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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[485]

Nr. 29.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



1870.

Zur 25jährigen Erinnerung.
Von Ernst von Wildenbruch.

Ich senke mein träumendes Haupt in die Nacht,
0 In die lautlose Nacht der Vergangenheit –
Die Tiefe regt sich und es erwacht
0 Die alte Zeit, die gestorbene Zeit.

Ich höre noch einmal den Tigerschrei,
0 Mit dem sich Frankreich zum Sprung erhebt,
Die Raben krächzen zum Mahle herbei,
0 Zum Leichenmahle, die Welt erbebt.

Ich höre den Ton, der die Welt durchzückt,
0 Wie Deutschlands Volk auf die Füße springt,
Wie es dröhnend den Helm in die Locken drückt
0 Und um die Lenden den Schwertgurt schlingt.

Die Hörner rufen, die Trommeln gehn,
0 Die Rosse stampfen durch Korn und Sand,
Auf wallenden Fahnen geschrieben stehn
0 Zwei heilige Worte – „Fürs Vaterland“.

Fürs Vaterland, dem der Zwietrachtswurm
0 Die lähmende Tatze aufs Herz gelegt –
Meine Seele geht auf, vom Frühlingssturm
0 Durchrauscht, der die Zwietracht hinweggefegt.

Mein Auge wird sehend, mein Auge sieht
0 Noch einmal das, was da herrlich war,
Vor meinem Auge vorüberzieht,
0 Wie stürmende Adler, Schar auf Schar.

An den Rhein, an den Rhein und hinüber den Rhein
0 Mit schweigendem Groll in die kreischende Wut –
Kanonen brüllen, es sinken die Reihn –
0 Rot schäumen die Bäche von rotem Blut.

Auf steigenden Rossen die Führer voran,
0 Die Schwerter gezogen, voran ins Feld,
Ganz Deutschland dahinter, ein einziger Mann,
0 Ein einziger Mann und ein einziger Held.

So zogst du hinaus für Heimat und Recht
0 In den heiligen Streit, in den heiligen Tod,
Mit den Jünglingsherzen, du Männergeschlecht,
0 Du Deutschlands siegendes Morgenrot!

So hast du geschlagen den schmetternden Schlag,
0 Der den Feind zerbrach und uns baute das Reich,
O, du Deutschland, wie sahst du am herrlichen Tag
0 Dem Drachentöter, dem Siegfried gleich!

Die Jahre wandeln, die Stunde fliegt,
0 Geschlechter der Menschen kommen und gehn –
Wo einer von jenen begraben liegt
0 Du Deutscher von heute, da bleibe stehn.

Da lüfte den Hut und führ’ an der Hand
0 Deinen Sohn und heiße ihn beugen sich
Und sprich zu ihm: „Für dein Vaterland
0 Ließ dieser sein Leben, er starb für dich.“

[486]

Vater und Sohn.

Wahrheit und Dichtung.
Von Adolf Wilbrandt.

     (2. Fortsetzung.)

4.

Als Volkmar am nächsten Nachmittag vom Spaziergang heimkam und seine Treppe hinaufstieg, sah er Tonis schwarze Strümpfe oben über dem Treppengeländer vorbeifliegen, vorwärts und zurück. Sie stand in den Turnringen, die auf seinem Vorplatz an zwei langen Gurten von der Decke herabhingen, und schaukelte sich darin; geschickt und mit kräftigem Schwung, ihrem Vetter Rudolf nacheifernd, freilich ihn nicht erreichend, denn der „lange Bengel“, wie sie ihn zuweilen nannte, konnte sich so hoch hinaufschwenken, daß er mit den Fußspitzen an die Decke fuhr, die denn auch Schrammmen und Narben hatte wie ein Corpsstudentengesicht. Sowie Toni den Oheim auf der Treppe sah, stieß sie einen vergnügten Schrei aus. Wart’ einen Augenblick! rief sie dann. Bitte, einen Mojiment. Ich muß mit Dir sprechen!

Sie flog noch eine Weile, aber langsamer; Volkmar war unterdessen oben angelangt, fing sie mit beiden Armen auf und hob sie herunter. Auf einmal sittig geworden – die kleine Wilde wechselte immer in raschen Sprüngen – fragte sie sehr bescheiden, mit fast süßer Stimme: Hätt’st Du ein bißchen Zeit für mich, Onkel? Höchstens zwei Minuten?

Für Toni Götz werd’ ich doch wohl etwas Zeit haben, antwortete er, an ihrem braunen Zopf mit gemütlicher Zärtlichkeit zupfend. Eh ich wieder an die Arbeit gehe, sag’ mir, was Du auf der Brust hast; – schau! es guckt Dir ja schon da oben aus den Augen heraus. Bist Du wieder einmal mit „Mutting“ uneinig, und ich soll Dir helfen?

Furchtbar klug bist Du doch, Onkel Albert! sagte das Mädel; ihr bewunderndes Lächeln war aber auch nicht dumm. Ja, es ist so ’was ... Komm, ich nehm’ Dir den Mantel ab; den schönen, olivengrünen Radmantel, Deinen Salzburger; so schön hat hier keiner einen. Ach Gott, Du denkst wohl, ich will Dir schmeicheln, damit Du mir beistehst; nein, Onkel, es ist wirklich wahr. Helene ist in Deinen Mantel förmlich verliebt ... Soll ich mit in Dein Zimmer gehen?

Volkmar schob sie stumm in die Thür, die ins Speisezimmer führte, und durch das hindurch bis zu seinem Schreibtisch. Er setzte sich, stellte die schlanke Knospengestalt zwischen seine Kniee und legte beide Arme um sie. Also heraus damit, sagte er mit seinem herzlichen mutmachenden Bariton. Also Mutting will nicht so wie Du?

Sie schüttelte den Kopf. – Diesmal ist’s so ’ne große Sache, Onkel ... Du, erst sag’ mir eins; bitte, bitte. Wie alt war wohl der jüngste Mensch, als er sein erstes Stück schrieb, das wirklich auf dem Theater gespielt wurde?

Ueber diesen Satz mußte Volkmar lächeln. – Du wirst mich jetzt verachten, Toni, gab er dann zur Antwort, ich muß Dir aber offen sagen: das weiß ich nicht. Von Mozart hat man eine Oper, die jetzt wieder gespielt wird, aus seinem zwölften Jahr; aber wie es mit den Schauspieldichtern steht, ist mir nicht bekannt.

Aha! stieß Toni triumphierend hervor. Aus seinem zwölften Jahr!

Das war Mozart, das Wunderkind. So junge Schauspieldichter hat’s wohl sicher nicht gegeben –

Nicht? Meinst Du, nicht? – – Na, das ist dann auch egal. Schreiben wollen wir’s doch!

Was, mein Herz?

Ein Theaterstück.

Wer?

Helene Ammann und ich.

Ihr zwei? Ein Theaterstück?

Bitte, nicht so lächeln, Onkel! bat Toni und ward plötzlich rot. Das mußt Dü nicht thun; Du bist ja doch nicht wie die alten Damen; Du verstehst doch alles. Wir möchten so gern für Thea – – Ach nein, nun sei einmal ernst!

Ich bin furchtbar ernst, Toni. Das siehst Du ja doch. Was möchtet Ihr für Thea –?

Etwas thun, etwas leisten, Onkel. Seit gestern abend geht uns das im Kopf herum, Helene und mir. Heut’ morgen in der Schule haben wir’s uns gesagt; beide ganz dasselbe, denk’ Dir! Ein großes Stück in fünf Akten, mit einer wunderachönen Rolle für Thea! Helene hat auch schon einen Stoff gewußt; aus der Geschichte – aber natürlich, das meiste wird Erfindung. Und Theas Rolle wird ganz Erfindung. Helene hat auch gleich ein Blatt Papier genommen und schon in der Schule, während der französischen Stunde – – das mußt Du aber nicht weitersagen, Onkel –

Ich? Wie das Grab!

Da hat sie schon Notizen gemacht . . . Helene meint, es muß glücken: wenn wir beide es zusammen machen – und sie ist schon vierzehn alt ... Mozart war erst zwölf!

Ja, aber um Vergebung, meine Freunde, dafür war es Mozart –

Versuchen wollen wir’s doch! – Find’st Du das zu frech? – Sag’ nicht, Du find’st es zu frech. Du bist selber Dichter; und hast so früh angefangen; noch viel früher als wir. O, Gott, wenn wir eines Tages zu Thea kämen, mit unserem fertigen Stück ... Was sie dann wohl sagt. Mich rührt dann der Schlag!

Das wär’ unpraktisch –

Süßer Onkel! sagte Toni plötzlich und spielte ganz leise in seinem ergrauenden Bart. Morgen könnten wir anfangen, ’s ist Sonntag; und heute nachmittag, bei Helene, haben wir uns die Hauptsachen auch schon ausgedacht. Sie ist die Gelahrte, weißt Du; ich bin die Schneidige! Aber als ich nun damit zu Mutting komme, so lacht sie mich aus; will nichts davon wissen. „Ihr schnappt wohl noch über,“ sagt sie. Wahrhaftig, das hat sie gesagt. Das ist doch feudal, daß die Muttings soviel älter sind und uns darum so oft nicht verstehen!

Was ist es? fragte Volkmar.

Feudal! – Ach, das wundert Dich. Wir sagen in der Schule immer feudal statt fatal. – Nun sei Du ’mal recht nett und recht gescheit, Herr Professor Volkmar. Sprich für uns als Kollege, als Dichter. Sag’ Mutting, daß wir für eine heilige Sache kämpfen. Kurz, daß es ein Unsinn ist. Wenn sie ’s uns verwehren will, mein’ ich. Wenn Du mich wirklich ein bißchen lieb hast, o dann thu’s! dann thu’s!

Ihre Hände lagen auf seinen Armen, sie drückte sie zart, doch von Herzen. Volkmar lächelte sie an, betrachtete sie eine Weile stumm; es war so eine Freude, in dieses lebhafte, fast geistreiche Gesichtchen zu sehen, mit dem treuherzigen Blick. Auch über Dreizehnjährige geht doch nichts! dachte er bei sich. Und die da ist gut! – Die bleibt mir doch wenigstens, wenn mein Junge fortgeht ...

Er fühlte wieder einen Schlag auf die Brust, inwendig. Im nächsten Augenblick durchfuhr ihn aber eine Phantasie: wenn dieser Junge dann heimkäme, nach Jahren, als fertiger junger Mann, und dieser Backfisch stünd’ als fertige Jungfrau da, „in der Jugend Prangen“. Und sie würden etwa gar ein Paar ... Jedenfalls ein holdes, dachte er; wenn sie beide so fortwachsen ... Statt daß ihn jetzt diese Thea – –.

Er streichelte Tonis durchglühtes, ungeduldig wartendes Gesicht. Was Thea alles anrichtet! sagte er. Also ein Stück für sie! – Aber sei nur ruhig. Wenn der Geist Euch treibt ... Ich will zu Deiner Mutter hinaufgeheu, jetzt, sogleich. Ich will mit ihr reden!

Und Du glaubst, daß Mutting –?

Ja.

Glaubst Du’s wirklich, Onkel?

Ich bin überzeugt.

Er ist überzeugt! Wie süß!

Sie packte ihn und küßte ihn. Dann ließ sie ihn los, sprang im Zimmer umher, brach in einen Triumphgesang aus und warf ihre langen, dünnen Arme in die Luft.

Plötzlich wurde sie wieder ernst und kam zu ihm zurück. Indem sie mit beiden Händen über seinen Rockkragen strich, als müsse sie ihn glätten, sagte sie lieblich schmeichelnd, aber mit ihrer bedeutendsten Miene: Du gelahrtes Haus, wenn Du die Mutter [487] herumkriegst – o wie himmlisch bist Du! – dann sag’ ihr auch, bitte, daß man uns beim Dichten nicht stören soll. Von neun bis zwölf morgen vormittag schließen wir uns in meiner Stube ein, denn dort wird gedichtet; und so jeden Sonntag, bis wir fertig sind. Wenn um Zehn Line kommt, uns das Butterbrot zu bringen, dann soll sie leise anklopfen, leise eintreten, den Teller leise auf einen Stuhl stellen und dann wieder fortgehen. Willst Du Mutting das sagen, Du?

O, ich will mehr thun, entgegnete Volkmar ebenso ernsthaft. Line kann das nicht; das kann nur ein wirklicher Dichter. Ich werd’ um Zehn selber kommen und das Frühstück bringen; wie ein Geist, sag’ ich Dir. Kein Wort, keinen Laut!

O, wie bist Du süß! schrie sie und warf sich ihm nochmals an die Brust.

Volkmar stand auf. Er nahm ihren Arm. So gingen sie, in gleichem Schritt, zum Vorplatz hinaus und die Treppe hinauf.


5.

Der Oheim hielt Wort: die Mutter gab nach, wie schon manches Mal. Als es am andern Morgen zehn Uhr schlug, stand er selbst, pünktlich wie ein König, mit dem Butterbrotteller oben auf Tante Annas Vorplatz und klopfte an Tonis Thür. Nach kurzem Tuscheln ward ihm geöffnet; er trat ein und sah etwas Unerwartetes: die jungen Dichterinnen hatten, um sich für ihr ernstes, halb tragisches Werk in ernster Stimmung zu erhalten, die kleine Stube schwarz behängt, mit allen Zeugen und Stoffen, die sie in ihren beiden Häusern aufgetrieben hatten. In der Mitte stand der runde Tisch, an dem sie schufen; wieder in dessen Mitte ein mächtiges Tintenfaß. Helene, dunkel gekleidet, hatte über den rechten Arm einen dunklen Schreibärmel gezogen; Toni nicht; dafür hatte sie sich eine Art von schwarzem Schleier ums Gesicht gelegt.

Volkmar verzog keine Miene. Er verneigte sich nur und grüßte stumm. Dann stellte er seinen Teller auf den Tisch, grüßte noch einmal in tiefem Ernst und ging wieder hinaus.

Die Mädchen waren allein. Toni, die jüngere, mußte nun doch ein wenig lächeln; der feierliche Onkel und das Butterbrot waren ihr zu komisch. Aber die andre im Schreibärmel, am Tisch, blieb ernst, und Toni faßte sich schnell. Sie schloß die Thür wieder zu; darauf trug sie das Frühstück auf den Dichtertisch. Du, sagte sie, während wir das essen, können wir ja weiterdenken; hurra, die Sache ist im Schwung! Im dritten Akt stirbt Janko, in: vierten seine Schwester Arabella, im fünften heiratet Philipp Johanna und Kaiser Max versöhnt sich mit Sickingen! So endigt es doch noch gut; das will ja das Publikum.

Es ist auch überhaupt angenehmer, bemerkte Helene und biß in ihr sprottenbelegtes Butterbrot.

