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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[241]

Nr. 15.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf.   In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf.   In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (1. Fortsetzung)

Ditscha schläft nicht diese Nacht.

Hans von Perthien reitet gedankenvoll auf der finsteren Chaussee; Herr von Kronen hat ihm einen Knecht mitgegeben bis über den Bruch hinaus, damit er, der hier Weg und Steg nicht kennt, wenigstens erst die Chaussee erreicht, ohne sich zu verirren. Glücklich auf der Landstraße angelangt, sieht er von fern Lichter schimmern und erfährt, daß dort Bützow liegt, und daß er an der Kreisstadt ziemlich dicht vorbeireiten muß, um nach Uechte zu gelangen; er beschließt – die Nacht ist nun einmal angebrochen – einen Schoppen im Gasthof „Zur Stadt Hamburg“ zu trinken, denn nach den paar Gläsern Rheinwein und dem Kuchen ist ihm etwas weichlich zu mute.

Er giebt dem Knecht eine Cigarre, reitet der Stadt zu und, nachdem er sich in den dunklen Straßen erkundigt hat, direkt vor den Gasthof, in welchem die Honoratioren verkehren. Er muß irgend etwas Näheres über die von Kronens erfahren; Ditschas lieblich trauriges Gesicht hat ihm gefallen, aber natürlich, wenn nicht auch Klingendes dahinter steckt, wird er sich hüten! Reich heiraten muß er, sonst kann er das Gut nicht halten, sein Alter reißt immer ein Loch auf, um das andere damit zu verstopfen. Schnöde Zeit für einen angehenden Landwirt, Privatschulden obenein und allerhand kostspielige Passionen dazu; diese verdammten Schulden in Halle, sie verbittern ihm das Leben nicht schlecht.

In der räuchrigen niedrigen Gaststube mit den Petroleumlampen unter der Balkendecke sitzt eine ganze Anzahl Herren, zumeist „Bierphilister“, sagt er sich. Nebenan wird Billard gespielt. Die hochblonde Kellnerin mit sommersprossigem Gesicht und blendend weißer Schürze, die Bier an seinen einsamen Tisch bringt, erzählt ihm, daß die Herren dort drüben vom Gericht und ein paar Volontäre aus Uechte seien.

„Reeden und Timpe“ – denkt er – „das wäre möglich“, und richtig, als er eintritt, erblickt er sie als Zuschauer am Billard.

„Perthien – so spät noch?“ fragen sie.

„Von Beetzen,“ antwortet er. Er läßt sich vorstellen und wiederholt nochmal: „Von Beetzen!“

„Abgeblitzt, natürlich?“ fragt ein Referendar. „Sehr bedauert – Karte abgegeben?“

„I! Gott bewahre!“ erwidert er gedehnt.

„Eingedrungen in die Beetzener Hallen?“ rufen Zwei zugleich verwundert.

„Allerdings!“

„Da müßen Sie ein Zauberwort besitzen, um diese Schwelle zu überschreiten.“

„Wie haben Sie es denn angefangen, den alten Höhlenbären zu zähmen?“

„Wie geht es der schönen Sophie?“ – So fragt man durcheinander.


Torquato Tasso im Jahre seines Todes.

[242] „Ich habe gar nichts angefangen. mein Vater und Kronen sind Jugendfreunde, das ist alles.“ Er überhört die Frage nach Ditscha.

„Ein urkomisches Gestell, der Joachim von Kronen,“ meint einer.

„Lächerlich stolz! Was nicht von den Montmorencys abstammt, existiert nicht für ihn,“ bestätigt ein anderer.

„Sonst ein ganz fideles altes Haus, der tolle Jochen.“

„Ach ja, wenn er genug intus hat.“

„Er ist so wunderlich geworden seit dem Tode seines Jungen,“ nimmt ein älterer Gymnasiallehrer das Wort. „Stellen Sie sich vor, meine Herren, der Einzige, der Erbe, ertrinkt am Weihnachtsabend – es war schrecklich!“

„Haben Sie es miterlebt?“ wird er gefragt.

