Metalle noch unbekannt war, ihre Wohnstätten auf Pfahlrosten im seichten Wasser am Rande der Schweizer Seen errichtet hatte, um sich und ihrer Habe, ihr Vieh und ihre Gerätschaften, im Kampfe ums Dasein vor den räuberischen Ueberfällen ihrer Mitmenschen zu schützen.
Diese Entdeckungen gaben Veranlassung, daß man den Spuren derartiger Vorkommnisse weiter nachging, und zwar mit solchem Erfolge, daß kaum ein Jahrzehnt nach Kellers Pfahlbaufunde allein in den Seen der Schweiz bereits gegen 200 Pfahlbaustationen bekannt waren. Hieran [460] reihte sich die Aufdeckung gleichartiger Anlagen in dem oberbayerischen, dem österreichischen und dem norditalienischen Seen- und Moorgebiete, und auch in Norddeutschland bis nach Livland hin zeigten sich Reste ähnlicher Niederlassungen.
Die Errichtung dieser Seedörfer – denn als solche müssen wir sie ihrem Umfange entsprechend betrachten – gehört nicht der gleichen Zeit an. Während die Anlage der nordeuropäischen Gruppe in die Zeit nach der Völkerwanderung, an die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends unserer christlichen Zeitrechnung fällt, siedelte sich in dem Seengebiete der Voralpen mehr als ein Jahrtausend früher eine Bevölkerung an, welche ihre Werkzeuge noch aus geschlagenem und poliertem Stein, aus Knochen und Holz anfertigte. Ebenso verschieden wie der Zeitpunkt der Aufrichtung ist auch die Dauer der Benutzung dieser Niederlassungen. In der Ostschweiz und in Oberösterreich endigt die Periode der Pfahlbauten mit der Einführung des Metalls, des Kupfers und der Bronze, in der Westschweiz, in Oberbayern und in Norditalien reicht die Benutzung der Pfahlbauten bis in die Eisenzeit, ja selbst bis an die Periode heran, in welcher die Römer ihre Herrschaft über Helvetien ausdehnten.
Heute sind diese Zeugen einer frühen Vergangenheit von der Oberfläche der Seen verschwunden. Was die vernichtende Macht des Feuers hinterlassen, hat das Wasser bis auf den Seegrund hinweggenagt. Nur Pfahlstümpfe noch verraten zuweilen dem Fischer, oft in unliebsamer Weise ihm die Netze zerreißend, die Stätten, wo in grauer Vorzeit seine Vorfahren hausten. Wollen wir uns ein Bild jener Anlagen entwerfen, so müssen wir unsere Blicke nach dem indischen Archipel, nach Melanesien, nach Afrika und Amerika richten, wo noch heute zahlreiche Stämme ihre gesicherten Wohnungen in der gleichen einfachen Weise über den glitzernden Flächen der Seen und der Flüsse erbauen. Wir sehen dann den Ureinwohner der Voralpenländer mit dem wuchtigen Hiebe der Steinaxt die schlanken Stämme am Seeufer niederlegen, mühevoll die zugespitzten Stämme oft zu Tausenden in den seichten Untergrund eintreiben und auf einem Fußboden von darüber befestigten Balken seine aus Holz und Lehm hergestellten, mit Stroh gedeckten einfachen Hütten aufrichten. Ein schnell zu beseitigender Steg vermittelt die Verbindung mit dem Festlande, rohe kunstlose Leitern den Zugang zum Wasser.
Was wir über das Leben und Treiben der Bewohner dieser Niederlassungen wissen, verdanken wir lediglich der erhaltenden Einwirkung des Wassers, der Decke von Sand und Schlamm, welche im Laufe vieler Jahrhunderte die zufällig von jenen Hütten aus in den See gelangten oder als unbrauchbar weggeworfenen Gegenstände schützend überzog und unversehrt der wissenschaftlichen Forschung unserer Tage erhielt, welche sie mit der Baggerschaufel aus dem schlammigen Grunde nach mehrtausendjähriger Ruhe wieder ans Tageslicht gefördert hat.
Wir lernen aus diesen Ueberresten ein Volk kennen, welches sich von Jagd, Fischerei und Viehzucht nährt und auch des Ackerbaues in bescheidenem Maße kundig ist. Mit Bogen, Pfeil und Lanze folgt es den flüchtigen Tieren des Waldes, deren Fleisch und Fell ihm Nahrung und Kleidung, deren Gehörn und Knochen ihm den Stoff zu Werkzeugen mancherlei Art liefern. Auf kunstlosen Kähnen, durch Feuer und mit der Steinaxt ausgehöhlten Baumstämmen, befährt es den See, um mit Netz, Angel oder Harpune den flinken Bewohnern desselben nachzustellen. Mit Werkzeugen der einfachsten Art, krummen Baumästen und Hacken aus Hirschhorn, lockert der Pfahlbauer mühsam den Boden am Seeufer, um ihm die kärgliche Ernte von Gerste, Weizen oder Flachs abzugewinnen, deren er zur Bereitung des Brotes oder zur Herstellung seiner Gewänder, seiner Fischnetze und anderer Flechtereien bedarf. Zahlreiche Knochen der wichtigsten Haustiere lehren, daß ihm die Zähmung und die Zucht des Rindes, des Schweins, der Ziege und des Schafs bekannt sind, und daß der treueste Freund des Menschen, der Hund, sein bescheidenes Heim teilt.
Auch einen Einblick in die häuslichen Verrichtungen der Pfahlbaubewohner gewähren uns die im Seeboden verborgenen Schätze. Tausende von Gefäßscherben oft noch mit Spuren des Speiseninhalts und der Einwirkung des Herdfeuers, verraten uns die große Geschicklichkeit, mit der jenes Naturvolk aus dem weichen Thon ohne Hilfe der Drehscheibe die verschiedenartigsten Formen, Näpfe und Krüge, Schüsseln und Teller u. a. m., zu bilden verstand; einfache Muster aus Strichen und Punkten darauf zeugen von bereits entwickeltem Schönheitssinn. Mahlsteine und Getreidequetscher lehren uns, daß Gersten- oder Weizenbrot zu den täglichen Nahrungsmitteln des Pfahlbauers gehörten. Spinnwirtel und kleine Gewichte aus Thon geben Kunde von dem einfachen Webstuhl, an welchen die Frauen jene trefflichen leinenen Gewänder anzufertigen verstanden, deren im Wasser verkohlte Reste das Staunen der ersten Entdecker in demselben Maße erregt haben wie die zierlichen Fischnetze und Bastmatten. Aus Zweigen geflochtene Körbe dienten der Aufbewahrung der mannigfaltigen Früchte des Feldes und Waldes, welche von dem Bewohner der Seedörfer als Nahrungsmittel gesammelt wurden. Und daß dem Pfahlbaumenschen auch die Putzsucht nicht fremd war, erzählen uns Perlen aus Thon und Bernstein, durchbohrte Muscheln und Zähne vom Schwein und von Raubtieren, wie die zierlichen Nadeln und Spangen aus Knochen oder Metall, mit denen er seinen Körper und seine Gewänder schmückte.
Nur wenig wissen wir über die physische Beschaffenheit der Bewohner jener Seedörfer. Selten finden sich im Seeboden Schädel oder Knochen von Menschen, die ihren Tod vielleicht zufällig im Wasser gefunden oder bei der Verteidigung ihres Heims gegen feindliche Angriffe gefallen sind. Die Gräber ihrer Toten müssen wir auf dem Festlande suchen.
Trotz der Unzulänglichkeit des Materials, auf Grund dessen wir uns die Kulturverhältnisse der Pfahlbauzeit vergegenwärtigen können, haben die Funde unserer Altertumsforscher, von denen z. B. das Museum Schwab in Biel am Bieler See in der Schweiz eine sehr übersichtliche Zusammenstellung enthält, doch genügt, um Dichter und Maler zu reizen, mehr oder weniger ausgeführte Bilder von den Zuständen und Menschen jener Zeit zu entwerfen. Die bedeutendste litterarische Leistung dieser Art ist die Pfahldorf-Idylle, welche der schwäbische Dichter und Philosoph Friedrich Theodor Vischer seinem Roman „Auch Einer“ einverleibt hat. Eine sehr anmutige Veranschaulichung eines oberbayerischen Pfahldorfs bietet das Bild von Olof Winkler, das die Leser auf der nächsten Seite dieser Nummer finden. Auch er hat für seine Darstellung sehr gewissenhaft alles benutzt, was die prähistorische Forschung an Thatsachen zu Tage gefördert hat.
Mit der fortschreitenden Kultur verloren auch die Pfahlbauten ihre
Bedeutung. In der Ostschweiz und in Oesterreich hört ihre Benutzung
mit der Einführung des Metalls auf, in dem westlichen Teile der Schweiz
und in Oberbayern wurden die so lange innegehabten Wohnsitze erst nach
der Bronzezeit von ihren Bewohnern, wenn diese nicht schon vorher gewaltsam
vertrieben waren, verlassen und mit behaglicheren Niederlassungen
auf dem Festlande vertauscht. J. Deichmüller.
Haus Beetzen.
Wenn Ditscha darüber nachdenkt, wie es hätte sein können, wäre ihre Jugend wohlbeschützt und gehütet gewesen, wäre das Eine nicht geschehen – dann überkommt sie eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine bittere Stimmung, die zu bezwingen auch jetzt, nach so viel Zeit, sie Wochen braucht. Sie denkt mitunter lange nicht daran, bis ein Zufall, ein Wort oder irgend eine Kleinigkeit, die aus jenen Tagen ihres Irrtums oder aus den späteren ihres kurzen Glückes stammt, wie mit einem Zauberstab sie in die Vergangenheit zurückversetzt und ihr schwere Stunden schafft.