Na ja, meinetwegen. Ich hatt’ eigentlich gedacht, wenn die arme, süße Arabella tot ist, dann muß niemand mehr glücklich werden; nieder mit der ganzen Bande! – Aber sie wollen ja jetzt keine Trauerspiele; immer sollen sich am Schluß welche heiraten. O, die Wurst ist gut! – – Was Du für furchtbare Kenntnisse hast. Maria von Burgund, Philipp der Schöne und Margarete, ihre Kinder; Kunz von Rosen, Franz von Sickingen, Johanna von Spanien – Du, von all’ den Herrschaften hab’ ich noch nichts gewußt. Und die drei Bürgermeister von Brügge; und die Senatoren …

Sie stand aber auf und setzte mit einer triumphierenden Armbewegung hinzu: Aber Arabella, die Zigeunerin, die war mein Gedanke! Die schöne, rührende Arabella mit den schwarzen Augen. Helene, wenn uns das glückt – das wird Theas schönste Rolle; nicht?

Wollen’s hoffen, antwortete Helene, mit den kleinen, feinen Zähnen ein Stückchen Käse zerbeißend. Aber gackel’ nur nicht so viel; das Ei ist ja noch gar nicht gelegt. Eigentlich weiß ich auch nicht recht, wie die Zigeunerin und ihr Bruder Janko in das Königsschloß zu Aachen kommen; ob das auch natürlich ist.

Natürlich ist! natürlich ist! fuhr Toni auf. Na, ganz gewiß ist’s natürlich! Die Kaiserin Maria und ihre Kinder, die sind oben im Schloß – das heißt, auf der Bühne; da tritt einer ans Fenster – meinetwegen die dreizehnjährige Prinzessin Margarete – und sagt lebhaft: „Welch ein Auflauf!“ „das Volk rottet sich zusammen!“ so wie’s gewöhnlich auf dem Theater ist. Dann spricht sie weiter, immer aufgeregter – denn natürlich muß es sich steigern: – „ah, sie schleppen einen jungen Burschen, wie ein Zigeuner – und an ihn klammert sich ein dunkles Mädchen mit schwarzen Locken“ – das ist Arabella, verstehst Du. „Jetzt wirft sie sich dem Volk zu Füßen, und pfui, man weist sie zurück. O, sie kommt hierher, grade auf das Schloß zu; durch die Wachen drängt sie sich hindurch – und nun ist sie im Hause – sie wird herkommen. Das Volk drängt nach. Ich ängstige mich, was bedeutet dies? O, Philipp, beschütze uns!“ Sie klammert sich an Philipp. Denk’ Dir die Spannung, Helene! Alle blicken mit Spannung auf die Thür. Die Thür wird aufgerissen, eine Zigeunerin stürzt herein, wirft sich vor ihnen auf die Knie; das ist Arabella! ich meine Thea!

Na ja, murmelte Helene zustimmend. Aber warum –

Und dann kommt das Volk und schleppt ihren Bruder Janko herein!

Aber warum thun sie das?

Helene, Du bist komisch. Das ist doch sehr einfach. Das Rathaus von Aachen ist doch abgebrannt; damit fingst Du die Sache an. Nun kommen die Bürger mit Janko und sagen: „Wir suchten den Brandstifter, hier bringen wir diesen Burschen, der hat es gewiß gethan!“ Und der erste oder zweite Bürger sagt, höhnisch lachend und auf Arabella weisend: „Und da steht die Hexe, die ihm geholfen hat! Seht, wie sie erbleicht!“ – Janko will sich in seiner Empörung auf den ersten oder zweiten Bürger stürzen, sie halten ihn aber fest. „Halt da, mein Bürschchen“ – na, und dann so weiter!

Na ja, sagte Helene, das wird auch wohl gehn. Sie suchen einen Brandstifter. Und da finden sie die Zigeuner –

Und Zigeuner gab es doch damals schon!

O ja, Toni; schon lange, lange. Aber das müssen wir nun nie vergessen, daß alles natürlich wird. Du weißt ja, wie oft die Leute im Theater sagen: das ist nicht natürlich! – Ach, Du, da hab’ ich einmal eine Dummheit gemacht – aber nicht weitersagen – da hatt’ ich angefangen, eine Novelle zu schreiben; es ist aber schon lange her. Da kam ein Soldat drin vor, der wollte nicht mehr leben; und vor seinem Selbstmord wollte er erst seinen Säbel verbrennen. Und er nahm ein Schwefelholz und zündete es an, und hielt es unter den Säbel; so lange, bis der Säbel ganz in Flammen aufging –

Weiter kam sie nicht, denn Toni lachte so heftig auf, daß Helene verstummte. Sie lachte nun selber mit. Tonis Lustigkeit ward so wild und endlos, wie nur Kinder es kennen; lang ausgestreckt warf sie sich auf den Boden hin, trommelte mit den Füßen und schleuderte sie dann hoch in die Luft.

Ach, mein Gott! sagte sie zuletzt, vor Erschöpfung seufzend; setzte sich aufrecht, fuhr sich durch die verwirrten Haare, um etwas Ordnung zu machen, und runzelte die junge Stirn. Jetzt müssen die Dummheiten aufhören; wieder an die Arbeit! Mit dem Butterbrot sind wir fertig. Ernsthaft, ernsthaft, Fräulein Toni Götz; Sie haben wohl ganz vergessen, daß Sie hier in einem schwarzverhängten Musentempel sind! – Sie sprang auf die Füße und setzte sich auf ihren Platz an dem runden Tisch. Helene! rief sie. Wie das aussehen wird! Auf dem Theaterzettel: Historisch-romantisches Schauspiel in fünf Aufzügen, von Helene Ammann und Toni Götz!

Nur noch nicht gegackelt, Toni. Jeder nimmt wieder seinen Bogen Papier und schreibt. Den ersten Aufzug also, den hatten wir im Entwurf beisammen –

Scene eins bis sieben!

Jetzt sollten wir erst den ganzen Entwurf fertig machen, mein’ ich –

Ach, das eilt ja noch nicht, sagte Toni, mit ihren eckigen Schultern widersprechend. Das ist zu langweilig. Wir könnten doch gleich den ersten Akt schreiben; nicht?

Können wir auch, erwiderte die nachgiebige, gefällige Helene. Also dann nimm einen andern Bogen; ich auch. Jeder sagt, was ihm einfällt; und wenn wir beide einverstanden sind, schreiben wir es hin. Erster Aufzug. Erste Scene. Ort: Vorsaal im Königsschlosse zu Aachen. Abenddämmerung. Ist Dir die Abenddämmerung recht?

Natürlich!

Sie begannen beide eifrig zu schreiben. Also mit vier Pagen fangen wir an, sagte Toni, während sie noch kritzelte; das ist fein! Zuerst sind nur zwei auf der Bühne: Waldemar und Toor; später kommen Hildmann und Goldmar. Im Entwurf [488] steht zur ersten Scene (sie blickte auf ihren andern Bogen): „Unterredung über den Zweck von Kaiser Max’ Abreise nach Brügge.“

Ja, das muß das Publikum durch die Pagen erfahren, erwiderte Helene mit ihrem „gelahrten“ Gesicht; aber natürlich müssen sich die Pagen das nicht merken lassen, sie müssen ganz gemütlich miteinander sprechen.

Einer muß sich räkeln –

Ja, auf einem Diwan; der andere steht am Fenster. Waldemar liegt auf dem Diwan, denk’ ich; er kann ja auch wirklich eingeschlafen sein –

Toni nickte eifrig. Er ist überhaupt der Bequeme, der Faule; nicht? Es müssen doch verschiedene Charaktere sein. Er kann zum Beispiel so im Gespräch zu Toor sagen, der darüber flucht, daß sie als Pagen so viel Langeweile und so wenig zu thun haben: „nun ja, Du bist eben für die Abwechslung; ich finde es schöner, gemütlich zu leben.“

Ja, Toni, das kann er thun. Dabei müssen sie aber auch über Philipps bevorstehende Verlobung mit Johanna von Spanien sprechen; das ist ja doch die Hauptsache. Fangen wir nur an!

Sie schrieben die Pagenscenen; dann kam Philipp, Kaiser Maximilians Sohn. Auf Tonis Verlangen meldete ihn ein Diener an: „Herzog Philipp!“ was Helene zwar überflüssig fand, da nur die Pagen zugegen seien; aber Toni hatte das Gefühl, auf dem Theater müßten die fürstlichen Personen mit gehobener Stimme angemeldet werden, und Helene gab nach. Nun kommt aber der erste Monolog, sagte sie dann wichtig, die Feder an ihr kleines Ohr gedrückt; wenn Philipp die Pagen fortgeschickt hat, so hält er seinen Monolog (Toni nickte); und dann ist es gut, mein Herz, daß die Zuschauer gleich darauf vorbereitet werden, daß er sich sehr leicht verlieben wird – in Arabella, mein’ ich. Zuerst muß er sagen, daß dies sein Verlobungstag mit der spanischen Prinzessin sein sollte und warum noch nichts daraus geworden ist; und dann sollt’ er fortfahren, verstehst Du: „Gern hätte ich die für mich Auserwählte gesehen, da mir so viel von ihr vom Vater erzählt wurde (Helene machte dabei ein möglichst prinzliches, vornehmes Gesicht). Blond, von fürftlicher Anmut soll sie sein. Das ist eigentlich nicht wein Geschmack“ . . . Verstehst Du! – „Ich liebe diese weißen Milchgesichter nicht“ –

Aha! warf Toni dazwischen und reckte ihren Arm.

„Ich liebe diese weißen Milchgesichter nicht; mich verlangt’s nach einem glutvollen Weibe, einer dunklen Schönen. Doch da sie der Vater mir bestimmt hat“ – und so weiter.

Das ist famos! rief Toni bewundernd aus. Nun weiß man schon, was kommen wird. Und nun wundert man sich auch nicht, wenn es kommt. Den ganzen Monolog, den mußt Du diktieren; mach’ zu!

Helene diktierte, sie schrieben beide; wie fix das geht! murmelte Toni entzückt. Am Schluß sah Herzog Philipp nach der Uhr: „Die Mutter kann jeden Augenblick kommen“; jetzt meldete auch schon ein Diener: „Die Kaiserin naht mit der Prinzessin“. Vierte Scene. Sie begrüßen sich; die Kaiserin Maria giebt ein Zeichen, das Gefolge zieht sich zurück. Die dreizehnjährige Prinzessin Margarete geht bald ans Fenster; Mutter und Sohn unterhalten sich über den Aufstand in Brügge und daß die Prinzessin Braut nun bald kommen wird, und daß man den Brandstifter des Rathauses noch nicht gefunden hat. Toni ließ die kluge Helene das alles machen, sie schrieb, was die vorschlug; es kam aber eine Unruhe über sie, die von Zeile zu Zeile wuchs. Ihre langen, dunklen Brauen zogen sich finster zusammen, sie rutschte auf ihrem Stuhl. Na, was hast Du denn? fragte Helene endlich.

Nein, so geht es nicht, sagte Toni. Sie reden immer so eben fort. Es kommen keine Schlagworte. Es müssen Schlagworte hinein!

Schlagworte?

Ja; so was Bedeutendes – das man sich dann merkt. So besondere, schneidige Gedanken, weißt Du ...

Ich hab’ einen! rief sie plötzlich aus und hob ihren Finger, als meldete sie der Lehrerin in der Schule, daß sie etwas wisse. Wenn Maria zu Philipp gesagt hat: „nein, gefunden hat man den Brandstifter noch nicht“, dann lassen wir sie fortfahren: „doch vermutet man, daß es einer aus Rache gegen Max gethan hat. Welcher große Mann hätte weder Neider noch Feinde!

Helene nickte stumm. Sogleich stürzte sich Toni auf ihren Bogen Papier – sie war schon unten auf der dritten Seite – und schrieb dieses Schlagwort hin; vier Ausrufungszeichen setzte sie in ihrer Begeisterung hinzu. So! sagte sie dann aufatmend, nun kann’s weitergehn!

Nun kommt der Auflauf, bemerkte Helene. Den Margarete vom Fenster aus sieht, so wie Du’s gesagt hast.

Hurra, wir sind also schon beim Auflauf! schrie Toni.

Sie kamen in ein Feuer, daß die Worte und die Federn flogen; die Federn konnten nicht mit. Endlich stürzte die eigentliche Heldin auf die Bühne, Thea-Arabella; ihr Bruder Janko ward von den Bürgern hereingeschleppt: „Führt ihn vor die Kaiserin!“ – Jetzt giebt die Kaiserin der Prinzessin ein Zeichen, schlug Helene vor, worauf diese sich zurückzieht –

Warum? fragte Toni.

Ach, die dreizehnjährige Margarete, die stört jetzt nur. Die Kaiserin schickt sie fort; das thun die Mütter ja immer, wenn was los ist!

Toni nickte, und sie schrieben es hin. Ja, jetzt ging’s los! Von dem wütenden, drohenden, „die Häude schüttelnden“ Volk wird Janko als Brandstifter, Arabella als Hexe angeklagt . . . „Edel“ antwortet sie. O, sie sind so unglücklich; so unschuldig ... Herzog Philipp steht da „wie erstarrt“, „überwältigt von ihrer so fremdartigen Schönheit“. Sagen thut er noch nichts; aber „wie sie ihn ansieht, begegnet sie einem feurigen, auf sie gerichteten Blick, vor dem sie die Augen niederschlägt“ ...

Janko wird von der Kaiserin verhört; er verteidigt sich. Die Bürger glauben ihm nicht; nun denn, ruft Arabella endlich aus, so will ich mit ihm sterben! wenn keiner mit uns Mitleid fühlt! – Aber sie irrt. Philipp fühlt es. Er befreit den Janko. Er schickt die Bürger fort. Die Kaiserin wird abgerufen, denn es kommt Besuch. Nur Philipp und die Zigeuner bleiben auf der Bühne. Er nimmt Janko in seinen Dienst, schickt ihn zum Kaiser nach Brügge . . . Janko ab . . .

Toni that einen tiefen glückseligen Atemzug: endlich Philipp und Arabella allein! Nun will ich Dir was sagen Helene, fing sie mit gedämpfter Stimme, aber glühenden Wangen an: nun laß mich, bitte, den Philipp dichten und Du die Arabella. Lieben thun sie sich nun ja schon –

Natürlich! Die richtige Liebe kommt ja immer schnell!

Den Philipp, den kann ich gut, fuhr Toni fort. dabei denk ich, daß das nicht Arabella, sonderm Thea ist!

Meinetwegen, Toni. Aber Du mußt doch nie vergessen, daß es ein historisches Schauspiel ist. Und daß Du als Herzog Philipp

O Gott! rief Toni nur, als verstehe sich das von selbst. Fang’ Du nur an, altes Haus!