„Ja!“ antwortet er einfach, „ich war zu jener Zeit Hauslehrer auf Beetzen. Es ist kein Geheimnis, wollen Sie es hören, Herr von Perthien?“

Die beiden Herren setzen sich weit entfernt von den Spielenden in eine Fensternische, die Kellnerin bringt ihnen frisch schäumende Seidel und der blondbärtige kleine Doktor Rietner erzählt:

„Ich setze voraus, daß Sie mit allen Familienverhältnissen der Kronens vertraut sind?“

„Durchaus nicht,“ antwortet der junge Mann. „Mein Vater ist vor etwa dreißig Jahren mit Herrn von Kronen bekannt gewesen, damals lagen noch die Dragoner hier in Bützow, und beide Herren haben zu jener Zeit gemeinschaftlich ihr Jahr abgedient. Mein Vater ist oft auf Beetzen gewesen, spricht noch heute von dem für damalige Zeiten glänzenden Hause und ich erinnere mich, daß er von dem Baron als ‚dem tollen Jochen‘ zu sprechen pflegte.

„Ganz recht, der tolle Jochen, so hieß er früher,“ lächelte der Doktor.

„Später sind die Beziehungen der beiden Herren,“ fuhr Perthien fort, „wohl ganz eingeschlafen, und erst jetzt, als mein Vater mir empfahl, ich solle einen praktischen Kursus auf Uechte durchmachen, erinnerte er sich, daß dort Beetzen in der Nähe liegt, und äußerte den Wunsch, daß ich Herrn von Kronen aufsuchen möge.“

„Nun, Sie sind bald unterrichtet von den Verhältnissen,“ nahm der Doktor das Wort. Die Gattin des tollen Kronen war ein Fräulein von Zweifelden, ein gutes einfaches Geschöpf, ziemlich hübsch, sehr wirtschaftlich erzogen und reich, vor allen Dingen aber von gutem alten Adel. Nach zwei Jahren hatten sie einen Sohn. Natürlich große Freude! Die zwei Schwestern des tollen Jochen, Fräulein Anna und Fräulein Klementine, die unverheiratet geblieben sind, sowie der jüngere Bruder, der Vater des jungen Mädchens, das jetzt auf Beetzen lebt – damals war er noch Fähnrich – standen Pate, und aus dem tollen Jochen wurde, angesichts des Sohnes und künftigen Erben, ordentlich ein zahmer Jochen. Die junge Frau, die während der ersten Jahre ihrer Ehe allerlei Grund zur Unzufriedenheit mit ihrem Gatten hatte, konnte sich nicht mehr beklagen. Er kehrte sämtliche Tugenden eines braven Hausvaters hervor und auf Beetzen war ein Leben wie im Himmel, wenn man so sagen darf.

Als der Junge, der zum Unterschied von seinem Vater ‚Achim‘ gerufen wurde, zehn Jahre alt war, kam ich ins Haus. War auch meine goldenste Zeit, Herr von Perthien, denn was Gemütlicheres wie das Leben in dem alten Herrenhause können Sie sich nicht vorstellen. Der tolle Jochen immer vergnügt und zufrieden, seine Frau immer für das leibliche Wohl ihrer Umgebung besorgt, seine Schwestern einen nicht übertrieben geistigen aber doch anregenden Hauch hineintragend, besonders die Aeltere, die Klementine, die dann nachher – doch davon später! Eine allerliebste Geselligkeit, einfach, gesund, fidele Erntefeste, Sommerpicknicks, kleine Sylvesterscherze – wirklich, es war nett. Und damals trank er noch nicht Grog und – – na, das ging so weiter, bis der Bursche sechzehn Jahre alt war. Kein übermäßig begabtes Kind, aber wie seine Umgebung einfach, gesund und voll überfließenden Wissensdurstes für alles, was seinen künftigen Beruf anbetraf. Dabei schlank wie eine Tanne, mit braunem Kraushaar, und allem Sport fanatisch ergeben. Der Junge saß zu Pferde – einfach prachtvoll! Des Vaters verklärtes Gesicht, wenn er mit ihm vom Hofe ritt, war gar nicht zu beschreiben. – –

Da kommt dies verhängnisvolle Weihnachten! Das Haus war voller Besuch, unter andern der Bruder mit seiner eben angetrauten jungen Frau – er war damals Rittmeister – noch ein paar Vettern auf Urlaub und Consinen, wie’s so auf dem Lande ist. Der Junge sollte ein neues englisches Pferd zum Geschenk erhalten, und man hatte ihn fortgeschickt, damit er es nicht sähe, wenn es auf den Hof gebracht würde; es stand bei dem Händler Grundmann hier im Stalle und war direkt aus England über Hamburg gekommen.