Einmal hatte Hanne behauptet, Herrn Rothe in der Kirche gesehen zu haben. Ein andermal, ungefähr zwei Jahre nachdem sie sich getrennt – der Junge war noch klein – erblickt sie beim Zeitungslesen seinen Namen. Alles Blut drängt ihr zu Herzen, die zitternden Hände können das Blatt kaum halten. – Eine Verlobungsanzeige: Rothe – Franz Rothe – – ach, gottlob – ein anderer!
Sie fühlte noch den ganzen Tag das Zittern in ihrer Seele nach.
Und dann, niemand hat ja davon erfahren, dann hält sie eines Tages einen Brief in der Hand vom Mutterle, von seinem Mutterle. Die alte Frau schreibt so gut, so mütterlich und bittet sie, doch Vertrauen zu ihr zu fassen, ihr zu sagen, weshalb denn sie und Kurt sich getrennt haben.
„Er spricht nicht darüber, aber er ist so ein anderer geworden, er, der ein so warmer, sonniger Mensch war. Und jetzt sitzt er auf seinem zweiten Gut in Ostpreußen droben, beinah’ an der russischen Grenze, wo die Füchse einander ‚Gute Nacht!‘ sagen, mutterseelenallein, schreibt kaum und verbringt seine Zeit in Einsamkeit und Arbeit, ohne einen Lichtstrahl. Und das schöne Schlössel in der Mark steht leer, wie habe ich doch Sehnsucht nach dem Schlössel! – –“
Ditscha solle doch offen sagen, was es gegeben hat. Ein paar alte Mutterhände, die seien geduldig und auch geschickt, Knoten zu entwirren, die unlösbar scheinen, auch geschickt, zerrissene Fäden wieder zusammenzuknüpfen. Ihr liebes Töchterle sei doch gewiß ebenso wenig glücklich wie ihr Kurt jetzt, und sie, das Mütterle, könne keine Nacht vor Thränen schlafen. – –
Was es denn gewesen sei. Gebe es doch keinen Fehler, den die Liebe nicht verzeihen und vergeben könne! Arme Ditscha! So herzbrechend geweint wie über diesen Brief hat sie vielleicht noch nie, und tagelang ist sie umhergegangen, ehe sie geantwortet, und unzählige Briefe hat sie zerrissen, bevor sie einen zustande brachte, den sie abschicken konnte.
Sie hat geschrieben, das Mutterle solle ihr vergeben, sie sei an allem schuld. Aber reden könne sie nicht darüber und zusammenkommen könnten sie auch nicht. Sie wünsche ihm tausendfaches Glück, und sie sei ruhig jetzt und lebe nur in einem, in dem Bruder, der ihr vom Schicksal ans Herz gelegt worden; und das sei mehr Glück und Seligkeit, als sie habe erwarten können, und ihr ganzes Leben setze sie dafür ein. Sie danke dem Mutterle viel tausendmal und bitte, ihrer in alle Zukunft milde zu gedenken.
[461]
[462] Seitdem hat sie nichts wieder gehört von ihm, doch lange hat ihr die Freudigkeit in ihrem Thun gefehlt. Aber endlich ist dennoch ein Friede geworden, der sie ganz glücklich macht, soweit Glücklichsein mit Arbeit, Aufopferung und gänzlichem Vergessen seiner selbst identisch ist. Sie kann jetzt den Schloßturm von Dombeck sehen ohne Herzklopfen und ruhig davon reden hören, daß sein Herr – ein Gerücht, das immer wieder auftaucht in der Umgegend – daß Rothe nun bald zurückkehren werde, um die Bewirtschaftung des schönen Gutes wieder selbst zu übernehmen. In ihren Zukunftsträumen leuchtet einer hervor, der öfter wiederkehrt, der von einem freundlichen Verkehr zwischen Beetzen und Dombeck, der liebliche Traum von einer Freundschaft zwischen Ditscha und Rothe, mit wehmütig lächelnder Erinnerung an ein kurzes Glück, mit unbegrenzter Hochachtung beiderseits. – – – Sie sind ja nun alt genug, um Freunde zu werden, und er wird milder denken, und stiller in den Herzen ist’s auch geworden, und klarer blaßblauer Herbsthimmel steht über ihrer Welt.
Der Junge aber, der soll alles haben und genießen, was ihr versagt wurde, der gute kleine Mensch; er ist wirklich prachtvoll geworden und Ditscha ist ganz stolz auf dieses Resultat ihrer Erziehung. Ernst, ideal denkend und doch so schneidig, so aufgebracht über alles Gemeine und Unedle, so ritterlich und ein kindergutes frohes Herz dabei, ein vornehmer Mensch mit einem Worte.
Und sie nimmt noch einmal seinen Brief aus der Tasche, da fallen ihre Augen auf ein Postskript, das sie vorhin übersehen.
„Eben habe ich in der Manege die Bekanntschaft von Mrs. und Miß Perth gemacht. Ditscha, ich sage Dir – prachtvoll, das heißt die Letztere; ich habe nie geglaubt, daß es solch eine Schönheit giebt, und bekam etwas wie einen Schreck, als ich sie sah. Erschrick Du nicht auch vor dieser meiner Begeisterung, es hat nichts auf sich.“
Ditscha seufzt plötzlich. Ach nein, diese da erschreckt sie nicht, aber es wird doch einmal die Zeit kommen, wo sie das Einzige, das ihr gehört auf dieser Welt, mit einer Andern teilen muß – und wie teilen! Sie wird sich begnügen müssen mit einem winzigen Bruchteilchen seiner Liebe.
Sie haben es schon hundertmal ausgerechnet, wie es werden wird dereinst auf Beetzen. Daß er, dessen Gesundheit der möglichsten Schonung bedarf, keinen andern Lebensplan wählt, als den Boden seiner Väter zu bebauen, das ist natürlich; der Pachtkontrakt, der nächstes Jahr abläuft, wird deshalb auch nicht wieder erneuert werden. Den Flügel des Herrenhauses, den seine Mutter innehatte, wird er bewohnen, bewohnt ihn jetzt schon. Die Räume werden auch genügen, wenn er sich verheiratet. Ditscha will Tante Klementinens Zimmer nehmen, er mag zwar nichts davon hören, aber sie wird es durchsetzen, denn sie möchte nicht im Wege sein, und von da oben herab kann sie noch helfen und raten genug, wenn man ihren Rat will; und von dort oben ist eine so schöne Aussicht ins Land hinein bis nach Dombeck hinüber.
Und immer soll Friede sein im Hause Beetzen und gegenseitiges Vertrauen, und schenkt Gott dem alten Stamme frische Knospen, so sollen sie eine Jugend haben so sonnig und blau wie ein Frühjahrstag, das hat sich Ditscha vorgenommen. Sie dürfen einstmals nicht an solchen Erinnerungen kranken wie sie.
Sie lächelt jetzt über die Begeisterung, mit der er von dieser Miß Perth schreibt, und sie denkt, was wohl diese junge Dame über den schönen schlanken Mann sagen mag. Ei, er wird ihr schon gefallen, eine solche Partie! Aber das ist ja alles gleichgültig, Miß Perth kommt gar nicht in Betracht für einen Kronen! Und sie geht nach oben und schreibt einen langen Brief an ihren Jungen, dann sucht sie Hanne auf, die, sehr korpulent geworden, in ihrem Stübchen im Sorgenstuhl sitzt und mit ihren alten Fingern Strümpfe stopft für den Junker. Hanne muß natürlich jeden Brief, ganz oder doch teilweise, hören, auch das von der schönen Miß natürlich.
„Ach Gott bewahr’ gnä’ Fröln Sophie,“ sagt die Alte, „das gefällt mich gar nich’, ich kann die ollen Amerikaners nich’ leiden, seitdem die Grete Buschen da auch ’nüber gegangen is’! Da lauft alles Slechte zusammen, ich danke vor die Amerikaners.“
Ditscha schüttelt den Kopf und sieht sie amüsiert an.
„Ich kann da abslut nichts bi finnen to’n Koppschütteln,“ meint Hanne verdrießlich, „un’ ich hab’ immer Ahnungen un’ Träumens, un’ in de’ verblichene’ Nacht hab’ ich ’was geträumt von große Wäsche un’ von trüben Smutzwasser, un’ wenn ich das thue, da giebt’s allemal ’n Unglück.“
Ditscha klopft der alten Frau auf die Wange. „Das Unglück lassen wir nicht wieder ein,“ sagt sie, „jetzt kann nur noch Glück kommen, Alterchen.“ Sie sieht so strahlend aus, ordentlich jung mit ihren vierzig Jahren.
„Gott steh’ mich bei – versünnigen Se sich nicht, gnä’ Fröln,“ wehrt die Alte ab. „Unglück släft nich!“
„Doch!“ sagt Ditscha, „ich habe das Gefühl, daß alles Schwere hinter uns liegt, Hanne, und nun mach’ mir die Pferde nicht scheu mit Deinem Gekrächze – verstanden, Du Unglücksrabe?“
„Und vor dem Tod is’ keiner nicht glücklich,“ beharrt Hanne und sieht der schönen Frauengestalt nach, die elastisch aus dem Zimmer schreitet. „Verdienen thut sie schon, daß alles eitel Glück is’ bis an ihr Grab, aber – o Herr Gott, schallst’s ja wissen.“
Vierzehn Tage später kommt ein Brief aus Dresden, in dem sehr viel steht, was Ditscha wenig interessiert, denn die Miß Perth figuriert darin mehr, als ihrem Geschmack zusagt. Der Jung ist mit dem schönen Mädchen ausgefahren, geritten, gegangen, er hat mit ihr getanzt auf einem Gartenfeste und nennt sie ein süßes Geschöpf. „Wenn Du sie doch sehen könntest, Ditscha!“
Ditscha erwähnt in ihrer Antwort Miß Perth nur sehr flüchtig, aber sie erwähnt sie doch, denn sie kann ihren Liebling nicht kränken. Sie will auch die Sache ganz objektiv betrachten; obgleich sich in ihrem Herzen eine leise Unruhe bemerkbar macht. Schließlich, warum sollte er nicht einmal für ein schönes Mädchen schwärmen?