Ich kann nicht anfangen, sagte Heleue achselzuckend. Arabella ist ein junges Mädchen und „will nun auch gehen“ –

Das thut nichts! Herzog Philipp ruft: „Arabella!“

Ja, dann bleibt sie natürlich stehen. „Was wünscht Ihr, Herr?“

Darauf sagt Philipp etwas gekränkt: „Und Ihr habt kein Wort des Dankes für mich?“

Nun ist die Scene im Gang, murmelte Helene. Sie begann zu schreiben; Toni folgte ihr. Sie glühten jetzt beide wie die jungen Rosen; kritzelnd, sinnend, sprechend; die Augen immer größer und die Buchstaben auch; die Federn wie toll. Helene, an Rudolf denkend, für den sie seit einigen Tagen heimlich schwärmte, stierte aufs Papier. Arabellas Leidenschaft, fuhr sie fort, ist natürlich noch „verhalten“, denn sie ist ein Mädchen; sie antwortet also: „Kein Wort des Dankes? O, könnte ich alle Gedanken, die mein Herz bewegen, in Worte kleiden, wie glühend wollte ich Euch danken. Aber“ – dies sagt sie „bitter“ – „was kann Euch an dem Dank einer Zigeunerin gelegen sein? Denn was ist eine Zigeunerin für Euch?“

Jetzt brach Toni los. „Was Ihr mir seid, Arabella? Soll ich Euch sagen, wie teuer Ihr mir in dieser kurzen Zeit geworden? Ja, ich habe Dich lieb gewonnen, Arabella, Du bist mein Glück, mein Alles!“

„Du bin mein Glück, mein Alles“, wiederholte Helene, als sie das alles hingeschrieben hatte. „Arabella (leidenschaftlich) O Herr, Ihr vergeßt Euch!“

„Nein, Arabella, höre mich an. Ich weiß es, Du liebst mich, Du mußt mich lieben.“ – Jetzt nur zu, Helene jetzt muß sie mit der Sprache heraus!

Das soll sie auch, erwiderte Helene, ihren Schreibärmel in

[489]

Kunstpause.
Aquarell von J. R. Wehle.

[490] die Höhe ziehend. „Ja, Philipp, ich lieb' Euch. Schon als ich Euch zuerst sah, als Ihr so gut gegen uns wart, und meinen Bruder dem Volke entzogt“ –

Du, sag’ lieber: „Der Wut des Volkes entzogt“, warf Toni im hastigen Schreiben ein.

Ja: „der Wut des Volkes“ . . . „Schon damals fühlte ich es, wie selig war ich in deiner geliebten Nähe“ (o Rudolf! dachte Helene), „wie selig, wenn dein Auge mich traf. Ja, ich lieb’ Euch leidenschaftlich . . . Doch, Philipp! – Armbella wird ernster, zuletzt drohend – Ihr seid von königlichem Blute, Ihr könntet mit mir spielen. Doch bedenket, daß auch ich meinen Stolz habe, und Ihr könntet es bereuen. – Arabella fällt in den alten, liebedurchdrungenen Ton zurück: Doch ich will’s nicht glauben, daß Du so sein könntest, ich weiß es, Du kannst mich nicht vergessen, Du bist mein Engel! – Sie fällt vor ihm nieder und will seine Hände küssen; er hebt sie auf“ –

Halt! schrie Toni; das ist meine Sache. Philipp dichte ich! – „Er hebt sie auf und umarmt sie. Plötzlich scheint ihm etwas einzufallen; er stößt sie zurück, indem er ausruft: Mein Gott, was habe ich gethan! Johanna! – Er wirft einen gebrochenen Blick auf Arabella und stürzt hinaus.“

Ja, er stürzt hinaus, sagte Helene nickend. Und Arabella „hat ganz erstarrt dagestanden mit einem Ausdruck von Angst im Antlitz; jetzt schlägt sie die Hände vors Gesicht: Weh mir!“

Schneidend,“ ergänzte Toni.

Na ja: „schneidend: Weh mir! – Sie fällt besinnungslos zu Boden –“

„Und der Vorhang fällt!“

Helene wiederholte triumphierend: „Und der Vorhang fällt!“

Jetzt ward aber an die Thür gepocht; schon zum zweiten Mal; das erste hatten sie im Feuer des Dichtens überhört. Tolle Mädels ihr! rief Volkmar draußen auf dem Vorplatz. Um Zwölf wolltet ihr aufhören. Es hat Eins geschlagen, Mutting ruft zu Tisch!

(Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Die Papierwunder.

Von Eduard Grosse.


Wie früher alljährlich wunderbare Erzählungen über die fabelhafte Seeschlange durch die Tagesblätter liefen, so liest man jetzt jedes Jahr erstaunliche Dinge über die neuesten „Papierwunder“. Da wird erzählt von „Papiereisenbahnrädern“, von „Papiereisenbahnschienen“, von „Papierhufeisen“ und ähnlichen Dingen, die man sonst nur aus hartem Stahl und Eisen anzufertigen vermochte. Der Laie, welcher diese Nachrichten mit gläubigem Sinne liest, bringt die schweren, ungeheure Lasten tragenden Eisenbahnräder und Schienen sofort in Nebeneinanderstellung mit dem zarten schmiegsamen Briefpapier, auf das man Liebesschwüre und Freundschaftsbeteuerungen schreibt, und sein Staunen über die Wunder des papiernen Zeitalters ist grenzenlos.

Sieht man sich die vielgenannten Papierwunder etwas näher an, so findet man freilich, daß die Nebeneinanderstellung mit dem zarten, schmiegsamen Papier oft etwas weit hergeholt ist. Viele dieser Wunder, über welche die Tageszeitungen berichten, sind überdies nur Erfindungsversuche, die sich in der Praxis oft unbrmuchbar erweisen. So hat man allerdings einmal versucht, Eisenbahnschienen aus Pappmasse herzustellen, es giebt aber – so viel mir bekannt – keine Bahn, welche solche Schienen verwendet. Die „Papiereisenbahnräder“ bestehen in Wirklichkeit aus Stahl und Eisen, und nur zwischen dem Stahlreifen und der Nabe befindet sich eine hartgepreßte Pappfüllung, wie früher zu diesem Zweck vielfach Holzfüllungen verwendet wurden. Das einzige „Wunder“ an denselben ist demnach der Name „Papierräder“, den sie streng genommen ohne Berechtigung führen.

Was wir mit dem Namen Papier bezeichnen, sind bekanntlich dünne Blätter, die zum Beschreiben Bedrucken, zum Zeichnen, Einwickeln und dergleichen dienen. Sobald die Blätter dick und nicht geschmeidig sind, nennen wir sie Pappe. Zu den sogenannten „Papiergegenständen“, wie Papiereimern, Papierfässern, Papierschüsseln, Papierknöpfen und ähnlichen Dingen wird meist Pappe verwendet, seltener Papier. Letzteres findet dagegen mehr Verwendung zu den Papierschiffen und Papierkuppeln.

Sowohl die Pappe wie das Papier erfährt zu diesen Zwecken jedoch eine Umarbeitung, welche sie außen und innen wesentlich verändert. Sie werden mit Oel, mit Firnissen, mit Chemikalien getränkt, wodurch ihre Stoffzusammensetzung einen Zusatz erhält, sie werden mit heißem Eisen geglättet und unter gewaltigem Druck von 120 und mehr Atmosphären steinhart gepreßt, wodurch auch der ursprüngliche Rohstoff seine Lagerung und sein Gefüge vollständig ändert – kurz, es geht mit ihnen eine so durchgreifende Aenderung vor, daß hiernach ihr Name Papier und Pappe eigentlich gar nicht mehr zutreffend ist.

Das Papier und die Pappe bestehen aus denselben Rohstoffen wie unsere Leinen- und Baumwollengewebe, nämlich aus Pflanzenfasern. Die Leinwand wird erzeugt, indem die Fasern gesponnen und gewebt werden, zur Papiererzeugung werden die Fasern dagegen in den sogenannten „Holländern“ unter Wasserzufluß äußerst fein gemahlen und zerkleinert. Die gemahlenen Fasern bilden mit dem Wasser eine flüssige Masse, die auf ein Metallsieb der Papiermaschine geleitet und hier kräftig durcheinandergeschüttelt wird, wodurch sich die Fasern kreuz und quer lagern und zu dem Papierblatt verfilzen. Durch Leimen, Pressen und Glätten erhält das Papier seine Vollendung.

Zerreißt man ein Stück Papier, so sieht man an den Rißstellen die äußerst zarten, flaumartigen Fasern hervorstehen. Noch deutlicher erkennt man die Fasern und ihre Lagerung, wenn man ein Stück Seiden- oder Cigarettenpapier aufweicht und die zerteilte Masse unter ein Mikroskop bringt. Man bemerkt, daß sich längere Fasern, die an ihren Enden in sehr feine Faserbündel auslaufen, über die ganze Fläche erstrecken; zwischen ihnen sind kleine, sehr dünne Fasern eingebettet, und das Ganze bildet ein Fasergewirr, das in seinen vielfachen Durchschlingungen und Kreuzungen aneinanderhaftet und ein festes Papierblatt ergiebt. Durch das Leimen und Glätten wird den Fasern ihre Saugfähigkeit genommen und die glatte Papieroberfläche erzeugt.

In neuer Zeit werden die Leinenhadern, welche früher hauptsächlich zur Papiererzeugung dienten, nur noch zu besonders guten Papieren benutzt. Zu gewöhnlicheren Schreib-, Brief- und Druckpapieren verwendet man andere Rohstoffe, die man den Pßanzen direkt entnimmt, hauptsächlich die Fasern oder den Zellstoff unserer Waldbäume. Man gewinnt den Papierstoff von den Bäumen entweder durch Schleifen des Holzes auf großen Schleifsteinen oder durch ein chemisches Verfahren, welches bezweckt, das Holz durch Säuren und Dämpfe aufzulösen und die zarten Fasern von den sie umgebenden Holzteilen zu befreien.

Der chemisch anfgelöste Holzstoff, den man gemeinhin „Cellulose“ nennt, zeigt sehr zarte und geschmeidige Fasern, die ein reines und gut aussehendes Papier ergeben. Man war der Meinung, in der Cellulose auch hinsichtlich der Dauerhaftigkeit einen vollständigen Ersatz für die Hadern gefunden zu haben, in neuerer Zeit wurde diese gute Meinung jedoch stark erschüttert. Ein tüchtiger Papierfachmann wies nach, daß die Cellulose im Laufe der Zeit wahrscheinlich wieder verholzt, wodurch das Papier an Güte verliert. Mikroskopische Untersuchungen liefern außerdem den Beweis, daß die Holzfasern nicht die guten Eigenschaften der Leinenfasern besitzen. Sie sind weniger verfilzungsfähig, zeigen an den Enden nicht die geschmeidigen Faserbündel wie jene, sondern brechen schroff und ohne Uebergang ab. Das sieht man deutlich an unsrer Abbildung „Papierfasern“, die ich Carl Hofmanns „Handbuch der Papierfabrikation“ entnommen habe, und die stark vergrößerte Leinen- sowie Holzzellstofffasern zeigt.

Nachdem es gelungen war, die Holzfaser als Ersatz der Leinenfaser zum Papier zu verwenden, tauchte in einigen Erfinderseelen der kühne Gedanke auf, das Holz auch zur Herstellung von – Kleiderstoffen zu benutzen. Der Gedanke lag nahe, seiner Verwirklichung war jedoch die allgemeine Kürze der Holzfasern hinderlich, die im Papier eine Länge bis zu 4,5 mm haben, wogegen die Leinenfasern bis zu 30, die Baumwollenfaserm bis zu 40 mm Länge besitzen. Es galt also, die Holzfaser in größerer Länge zu gewinnen, damit es möglich wurde, sie zu spinnen und zu weben. [491] Einige Chemiker begannen, an der Lösung der Aufgabe zu arbeiten, und das Erstaunliche gelang ihnen: sie gewannen aus dem Holze lange, verspinnbare Fasern, die sich ebenso wie Baumwolle zu Geweben verarbeiten ließen. Ueber das Verfahren des französischen Chemikers Chardonnet, aus Holzfaserstoff einen der Seide ähnlichen Stoff zu gewinnen, ist schon im Jahrgang 1891 der „Gartenlaube“, S. 220, berichtet worden.

Amerikanische Unternehmer haben gleichfalls ausgerechnet, daß man die Kleider aus Papierstoff billiger herstellen kann als aus Wolle und Seide. Aber minder gewissenhaft als die Deutschen, machten sie sich nicht erst die schwere Arbeit, verspinnbare Fasern zu gewinnen. Sie benutzen einfach das Papier gleich so, wie es zum Schreiben verwendet wird. Aus dünnem Manilapapier schneiden sie lange schmale Streifen, rollen diese fest zusammen und zwirnen sie genau wie Wolle oder Baumwolle. Um diesen Papierfäden das Aussehen von wirklicher Wolle zu geben, werden sie gefärbt, dann mittels einer dazu gebauten Maschine mit Klebstoff bestrichen und durch einen Behälter gezogen, der mit feinfaserigen Wollabfällen angefüllt ist. Letztere haften an dem Klebstoff, und der Papierfaden bekommt das scheinbare Ansehen eines Wollfadens. Unter dem Mikroskop hat er das Aussehen, welches die Abbildung „Wollbestäubter Papierfaden“ zeigt. Diese Papierfäden, welche natürlich keine Festigkeit besitzen, werden zwischen die echten Wollfäden eingewoben, und so entsteht ein Gewebe, das teils aus Wolle, teils aus Papier zusammengesetzt ist. Der unglückliche Käufer solcher Wollstoffe wird jedenfalls nicht viel Freude daran erleben, und ich glaube kaum, daß er diesem neuesten „Papierwunder“ große Begeisterung entgegenbringt.

Aus Leinen.   Aus Holzzellstoff.
Papierfasern.
In mikroskopischer Vergrößerung.

Ist das Papier nicht geleimt und geglättet, so saugen die verfilzten Pflanzenfasern, aus denen das Papierblatt besteht, alle Flüssigkeiten gierig ein; ebenso die Fasern der Pappe. Es ist demnach leicht möglich, Pappe und Papier mit Oelen, Teer oder Chemikalien zu tränken und sie auf diese Weise sowie durch nachheriges Prägen steinhart und wasserfest, ja selbst feuerfest zu machen. Durch Versuche und langjährige Erfahrungen hat man es so weit gebracht, Pappen herzustellen, welche allen Witterungsverhältnissen widerstehen und die darum zum Bau von leicht zusammenstellbaren und transportablen Baracken benutzt werden. Alle tragenden und stützenden Teile dieser Baracken bestehen aus Holz, die Flächenbekleidungen, wie Wände, Dach und Thüren, aus getränkter und hart gepreßter Pappe. Zwischen der äußeren und inneren Pappwand befindet sich eine Isolierluftschicht, die den Zweck hat, im Winter gegen die Kälte und im Sommer gegen die Wärme zu schützen.