Ich weiß nicht mehr, wie es zuging, daß ich ihn nicht begleitete, die Gnädige hatte sich wohl meine Hilfe bei den Vorbereitungen erbeten; ich weiß nur noch, daß ein festliches Treiben im ganzen Hause herrschte, daß es schneite und fror, daß es überall nach Kuchen roch und die Herrschaften nicht wußten, wie sie ihre Zeit bis zur Bescherung verbringen sollten, und daß Fräulein Klementine endlich vorschlug, man solle einen Gang über die Wiesen thun bis hinunter zu dem Strom. – Ich sah sie vom Fenster aus fortgehen, Fräulein Klementine voran. Sie war noch eine hübsche stattliche Dame damals und des Jungen ganzer Charme. Man sagte, sie trüge eine unglückliche Liebe im Herzen, hätte sich in ihrer Jugend in einen jungen Professor von der Berliner Sternwarte verliebt gehabt, den sie in irgend einem Badeort kennengelernt, na – eine Kronen und ein Professor! Der tolle Jochen hätt’s natürlich nie zugegeben und – sie entsagte und ist keinem lästig gefallen mit ihrem Kummer.

Also, ich sehe sie fortgehen und Fräulein Klementine ruft mir hinauf, sie wolle Achim suchen.“

Der untersetzte Mann hört einen Augenblick auf zu erzählen, er atmet tief, winkt, fährt mit den Fingern in die schwarze Krawatte, als drücke es ihn an der Kehle, dann fährt er heiser fort:

Sie haben ihn auch gefunden. Er ist Schlittschuh gelaufen auf dem Strom, das heißt so zwischen den Buhnen, und die Gesellschaft ist vom Deich hinuntergestiegen und Fräulein Klementine hat sich aufs Eis gewagt, um ihren Goldjungen, wie sie ihren Neffen zu nennen pflegte, aus nächster Nähe zu bewundern. Er ruft ihr etwas zu, das sie nicht versteht, und sie geht weiter in der Meinung, er habe gesagt: ‚Nur immer dreist, Tante Klementine!‘ Da fühlt sie das Eis unter ihren Füße wanken, fühlt, wie es bricht und wie sie einsinkt. Sie schreit und verliert die Besinnung, und als sie wieder zu sich kommt, da – findet sie sich gerettet, aber der Junge – der Junge ist unter die Scholle, unter das Eis – – fort – tot.

Ich habe schon viel erlebt, Herr von Perthien, habe die Düppeler Schanzen mit erstürmt, aber – so ’was – nein, nein – ich kann auch nicht weiter davon sprechen, denn wenn ich hundert Jahre alt werde, vergesse ich nicht des tollen Kronen wahnsinnige Wut, nicht sein schreckliches Lachen und nicht die darauf folgende Reaktion, die ihn fast zum Idioten machte – von der Frau lassen Sie mich schweigen. – –

Deshalb scheint die Sonne nicht mehr in Beetzen, deshalb gedeiht da keine Geselligkeit, und deshalb vertrauert das schöne Mädchen dort seine Jugend. Deshalb ist die Frau nur noch das Gespenst der Vergangenheit, ist des Mannes Humor so grammig, deshalb der Grog, der viele Grog. – Ueber dem Hause steht kein Stern mehr; der Pächter macht, was er will, und Jochen von Kronen ist’s egal, denn sein Erbe ist tot – –.“

„Und die unglückliche Schwester?“ fragt Perthien.

„Gelähmt seit dem Tage – durch die Kälte des Wassers oder das grausige Erwachen? Ich weiß es nicht.“

„Und wie kommt das junge Mädchen nach Beetzen?“

„Dem starb die Mutter bei der Geburt, und der Vater hat das Kind der Frau Bertha gebracht, in der Meinung, er könne sie dadurch von ihrem Schmerz ablenken. Sie hat’s ja auch genommen; es hat Essen und Trinken und Kleidung erhalten und weiß, sie ist eine von Kronen und die mutmaßliche Erbin der ganzen Geschichte, aber –“ er zuckte die Achselu – „die Sonne fehlt, die Sonne. Und wenn ich das Geschöpfchen sehe neben der Tante Anna oder Bertha mit seinem blassen Gesicht und den traurigen fragenden Augen – – Herr Gott! Meine Mädels sind arme, arme Dinger, aber lachen können sie und frisch hineinschauen in das Leben auch!“

Herr von Perthien ist nachdenklich geworden. Wie, wenn er die verzauberte Prinzessin erlösen könnte?

„Ich will jedenfalls öfter ’mal nachsehen da,“ äußert er.