„Hast Du etwas zu bestellen an unsern Jungen?“ fragt sie Onkel Joachim, der fröstelnd in seinen Wolldecken im heißen Maisonnenschein auf der Terrasse sitzt und ins Leere starrt. Hanne, die den Posten einer Art von Krankenwärterin bei ihm versieht, sitzt mit dem Strickstrumpf in respektvoller Entfernung dabei.
„Soll nicht zu lange warten,“ murmelt er, „sonst sterbe ich ohne Trost.“
Er bleibt immer derselbe. Es ist, als ob das schwache Flämmchen seines Lebens nur noch Nahrung saugt aus dem heißen Verlangen, seinen Stamm nicht aussterben zu sehen.
Hanne hat mit ihrer Herrin einen Blick gewechselt. „Ich denke, er wird bald wiederkommen,“ sagt letztere fröhlich, „und dann soll uns der Jung’ hier ordentlich auf die Brautschau gehen.“
„Bei den Finkenbergs sind ihrer sieben,“ meint er und wendet den Kopf zu Ditscha, „müssen jetzt herangekommen sein. Keine Schönheiten, aber gut – gut und klug. Alle Achtung vor der Mutter, Ditscha, und die Mütter, die Mütter sollen die Jungens ansehen, wenn sie zu freien kommen.“
„Dat’s ’n wahr’ Wort, Herr Baron!“ nickt Hanne.
Ditscha kritzelt drinnen im Eßsaal noch ein paar Zeilen hin: „Bleib’ nicht zu lange mehr, Joachim, Onkel ist recht kümmerlich jetzt; nicht daß augenblickliche Gefahr vorhanden wäre, aber er vergeht in Sehnsucht nach Dir – Du weißt ja, was die Sonne für ihn und für ganz Beetzen ist.“ Dann kommt sie wieder hinaus und sitzt auf der Terrasse neben dem alten Herrn und der alten Dienerin und spricht in ihrer stillen freundlichen Weise von dem, was dem Alten das Liebste ist, von der Zeit, wo der junge Schloßherr hier regieren wird.
„Er soll wieder Fohlen ziehen,“ sagt der alte Herr, „war ein kapitaler Schlag, den wir hier hatten.“
„Un die Melkwirtschaft beim Pachter, die paßt mich nu schon ganz und garnich, Herr Baron, die neumodigen Schweizers; die sin nich vör uns’ Vieh. Wo? Da ward doch kein Schweizerkäs von, denn uns’ Futter is doch nich so as das in de Berge.“
„Alter Klugschnack!“ brummt Joachim von Kronen, „Wenn’s nächstens Kinder zu püschen giebt, kannst mitreden, aber hier sei still!“
„Ja, Se hebben recht, Herr Baron,“ nickt die Alte ohne eine Spur von Empfindlichkeit und strickt weiter. Und durch die Luft wogt Blütenduft, die Blätter und Sträuche schimmern im lichten Grün und vom Kirchlein klingt die Vesperglocke; blau ist der Himmel, keine Wolke –.
Am andern Morgen ganz in der Frühe wandert Ditscha mit dem Schlüsselkörbchen am Arm durch die Zimmer ihres Jung’. Sie hat alle Fenster aufsperren lassen, denn es kann ja sein, daß er bald, sehr bald kommt; und sie freut sich über jedes Möbel, über jedes Bild. Sie bleibt in seinem Arbeitszimmer stehen, das jetzt durch eine Thür, die man durch die Mauer gebrochen, mit der [463] Bibliothek verbunden ist. Ueber dem Schreibtisch hängt Ditschas Porträt, eine große Photographie im geschmackvollen Rahmen. Sie wird immer dort hängen, hat er erklärt.
„Nein, das wird sie natürlich nicht!“ sagt sich Ditscha, aber wer wird sie verdrängen?
Sie steht davor in tiefem Sinnen, die Hände verschlungen, das Schlüsselkörbchen am Arm, da kommt der Diener und bringt ihr einen Brief.
„Eingeschrieben?“ fragt sie erstaunt.
„Jawohl, gnädiges Fräulein.“
Sie sucht im Schlüsselkörbchen nach einem Bleistift und quittiert mit zitternder Hand. Ein ganzes Weilchen sitzt sie dann im Sessel, in der einen Hand den Brief, in der andern das zierliche Messer mit dem Mosaikgriff, das sie vom Schreibtisch genommen, um den Brief zu öffnen. Ihr ist’s, als ob eine unsichtbare Hand sie zurückhält: Oeffne nicht, es birgt Unglück.
„Lächerlich!“ sagt sie, „warum soll ich denn Angst haben?“ Und sie schneidet das Schreiben auf. Es sind nur wenig Zeilen, fast unleserlich flüchtig geschrieben:
„Liebe Ditscha!
Komm’! Sieh Dir das Mädchen an, das ich liebe! Ich bin nicht fähig, mehr zu schreiben, ich muß Dich sprechen. Wenn Du mit dem Zehnuhrzuge reist, kannst Du abends sechs Uhr in Dresden sein. Liebe einzige Ditscha komm’, mach’ das Maß Deiner Güte voll!
Ich hole Dich ab von der Bahn.
Dein Joachim.“
Da ist es – sobald schon! Ach, und er ist doch noch so jung! Sie fahrt empor und blickt um sich. Träumt sie denn? Ihr kommt es vor, als ob die Sonne nicht mehr so golden scheint wie vorhin, als ob die Luft dick und schwer geworden, die sie atmet. Eine herzbeklemmende Angst hat sie plötzlich gepackt.
Wer ist sie? Wen hat er sich erwählt? – Sie geht mit schleppenden Schritten aus dem Zimmer, sie will sich zur Reise rüsten – sie muß hin! Wann wäre sie nicht gegangen, wenn er sie rief, und wohin nicht? – Die Jungfer soll ihr den Koffer packen, sie hat keine Gedanken. Wäre er krank, sie könnte nicht gebeugter, nicht verstörter sein. Mechanisch trifft sie Anordnungen für ihre Abwesenheit, und beim Frühstück erscheint sie bereits in ihrer Reisetoilette, einem dunkelblauen Cheviotkostüm und einem kleinen frauenhaften Kapotthütchen mit einfacher Bandschleife – ihren Jahren angemessen, wie sie sich ausdrückt – das sie aber fast jung erscheinen läßt.
Der alte Herr sieht sie ganz erstaunt an. „Willst Du ausfahren, Sophie?“ fragt er, eigentümlich berührt.
„Onkelchen, ich muß Dich ein paar Tage allein lassen, ich reise zum Jungen nach Dresden, nachher um zehn Uhr,“ sagt sie möglichst unbefangen.
„Ist er krank?“ fragt er hastig, und die Hand, die die Gabel führt sinkt zurück.
„Nein, Onkel Jochen, ganz gesund, sehr gesund,“ tröstet sie.
„So, so – gottlob!“ murmelt er und greift wieder zur Gabel.
Ditscha überlegt. Soll sie dem alten Herrn davon erzählen, daß Achim im Begriff steht, sein Herz zu verschenken, daß er es schon gethan hat? Sie denkt, er wird sich freuen darüber, aber als sie anfangen will, zu sprechen, überkommt sie wieder die sonderbare Angst, und sie schweigt.
„Wir wollen ein wenig Kunst schwärmen miteinander, Onkel,“ sagt sie.
Er nickt. „Nicht lange bleiben, Kind. Bring’ ihn wieder mit!“
„Ja, Onkel!“
Eine Stunde später fährt sie nach Bützow zur Bahn. Der Himmel ist ein wenig bewölkt, ein feuchter warmer Dunst, wie in einem Treibhause, liegt über der Landschaft. „Wachswetter, gnä’ Fröln,“ sagt der alte Kutscher Franz, der einzige außer Hanne, der noch von damals im Dienste ist in Beetzen. „Hab’s nun so oft erlebt, das Frühjahr, aber ’s Herze wird einem noch allemal weit dabei.“
Am Bützower neuen Bahnhof hat sie nicht lange mehr zu warten; der Schnellzug fährt ein, sie nimmt Platz im Coupé, läßt den alten Herrn noch einmal grüßen, und dahin rast der Zug. Sie weiß gegen Abend nicht recht, wie ihr der Tag vergangen ist, in der Hauptsache mit Vernunftpredigten, die sie sich selbst gehalten, aber umsonst, sie kann und kann das thörichte Angstgefühl nicht los werden.
Ueber Dresden liegt ein feiner Regenschleier, ein ganz leiser köstlicher Frühlingsregen ist es. In allen Gärten blühende Sträucher, rosa und weiß und lila, und ein süßer Duft strömt durch das geöffnete Fenster ins Coupé. Auf dem Böhmischen Bahnhof ein reges Gewühl. Ditscha späht aus dem Fenster, dann winkt sie einem schlanken, auffallend hübschen jungen Mann im hellen Anzuge zu, der im nächsten Augenblick mit etwas blassem Gesicht ihr aus dem Wagen hilft, ihr wiederholt die Hand küßt und weiter nichts sagen kann als: „Ich danke Dir, ich danke Dir!“
Handtasche und Koffer sind bald übergeben; er bietet der Schwester den Arm – das Hotel ist ganz nahe – und sie gehen unter dem Schirm, mit dem er sie sorglich beschützt, über den nassen Platz nach dem Gasthof.