Diese Art Baracken sind bereits seit einer Reihe von Jahren in Gebrauch, vornehmlich für militärische Zwecke. Unsere Abbildung auf Seite 492 veranschaulicht die Aufstellung und Einrichtung solcher leicht transportablen Gebäude für Militärlazarettzwecke von innen und außen. Den Illustrationen liegen Aufnahmen in dem Barackenlager zu Grunde, das während der zweiten Hälfte des Jahres 1891 im Königl. 2. Garnison-Lazarett Tempelhof bei Berlin aufgestellt und belegt war. Das „System Döcker“ von Christoph und Unmack in Niesky (Oberlausitz), nach welchem diese „Pappbaracken“ hergestellt sind, ist in der deutschen, der österreichischen, französischen, dänischen und türkischen Armee eingeführt. Auch für vorübergehende Unterbringung von Erdarbeitern bei Eisenbahn-, Kanal- und ähnlichen Bauten leisten diese Baracken vortreffliche Dienste. Während der Hamburger Hafenbauten war am Petersenquai eine ziemlich geräumige Speise- und Kaffeehalle aus Pappe für die beim Hafenbau beschäftigten Arbeiter errichtet. Da sich die Pappe gegen starken Wärme- und Kältewechsel gleichmäßig verhält, sich nicht wie das Eisen und Holz dehnt oder zusammenzieht, so dürften die Papphäuser vielleicht auch in den überseeischen Kolonien Verwendung finden. Die Papierhäuser können natürlich je nach Bedarf in größerem und kleinerem Umfang aufgebaut werden. Sie sind meist transportabel eingerichtet und der Aufbau erfordert keine große Arbeit, da kein Fundament und kein Mauerwerk nötig ist. Beim Nordostseekanalbau war ein transportables Papplazarett in Gebrauch, das Raum für 50 Betten bot; dasselbe war von der Fabrik der Gebr. Adt in Forbach (Lothringen) geliefert worden.

Wollbestäubter Papierfaden.
In mikroskopischer Vergrößerung.

Ebenso wie Papphäuser stellt man auch Pappkuppeln zu größeren Bauten her, dieselben zeichnen sich vor den Metallkuppeln durch große Leichtigkeit aus. Zu Sternwarten, wo der runde, kuppelartige Observatoriumsdom drehbar sein muß, damit das große Fernrohr nach allen Gegenden gerichtet werden kann, hat man schon seit vielen Jahren den leichten Papierstoff als Kuppelbedeckung benutzt, besonders in Amerika. So ist das Bundesobservatorium zu West Point im Staat New York mit einer Papierkuppel versehen, die auf 36 eisernen Rädern ruht und zu welcher 2600 Pfund Papier nötig waren. Ein anderer Observatoriumsdom aus Papier befindet sich im Rensselaer Polytechnischen Institut zu Troy; dieser ruht auf Kanonenkugeln, auf denen er sich drehen läßt, und wiegt insgesamt 4000 Pfund, wovon 1000 Pfund auf die Papierkuppel entfallen. Diese Papierkuppeln sollen sich gut bewähren, da sie leichter als Eisen, widerstandsfähiger als Holz und gegen die Temperaturschwankungen wenig empfindlich sind.

Die Papierkuppeln verdienen ihren Namen in der That, denn sie sind nicht aus der oben beschriebenen Pappe hergestellt, sondern aus wirklichen Papierblättern, die in dicken Lagen übereinander geklebt und dann mit Oelen und chemischen Mitteln widerstandsfähig gemacht werden. Eine Kuppel besteht aus 24 oder 36 einzelnen Stücken, die über einem Holzmodelle durch Uebereinanderkleben der Papierlagen erzeugt werden. Jedes einzelne Stück läuft von der Basis bis zur höchsten Spitze des halbrunden Kuppeldaches und bildet demnach einen gewölbten Streifen, der unten breit ist und nach oben schmal zuläuft. Zur Herstellung dieser großen langen Kuppelteile wird sehr gutes Rollenpapier benutzt, das sofort in der nötigen Länge und Breite zugeschnitten, dann angefeuchtet und über das Holzmodell gespannt wird. Auf den ersten Papierstreifen wird ein zweiter, gleichfalls angefeuchteter geklebt, auf diesen ein dritter und so fort, bis die nötige Dicke erreicht ist. Die feucht aufgeklebten Papierstreifen verharren dauernd in ihrer gewölbten Form und bilden nach dem Trocknen harte, widerstandsfähige Stücke, die durch Oelen, Glätten mit heißen Eisen, Asphaltieren und Firnissen wetterfest gemacht und dann zu der runden Kuppel zusammengefügt werden.

Der Erfinder dieser Papierkuppeln ist George A. Waters in Troy, Amerika, der auch die „Papierschiffe“ erfand, die ganz ähnlich gefertigt werden. Den Anstoß zur Erfindung gab, wie so oft, ein Zufall. Waters’ Vater besaß eine Fabrik chemischer Artikel, welche in Pappbehältern versandt wurden, die er in einer eigenen Schachtelfabrik herstellen ließ. In dieser Fabrik lernte der junge Waters die Papparbeiten kennen, und als ihm im Jahre 1867 sein altes Ruderboot leck wurde, kam er auf den Einfall, die lecken Stellen mit mehrfach aufgeklebten Papierblättern auszubessern, die er mit Firnisfarbe bestrich. Das Ausbesserungsmittel bewährte sich über Erwarten gut, und Waters faßte infolgedessen den kühnen Entschluß, ein ganzes Boot aus Papier zu fertigen. Er nahm sein altes Boot als Modell, kaufte bestes Manilahanfpapier, das nicht in Bogen geschnitten, sondern in ungeteilter Länge auf Rollen gewickelt war, und schnitt aus diesem Papier in voller Bootslänge Streifen ab. Diese durchweichte er gründlich, spannte die ersten Streifen mit Stiften fest auf das Bootsmodell und klebte dann die anderen Streifen darüber, bis eine ungefähre Wanddicke von 3 mm entstand. Hierauf ließ er das Papier gründlich austrocknen, machte es dann mit Oel, Firnis und Teer wasserdicht und erhielt nach Entfernung des Holzmodells ein vollständig dichtes Boot, dessen Wände sehr steif waren und in ihrer gegebenen Form verharrten. Nun versah er dasselbe mit Gestell und Ausrüstung, gab ihm noch einen äußeren Firnisanstrich und das erste Papierboot war fertig.

[492] Waters nannte es „The Experiment“. Die Probefahrt mit dem Boote fiel vortrefflich aus, es widerstand dem Wasser ebensogut wie Holzboote und wurde jahrelang benutzt. Es existierte noch im Jahre 1885. Vor den Holzbooten zeichnete es sich durch ungemeine Leichtigkeit aus, war ohne Naht und bestand aus einem einzigen Stück verfilzten und zusammengeklebten Papierstoffes. Waters Sohn und Vater hätten keine Amerikaner sein müssen, wenn sie nicht sofort daran gedacht hätten, die zufällige Erfindung geschäftlich auszunutzen. Sie sicherten sich Patente, fertigten Boote zum Verkauf, und schon bald nach der Erfindung wurde eines derselben zu einer Wettfahrt benutzt.

Im Jahre 1874 machte H. Bishop eine Wasserreise von Quebec in Kanada nach dem Golf von Mexiko in einem Waters’schen Boote und beschrieb dieselbe in seinem Buche „Reise mit einem Papierboote“, in welchem er erzählt: „Nachdem ich 400 englische Meilen durchrudert hatte, kam ich auf dem Hudson in Troy an, wo E. Waters and Sons seit einigen Jahren Papierboote fabrizieren. Die Vorzüge eines Bootes, das nur 58 Pfund wiegt, dessen Stärke und Dauerhaftigkeit aber genügend erprobt war, veranlaßten mich, meinen Gehilfen zu entlassen und die weiteren 2000 Meilen der Reise auf einem solchen Boote allein zurückzulegen, obwohl alte erfahrenes Seeleute davon abgeraten hatten. Etwaige stille Besorgnisse wurden aber rasch zerstreut, als ich an dem Klubhause zu Troy vorüberfuhr und dort 40 solcher papiernen Boote liegen sah. Mein Boot ‚Maria Theresia‘ war 14 Fuß lang, 28 Zoll breit, 9 Zoll tief in der Mitte. Der Bug war 23 Zoll, der Stern 20 Zoll über der wagerechten Linie. Das Boot hatte eine Wanddicke von 1/8 Zoll (oder 3 mm) und war mit 7 Fuß 8 Zoll langen Rudern aus Fichtenholz von 31/4 Pfund Gewicht versehen. Mast und Segel, die auf einem so kleinen Schiff keinen Zweck hätten und bald beseitigt wurden, wogen 6 Pfund.“

Lazarett-Baracken aus Pappe.

Beim Bau kleiner Ruderboote blieb man jedoch nicht stehen, man strebte höher, und im Jahre 1884 wurde eine Dampfjacht aus Papier gebaut. Dieselbe war 25 Fuß lang und wurde aus eigens hierzu gefertigtem Papier hergestellt, das in nassen Bogen aus der Papierfabrik kam. Die Wände des Schiffsrumpfes waren 1 Centimeter dick, zwischen die Papierlagen war zum besseren Schutz gegen das Wasser eine Asphaltschicht eingestrichen. An dem Papierrumpf wurde ein Holzkiel angebracht, sowie Holzrippen, welche den Zweck hatten, den Fußboden, sowie die Dampfmaschine zu tragen. Der große Rumpf bestand aus zwei Teilen, die kunstgerecht am Kiel zusammengefügt und verdichtet wurden. Seitdem hat dieser Zweig der Papierindustrie noch weitere Fortschritte gemacht. Auch in Deutschland werden inzwischen Papierboote hergestellt und sind solche in Gebrauch.

Derartige staunenswerte Erfolge, die man mit dem Papierstoff erreichte, stachelten zu immer neuen Versuchen an, und, derselbe wurde zur Herstellung der verschiedensten Gegenstände herangezogen. Man begann, aus getränkter und steinhart gepreßter Pappe Schüsseln, Teller, Waschbecken und dergleichen zu prägen, die, sich – wenn gediegen gearbeitet – auch gut bewähren. Ferner fertigt man aus derselben Pappe Eimer und Fässer, die aus dem Oberteil und Boden zusammengesetzt werden. Auch das Glas suchte man mit dem Papierstoff zu verdrängen, indem man Flaschen und Tintenfässer aus Papierstoff fertigte. Mit diesen wurde indessen, kein einträgliches Geschäft gemacht, und eine der größten Papierflaschenfabriken stellte kürzlich den Betrieb ein. Getränkte und geprägte Pappe läßt sich auch drehen und polieren, und sie wird daher zu unzähligen Gegenständen benutzt, die früher aus Horn, Stein, Holz- und ähnlichen Stoffen gefertigt wurden.

Alles Irdische hat aber seine Grenzen, und so auch die Benutzung des Papierstoffes an Stelle anderer, eigenartiger Stoffe. Wo ein Stoff unverwüstliche, ausdauernde Härte zeigen muß, wie sie der Stahl besitzt, da scheitert die Anwendung des Papierstoffes in der Regel. Denn seine Fasermasse kann – selbst wenn sie mit Firnis durchtränkt und mit der stärksten Kraftanwendung gepreßt wird, doch keinen Vergleich mit der eigenartigen Härte der Metalle aushalten.

Die „Papiereisenbahnräder“ habe ich schon erwähnt. Papier kommt zu den Eisenbahnrädern überhaupt nicht zur Verwendung, sondern durchtränkte und geprägte Pappe, und diese auch nur als Radstern. Die Abbildung auf S. 494 zeigt den Durchschnitt eines 1886 patentierten Eisenbahnrades mit Pappfüllung. Alles, was auf der Zeichnung dunkel ist, besteht aus Eisen und Stahl, die hellen Stellen a a bedeuten die Pappfüllung. Diese liegt, wie man sieht, vollständig in Stahl eingebettet und eingeschraubt. N N ist die Stahlnabe, welche auf, der Wagenachse läuft. Diese Nabe hat ringsum einen kreisförmigen Fortsatz, der zwischen der Pappmasse a a eingeklemmt ist. R R ist der Stahlreifen, der um das ganze Rad herumliegt und fest auf der Pappmasse sitzt. An beiden Seiten liegen Eisenplatten, die mit starken, durch die Pappe greifenden Schrauben befestigt sind. Die Hauptteile bestehen demnach aus Stahl und Eisen, und nur der Radstern, der allerdings auch gewaltige Anstrengungen aushalten muß, besteht aus Pappe.

Die neueste Ueberraschung für das sportlustige Publikum ist eine – Schlittschuhbahn aus Papier und Pappe. Man glaube nicht, daß ich scherze; die Sache ist voller Ernst, und der glückliche Erfinder erhielt unlängst auf seine papierne Schlittschuhbahn ein deutsches Reichspatent. Er benutzt zu ihrer Herstellung Papptafeln, die mit Leinölfirnis und Paraffin durchtränkt, dann unter gewaltigem Druck gepreßt und mit Pergament überklebt werden. Diese Papptafeln setzt er auf einer Cementunterlage sorgfältig zu einer glatten Bahn zusammen, bestreicht die Oberfläche noch mit einer eigens dazu bereiteten wachsartigen Masse, und der Schlittschuhlauf kann beginnen. Nötig ist es, daß die Bahn mit ganz glatt polierten Schlittschuhen belaufen wird, die an der Unterfläche keine scharfen Kanten haben, da diese in die Bahn einschneiden. Sollte sich die Erfindung bewähren, so könnten sich die Freunde und Freundinnen des Schlittschuhlaufes zu jeder Jahreszeit auf der Bahn tummeln, im Winter auf Eis, im Sommer auf Pappe.

Der chemisch aufgeschlossene Papierstoff oder die Cellulose ist außerdem noch chemischer Veränderungen fähig, die seine Verwandtschaft mit dem Papier kaum noch ahnen lassen. Uebergießt man reine Cellulose mit konzentrierter Salpeter- und Schwefelsäure,

[493]

Steinböcke im Züricher Wildparke bei Langenburg.
Nach dem Leben gezeichnet von Rich. Strebel.

[494] so geht unter Entwicklung erstickender Dämpfe eine chemische Veränderung vor sich, und aus der harmlosen Cellulose wird Nitrocellulose, ein ungemein gefährlicher Explosionsstoff, welcher schon durch Druck oder Schlagen zur Explosion gebracht werden kann. Derselbe ist in weiteren Kreisen unter dem Namen Schießbaumwolle bekannt, da früher zu seiner Herstellung ausschließlich Baumwolle verwendet wurde. Die Nitrocellulose ergiebt nach entsprechender Weiterverarbeitung das vielbesprochene rauchlose Pulver, das also aus demselben Rohstoff erzeugt wird wie das Papier. Es ist auch möglich, aus reinem Cellulosepapier Nitrocellulose und daraus wieder rauchloses Pulver zu machen.

Die Nitrocellulose dient aber auch weniger blutdürstigen, sondern rein gewerblichen Zwecken. Uebergießt man sie, nachdem sie gut getrocknet ist, mit einer Lösung von Kampfer in Aether, so entsteht eine gallertartige Masse, die sich durch die Verflüchtigung des Aethers allmählich verdickt. Wird diese Masse unter starkem Druck solange gewalzt, bis sie fest geworden ist, und hierauf nochmals einem ungeheuren Drucke in einer hydraulischen Presse ausgesetzt, so nimmt sie eine hornartige, durchsichtige Beschaffenheit an und heißt dann „Celluloid“.

Eisenbahnrad mit papierenem Radstern.

Das Celluloid ist ein geschätzter und vielverwendeter Stoff unserer heutigen Industrie. Im kalten Zustande ist es ungemein hart, bei einer Temperatur von 125° C. wird es dagegen weich und läßt sich in jede beliebige Form pressen. In diesem Zustande kann es auch mit Farbstoffen vermengt werden, und man versteht es, ihm eine täuschende Elfenbeinfarbe zu geben sowie durch Bemalen die Farben des Horns und Schildpatts nachzuahmen. Viele der billigen elfenbeinähnlichen Schmucksachen, die heute im Handel sind, bestehen aus Celluloid, das auch in der Härte dem Elfenbein nahe kommt. Auch Billardbälle, von den Spielern meist „Papierbälle“ genannt, werden aus Celluloid hergestellt, desgleichen Stockgriffe, Kämme und viele andere Dinge. Erwähnenswert ist noch die sogenannte „Gummiwäsche“, die gleichfalls aus Celluloid besteht und deren Kampfergeruch von dem oben beschriebenen Lösungsmittel herstammt.

Leider hat das Celluloid von der Nitrocellulose die schlimme Eigenschaft leichter Brennbarkeit beibehalten, zwar in abgeschwächter, aber immer noch bedenklicher Form. Durch Schlag und Stoß entzündet sich das Celluloid nicht, über eine helle Flamme gehalten brennt es jedoch sofort und unter bedeutender Kraftentwicklung. Schon mancher Billardball ist zum Entsetzen der Spieler durch Gasflammen oder brennende Streichhölzer zu Grunde gegangen. Auch die sogenannte Gummiwäsche ist ungemein feuergefährlich, und obwohl die Fabrikanten bestrebt sind, ihr diese bedenkliche Eigenschaft nach Möglichkeit zu entziehen, zeigt ein Versuch sofort, daß dies noch nicht gelungen ist. Die Celluloidkragen und -manschetten brennen sehr leicht und schnell. Wer die sogenannte Gummiwäsche trägt, sollte daher die größte Vorsicht walten lassen und brennende Streichhölzer von derselben fernhalten. Denn sie entstammt einem der gefährlichsten Explosionsstoffe, und obgleich dessen unheilvolle Triebe in ihr stark gebändigt sind, kann sie ihre Abstammung doch nicht vollständig verleugnen.


Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (Schluß.)


Ditscha blättert weiter in dem Tagebuch. Jetzt kommen die Reisejahre. Achim war kränkelnd, sie sind im Süden. Kurze Notizen – Palermo, Weihnacht 1886: Jochen und ich haben Heimweh nach Beetzen, nach Onkels stiller Stube, nach Hannes „braunem Kuchen“, nach dem verschneiten Park der Heimat – aber schön ist’s hier, unsagbar schön!

Rom – Ostern; Joachim und ich zur Messe in der Sixtinischen Kapelle.

Florenz: Joachim ist ganz begeistert.

Nizza: Joachim hat einen Freund vom Gymnasium hier getroffen, den jungen Grafen Mangelsdorf. – Mein Gott, wenn ich das an Joachim erleben müßte! Achim kam und holte sämtliches Geld, das wir bei uns hatten; es galt, die Hotelrechnung des Grafen zu bezahlen und ihm das Reisegeld zu verschaffen; er hatte alles verspielt. Onkel Jochen würde uns aber nie verziehen haben, wenn wir mit dem, was er uns für diese Reise gab, nicht ausgereicht hätten. So leistete ich denn von meinem Vermögen Ersatz; es war keine unbedeutende Summe. Joachim und ich sind ja aber eins, und er sagt sehr richtig, wenn man einen Menschen vor Verzweiflung bewahren kann, so soll man ein paar tausend Thaler nicht ansehen. Er ist wirklich eine nobel angelegte Natur, und ich habe ihm gesagt, er könne über alles verfügen, was ich besitze.

Beetzen, Mai 1887: Heute ist Achim großjährig geworden. Gott segne ihn!

Und nun heute, wo sie ihn von Dresden zurückerwartet, schreibt sie mit zitternden Händen: Mai 1889. Achim hat den ersten Schmerz in seinem Leben durchzukämpfen – könnt’ ich ihm den abnehmen, könnt’ ich ihn vor allem Schweren bewahren! Wär’ er nur erst hier, der arme arme Jung’! – Ich habe Rothe wiedergesehen. Ich bin viel ruhiger darüber, als ich es für möglich gehalten. – Mein ganzes Herz ist bei Achim, der jetzt leidet, wie ich einst gelitten. Wie lange schwere Jahre müssen vergehen, ehe man ruhiger wird!

Sie springt auf und fragt, ob schon angespannt sei. Viel zu früh schickt sie den Wagen nach Bützow zum Bahnhof. Gegen ein Uhr duldet es sie nicht mehr im Hause, sie geht ihm auf der Chaussee entgegen – der Wagen kommt leer zurück!

Eine unheimliche unerklärliche Angst hat sie gepackt. Wenn er dennoch – wenn die Leidenschaft Macht über die Vernunft gewönne – wenn diese Liebe stärker wäre als die zu ihr, zu seinem Onkel, zu der stolzen Vergangenheit seines Hauses! Mein Gott, wer weiß denn, weshalb er zurückgeblieben! Vielleicht hat sie verlangt, er solle noch einmal ihr die Hand geben, und an dieser Hand hat sie ihn festgehalten, hat ihn bezaubert mit ihrer ganzen berückenden Schönheit!

Warum war sie auch von ihm gegangen – warum, warum nicht bei ihm geblieben!

Sie kann bei Tische keinen Bissen essen, ruhelos wandert sie umher durch Haus und Garten. Die schreckliche Idee, daß sie das einzige verlieren soll, das sie noch besitzt auf Erden, macht sie körperlich krank. Ach, was sind nicht schon für verrückte Geschichten passiert aus Liebe! Onkel überlebt das nicht, sie auch nicht, und das wäre das beste für sie, denn eine Heimat hat sie dann auch nicht mehr. – Sie hätte ihm gleich alles erzählen sollen, vielleicht wär’ er ihr dann gefolgt. – Aber die Sprache hätte ihr versagt, wenn sie ihm, der sie wie eine Gottheit verehrt, die Geschichte ihrer Thorheit hätte beichten müssen.

Wenn Sie ihn aber damit retten könnte, würde sie es doch thun, würde sie es ihm schreiben.

Gegen fünf Uhr kommt eine Depesche an Ditscha. Sie wird überall gesucht, endlich findet sie eins der Mädchen in dem Zimmer der verstorbenen Tante Klementine, wo sie am Fenster steht und die Chaussee entlang späht mit dem Feldstecher.

„Eine Depesche, gnä’ Fröln!“

„Ach, Gott sei Dank!“ sagt sie und reißt das Papier auf. Das Mädchen ist im Begriff die Treppe hinunterzugehen, da stürzt das gnädige Fräulein hinter ihr her. „Den Wagen!“ ruft sie, „rasch den Wagen!“ Sie ist wie irr vor Angst, seit sie gelesen:

„Joachim schwer erkrankt  Cilly.“

Der alte Herr darf nichts wissen, natürlich nicht; Ditscha muß irgend einen Vorwand für ihre Reise ersinnen. Er schläft jetzt noch – Hanne soll ihm also, wenn er erwacht, sagen, daß Ditscha noch einmal hat nach Dresden reisen müssen, weil da eine Verlobung im Werke sei. „Hörst Du, Hanne? Und sollte irgend etwas Schreckliches passieren, so –“ sie stockt – „so holt Herrn Rothe.“

Ditscha fährt ab in einem Zustand halber Besinnungslosigkeit. In Dresden angelangt – es ist ein Uhr nachts, aber sie hat an Cilly depeschiert –, findet sie Cillys Mann auf dem Bahnhof. Er ist sehr höflich, sehr ernst, etwas hölzern und sieht vornehm aus.

[495] „Welches Hotel befehlen Sie?“ fragt er, ihre Handtasche nehmend.

„Hotel? Ich will zu Joachim!“ schreit sie fast.

„Er ist nicht in der Lage, Aufregungen ertragen zu können, liebe Sophie,“ stottert Bredow. „Eine Graue Schwester ist bei ihm –“

Sie bleibt stehen mitten in der Billethalle des Bahnhofes. „Barmherziger Gott,“ bittet sie, „foltern Sie mich doch nicht so – was ist’s denn mit ihm?“

„Ich will Ihnen sofort Erklärung geben, Sophie, aber nicht hier. Wenn Sie es denn wünschen, kommen Sie zunächst in unser Haus.“

Nach einer Viertelstunde befindet sich Ditscha in Cillys Salon, in welchem eine einzige Gasflamme am Lüster brennt und der in ihrer furchtbaren Angst erstickend auf sie wirkt mit all dem modernen Tand, den Cilly so liebt. Sie ist in einen Sessel gesunken und starrt den Mann an, der sich seines Ueberziehers entledigt und, während er sich die Handschuhe auszieht, pedantisch und leise beginnt: „Die Sache ist die, liebe Sophie – er hat ein Duell gehabt – die Affaire ging unglücklich für ihn aus – er bekam einen Schuß in die Lunge – –“

„Ein Duell?“ fragt sie tonlos und faßt die Lehne des Sessels. „Mit wem? Wieso? Erklären Sie doch!“

„Das ist eine etwas umständliche Geschichte, die mir selbst nicht völlig klar wurde, liebe Sophie. Er hat einen Amerikaner gefordert, der hier in demselben Hause mit uns wohnt, einen Mister Perth. – Ich glaube, unser armer Junge hat sich in die Tochter vergafft, wie’s scheint, ganz ernstlich. Wir dachten übrigens nichts Arges, Cilly amüsierte sich sogar immer königlich über seine Huldigungen, ohne zu thun, als ob sie es bemerke. Wer konnte denn auch denken – hm –, denn – hm – wir verkehrten nicht ’mal – Leute gänzlich unbekannter Sphäre – – Nun glaube ich, wollte er sich auf Ihren Rat, liebe Sophie, der ja auch durchaus richtig ist, zurückziehen – da ist man unangenehm geworden und Madame hat einen ganz impertinenten Ausfall gegen Sie, Sie – liebe Sophie – unternommen. Natürlicherweise konnte Achim das nicht – hm – – Na, wir ahnen nichts – gegen zwei Uhr gestern kommt das alte Waschweib, Mistreß Perth, wie eine Furie herauf, verlangt Cilly zu sprechen und lamentiert schrecklich, schiebt alle Schuld auf Sie, behauptet, Sie von früher zu kennen, und so manches andere. Und seitdem ist Cilly, ich muß es mit Bedauern sagen, in sehr gereizter Stimmung gegen Sie, liebe Sophie, so daß ich es für geratener halte, ihr nicht in den Weg zu kommen. Entschuldigen Sie – mit einer Mutter darf man, angesichts ihres leidenden Kindes, nicht zu genau rechnen.“

Ditscha sitzt während dieser Rede da mit schmerzverzogenem Gesicht, die gefalteten Hände an die Lippen gepreßt, als wolle sie einen Aufschrei zurückdrängen. Nun springt sie empor. „Lassen Sie mich zu ihm – lassen Sie mich bei ihm bleiben!“

In diesem Augenblick öffnet sich die Thür und Cilly, mit vom Weinen verschwollenem Gesicht, ein loses Morgenkleid über ihre kleine korpulente Figur geworfen, kommt herein. Als sie Ditscha erblickt, wendet sie sich ab und will gehen.

„Cilly!“ ruft das Mädchen, „sei barmherzig, laß mich zu ihm, sage doch mir – –“

„Niemals!“ schallt es zurück, „denn Du bist schuld – um Deinetwillen stirbt er! Ein Unglück ist’s, so eine, wie Du, in der Familie zu haben, das sage ich Dir ganz frei heraus in dieser Stunde!“

„So sprich doch, was verbrach ich denn?“ ruft Ditscha.

„Er hat diesen Menschen, diesen Mörder, gefordert, weil – weil er renommierte, früher zu Dir in Beziehungen gestanden zu haben – was leider wahr ist, denn der erbärmliche Patron ist ja der Perthien, mit dem Du damals flüchten wolltest – o, Du denkst, ich kenne diese Geschichte nicht? Tante Anna hat sie mir erzählt; sie hat Dich nie leiden können seitdem. Und Dein Bruder – Dein Bruder geht daran zu Grunde!“

Ditscha greift plötzlich mit beiden Händen an die Stirn und lacht kurz, wie ungläubig, auf. „Perthien?“ sagt sie mit schwerer Zunge – „Perthien?“ Dann bricht sie zusammen. –

Die Graue Schwester hat sich um sie bemüht; sie ist nach langer Ohnmacht wieder zu sich gekommen.

„Muß er sterben, Schwester?“ fragt sie.

„Er ist sehr krank, aber Gottes Gnade ist groß,“ antwortet diese.

„Lassen Sie mich zu ihm, lassen Sie mich!“ fleht sie, „wir haben uns so lieb, Schwester – ich will nichts weiter als seine Hand halten –“

Das gute Gesicht der Pflegerin wird verlegen. „Ach, gnädiges Fräulein, es geht nicht,“ sagt sie, „er darf nicht aufgeregt werden, er – –“

„Aber vor der Thüre lassen Sie mich sitzen, Schwester,“ fordert sie fast schreiend. „Sie wissen nicht, was Sie thun, wenn Sie mich fortgehen heißen – ach, Sie wissen es nicht –!“

Und Ditscha hockt vor der Thür, stundenlang, tagelang, nächtelang. Cilly hört das Schluchzen drinnen am Krankenbette, an dem sie mit der Schwester wacht; sie möchte verzagen, aber was soll sie machen, sie kann doch nicht die Verzweifelnde fortjagen wie einen Hund!