„Bei Mama zu wohnen, das hieltest Du nicht aus, Ditscha,“ sagt er. „Sie wissen auch gar nichts von der ganzen Sache, erst muß ich Dich sprechen.“
Endlich sind sie in einem freundlichen Zimmer, dessen Fenster nach dem Garten hinaus schauen, in welchem der Regen alle die jungen Blätter vom Ruß gereinigt hat, so daß sie aussehen, als hätten sie sich in der reinsten Waldluft entfaltet. Es ist ein kleiner Salon mit Rokokomöbeln und ein paar bequemen Polsterstühlen dazwischen; nebenan das Schlafzimmer. Auf dem runden Tisch ein riesiger Veilchenstrauß, der das ganze Zimmer durchduftet.
Ditscha, die Hut und Mantel vor dem Spiegel abgenommen hat, nickt dem jungen Mann im Glase dankbar zu. Er merkt es nicht, er sitzt in einem der Sessel und starrt aus dem Fenster und trommelt mit der Hand auf dem eingelegten Tisch.
„Und nun beichte, mein alter Junge,“ sagte sie, neben ihn tretend und ihm einen kosenden kleinen Schlag auf die Wange gebend. „Was hast Du angefangen, böser Mensch? – Wer ist sie? Wo hast Du sie kennengelernt?“
Er nimmt ihre Hände und drückt sie an seine Augen. „Du wirst sehr müde sein,“ murmelt er.
„Ganz und gar nicht, Joachim.“
„Aber hungrig?“
„Auch nicht. Ich würde nicht essen können, bevor ich alles weiß – spanne mich nicht auf die Folter – sprich, wer ist sie?“
Sie hat sich neben ihn in die Sofaecke gesetzt, stützt die Arme auf den Tisch und sieht ihn an mit den großen stillen Augen, die ihre innere Unruhe nicht verbergen können.
Er antwortet nicht.
„Eine von den jungen Damen, die im Hause Deiner Eltern verkehren – vermutlich?“ fragt sie, als er beharrlich schweigt.
Er schüttelt heftig den Kopf. „Nein, Ditscha, nein – es ist Ellen Perth, die junge Amerikanerin, von der ich Dir schrieb.“
„Ellen Perth? Und Du – Du liebst sie?“
„Ja, Ditscha!“
„Und sie erwidert Deine Neigung?“
„Ja, ich glaube – nein, ich weiß es bestimmt.“
„Ausgesprochen ist das Wort noch nicht?“
„Nein! Das Wort noch nicht. Aber – – ich hatte Dir ja das Versprechen gegeben, Du solltest sie erst sehen, bevor ich es thue.“
„Und Du glaubst, mit ihr glücklich zu werden?“
„Aber, Ditscha, wie Du fragst! Natürlich! Und wenn ich es auch nicht glaubte, wenn ich gewiß wüßte, ich würde totunglücklich mit ihr, ich – ich könnte doch nicht von ihr lassen!“
Sie zuckt zusammen. – Wenn’s so ist, warum fragt er sie erst? Er hat ja das Recht, zu wählen! Wie thöricht von ihr, zu verlangen, daß er sie erst befragen soll, und wie rührend gewissenhaft von ihm, daß er dies Versprechen hält.
Er ist emporgesprungen und geht im Zimmer auf und ab.
„Und ihre Eltern?“
Er hebt die Schultern und streicht sich über die Stirn. „Die Eltern? – Ich weiß nicht, Ditscha – sie leben hier, wie viele Amerikaner, ziemlich luxuriös, versäumen kein Konzert, kein Theater, geben Diners, haben eine Equipage gemietet und Miß Ellen – ich lernte sie kennen in der Manege – reitet, macht wunderbare Toilette, spielt, singt, ist liebenswürdig und schön – weiter weiß ich nichts.“
„Und gebildete Leute?“
„Der Vater scheint es ja – hat – lieber Gott, ich weiß es nicht. Die Mutter – sie gefällt mir weniger, aber ich bin auch sehr verwöhnt, Ditscha. Wenn man immer mit jemand zusammen gewesen ist, wie Du bist, dann –“ er sieht sie zärtlich an dabei und streichelt ihren Arm.
[464] „Mein lieber Jung’, sage mir nur jetzt keine Schmeicheleien, rede nur von der Mutter – die Mutter also gefällt Dir nicht?“
„Ganz und gar nicht! Sie ist die einzige in der Familie, die den Parvenu nicht verleugnen kann; sie spricht ein unmögliches Englisch und ein noch unmöglicheres Deutsch, sie kleidet sich wie eine Hökerfrau am ersten Pfingstfeiertage, sie riecht auf eine Meile nach Patchouli und trägt Brillantbroschen auf der offnen Straße von immenser Größe, mit einem Wort – die Mutter ist fürchterlich.“
„Und trotzdem?“
„Ich heirate ja die Mutter nicht, Ditscha,“ wendet er, sich zu einem Scherz zwingend, ein.
„Alles in allem, mein Herz – es scheint mir keine Partie für Dich zu sein,“ sagt Ditscha ruhig.
„Sieh Ellen erst,“ antwortet er.
„Ach, mein Junge, ich weiß ja, daß ich Dich nicht hindern kann, aber Du würdest es nie – – eine einzige gewöhnliche Seite, die kleinste ordinäre Angewohnheit bei Deiner Frau – Du würdest es nicht ertragen können.“
„Ellen ist eine vollendete Dame, Ditscha!“
„Ich glaube nicht daran,“ beharrt sie, „die Luft der Kinderstube muß sehr rein sein, Achim, um eine vollendete Dame zu bilden. In Patchoulidüften gedeihen sie nicht.“
„Aber, wir könnten sie ja noch erziehen,“ sagt er leise, „Du und ich, Ditscha!“ Er faßt ihre Hand und sieht in ihre Augen bittend, ach so bittend – sie hat diesem Blick nie widerstehen können.
„Das ist wahr, mein Jung’, und wenn sie Dich wahrhaft liebt, wird sie es auch lernen.“
„Ditscha,“ sagt er jubelnd.
Sie runzelt die Stirn. „Achim, ich weiß ja nicht, ob sie Dich so lieben kann, wie Du geliebt sein sollst.“
„Lerne sie kennen, Ditscha!“
„Ja natürlich, gieb mir nur Gelegenheit.“
„Würdest Du mir zuliebe mit in die Oper gehen, trotz Deiner Reisemüdigkeit?“
„Könnte ich sie dort sehen?“
„Ja, ich habe für Dich einen Platz in der Loge neben ihnen, ich selbst bin im Parkett. Du kannst Dir Ellen aus nächster Nähe betrachten.“
„Aber meine Toilette! Doch ja, ich kann mich umziehen, ich habe ein schwarzes seidenes Kleid mit. – Es ist eilig, wie? Ach bitte, bestelle mir rasch eine Tasse Thee; in zehn Minuten bin ich fertig.“
Sie zieht sich im Nebenzimmer um mit fliegender Hast und tritt pünklich, wie sie versprochen, nach zehn Minuten wieder ein, in einer schwarzen Moirérobe, die weiter keinen Vorzug hat als die Güte des Stoffes und die Vorzüglichkeit des Sitzens.
Nach zwanzig Minuten befindet sie sich in einer Loge des ersten Ranges und mustert das Publikum. Da es eine Wagner-Oper ist, sind alle Plätze des großen Hauses besetzt, nur im ersten Rang sind noch Lücken, auch in der Loge, neben welcher Ditscha ihren Sitz hat. Sie sucht im Parkett nach Achim und tauscht einen Blick mit ihm aus. Ein unsägliches Mitleid fühlt sie mit ihm, dem armen thörichten Jungen, der sein Herz verloren hat – Gott weiß an wen!
In diesem Augenblick öffnet sich die Logenthür nebenan, das Rauschen seidener Kleider, eine Wolke von aufdringlichem Patchouliduft, und neben Ditscha, nur getrennt durch die mit Sammet bezogene Logenabteilung, läßt sich schwer atmend ein menschliches Wesen, eine Frau, fallen, stark bis zur Grenze der Möglichkeit eingeschnürt, hochroten Gesichtes, mit hochblond gefärbten, in tausend Löckchen gebrannten Tizianhaaren, funkelnd von Brillanten und in terrakottafarbenen Damast gezwängt.
„Barmherziger!“ denkt Ditscha entsetzt, „soll das die Mutter sein?“ Dann wendet sie langsam das Haupt.
Hinter dem Sessel dieser Dame steht eine Mädchengestalt und betrachtet das Publikum. Ditschas Herz zuckt zusammen, jetzt vermag sie die kopflose Leidenschaft ihres Lieblings zu begreifen, fühlt sie, daß sie ihn verloren hat. Wie eine Marmorstatue steht diese wunderbar schlanke, in schneeweiße Seide gehüllte Mädchengestalt da; ein wahrhaft klassisch schönes Köpfchen sitzt auf dem anmutigen Hals, das dunkle Haar ist im einfachen Knoten am Hinterhaupt zusammengefaßt, über der blendend weißen Stirn spielen kurze Löckchen, und ein so süßes Gesicht, ein Paar so schöner trauriger schwarzer Angen – eine Schönheit im vornehmsten Stil. Sie sieht in das Parkett hinunter, und nun leuchten die Augen auf und langsam hebt sie einen Strauß Maiglöckchen zum Mund, einem ernsten kleinen Mund, und berührt ihn mit den Lippen.
Ditscha wendet zögernd ihren Blick ab und blickt zu Achim hinüber, der aber hat keine Antwort für sie, seine Augen hängen wie trunken an dem schönen Geschöpf.
Sie ist’s also, Ellen Perth!
Nun gleitet sie die Stufen hinab und nimmt Platz neben ihrer Mutter mit dem Anstand einer jungen Königin. Zum Glück bemerkt sie Ditschas Blicke nicht. Ach, und Ditscha ist es, als müsse sie hinausgehen und Achim am Arme packen und ihm sagen: „Komm’ – komm’ nach Beetzen, mein armer Junge, komm’ – lerne vergessen!“
Nun plötzlich Stille. Die Ouvertüre beginnt, alles lauscht, nur die dicke Nachbarin Ditschas kann sich noch nicht beruhigen, sie fächelt sich Kühlung zu mit einem Straußfederfächer von riesiger Größe und fordert schließlich den hinter ihr sitzenden Herrn mit heiserer Flüsterstimme auf, ihr den Umhang zu geben, weil sie so „transportiert“ habe.
Ditscha möchte lachen, wenn ihr die Thränen nicht so nahe säßen. Sie sieht und hört nichts von dem, was auf der Bühne vorgeht, sie hat nur Augen für ihre Nachbarn.
Als der Vorhang gefallen ist, sagt Madame mit ihrer fetten Stimme: „Hast Du Kronen gesehen, Ellen?“
Die junge Dame nickt.
„Dann wird er wohl in der großen Pause heraufkommen? Ihr trefft Euch jedenfalls am Büffett? Ich bleibe sitzen derweil, ich geh’ nicht gern spazieren – grüß’ ihn von mir!“ Dies alles in einem furchtbaren Englisch, von einem Lachen begleitet, das den ganzen ungeheuren Körper erschüttert.
Miß Ellen thut, als höre sie nichts; ihre Augen und Joachims Augen lassen nicht voneinander. – Jetzt biegt sich Herr Perth etwas vor und reicht seiner Gattin einen Brief – Ditscha hat Gelegenheit, ihn zu sehen. Ein sehr hagerer Herr mit scharfen Gesichtszügen, gefärbtem Schnurrbart und ziemlichem Kahlkopf; sehr elegant gekleidet, ganz vornehm alles in allem. Ditscha hat so ähnliche Erscheinungen gesehen in Monte Carlo und Baden-Baden.
„Den Brief,“ sagt er, ebenfalls englisch, „gab mir der Postbote, als ich noch einmal hinaufging, um Dein Opernglas zu holen.“
„Wo denn her?“ fragt sie zurück.
„Du weißt ja, aus Bützow -“
Ditscha glaubt, sie habe sich verhört, und schilt sich selber; wie sollen diese Amerikaner Beziehung haben zu dem kleinen weltfernen Bützow?
„Kannst Du es lesen?“ erkundigt sich der Herr, ihr ein Schreiben gebend.
„Nein,“ antwortet sie, „ich habe meine Lorgnette vergessen, ist’s guter Bescheid?“
„Ganz gut! Der Alte auf Beetzen ist nur noch eine wandelnde Leiche,“ spricht er, sich näher zu ihr beugend.
„Süh! Süh!“ nickt die Dame in unverfälschtem Bützower Dialekt.
„Und das Regiment führt die – –“ setzt er flüsternd hinzu.
Ditscha versteht nur das erstere.
„Mit der werd’ ich schon fertig,“ sagt Madame und lehnt sich bequem zurück.
In Ditschas Kopf wirbelt es, sie möchte ihn am liebsten festhalten. Um Gotteswillen – träumt sie denn? – Sie starrt mit nahezu beleidigender Neugier die hochblonde geschminkte Person neben sich an, aber das Gesicht ist dem ihren abgewandt.
Der zweite Akt beginnt. Ditscha erscheint es kaum möglich, die Musik zu ertragen, das Parfüm weiter einzuatmen; ein Angstgefühl, die Ahnung eines Unheils ist über sie gekommen, daß es ihrer ganzen seelischen Kraft bedarf, um auszuharren. Endlich die Pause. Ditscha bleibt sitzen; das schöne Mädchen nebenan erhebt sich und verläßt die Loge, begleitet von dem Herrn, den sie Papa nennt. Die dicke Dame bleibt ebenfalls im Zuschauerraum und mustert die Logen, das Opernglas vor den Augen.
Ditscha verharrt mit zusammengepreßten Lippen und kreideweißem Gesichte, ihre Augen unverwandt auf die Person geheftet. Endlich läßt diese das Opernglas sinken und sieht mit gleichgültiger Miene zu ihr hinüber. Das verschwommene Gesicht wird plötzlich
[465][466] fahl unter der Schminke, die Augen zwinkern und öffnen sich dann weit – sie hat Ditscha erkannt und Ditscha sie. Ditschas eisige Miene beweist es.
Mistreß Perth ist Grete Busch!
Ditscha erhebt sich jetzt und verläßt den Zuschauerraum, Mistreß Perth folgt ihr; vor der Logenthür treffen sie zusammen. Die ehemalige Grete Busch hat ihr Gesicht in die süßesten Falten gezogen, deren es fähig ist; mit ausgestreckten Händen steht sie vor Ditscha.
„Ach, mein liebes teures Fräulein von Kronen, welche Ueberraschung!“ ruft sie in den Tönen höchster Freude.
Ditscha sieht scheinbar nichts von ihr, sie weicht nur zur Seite und geht an ihr vorüber. Ein paar Damen, die die kleine Scene beobachtet haben, sind amüsiert über die dicke, krampfhaft nach Atem ringende Person, die der schlanken vornehmen Gestalt mit wütenden Blicken nachstarrt.
Ditscha ist im Foyer angelangt. In dem Wogen und Drängen der plaudernden, promenierenden Menschen, die es erfüllen, wird es ihr schwer, den Bruder zu erspähen. Endlich sieht sie ihn neben dem schönen Mädchen, sein Gesicht strahlt, er spricht eifrig zu ihr. Mit Mühe gelangt sie zu ihm, legt, neben ihm schreitend, die Hand auf seine Schulter und sagt heiser: „Begleite mich ins Hotel, Joachim; ich fühle mich nicht wohl.“
Ein Blick in ihr verändertes Gesicht beweist, daß sie die Wahrheit spricht. Er ist sofort bereit, verabschiedet sich verwirrt von seiner schönen Gefährtin, die verwundert die ernste blasse Dame mustert, und fragt besorgt nach der Schwester Befinden.
Ditscha ist leichenblaß, spricht aber nicht, auch im Wagen nicht. „Soll ich mit hinaufkommen?“ fragt er, als sie vor dem Hotel aussteigen.
„Ich bitte darum,“ sagt sie.
(Fortsetzung folgt.)
Wolkenbrüche.
Wundervolle Sommertage sind es … Wir wandern durch die lieblichen Thäler des Gebirgs. Da grüßt uns das ernste Dunkel der tiefen Buchenwälder, über uns lachen in frischem Grün die prächtigsten Wiesen; wir ziehen durch reiche Obstgärten und wogende Kornfelder. Welche Fülle des Segens hat die Natur über die Thäler ausgestreut und wie wundervoll ist das Landschaftsbild durch wildzerklüftete Kalkfelsen eingerahmt, von deren Zinnen alte Burgruinen herabschauen. Festgegründet scheint hier das Glück der Menschen und die Scholle lohnt die fleißige Arbeit und gehorsam treiben Flüsse und Bäche die klappernden Mühlenräder!
Eines Tages steigen im Südwesten Gewitterwolken auf und eilen wie im Sturm gegen die Bergeshöhen. Wir fürchten sie nicht. Hundertmal, tausendmal sind Gewitter über diese Berge und Thäler niedergegangen und haben keinen besonderen Schaden angerichtet; im Gegenteil, ihre Regengüsse haben die Fluren erquickt und Brunnen und Quellen mit neuen Wasservorräten gefüllt. Und es blitzt und donnert, in Strömen ergießt sich der Regen … Stunden verrinnen und wie verändert ist die Landschaft! Von allen Bergen rauschen Wasserströme hernieder, mit unheimlicher Schnelligkeit schwellen die Bäche und Flüsse an; hoch und höher steigt das Wasser, wie es die ältesten Menschen nicht erlebt haben; es kommt unangemeldet, mit unheimlicher Geschwindigkeit, überflutet die Felder, dringt in Dörfer und Städtchen ein, und die Gewalt seiner Wellen führt Scheunen, Ställe und Wohnhütten fort – verschlingt Hab’ und Gut und teure Menschenleben!
Und wenn die Sonne wieder hinter den Wolken hervorschaut, so leuchtet sie auf ein Bild unaussprechlichen Jammers und Elends nieder; in eine traurige Stätte der Verwüstung ist das liebliche Thal umgewandelt worden, und das alles hat in so kurzer Zeit ein einziger Regenguß – ein Wolkenbruch vollbracht.
Wie oft hört man nicht von solchen schweren Prüfungen, die dieses oder jenes Gebiet betroffen haben! Auch in diesem Jahre haben Wolkenbrüche und die in ihrem Gefolge auftretenden Ueberschwemmungen weite Striche Süddeutschlands und Oesterreichs verwüstet, und da erweckt der Anblick des großen Unglücks lebhafter denn je die Gedanken an Mittel zur Abwehr, unwillkürlich fragen wir uns, ob denn diese Uebel unvermeidbar sind oder ob man der Wiederkehr solcher Katastrophen vorbeugen kann.
Die Wissenschaft hat sich seit langer Zeit mit dieser Frage beschäftigt, denn bei sehr vielen Unternehmungen müssen die Menschen mit der Möglichkeit rechnen, daß plötzlich sehr große Wasserfluten mit dem Regen niedergehen. Baumeister, die unsere Großstädte kanalisieren, andere, die Stromläufe regulieren, Eisenbahningenieure, die Dämme bauen, wollen darüber unterrichtet sein, welche Wassermengen binnen eines Tages oder einer Stunde mit dem Regen niederfallen können, um danach die Weite ihrer Kanäle und Abflüsse einzurichten. Aufgabe der Meteorologen ist es nun, diese Fragen zu beantworten. Ein Netz meteorologischer Beobachtungsposten umzieht ja die Erde, und im Laufe der Jahrzehnte sind höchst wertvolle Aufschlüsse über die Regenverteilung und Regenmenge gesammelt worden.