Tage vergehen, Tage, in denen Tod und Leben miteinander ringen. Die Barmherzige Schwester hat schließlich für Ditscha ein Bett in jenes Zimmer stellen lassen, das Stubenmädchen sorgt für Speise und Trank, so gut es geht. Wie es daheim aussieht, daran denkt Ditscha nicht, nur daß der alte Mann nichts erfährt, darum ist sie besorgt. Sie hat an Rothe telegraphiert, er solle sich seiner annehmen. Daß sie von dem Manne, der sie geliebt, eine große Gefälligkeit verlangt, wie man sie nur von einer ganz nahestehenden Person fordern würde, ist ihr nicht klar. Wer fragt danach in solchen Momenten!

Langsam, sehr langsam kommt das erste Hoffnungszeichen. Cilly, die sich gebärdet, als sei sie ihr Leben lang die aufopferndste Mutter gewesen, überläßt zum erstenmal die Nachtwache der Pflegerin und zieht sich in ihr eignes Schlafzimmer zurück. Schwester Josepha mit den freundlichen dunklen Augen, die nun am Bette des Kranken sitzt, läßt auf Ditschas Bitten die Thüre einen Spalt weit offen; Ditscha kann sein Lager sehen, das blasse abgezehrte Antlitz ihres Lieblings. Sie schluchzt leise auf, sie hat es nicht unterdrücken können; nun preßt sie das Tuch an den Mund, denn der Kranke hat den Kopf gewendet.

„Wer war das?“ fragt er matt.

Die Wärterin schüttelt den Kopf.

„Es ist meine Schwester,“ sagt er, „sie soll hereinkommen.“

„Es ist niemand hier,“ wehrt die Pflegerin.

„Es ist meine Schwester, sie soll kommen!“ beharrt er.

Die Pflegerin, die keine Ahnung von den Verhältnissen hat, tritt heraus. „Recht ruhig sein, gnädiges Fräulein, um Gotteswillen ja nicht weinen,“ flüstert sie.

Und Ditscha schwankt an sein Bett. Sie sieht sich kaum noch ähnlich, so haben Angst und Gram sie verändert. Sie beugt sich hernieder, sie will ihn küssen, nur die Hand, die auf der Decke ruht; sie wagt nicht zu schluchzen, aber die Thränen rinnen ihr langsam über das vergrämte Gesicht. Er wehrt hastig ihrem Kuß, und seine Augen bohren sich in die ihren mit einem fremden kalten Blick, den sie noch nicht begreift.

„Ist es wahr?“ fragt er.

„Was denn, mein lieber Jung’?“ flüstert sie, halb erstickt von Thränen.

„Das, was der da unten behauptete und was Mama bestätigt.“

Sie sieht ihn starr an, getroffen bis ins innerste Herz.

„Ich werde ruhiger werden, wenn Du mir sagst, daß sie lügen, Ditscha.“

„Herr Baron!“ ermähnt die Schwester besorgt.

„Sag’ nur Ja! oder Nein!“ fordert er erregt.

Ditscha antwortet nicht. Sie macht eine Gebärde, hebt ein wenig ihre Arme vom Körper ab und läßt sie wieder sinken; ein völliges Gebrochensein spricht aus dieser zustimmenden Bewegung.

„Also – wahr?“ sagt er.

Sie bleibt ohne Regung.

Da wendet er den Kopf von ihr ab und schweigt.

„Achim!“ flüstert sie heiser.

Er rührt sich nicht.

Die Schwester faßt sie um den Leib und will sie hinausführen.

„Achim!“ stößt sie laut hervor, „sag’, daß ich bei Dir bleiben darf – um Gotteswillen!“

Keine Antwort.

„Achim!“ schreit sie noch einmal.

Die Schwester zerrt sie jetzt fast gewaltsam über die Schwelle und läßt sie in einen Stuhl sinken. „Beruhigen Sie sich doch,“ bittet sie, „Kranke sind wunderlich!“

Aber Ditscha kennt ihn besser, sie weiß, er verachtet sie – – –

Als Cilly am andern Morgen durch Ditschas Zimmer geht, ist sie verwundert, dieselbe nicht zu sehen. Sie fragt nach ihr. [496] Die ablösende Schwester hat sie nicht erblickt, das Hausmädchen auch nicht, aber das Stubenmädchen sagt, das gnädige Fräulein sei früh schon ausgegangen.

Spät abends langt Ditscha auf einem Mietwagen in Beetzen an. Der Diener, der ihr den Schlag öffnet, erschrickt wie vor einem Gespenst. Sie redet kein Wort, sie schwankt die Stufen der Treppe empor und verschwindet in ihrem Zimmer. Die Jungfer und Hanne, die von dem Diener benachrichtigt sind, kommen eilig herbei; sie finden ihre Herrin an der Erde auf den Knien wie eine Verzweifelte.

„Ich bin nur gestolpert über den Teppich,“ sagt sie und versucht sich aufzurichten.

„Um Gotteswillen!“ schreit Hanne, als sie das furchtbar veränderte Gesicht erblickt, „Fröln, wo seihen Se ut? Da is’ ein Unglück passiert – uns’ Jungherr is’ dot!“

„Nein,“ sagt Ditscha, „nein, er lebt – aber ich, Hanne, ich bin –“ Und die alte treue Seele hält ihre bewußtlose Herrin in den Armen.




Es ist ein Tag zu Ende des September, ungewöhnlich heiß, fast gewitterschwül, als der junge Baron von Kronen aus seinem Badeaufenthalt, den er in Wiesbaden und später behufs völliger Kräftigung in Blankenberghe verbracht hat, zurückkehrt nach Beetzen.

Mama Cilly hat ihn getreulich überallhin begleitet; er ist so niedergedrückt, daß sie ihn unmöglich allein reisen lassen konnte. Und außerdem sind sowohl Wiesbaden wie Blankenberghe Plätze, die zu besuchen sie schon längst gewünscht hat. Und in der That, es war ganz herrlich dort. Sie schrieb ihrem Mann einen begeisterten Brief über den andern, ihm, der sich mit Teplitz begnügen mußte, da er so teure Orte nicht besuchen kann und sich von seinem Stiefsohn nicht gern traktieren läßt – mit Cilly ist das ja etwas anderes.

Herr von Bredow ist Pedant geworden, der auf Ehre, guten Ton und untadelige Gesinnung alles giebt, aber ganz vergessen hat, daß er als junger Lieutenant etwas Schlimmeres gethan als silberne Löffel stehlen, indem er seinem Vorgesetzten das Herz der Gattin raubte. Die Frau wollte zwar ihr Herz, welches nicht ihr Eigentum mehr war, sich sehr gern stehlen lassen, aber es blieb doch immerhin ein Diebstahl, wenn auch unter mildernden Umständen. Davon wußte er nichts mehr, gar nichts mehr! Es giebt eben Leute, die ein beneidenswertes Talent haben, unangenehme Dinge zu vergessen.

Cilly hat während der ganzen Zeit, die dem Tage folgte, an welchem Ditscha ohne Abschied aus Dresden verschwand, nicht einmal von ihr mit Achim gesprochen. Erstens – er hätte sich aufregen können, und fürs zweite war sie längst eifersüchtig gewesen auf Ditscha. Sie ist ja doch die Mutter und besitzt wahrlich das erste Anrecht auf seine kindliche Verehrung, die Ditscha völlig an sich gerissen hatte; sie hat sich schon genug geärgert über den Kultus, den der Junge mit seiner Schwester trieb – trieb – denn das ist vorbei, seitdem er die Entführungsgeschichte erfahren. Es ist nun ’mal so; die Männer erlauben sich selbst allerhand kleine Abschweifungen, aber die Frau darf das nicht thun, und wenn sie es dennoch thut, dann sicher nicht ohne Strafe – wie es sich hier ’mal wieder deutlich zeigt.

Was hat sie nun? Sie ist eine einsame, verlassene alte Jungfer, deren zweiter Bräutigam, als er den Skandal erfuhr, den Rückzug antrat, die jetzt der Bruder sogar hat fallen lassen, so sehr, daß er nicht einmal mehr mit ihr korrespondiert. Wenn sie den alten Onkel totgepflegt haben wird, steht sie allein da und hat nichts als die Reue über ihre Dummheit. Na, übrigens wäre Ditschas Herrschaft ja so wie so bald vorüber gewesen, wenn es wahr ist, daß eine unglückliche Neigung oft glücklichere Liebe erzeugt. So hat sich’s an Joachim erwiesen; in seiner Brieftasche steckt neben der Photographie der reizenden Komtesse Vollrathen eine Locke ihres blonden Haares; und Frau Cilly findet, daß sie sich als jugendliche Schwiegermutter so übel nicht ausnehmen wird.

Der Zug fährt eben in den Bahnhof ein, Cilly nimmt das Handgepäck zusammen, stellt sich ans Fenster und mustert den Perron.

„Bin neugierig, ob Ditscha uns abholen wird,“ sagt sie über die Schulter zurück. Einmal muß sie ja doch von ihr sprechen.

Joachims Gesicht ist finster und sehr blaß. Er kann der Schwester noch nicht verzeihen; er fürchtet sich vor dem Wiedersehen, dem Zusammenleben mit ihr.

„Ich sehe niemand außer dem Diener,“ erklärt Cilly, ihre langgestielte Lorgnette fallen lassend.

Der Zug hält; sie steigen aus und verfügen sich zum Wagen. Das große Gepäck wird durch eine Pächterfuhre nach Beetzen gebracht, sie können also ohne Aufenthalt abfahren. Daß der alte Franz auf seinem Bock verweinte Augen hat, sehen sie beide nicht.

Joachim ist wortkarg, Frau Cilly sagt: „Findest Du es nun eigentlich nett von ihr, daß sie Dich nicht abholt? Was soll denn werden, wenn gleich von vornherein die Situation auf ‚gespannt‘ gestimmt ist? Du hast doch wirklich genug für sie gethan, Achim, wenn Du Dich halb totschießen läßt um ihre Thorheit.“

Er antwortet nicht und sieht stumm in die Gegend hinaus.

„Das Gewitter kommt nicht vor heute nacht,“ bemerkt Cilly nach einer Pause, „aber es liegt doch schon auf den Nerven – ich habe eine ganz schreckliche Unruhe.“

Als der Wagen vorfährt, erscheint Hanne in der Thüre, Hanne, mit einem merkwürdig blassen Gesicht und so gebeugt, als sei sie um zehn Jahre älter geworden seit dem Frühjahr.

„Der Herr Baron läßt sich entschuldigen, er ist man eben noch ein büschen eingeschlafen,“ sagt sie, aber es klingt, als wollten ihr die Worte kaum aus der Kehle.

Joachims Gesicht ist womöglich noch blasser als vorher; er spricht kein Wort, er nickt nur und blickt um sich, als vermisse er etwas.

In der Wohnstube sieht es merkwürdig öde und verlassen aus, leichter Staub auf den Möbeln überall und in keiner Vase eine frische Blume wie sonst immer – Cilly kann ihren Unwillen nicht länger bemeistern. „Mein Gott,“ ruft sie, „es ist doch wunderbar! Der junge Baron kommt nach langer Krankheit genesen zurück, und niemand erscheint, der ihn begrüßt? Wo ist denn das gnädige Fräulein? Wohl gar nicht zu Hause?“

„Ach, gnä’ Fru,“ sagt Hanne – sie steht in ihrem dunklen Anzug mitten auf dem Parkett, und ihre Hände suchen hastig in der Tasche nach dem Schnupftuch – „ins Haus is’ sie woll noch, abers – – das kann der Herr Pastor“ – sie zeigt auf den eben eintretenden Geistlichen – „ja beter seg’n als wie ich.“ Und dann nimmt sie das Tuch vor die Augen und wendet sich ab.

Es ist nicht mehr der alte weißhaarige Mann, mit dem der Baron Whist spielte, als Ditscha noch ein junges Mädchen war, es ist ein ernster Mann um die Vierzig herum, der Achim eingesegnet hat und der im Hause Beetzen sehr verehrt wird. Er wendet sich zunächst an den jungen Baron, aber die Worte wollen auch ihm kaum aus der Kehle.

„Herr Baron, Sie kehren in einer traurigen Stunde heim,“ beginnt er. „Der Herr hat Schweres über dieses Haus verhängt – heute früh sechs Uhr ist der Todesengel eingezogen, und – –“

„Barmherziger Gott!“ schreit Cilly, „der Onkel! wie ist denn das so plötzlich – –“

„Nicht der Herr Baron,“ fährt der Prediger fort, „der alte schwergeprüfte Mann hat noch den Schmerz erleben müssen, die treue Pflegerin und Stütze seines Alters zu verlieren. Seine Nichte, Ihre Schwester, Herr Baron, ist nach längerem Kränkeln heute früh verschieden.“

Eine längere Pause entsteht, man hört nur das Schluchzen der alten Hanne, dann ist Cilly zu Joachim getreten, der plötzlich schwankt und so sonderbar verstört aussieht. Auch der Geistliche schließt stützend seine Arme um ihn. Hanne kommt mit einem Glas Wasser, ihre Thränen rinnen jetzt ungehindert über das gute alte Gesicht. „Ja, Herr, nu’ is uns aller Sonnenschein fort,“ sagt sie; es klingt wie ein Schrei, das letzte Wort.

Joachim kann nicht reden. Nun macht er sich hastig von dem Prediger los und geht zur Thüre hinaus.

„Herr Baron,“ ruft Hanne, „lassen Sie den ollen Herrn man, er is ja wie zerschlagen von die Trauer!“

Er bleibt stehen. „Warum?“ fragt er halb erstickt, „warum hat man mir nicht geschrieben, daß sie krank ist?“

„O, Herr Baron, sie hat’s nich’ gelitten,“ sagt Hanne ünd faltet die Hände, in denen sie das feuchte Tuch hält; „Sie sollten sich auch um ihr nicht ängstigen, hat sie immer gesagt, Sie wären selbsten krank. Und sie is auch bis vor drei Tagens, wo sie die Nachricht kriegte, daß Sie wedder kommen wollen, noch immer auf gewesen, wenn sie sich auch kaum hat sleppen können, un’ Herr Rothe hat ihr ümmer die Treppens hinauf und herunter tragen müssen, wenn sie zu’n Onkel gewollt hat.“

„Herr Rothe?“ fragt Cilly, die zitternd in einem Sessel sitzt.

„Ja, gnä’ Frau; er hat sie hegt und plegt, weil daß sonst keiner nach ihr fragte, un in seinen Armen is sie hüt’ morgen eingeslafen, un ihm hat sie ihre letzten Grüße bestellt vor ihren Bruder.“

[497]

Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München.
Anna Boleyn und Kardinal Wolsey.
Gemälde von W. von Lindenschmit.