Die Witterungserscheinungen sind launisch und unbeständig, und auch der Regenfall macht davon keine Ausnahme. In der norddeutschen Tiefebene beträgt die jährliche Regenmenge etwa 700 mm; d. h. es fällt dort im Laufe eines Jahres soviel Regen, daß jeder Quadratmeter der Bodenfläche eine 700 mm hohe Wasserschicht erhält.[1] Diese Regenmenge verteilt sich jedoch nicht gleichmäßig auf Wochen und Monate des Jahres; trockene Zeiten wechseln ab mit regenreichen und dann können Güsse erfolgen, die in kürzester Frist ganz erstaunliche Wassermassen bringen. Prof. Hellmann hat in der Zeitschrift des kgl. preußischen Statistischen Bureaus nachgewiesen, daß im ebenen Norddeutschland überall binnen 24 Stunden ein Niederschlag von 100 mm Höhe eintreten kann.
Im Gebirge liegen die Verhältnisse noch ungünstiger. Dort regnet es überhaupt mehr als in der Ebene, und namentlich diejenigen Seiten der Gebirgsländer sind durch Regenreichtum ausgezeichnet, welche von einem feuchten von dem Ocean kommenden Luftstrom getroffen werden. So sind z. B. in der Schweiz Regenmengen von über 200 mm an einem Tage wiederholt beobachtet worden. In solchen Gebieten muß der feuchte Luftstrom an den Bergen emporsteigen, er kühlt sich dabei ab und der Wasserdampf verdichtet sich alsdann zu Regen. Darum sind auch Gebirgsländer, die aus unmittelbarer Nähe von Oceanwinden getroffen werden, die regenreichsten Striche der Erde und darum treten auch Wolkenbrüche am häufigsten an Abhängen der Gebirge auf. Zur gewaltigsten Entfaltung gedeiht diese Naturerscheinung in den Tropenländern. So erfolgte der stärkste bekannte und gemessene Wolkenbruch zu Cherapongi in Assam, wo an einem einzigen Tage 1036 mm Regen fielen. Wir werden in Deutschland glücklicherweise von solchen Sündfluten nicht heimgesucht, welche Gewalt aber Wolkenbrüche auch bei uns erreichen können, zeigt die in der Nacht vom 22. zum 23. Juli 1855 auf dem Büchenberge zwischen Wernigerode und Elbingerode gemachte Erfahrung. Dort gingen in 24 Stunden solche Wassermassen nieder, daß die gemessene Regenhöhe 248 mm ergab. Nach Angaben Hellmanns ist dies der stärkste Regenfall während eines Tages, den man in Deutschland beobachtet hat. Das Gebiet, über das sich dieser Wolkenbruch erstreckte, war verhältnismäßig gering, denn auf dem Brocken hatte man an jenem Tage nur 63 mm und im Selkethal nur 51 mm Regenhöhe und trotzdem wurde damals Wernigerode durch die größte und plötzlichste Ueberschwemmung in diesem Jahrhundert heimgesucht.
Regen, die gleichmäßig den ganzen Tag dauern, gehören jedoch zu den größten Seltenheiten. Die Wolkenbrüche vollziehen sich zumeist in kürzeren, nur stundenlangen Güssen. Es ist darum von besonderer Wichtigkeit, zu wissen, welche Regenmengen innerhalb kürzerer Zeiträume fallen können. Leider liegen nicht viele solcher Beobachtungen vor, weil auf den meisten meteorologischen Stationen die Regenmesser nur einmal am Tage abgelesen und selbstregistrierende Apparate erst in den letzten Jahren mehr und mehr eingeführt werden. Immerhin hat man hier und dort auch solche Beobachtungen während besonders heftiger Regengüsse angestellt. Die größte stündliche Regenhöhe in Deutschland wurde demnach am 14. August 1884 zu Waltershausen während eines [467] schweren Gewitters beobachtet, sie betrug 75 mm. Sehr lehrreiche Untersuchungen über die Wassermenge eines Wolkenbruches sind von dem Meteorologischen Institut in Chemnitz auf Grund sachgemäßer Beobachtungen angestellt worden. Der Regen fiel dort innerhalb eines Kreises von 2 Kilometern und der Niederschlag erreichte eine Höhe von 40 mm innerhalb 2 Stunden. Es waren somit auf je ein Quadratmeter 40 Liter und auf die genannte Kreisfläche etwa 500 Millionen cbm Wasser niedergegangen. Würde nun diese Menge in ein Thal abfließen, so würde sie vollauf genügen, um ein umfangreiches Dorf 2 m hoch zu überschwemmen. An einigen Stellen sind aber im Mittelpunkt des betroffenen Gebietes noch weit größere Wassermengen, etwa 200 Liter auf den Quadratmeter, niedergegangen!
Schließlich möchten wir noch einige Beispiele kurzer, aber sehr ergiebiger Regengüsse anführen. In Gütersloh fielen während 7 Minuten 14,3 mm und in Wermsdorf in Sachsen erreichte am 9. Juni 1867 die Regenhöhe binnen einer Viertelstunde sogar 31,4 mm; d. h. in je einer Minute ergossen sich hier über 2 Liter Regenwasser auf den Quadratmeter.
Diese Beispiele zeigen uns, welche kolossale Regenmengen in Deutschland in kurzen und kürzesten Zeitfristen einzelne Gebiete überfluten können. In der Niederung sind sie weniger gefährlich, anders aber im Gebirge, wo das Wasser von den Berghängen rasch nach den Thälern fließt und diese als Wildbäche erreicht. Hier kann die Flut, wie kürzlich im Eyachthal, in wenigen Stunden zur verderblichsten Höhe ansteigen, und die Erfahrung lehrt, daß dies jahraus jahrein bald hier, bald dort geschieht.
Wind und Regen sind elementare Gewalten, über die wir
keine Herrschaft besitzen. Wir sind nicht imstande, Wolkenbrüche
zu verhüten, ja nicht einmal dieselben vorherzusagen. Und doch
kann manches geschehen, um die verderblichen Folgen derselben,
die Ueberschwemmungen mit ihren Verlusten an Hab' und Gut und
Menschenleben, zu verhüten oder auf ein geringeres Maß zurückzuführen.
Man muß in das Gebirge hinaufgehen und dort, wo
sich die ersten Wasserrinnsale sammeln, durch zweckmäßige Anlagen
das Gefälle vermindern, so daß die Wasserfluten sich in Mulden
und Becken stauen und langsamer zu Thal abfließen. Und wenn
dadurch bei besonders starken Wolkenbrüchen Ueberschwemmungen
vielleicht nicht gänzlich verhütet werden, so wird jedoch ihr Umfang
und erster Anprall derart gemildert, daß sie nicht so verheerend
auftreten und schreckenerregende Katastrophen ausbleiben. Leider
werden Vorschläge dieser Art sehr häufig an maßgebenden Stellen
abgelehnt, weil die Höhe der Kosten den erhofften Nutzen nicht
entsprechen soll. Man berechne den Schaden, den ein einziger
Wolkenbruch anzurichten vermag, und man wird anders urteilen.
Wind und Wetter können wir nicht gebieten, aber die Wasserläufe
in unsrer Heimat müssen wir beherrschen und regeln. Wie bei
der Kanalisation einer Stadt mit der Wasserflut eines voraussichtlichen
Wolkenbruchs gerechnet wird, so muß auch der Staat
die Wasserverhältnisse in einem von Ueberschwemmungen öfter bedrohten
Gebiete regeln. Wie schwierig auch diese Aufgabe erscheint,
so wird sie mit den Fortschritten der Kultur doch gelöst
werden. Dann werden auch die Gebirgsbewohner Wolkenbrüche
weniger zu fürchten haben. M. Hagenau.
Blätter und Blüten.
„Vergiß die treuen Toten nicht!“ Fünfundzwanzig Jahre des Friedens trennen uns von der ruhmreichen Zeit, da fremde Eroberungslust den deutschen Stämmen die Waffen in die Hand drückte zur Verteidigung des heimischen Herdes und auf blutgetränkten Schlachtfeldern die langersehnte deutsche Einheit besiegelt wurde. Gehobenen Herzens, aber nicht ohne wehmütige Erinnerung an die Opfer des Krieges steht das deutsche Volk im Begriffe, die fünfundzwanzigjährige Wiederkehr der glorreichsten Tage seiner Geschichte festlich zu begehen! Tausende von Veteranen rüsten sich zu einem nochmaligen Besuch der Stätten, wo sie Schulter an Schulter mit den gefallenen Kameraden gestritten haben.
Die Vereinigung zur Schmückung und fortdauernden Erhaltung der Kriegergräber und Denkmäler bei Metz, welche ihren Sitz in Metz hat, sich über fast ganz Lothringen erstreckt und auch die erreichbaren Gräber jenseit der Grenze in ihren Wirkungskreis einbezieht, wird, da auf die Unterstützung zahlreicher Gesinnungsgenossen zu rechnen ist, auch in diesem Jahre ihrer größeren Aufgabe gerecht werden können.
Etwa 50 Denkmäler und ungezählte Gräber von dreißigtausend Deutschen, die die ersten entscheidenden großen Siege erringen halfen, werden im Eichen- und Lorbeerschmuck beredtes Zeugnis von unvergänglicher deutscher Dankbarkeit ablegen. Die Schmückung soll, reicher und schöner denn je, an den Jahrestagen der Schlachten selbst stattfinden. Am 18. August wird dann, anschließend an die Einweihung des Aussichtsturmes, eine allgemeine Gedenkfeier für alle Gefallenen, die hier und weit draußen in fremder Erde gebettet sind, in der Schlucht bei Gravelotte abgehalten werden.
Ausführliche Programme über diese Veranstaltungen werden auf Verlangen vom Vorstande der genannten Vereinigung abgegeben. Demselben sind auch die Kranzspenden für bestimmte oder ungenannte Kriegergräber und Denkmäler zu senden, während Geldbeiträge zur Schmückung, über welche Quittung erfolgt, an den Schatzmeister der Vereinigung, Herrn C. Jonas in Metz, erbeten werden.
Abnahme der Tuberkulose. Im Laufe der letzten Jahre wurden
von unseren Großstädten sehr namhafte Ausgaben für hygieinische Zwecke
nicht gescheut. Versorgung der Einwohner mit gutem Trinkwasser, Kanalisation
oder Regelung der Abfuhr, Straßenreinigung, Einrichtung von
Markthallen und Schlachthäusern verschlangen viele Millionen, aber der
Erfolg ist nicht ausgeblieben. Der Unterleibstyphus wurde an vielen
Orten bedeutend eingeschränkt und die neueste Statistik zeigt auch eine
langsame Abnahme der Todesfälle an Tuberkulose in den meisten Großstädten
Deutschlands. Allerdings ist die Zahl der Opfer immer noch groß, aber
die erzielten Erfolge sollten für uns ein Sporn sein, in Schaffung gesunder
Verhältnisse nicht zu erlahmen, sondern auf der einmal eingeschlagenen
Bahn rüstig vorwärts zu schreiten. Denn die geringe Abnahme
der Sterblichkeit an Tuberkulose bedeutet doch die Errettung
Tausender von frühzeitigem Tod und Siechtum. *
Die Zähmung der afrikanischen Elefanten wird neuerdings im Interesse unseres Kolonialbesitzes von sachverständiger Seite empfohlen. Die afrikanischen Elefanten genießen nicht den gleich günstigen Ruf wie die indischen. Wohl hat es eine Zeit gegeben, da dieselben sogar in die Geschicke der Weltgeschichte eingriffen. Es war im Altertum, da sie auf den Kriegsschauplätzen Afrikas, Asiens und Südeuropas an den Kämpfen um die Weltherrschaft teilnahmen, und namentlich die Karthager verstanden die Kunst, Elefanten ihrer Heimat zu Kriegsdiensten abzurichten. In einigen Schlachten mußten sie ihre Kräfte mit denen ihrer indischen Brüder messen und da hatten sie zumeist den kürzeren gezogen. Seit jenen Niederlagen war ihr Ansehen in der Welt gesunken.
Es ist heute schwierig zu entscheiden, ob jenes Urteil begründet war, ließen sich doch diese afrikanischen Dickhäuter während der Kaiserzeit zu Rom zu allerlei Kunststücken abrichten, so daß sie an einer reichbesetzten Tafel von Gold- und Silbergeschirr mit feinem Anstand „aßen“, nach dem Takte tanzten und mit dem Griffel Buchstaben zeichneten. Die bösen Menschen gaben sich später keine Mühe, diese Talente weiter zu entwickeln. Der indische Elefant wurde fortdauernd nicht nur zum Kriegsdienst, sondern auch zu den Werken friedlicher Kulturarbeit herangezogen; er wurde zwar seiner Freiheit beraubt, aber gezähmt und zum nützlichen Tiere gemacht, das Wälder ausroden hilft, Wege mitbaut, Lasten trägt und den Menschen in der Jagd auf wilde Tiere unterstützt. Den afrikanischen Elefanten ließ man dagegen in der Wildnis herumlaufen und nur eins schätzte man an ihm, seine Zähne. Wegen dieser Zähne wurde er gejagt und wird blutig verfolgt bis in die jüngste Zeit. Afrika führt jährlich Elfenbein im Werte von 15 bis 20 Millionen Mark aus; diese Jagdbeute kostet aber nach sorgfältiger Schätzung etwa 50 000 bis 60 000 Elefanten das Leben. Bedenken wir, wie langsam diese großen Tiere sich vermehren, so können wir uns leicht denken, daß die Elefantenjagd in Afrika gleichbedeutend ist mit der Ausrottung des gewaltigen Dickhäuters. Die Jahre des afrikanischen Elefanten scheinen gezählt, um so mehr, als dank der Vervollkommnung und der Verbreitung besserer Feuerwaffen auch unter den Wilden Afrikas die Jagd bedeutend leichter geworden ist. Schutz dem Elefanten! hört man darum seit einiger Zeit in unseren kolonialfreundlichen Kreisen rufen. Es sollen Maßregeln getroffen werden, die dem sinnlosen Hinschlachten der Tiere Einhalt gebieten würden, und diese Forderung wird begründet nicht etwa durch bloße Schwärmerei für die Elefanten, durch den Wunsch, eine seltene Tierart zu erhalten, sondern durch die Thatsache, daß augenblicklich und für lange Jahre hinaus der Elefant sozusagen das einzige Geschöpf ist, das die Hinterländer unserer Kolonien gewissermaßen wertvoll macht; denn vom Tanganjika oder Viktoria-Njansa läßt sich keine andere Ware mit Vorteil zur Küste bringen als nur das Elfenbein!
Gewiß würden vernünftige Jagdgesetze das Bestehen der Elefanten im Dunklen Weltteil sichern können, wenn es möglich wäre, dieselben mit Nachdruck durchzuführen. Das ist aber in Anbetracht der geringen Macht, über die wir gerade in den Hinterländern verfügen, leichter gesagt als gethan.
Da ist in jüngster Zeit ein neuer Plan aufgetaucht, der geeignet
erscheint, die schwierige Frage in weit vollkommnerer Weise zu lösen.
Eine Anzahl von Kolanialfreunden, darunter erfahrene Afrikaforscher und
Direktoren unserer zoologischen Gärten, haben sich zusammengethan, um
den Versuch zur Zähmung des afrikanischen Elefanten zu machen. Man
[468] will dabei das indische Verfahren im Fang und Zähmen nachahmen und hat zum Schauplatz dieser Thätigkeit das deutsche Schutzgebiet Kamerun
erwählt, da dort die Elefanten noch zahlreich selbst an der Küste anzutreffen
sind. Indische Elefanten sollen herangezogen werden, um den
afrikanischen Wildlingen den Uebergang zum Kulturleben zu erleichtern.
Das Unternehmen wird natürlich nicht unbedeutende Kosten verursachen,
aber es ist auch besonderer Unterstützung von seiten der Freunde unserer
kolonialen Bestrebungen würdig; denn der gezähmte afrikanische Elefant
würde in Afrika noch mehr nützen als sein Vetter in Indien, er würde
in den aller Last- und Zugtiere baren Gebieten zu einem gewaltigen Bahnbrecher
der Kultur werden. *
Komm’, Wackelhänschen! (Zu dem Bilde S. 453.) Unser Bild, auf welchem die erwachsenen Frauen die Tracht des deutschen Mittelalters tragen, verdeutlicht uns so recht, wie das junge Mutterglück zu allen Zeiten, wie in allen Ländern, die gleiche beseligende Wirkung ausübt. Und was dieses Glück erregt, das blühende junge Leben, dessen gedeihliche Entwicklung bei so guter Pflege, wie sie unser kleines Wackelhänschen sichtlich genießt, jeden Tag neue Ueberraschungen bietet, ist zu allen Zeiten ohne jedes Kostüm, so wie es Gott geschaffen hat, die herrlichste Augenweide für jede Mutter. An den drallen Aermchen und Beinchen, den schwellenden Speckpolsterchen des Körpers kann sie die täglichen Fortschritte bewundern, mit denen das geliebte Goldmännchen die Sorgfalt und Mühe lohnt, die sein Heranziehen von ihr gefordert. Und kommen dann die ersten Gehversuche, in solcher Stunde direkt nach dem Bad, dann giebt’s ein wahres Familienfest, an welchem alles teilnehmen muß! Schwer fällt’s ihm ja noch, dem kleinen Wackelhänschen, das Vorwärtskommen auf seinen Strampelbeinchen, aber die Mutter sieht in dem Vorgang nur die Bethätigung der wunderbar erstarkten Lebenskraft des Lieblings, und während sie die Arme ausbreitet, um ihm zu Hilfe zu kommen, schwellt ihr Herz froher Stolz.