[498] Joachim verläßt jetzt rasch die Stube und schreitet die Treppen empor. Es ist so spukhaft still in dem fast dunklen Treppenhause und dem Korridor. Ihm ist zu Mute, als ob er plötzlich ein alter Mann geworden, als ob ein Jammer auf seinen Schultern hocke, der ihn fast bis zu Boden drückt.

Ditschas Zimmer sind unverschlossen, die Fenster stehen weit geöffnet, hin und wieder zuckt ein Wetterleuchten herein. Ein paar Kerzen flackern auf dem Tisch, um die ein Schwarm Mücken seinen Todesreigen tanzt. – Die Thür zur Schlafstube ist weit geöffnet; auch dort innen matter Kerzenschimmer.

Joachim findet plötzlich nicht den Mut, über diese Schwelle zu treten; er lehnt sich, wie kraftlos, an den Rahmen der Thür. Wie still, wie furchtbar still ist da drüben das Lager, die regungslose schlummernde Gestalt, mit den gekreuzten Händen auf der Brust! Mit dem weißen Antlitz, dem das flackernde Licht der Kerzen Leben zu verleihen scheint. Dazu ein schwerer Duft von welkenden Rosen, die massenhaft auf der Decke liegen, die sie verhüllt.

Es packt ihn ein wahnsinniger Schmerz.

„Ditscha!“ schreit er jammernd auf und stürzt vor, nur neben dem Lager niederzusinken, „Ditscha, vergieb mir – so hatte ich es nicht gemeint!“ und er bricht in ein erschütterndes Schluchzen aus.

Auf der andern Seite des Bettes, der stille Mann kann nicht weinen. Er sitzt da, schon seitdem sie die Augen geschlossen und ihre Hand in der seinen erkaltet ist. Er hat ihr Haupt gebettet und ihr die Lider zugedrückt – er weiß, wie sehr sie ihn geliebt hat – – –.

Alles, alles hat sie ihm erzählt, ihr ganzes Leben, ihr Ringen nach Liebe, ihren Irrtum, ihr Glück durch ihn, ihren Schmerz um ihn – und das Letzte, das Schwerste, den Verlust von Joachims Liebe, dem sie ihr ganzes Leben gab. – –

Er hat sie trösten wollen, hat von einer Zukunft gesprochen, die alles noch gut machen werde –

„Nein, nein – ich bin – habe keine Kraft mehr, glücklich zu sein, ich bin müde, sterbensmüde!“ ist ihre Antwort gewesen.

Ihr letztes Wort, sie sprach es lallend wie ein müdes Kind im Einschlafen, war die tausendmal in diesen Wochen ausgesprochene Frage: „Ist kein Brief von Joachim da für mich? Grüßt ihn von mir – ich habe ihn sehr lieb – ich habe Euch alle so lieb und hab’ Euch doch nur Schmerz gebracht!“

Hanne trippelt leise herein und legt ihre Hand auf die Schulter des jungen Baron. „Steh’n Sie auf, Herr Baron, der gnä’ Herr will Sie sprecken, und Fröln Anna is nu’ auch da – kommen Sie!“

Und als er sich förmlich an das Lager klammert, nickt sie. „Ja, ja – das is nu’ allens zu spät.“

„Kommen Sie, Baron,“ sagt jetzt auch Rothe und richtet den jungen Mann empor, „Hanne hat recht, unsere Thränen, unsere Reue kommen zu spät. – Sie hat Ihnen verziehen und mir verziehen – – Wenn man von einem Erdengeschöpf sagen kann, daß es reinen Herzens war, so ist’s von ihr – Sie dürfen mit Stolz und Ehre ihrer gedenken.“

Und er leitet ihn aus dem Zimmer, hinunter zu dem Fahrstuhl des alten gebeugten Herrn, dem zur Seite Cilly und Tante Anna stehen.

Ditscha bleibt allein – aber das schmerzt sie nicht mehr!




Verhütung der Drüsenerkrankung bei Kindern.

Ein Mahnwort an Mütter und Kinderpflegerinnen.


Das kindliche Alter ist für Drüsenerkrankungen ungemein empfänglich; ja man kann sogar sagen, daß verhältnismäßig nur wenige Kinder völlig gesunde Lymphdrüsen besitzen. Einen Beweis dafür liefert eine Untersuchung von 2506 Kindern in den Schulen der Kantone Graubünden und Aargau, die vor einigen Jahren von Dr. Volland in Davos-Dörfli angestellt wurde. Da hatten von 628 Kindern im Alter von 7 bis 9 Jahren nicht weniger als 607, d. h. 96% geschwollene Halslymphdrüsen! Je älter die Schulkinder wurden, desto geringer war der Prozentsatz der mit krankhaft veränderten Lymphdrüsen Behafteten, betrug aber noch immerhin bei Kindern im Alter von 13 bis 15 Jahren 84%! Wenn auch diese Statistik nicht für alle Gegenden maßgebend sein kann, giebt sie doch zu denken. Geschwollene Lymphdrüsen sind ja immer ein Zeichen einer geschwächten Gesundheit, und wenn auch viele im Laufe der Jahre abschwellen, so muß ein großer Teil derselben doch auf skrophulöse Anlage oder gar auf eine Ansteckung mit Tuberkelbacillen zurückgeführt werden. Es ist ja erwiesen, daß in schweren Fällen der Skrophulose die erkrankten Lymphdrüsen wirklich Tuberkelbacillen enthalten. Diese gefährlichen Spaltpilze können lange Zeit in den Drüsen durch Einkapselung von der Weiterverbreitung abgeschlossen und bei guter Pflege vom Körper vernichtet werden. Oft aber schwebt der Träger eines solchen Krankheitsherdes in der steten Gefahr, über kurz oder lang eine Aussaat des Giftes in den ganzen Organismus oder vornehmlich in die Lungen und Hirnhäute zu bekommen, welche gewöhnlich tödlich endet. In der That gehen viele der skrophulösen Kinder an rasch verlaufender Entzündung der Hirmhäute zu Grunde oder verfallen in reiferen Jahren der Lungenschwindsucht.

Man hat in der letzten Zeit überhaupt mehrere Anhaltspunkte ermittelt, die darauf hinweisen, daß Drüsenerkrankungen in sehr naher Beziehung zur Tuberkulose stehen können. Sehr häufig erkranken im kindlichen Alter die am Halse gelegenen Mandeln. Diese Entzündungen werden durch eine ganze Anzahl mehr oder weniger gefährlicher Bakterienarten hervorgerufen; als Folgen solcher Entzündungen bleiben vielfach vergrößerte Mandeln zurück. In der Sitzung der Pariser medizinischen Akademie vom 30. April d. J. hat nun Prof. Dieulafoy mitgeteilt, daß auch in solchen Mandeln Tuberkelbacillen sich einnisten können. Er untersuchte Personen mit vergrößerten Mandeln, die sonst gar keine Erscheinungen der Tuberkulose darboten, entnahm kleine Stückchen der Mandeln und impfte dieselben Meerschweinchen ein; da zeigte es sich, daß in einer Reihe von Fällen die geimpften Meerschweinchen tuberkulös wurden. Die vergrößerten Mandeln können also unter Umständen die gefährlichen Keime in sich bergen; dieselben erweisen sich nicht schädlich, wenn das Kind sich normal entwickelt, bei guter Ernährung, im Genuß frischer Luft kräftig bleibt, dann überwindet der Organismus den Feind. Wird aber das Kind schädigenden Einflüssen ausgesetzt und geschwächt, dann kann der schlummernde Krankheitsfunke erwachen und Anlaß zu einer gefährlichen Allgemeinerkrankung geben.

In Anbetracht solcher Thatsachen ist es darum von höchster Wichtigkeit, die Wege zu ermitteln, auf welchen der Krankheitsstoff in die Drüsen gelangt, um eine derartige Ansteckung zu verhüten.

Dr. Volland hat nun neuerdings eine Erklärung gegeben, die sehr wahrscheinlich und namentlich für Mütter und Kinderpflegerinnen beachtenswert ist. Er meint, daß diese Ansteckung zumeist schon zu der Zeit erfolgt, in welcher das Kind laufen lernt. Es rutscht da vielfach auf allen Vieren umher und beschmutzt sich die Hände mit Stuben- und Straßenstaub. In diesem Lebensalter ist aber beim Kinde infolge des Zahnens die Absonderung von Mund- und Nasenschleim besonders reichlich und führt zu kleinen Verletzungen an den Naseneingängen und Mundwinkeln. Durch den Reiz, den diese kleinen Schäden der Schleimhaut erzeugen, wird das Kind veranlaßt, sich mit den Händen ins Gesicht zu fahren und den daran hängenden Staub förmlich in die wunden Stellen einzureiben. Ist nun zufällig in dem Staube tuberkulöser Stoff enthalten, so ist damit die Ansteckung erfolgt.

Die Menge des Krankheitsstoffes ist in der Regel äußerst gering; er wird darum von kräftigen Kindern überwunden, bei schwächlicheren dringt er aber in die Lymphdrüsen ein, wo er vorläufig ruhen bleibt, um zur Geltung zu kommen, wenn der kleine Körper durch schädliche Einwirkungen ungünstig beeinflußt wird.

Dr. Volland empfiehlt darum folgende Mittel, um das Kind vor dieser Gefahr zu schützen: Die Mutter oder Wärterin sollte den reichlich abgesonderten Mund- und Nasenschleim unermüdlich entfernen, um das Wundwerden zu vermeiden. Sie soll sorgfältig darauf achten, daß das Kind nie mit den Händchen auf den Fußboden kommt. Auch muß alles das, was am Boden gelegen hat, vorher gereinigt werden, bevor es das Kind wieder zum Spielen erhält. Es muß beim Laufenlernen stets geführt werden oder in geeigneten Stützapparaten stehen. Ist es einmal gefallen, so müssen die Händchen sofort wieder gewaschen werden und der Sinn für Reinlichkeit derselben ist beim Kinde sehr früh zu wecken.

[499] Solche Forderungen lassen sich nun leicht niederschreiben, sind aber im praktischen Leben ungemein schwierig zu erfüllen. Wir wollen sie auch etwas abmildern und den Müttern die äußerste Reinlichkeit in der Haltung ihrer Kleinen aus Herz legen. Wird diese beobachtet, so ist das Menschenmögliche geschehen.

Beobachtet man im täglichen Leben, wie kleine Kinder gewartet werden, so muß man allerdings zu der Ansicht gelangen, daß gerade auf diesem Gebiete große Fehler begangen werden. Schon die jungen Mütter aus besseren Ständen haben selten die zu einer rationellen Kinderpflege nötigen Vorkenntnisse; naturgemäß fehlt es ihnen auch an Erfahrung und gar oft können sich die Kleinen glücklich schätzen, wenn in einem Haushalte eine alte erfahrene Großmutter der jungen Frau zur Seite steht. Schlimm ist es aber, wenn die Pflege der kleinen Kinder alten Kinderfrauen, die ohne jede Bildung sind, oder jungen Mädchen anvertraut wird. Die letzteren versichern zwar in der Regel, daß sie „Liebe zu Kindern“ mitbringen, aber diese meist recht fragliche Liebe genügt durchaus nicht. Dr. Volland hat darum recht, wenn er die Forderung aufstellt, man sollte in Zukunft in besonderen Anstalten auch Kinderpflegerinnen ausbilden. Dieselben müßten mit den Grundsätzen der Kinderhygiene vertraut gemacht werden, und, zweckmäßig unterrichtet, würden sie wohl imstande sein, die Verbreitung ansteckender Krankheiten in der Kinderwelt zu verhüten. Außerdem würde ihre Thätigkeit auf dem Gebiete der Säuglingsernährung, der Hautpflege und auch der ersten Erziehung sehr günstig sein. In wohlhabenden Familien würden gute geprüfte Kinderpflegerinnen, die Lust und Liebe zu ihrem Beruf hätten, sicher lohnende Stellungen finden, und ein anderer Teil derselben könnte sich in Kinderhorten, in welchen die Kleinen der wenig bemittelten Stände zeitweilig verpflegt werden müssen, nützlich erweisen. Die Ausführung des Gedankens würden wir mit Freuden begrüßen, würde doch dadurch der Frauenerwerb erweitert werden, und zwar nach einer Richtung hin, die der Natur und dem Charakter des Weibes so sehr zusagt.

Wir betonen dabei, daß die Ausbildung der Kinderpflegerinnen eine derartige sein müßte, daß sie das gesamte Gebiet der Kinderhygiene umfaßte; denn nur alsdann wurden dieselben dazu beitragen können, der Verbreitung von Leiden, die als Geißeln unseres Kulturgeschlechtes zu betrachten sind, Einhalt zu gebieten.

Es wäre ja ein gar schwerer Irrtum, wenn man meinen wollte, daß die Verhütung der Ansteckung lediglich durch Abwehr der unsichtbaren Bacillen zu erstreben sei.

Bei weitem wichtiger ist es, den Körper der Kleinen gesund zu erhalten und derart zu stärken, daß er den Kampf mit den Krankheitserregern siegreich zu überwinden vermag. In dieser Hinsicht bestehen auch im Hinblick auf die Skrophulose die alterprobten hygieinischen Grundsätze zu Recht. Wir müssen die Pflege und Ernährung der Kinder derart einrichten, daß in ihnen keine Anlage zur Skrophulose erzeugt wird, und das können wir wohl, da uns die Ursachen dieses Leidens bekannt sind.

Skrophulös werden Kinder, die vom frühesten Alter an unzweckmäßig ernährt werden, die keine Mutterbrust und wenig Kuhmilch erhalten, dafür aber mit allerlei Mehlbrei aufgepäppelt werden. Skrophulös werden Kinder, die nach dem Säuglingsalter zu früh an der Kost der Erwachsenen teilnehmen, mit Brot und Kartoffeln, mit überwiegender Pflanzenkost gefüttert werden. Gefördert wird ferner die Anlage zu diesem schlimmen Leiden durch Mangel an reiner frischer Luft, Aufenthalt in dumpfen feuchten Wohnungen, Vernachlässigung der Hautpflege. Wo diese Unterlassungssünden in der Kindererziehung begangen werden, da wächst ein geschwächtes Geschlecht heran, dessen Körper mehr oder weniger baufällig, dessen Stoffwechsel träge ist. Solche Kinder haben leicht verletzbare, widerstandslose Haut, leiden leicht an Ausschlägen, Nasen-, Rachen-, Augen- und Ohrenkatarrhen; sie haben eine skrophulöse Anlage und sind höchst empfänglich für Ansteckung mit Tuberkelbacillen, die sich in den Drüsen niederlassen und von dort aus den ganzen Körper bedrohen. Vermeidet man in der Kinderpflege solche Schäden, so verhütet man mit großer Sicherheit die Entwicklung der skrophulösen Anlage und die Empfänglichkeit für die Tuberkulose; ja mit diesen einfachen hygieinischen Mitteln vermag man Kinder, die von ihren Eltern die krankhafte Anlage ererbt haben, über die ihnen drohenden Gefahren hinwegzuleiten und sie zu gesunden Menschen heranzuziehen.