Die gefährlichen Briefkasten. Dem heutigen modernen, riesig entwickelten Verkehrsleben ist der Briefkasten ein ganz unentbehrliches Gerät, das Tag für Tag das Ziel vieler Tausende ist. In dem Werke „Das Buch von der Reichspost“, das kürzlich in dritter Auflage bei H. J. Meidinger in Berlin erschienen ist und das wir aufs beste empfehlen können, behandelt ein kleiner Abschnitt die Geschichte des Briefkastens, denn auch dieser hat seine Geschichte, die bereits über 200 Jahre zurückreicht; auf einem Blatte des Nürnberger Kupferstechers Christoph Weigel vom Jahre 1698 ist sogar einer abgebildet. Aber was der Nürnberger Künstler schon für zweckmäßig und des Abbildens wert erachtete, fand noch im Jahre 1840 in einzelnen Hauptstädten Deutschlands keine Anwendung. Als sich in diesem Jahre ein durch Hannover reisender Sachse darüber beschwerte, daß sich am Hauptpostamte der Residenzstadt kein Briefkasten befinde, erschien in den Zeitungen eine ganze Reihe von Erwiderungen, in welchen das Verlangen als ein höchst unbilliges, die Briefkasten selbst als gemeingefährliche Einrichtungen bezeichnet wurden. Wohl ein Postbeamter, der kein ganz reines Gewissen hatte, machte darauf aufmerksam, wie es anderwärts schon vorgekommen sei, „daß von maliziösen Personen, die sich von einem Postoffizianten bei irgend einer Gelegenheit am Postbureau hart oder unzierlich begegnet glaubten, Briefe an diese Offizianten, selbst mit ganz vertrackt spitzfindigen höhnischen oder gar beleidigenden Redensarten angefüllt, natürlich ohne Namensunterschrift, in den Briefkasten gesteckt wurden. Wenn nun freilich bei uns es unmöglich ist, daß jemandem auf solche Weise wirklich hart oder unziemlich begegnet werde, so ist es dennoch unbestreitbar auf der andern Seite unmöglich, zu vermeiden, daß es hin und wieder noch Querköpfe gebe, die sich derlei wenigstens noch einbilden, und wie wäre nun gegen bosbaftes Geschreibsel solcher Phantasten noch Sicherheit, wenn so ein Briefkasten da wäre, der gewissermaßen zu jedermann sagte: Stecke nur hinein, was du willst, denn ich nehme alles auf.“
Ein anderer schildert das Aergernis, das so ein Briefkasten anstellen kann, in noch krasserer Weise: „Wer nur irgend eine Malice gegen jemand im Sinne hat, wer diesen verdächtigen will, jenem ‚einen Floh ins Ohr setzen‘, ein verlobtes Paar auseinander bringen, Eltern und Kinder, Mann und Frau, Herren und Diener etc. gegeneinander hetzen, überhaupt Zank und Argwohn säen will, von Schadenfreude und Tücke getrieben, er setzt sich hin, schreibt einen Brief voll Verleumdungen ohne Unterschrift und steckt ihn in den Briefkasten. Anderseits giebt solch ein Kasten auch eine vortreffliche Gelegenheit ab zu zärtlichen Mitteilungen, Liebesbriefchen etc., die man sonst Mühe hat, an den Mann zu bringen oder an die Frau oder Tochter. Daß damit der Anknüpfung von Liebeshändeln ein großer Vorschub geleistet werde, ist nicht zu verkennen; und, wenn angenommen, daß man nichts Besseres thun könne, als die Liebe auf jede Weise zu begünstigen, so käme es nur darauf an, zu untersuchen, ob wir nicht ohne Briefkasten bisher schon der Liebe genug in unsern Mauern gehabt hätten. Fiele die Antwort aber hierauf verneinend aus, so müßte dann letzlich entschieden werden, ob die Vorteile eines durch Briefkasten herbeigeführten größeren Liebesverkehrs so sehr die Nachteile desselben überwögen, daß man einstimmig rufen müßte: ‚Briefkasten! Briefkasten! Kein vollkommenes Glücklichsein ohne Briefkasten!‘“ H. B.
Ein Loch im Deutschen Reiche. Durch den Bau einer Eisenbahn von dem preußischen Grenzstädtchen Herzogenrath nach Sittard in holländisch Limburg tritt jetzt wieder eine Merkwürdigkeit in den Vordergrund, die einzig in ihrer Art dastehen dürfte, nämlich eine Verbindung, zwischen beiden Nachbarstaaten „tief unter der Erd’“. Die geschichtliche Veranlassung dieser sonderbaren Kommunikation liegt Jahrhunderte zurück. Bei Herzogenrath befinden sich die ältesten Kohlengruben auf dem Kontinent und wahrscheinlich in Europa überhaupt. Wie die Chronik der alten Abtei von Klosterrath bei Herzogenrath, die aus den Jahren 1104 bis 1157 stammt, berichtet, wurde in der Nähe des Klosters im Jahre 1113 schon eine Art schwarzer Stein gefunden, welcher von Köhlern gegraben und als Brennmaterial an Stelle von Holz nicht nur von den Aebten und dem Kloster allein verwendet, sondern auch gegen Entgelt an andere zum Gebrauche als Heizmaterial abgegeben wurde. Die Besitzungen des Klosters und der Bezirk der jetzigen Gemeinde Kirchrath reichten damals bis zur Worm (Wurm). 1816 wurde jedoch bei der Grenzregulierung zwischen Holland und Preußen das Stück, welches von der Aachen-Herzogenrather Chaussee aus bis zum Wormflusse reicht, der Gemeinde Herzogenrath zugeteilt und ist damit, wie Franz Büttgenbach im Essener „Glückauf“ berichtet, mit dieser früher zum Herzogtum Limburg gehörenden Gemeinde zu Preußen gekommen, während Kirchrath, holländisch Kerkrade, Holland zugeteilt wurde. Man hatte aber offenbar nicht daran gedacht, daß das neue Grenzgebiet durch den Bergbau unterminiert war. Die auf Kerkrader Gebiet liegenden 210 Meter tiefen Kohlenschächte „Dominialgrube“ und „Patrick“ sind nämlich mit einem auf preußischem Gebiet liegenden Wasserhaltungsschacht verbunden, der zur Trockenhaltung der holländischen Kohlenfelder und zugleich als Notausgang dient. Thatsächlich hat hier das Deutsche Reich ein Loch, dem man aber weiter keine Bedeutung beimessen kann, denn jeden gefährlichen Eindringling ist man imstande, sofort – ersäufen zu können.
Aluminiumschrift. Vor einiger Zeit hat man Griffel aus Aluminium zum Schreiben auf Schiefertafeln empfohlen. Nunmehr benutzt man das leichte Metall zum Schreiben und Zeichnen auf Glas. Man hat gefunden, daß man auf reinem befeuchteten Glase mit Aluminium schreiben und zeichnen kann. Die Striche erscheinen alsdann metallisch glänzend, wenn man auf die Glastafel schaut, und dunkel, wenn man die Tafel gegen das Licht hält. Sie lassen sich sehr schwer durch Reiben entfernen und sind unlöslich in Wasser und Säuren. Da man in ähnlicher Weise auch auf Porzellan zeichnen kann, so wird diese Erfindung eine Zukunft haben.
Man wird Glas und Porzellan mit Aluminiumzeichnungen und -inschriften verzieren, und Liebhaber werden davon gewiß einen ausgedehnten Gebrauch machen. *
Ein kritischer Augenblick. (Zu unserer Kunstbeilage.) Um den Hals geht es ja nicht gerade bei dieser Unternehmung, selbst das Ertrinken dürfte in dem seichten Graben eine wahre Kunst sein, aber Courage gehört doch dazu, über den schwanken morschen Baumstamm zu laufen.
Und gerade deswegen probiert es das lustige Mariandel, dem auch ein Tag scharfer Arbeit beim Heumachen noch lange nicht den guten Humor und den kecken Wagemut zu nehmen vermag. Ob der Balken sie wohl noch trägt? … Früher, als sie noch mit den Buben lief und kletterte, da war so ’was nur eine Kleinigkeit, aber heute, als erwachsene Person – hm! man probiert es halt einmal! Frisch die Schuhe herunter, und nun mit geschickt greifenden Füßen vorwärts, ein, zwei Schritte! Aber jetzt kommt’s, die Brücke fängt an zu wiegen, der Arm mit dem Rechen streckt sich weit aus, ein zweifelndes Lachen begleitet den gefährlichen Augenblick, denn es fängt in dem alten Balken an leise zu krachen und sein Ende neigt sich tiefer ins Wasser –. Wird er halten oder gleich unter seiner Last zusammenbrechen? … „Unbesorgt,“ sagt der Künstler, „seht ihr nicht die gelenken sprungkräftigen Glieder dieses Prachtmädels? So eine plumpst nicht in den Graben, die schwingt sich, wenn der Balken bricht, mit einem Satz vollends hinüber und lacht die andern aus, die den Umweg nach der Brücke gemacht haben.“ Bn.
Soeben erschienen und durch alle Musikalienhandlungen zu beziehen:
Für Piano zweihändig … Preis 1 Mk. 50 Pf.
Für Piano vierhändig … 2 Mark.
Für Piano und Violine .. 2 Mark.
Für Zither …… 1 Mark.
Für Großes Streich-Orchester 6 Mark.
Für Kleines Streich-Orchester 3 Mark.
Für Militär-(Blas-)Musik 6 Mark.
Nachdem unsere Abonnenten zu Anfang des Jahres den „Gartenlaube-Walzer“ von Johann Strauß als Extra-Gabe erhalten haben, erscheinen neben einer weiteren Ausgabe „Für Piano zweihändig“ mit größeren Noten zum Preis von 1 Mk. 50 Pf. die oben angeführten Arrangements.
Inhalt: Verlorene Spuren. Gedicht von Konrad Nies. Mit Bild. S. 449. – Vater und Sohn. Wahrheit und Dichtung. Von Adolf Wilbrandt S. 449. – Komm’, Wackelhänschen! Bild. S. 453. – Im Bann von Mekkas Thoren. Von L. E. Browski. S. 454. Mit Abbildungen S. 454, 456, 457 und 458. – Pfahlbauten. Von F. Deichmüller. S. 459. (Zu dem Bilde S. 461.) – Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (13. Fortsetzung). S. 460. – Ein oberbayerischer Pfahlbau. Bild S. 461. – Junge Liebe. Bild. S. 465. – Wolkenbrüche. Von M. Hagenau. S. 466. – Blätter und Blüten: „Vergiß die treuen Toten nicht!“ S. 467. – Abnahme der Tuberkulose. S. 467. – Die Zähmung der afrikanischen Elefanten. S. 467. – Komm’, Wackelhänschen! S. 468. (Zu dem Bilde S. 453.) – Die gefährlichen Briefkasten. S. 468. – Ein Loch im Deutschen Reiche. S. 468. Aluminiumschrift. S. 468. Ein kritischer Augenblick. S. 468. (Zu unserer Kunstbeilage.)
- ↑ 1 mm Regenhöhe bedeutet, daß auf 1 Quadratmeter 1 Liter Wasser mit dem Regen gefallen ist.