Und wenn dennoch der tückische Feind das Kind befallen, wenn sich die ersten Anzeichen der Skrophulose und anderer Erkrankungen der Drüsen zeigen sollten, dann soll man nicht verzagen, sondern die diätetischen Heilmethoden in energischerer Weise zur Anwendung bringen. Je frühzeitiger dann das Kind der Kur unterworfen wird, desto sicherer ist die Aussicht auf Erfolg. Und worin die Kur besteht, das ist heute zur Genüge bekannt. Groß sind ja die Erfolge, welche von unseren Heilstätten für skrophulöse Kinder jahraus jahrein erzielt werden, und was dort den Kranken geboten wird, das sind weniger Arzneien, als gute, zweckmäßige Ernährung, Licht und Luft, Bewegung in frischer Gebirgs- oder Seeluft, den Stoffwechsel anregende und kräftigende Sool- oder Seebäder!

Leider sind diese diätetischen Heilmittel, wie einfach sie erscheinen mögen, nicht für alle erschwingbar. Wie viele Familien sind nicht an die engen Wohnungen der Städte durch Erwerbsverhältnisse gebunden! Sie können ihren geschwächten Kindern die Wohlthat eines Aufenthaltes im Gebirge und auf dem Lande nicht gewähren! Aber auch für diese, die da hart mit der Lebensnot ringen, hat der gemeinnützige Sinn unseres Jahrhunderts zu sorgen gewußt. In den Kinderheilstätten finden auch Unbemittelte Aufnahme und durch mildthätige Gaben wird es möglich gemacht, daß jährlich Tausende armer Kinder die Ferienkolonien aufsuchen. Durch diese gemeinnützigen Schöpfungen werden die Erzfeinde, die in inniger Bundesgenossenschaft am Marke des Volkes nagen, die Skrophulose und die Tuberkulose, am nachdrücklichsten bekämpft und sozusagen im Keime erstickt. Es sollten darum diesen Unternehmungen die reichsten Hilfsmittel zufließen.

Der Sommer ist eingezogen in Deutschlands Gauen. Er bringt die Zeit, in der Tausende und aber Tausende geknickter Kinderblumen sich im heiteren Sonnenschein zur Lebensfreude emporzurichten vermögen. Nützen wir ihn, und wer es irgend kann, der gebe sein Scherflein zu dem großen Werke der Volksverjüngung und Volksstärkung, der fördere mit That und Beitrag unsre Kinderheilstätten und Ferienkolonien! M. Schütz.     



Blätter und Blüten.



Anna Boleyn und Kardinal Wolsey. (Zu dem Bilde S. 497.) Das Bild W. von Lindenschmits, des jüngst verstorbenen Münchener Historienmalers, stellt uns zwei der interessantesten Persönlichkeiten aus jener Epoche der englischen Geschichte dar, welche durch die Schreckensherrschaft Heinrichs VIII. ihr Gepräge erhielt. Die liebreizende junge Dame ist Anna Boleyn, des gekrönten Blaubarts zweite Gemahlin, eine Enkelin des Herzogs von Norfolk, die am französischen Hofe erzogen worden war und nach ihrer Heimkehr Hoffräulein der Königin Katharina, der ersten Gemahlin Heinrichs, wurde. Der König entbrannte in heftiger Leidenschaft für sie; doch sie erwiderte dieselbe nur um den Preis der Krone. Sie war verlobt mit dem Grafen von Northumberland; diese Verlobung wurde aufgehoben, und als sich Papst Clemens VII. weigerte, die Scheidung des Königs von Katharina zu genehmigen, vollzog dieser sie aus eigener Machtvollkommenheit. Anna bestieg 1532 den Thron und wurde später die Mutter jener Elisabeth, der als selbstregierender Königin eine so glänzende Laufbahn beschieden war. Doch der launische König blieb auch dieser zweiten Gemahlin nicht treu; eine neue Leidenschaft hatte sich seiner bemächtigt; ergebene Hofleute und feile Richter standen ihm hilfreich zur Seite, als es galt, Anna Boleyn aus dem Wege zu räumen. Sie wurde des Hochverrats angeklagt, in den „Tower“ geworfen und vor ein Gericht gestellt, das sie zum Tode verurteilte. Im Alter von 29 Jahren bestieg sie 1536 das Schafott, wie später eine andere Gemahlin des despotischen Königs, die nicht minder schöne Katharina Howard. Der geistliche Herr auf dem Bilde, mit den scharf ausgeprägten Zügen, ist Kardinal Wolsey, einer der größten Machthaber von denen, welche nicht die Krone trugen, nur einem Richelieu und Mazarin in Frankreich vergleichbar. Anfangs Kaplan des Königs, gewann er bald einen Einfluß auf denselben, der ihm die Huldigungen aller auswärtigen Herrscher zuwendete. Papst Leo X. ernannte ihn 1515 zum Kardinal; bald darauf wurde er an Stelle des Erzbischofs von Canterbury Kanzler von England und, da die anderen Kronräte zurücktraten, alleiniger Inhaber der ganzen Regierungsgewalt. Als aber Papst Clemens VII. der Scheidung Heinrichs von seiner ersten Gemahlin Schwierigkeiten in den Weg legte, machten der König und Anna Boleyn den Kardinal dafür verantwortlich: er wurde 1529 gestürzt, mußte seinen prächtigen Londoner Palast verlassen, wurde vom Parlament des Mißbrauchs seiner geistlichen Gewalt angeklagt und zum Verlust seiner Güter und ewigem Gefängnis verurteilt. Der König begnadigte ihn, doch erfolgte eine neue Anklage auf Hochverrat; auf dem Wege nach London, wohin ihn die Häscher brachten, starb er am 28. November 1530 in der Abtei von Leicester.

Unser Bild stellt, nach der Absicht des Malers, eine Unterredung zwischen Anna Boleyn, die jetzt noch Hoffräulein ist, und dem mächtigen [500] Kardinal und Staatskanzler dar, in welcher dieser sie zu bereden sucht, im Interesse des kirchlichen Friedens, den des Königs Trotz gegen den Papst erschüttert, auf die ihr von Heinrich angebotene Krone zu verzichten und sich selbst der Leidenschaft des Königs zu entziehen. †     

Der neue Wittelsbacherbrunnen in München. Die an Denkmälern so reiche Isarstadt hat am 12. Juni einen neuen und herrlichen Schmuck erhalten durch den neuen Wittelsbacherbrunnen am Maximiliansplatz, welchen wir unten im Bild unsern Lesern vorführen. Er wird für das heutige München und seine Kunst in ferner Zukunft ein ebenso hervorragendes Wahrzeichen bilden wie es für Altmünchen uns Heutigen der in Nr. 21 abgebildete Wittelsbachbrunnen in der „Königlichen Residenz“ ist. Sein Schöpfer, Adolf Hildebrand, der berühmte Bildhauer, dessen Fühlen der Antike so nahe steht, ohne daß seine Gestalten je als Nachahmungen derselben erscheinen, er hat es auch hier wieder verstanden, die große Wirkung durch einfache Mittel zu erzielen. Gegeben war ihm die notwendige Breite von 40 Metern als Abschluß der gärtnerischen Anlagen des Platzes, er verzichtete also auf eine hochaufgebaute Mittelgruppe und entwarf ein weites Brunnenbassin, zu dessen beiden Seiten rechts und links von dem über eine weite Schale niederrauschenden Springquell allegorische Gruppen, Sinnbilder der zerstörenden und fruchtbringenden Macht des Wassers, zu stehen kamen: ein wilder Steinschleuderer und eine liebliche Quellnymphe mit der dargebotenen Schale, beide auf Wassertieren reitend. Das Ganze macht einen heiterprächtigen Eindruck auf dem Hintergrund der grünen Bäume, von welchem sich die weißen Marmorfiguren und der rötliche Muschelkalk des Brunnenbaus reizvoll abheben. Der Sockel der oberen Schale trägt die Wappen der bayrischen Stämme, unter der Brüstung des großen Bassins zieht sich ein Kranz von Fischmasken hin, welche das Wasser mit brausendem Strahl in das untere speien. Das bewegte Plätschern und Rauschen mahnt an die Fülle italienischer Brunnen und verbreitet eine wohlige Kühle am heißen Sommertag. Bn.     

Der neue Wittelsbacherbrunnen auf dem Maximiliansplatz in München.
Nach einer Aufnahme aus dem Architekturverlag von B. Reiffenstein in München.

Steinböcke im Züricher Wildparke. (Zu dem Bilde S. 493.) Nur die tüchtigsten Kletterer und mutigsten Springer unter den Säugetieren können das Hochgebirg über der Waldgrenze zu ihrem Wohnsitz erwählen. Dort „wechseln“ die flüchtigen Gemsen auf schwindelnden Pfaden, auf welchen ihnen kein noch so geübter Jäger folgen kann. Und doch gebührt den Gemsen keineswegs die Palme im Ueberwinden der steilsten Hänge in tollkühnen Sprüngen über gähnende Abgründe; es giebt noch eine Ziegenart, die ihnen in diesen Künsten weit überlegen ist. Es sind dies die Steinböcke, stattlich gebaute Tiere von etwa anderthalb Metern Leibeslänge und achtzig bis neunzig Centimetern Höhe. Schon die äußere Erscheinung verrät Kraft und Ausdauer und auffallend ist das Gehörn, das namentlich bei alten Böcken eine bedeutende Größe und Stärke erlangt. In unseren Alpen lebte einst der Alpensteinbock (Capra ibex) in größerer Zahl, aber die Menschen haben ihm zu eifrig nachgestellt und so geht die Art dem gänzlichen Untergange entgegen; man begegnet ihr nur noch in den Hochthälern um den Montblanc, wo König Viktor Emanuel vor einigen Jahrzehnten die Tiere mit einem besonderen Schutz umgeben hat. Von dort kommen zuweilen verschiedene Pärchen in unsere Zoologischen Gärten und Wildparkanlagen, wo sie auf das Publikum eine große Anziehungskraft ausüben. Geradezu erstaunlich sind nämlich die Turnkünste, welche die Tiere zum besten geben. So sprang einmal ein junger Alpensteinbock, der in Bern in der Gefangenschaft lebte, ohne Anlauf zu nehmen, einem Manne auf den Kopf und hielt sich daselbst mit seinen vier Hufen fest; andere Steinböcke wählten die Spitze eines Pfahles zu einem erhöhten Standpunkt, andere wieder verstanden, sich auf den Draht zu stellen, der ihre Einzäunung bildete; manche stiegen im kühnen Anlauf an senkrechten mehrere Meter hohen Mauern hinauf!

Seit einigen Jahren befindet sich eine Kolonie von Steinböcken im Züricher Wildparke bei Langenburg und unsere Illustration führt uns dieselbe in naturgetreuer Darstellung vor. Ursprünglich bestand sie aus einem jungen Bocke, einer alten und zwei jungen Geißen. Leider gingen die jungen Steingeißen nach einiger Zeit ein; es gelang aber, den Steinbock mit gewöhnlichen Ziegen zu paaren, und auf diese Weise erhielt man zwei Blendlinge, die gut gedeihen. *     

Kunstpause. (Zu dem Bilde S. 489.) Zweifelnd und prüfend schaut der Maler auf das vollendete Bild, indem er langsam den Rauch seiner Zigarette von sich bläst; anteilsvoll steht hinter ihm die Gattin, welche, wie schon oft, kam, ihn zu einem kleinen Spaziergang abzuholen, aber heute an einer ganz ungewohnten Arbeitsverbissenheit scheitert. Ist das Bild nun wirklich gut? fragt sich jedes im stillen. Lange genug hat es jedenfalls damit gewährt, vom Mai an, wo der neuvermählte Ehemann mit den schönsten Vorsätzen zu energischer Arbeit sein Flitterwochenheim hier aufschlug, bis heute, wo die fallenden Ahornblätter bedenkliche Herbstmahnungen in den goldenen Septembertag hineinrauschen … Und immer wurde das Bild wieder in den Winkel geschoben, weil die Flitterwochen sich zu Monaten dehnten, weil das junge Weibchen dem dummen Arbeiten grundsätzlich abgeneigt war, weil die Sonne so heiß schien und es sich im Waldesschatten so köstlich ruhte; aus tausend triftigen Gründen kam man eben nicht dazu! Und nun ist wirklich in allen den Monaten nur das eine Bild fertig geworden und auch dies nur durch eine Gewaltanstrengung der letzten Wochen. Ob es nun wirklich gelungen ist? … Er weiß es nicht, denn sein Urteil läßt ihn gerade dieser heimlichen Waldecke voll Erinnerungen gegenüber völlig im Stich. Sie weiß es nicht, denn sie versteht von Kunst gerade so wenig, als sich für eine junge schöne Malersfrau schickt. Wir wissen es aber erst recht nicht, denn das Bild steht mit der Rückseite gegen uns. Unter diesen Umständen bleibt uns nichts übrig, als, trotz der unvorteilhaftesten Ansicht, unser günstiges Urteil mit aller Sicherheit dahin abzugeben, daß dieses Bild unzweifelhaft mit viel Liebe gemalt ist! Bn.     


Inhalt: 1870. Zur 25jährigen Erinnerung. Gedicht von Ernst von Wildenbruch. S. 485. – Vater und Sohn. Wahrheit und Dichtung. Von Adolf Wilbrandt (2. Fortsetzung). S. 486. - Kunstpause. Bild. S. 489. – Die Papierwunder. Von Ernst Grosse. S. 490. Mit Abbildungen S. 491, 492 und 494. – Steinböcke im Züricher Wildparke bei Langenburg. Bild. S. 493. – Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (Schluß). S. 494. - Anna Boleyn und Kardinal Wolsey. Bild. S. 497. – Verhütung der Drüsenerkrankung bei Kindern. Ein Mahnwort an Mütter und Kinderpflegerinnen. Von M. Schütz. S. 498. - Blätter und Blüten: Anna Boleyn und Kardinal Wolsey. S. 499. (Zu dem Bilde S. 497.) - Der neue Wittelsbacherbrunnen in München. Mit Abbildung. S. 500. - Steinböcke im Züricher Wildparke. S. 500. (Zu dem Bilde S. 493.) - Kunstpause. S. 500. (Zu dem Bilde S. 489.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.