„Geben Sie sich keine Mühe,“ sagt der andere und steht auf, „das zweite Mal ist niemand für Sie zu Hause.“

[243] „Oho!“ antwortet Perthien mit dem ganzen Selbstvertrauen seiner vierundzwanzig Jahre.

„Na, viel Glück, mein Herr!“

„Ich danke Ihnen, Herr Doktor.“

Während Hans von Perthien mit den Kollegen Reeden und Timpe schweigsam nach Hause reitet, hat er einen Plan fertig gemacht. Beetzen und Ditscha und Ditscha und Beetzen müssen erobert werden – beide! Eins allein kann ihm ja nichts nützen. Und dann wird doch endlich ’mal der Alte zufrieden sein, dem er bis jetzt noch nichts hat zu Dank machen können, und die Halsabschneider in Halle werden es ebenfalls sein. Ditscha soll’s auch nicht bereuen; er will sie auf alle erreichbaren Tanzfeste führen, denn hier ist das Mädel vor Langerweile krank. Tante Bertha und der tolle Jochen sollen an ihm einen Schwiegersohn haben comme il faut, und die fatale Tante mit ihren Missionsstrümpfen, die kann man ja schließlich hinausgraulen.

Todmüde langte er mit seinen beiden Gefährten auf Uechte an, und diese Müdigkeit verhinderte ihn für heute an ein weiteres Ausdenken des Schlachtplanes – aber siegen will er, siegen!




Als Hans von Perthien das nächstemal wieder nach Beetzen kommt, hat er Pech. Zu der Zeit um Weihnacht herum, in der das Unglück geschehen, herrscht in Beetzen Jahr für Jahr dieselbe trostlose Stimmung. Er wird nicht angenommen. Frau von Kronen hat überhaupt erklärt, es sei über ihre Kräfte gegangen, den so hübschen schlanken Jungen in ihrem Zimmer zu sehen, denn sie habe bei seinem Anblick mit Schmerzen ihres Verlorenen gedenken müssen; und Joachim von Kronen hat ihr recht gegeben und ist von einer furchtbaren Laune, einer Laune, die selbst Tante Anna mit ihren Morgenandachten nicht zu besiegen vermag, obgleich sie viel von Demut spricht und von der Pflicht, sein Kreuz geduldig zu tragen.

Tante Anna hat auch Ursache, unzufrieden mit Ditscha zu sein. Das junge Mädchen ist nach jenem Besuche ein paar Tage mit roten Wangen und glänzenden Augen umhergegangen, aber von dem Augenblick an, da in ihrer Gegenwart dem Friedrich gesagt wurde, wenn Besuche kämen – ausgenommen natürlich der Herr Pastor oder Oberförster – seien die Herrschaften nicht anwesend, erlosch Farbe und Lust wieder in dem lieben Gesicht, sie fröstelte, saß still da, that zwar alles, was sie thun mußte, aber mit sichtlicher Unlust.

Hanne fand das ganz natürlich, „denn, gnä’ Fröln Klementine, dat ist so: Wenn einer partout nicht hören und sehen soll, dann muß man ihm die Watte aus den Ohren und die Binde von den Augen nicht auf einen Augenblick nehmen, um sie sofort wieder vorzuthun, sonst ist’s ’ne pure Grausamkeit, und wenn das, was Fröln Ditscha gesehen und gehört hat, auch man von unterster Qualität gewesen ist, sie hält’s doch vor sehr schön, weil sie nie nichts hat, es zu vergleichen, und da kann’s kommen, daß sie ’nen Holzappel vor eine Königsreinette taxiert.“

Hanne macht während dieser Weisheitsreden den Kaffeetisch zurecht am Fenster, neben dem ihr Fräulein im Krankenstuhl sitzt. Es ist ein trauliches Zimmer, dieses halbrunde Turmgemach mit seinen dem Anfang des Jahrhunderts entstammenden Möbeln. Im säulengeschmückten, mit einer Urne gekrönten Kachelofen glimmt der Torf, und sein roter Schein strahlt zurück von dem silbernen Kesselchen, unter dem die bläuliche Spiritusflamme brennt. Trotzdem es erst drei Uhr ist, dämmert es schon stark; der Himmel draußen ist niedrig und wolkenverhangen und die entlaubten Bäume des Parkes gewähren einen trostlosen Anblick. Ein Glück, daß jenseit der nassen Rasenfläche das Grün der Koniferen die Grabkapelle verbirgt, es wäre sonst ein trübseliger Anblick gewesen; die weite Ferne, die am Horizont der dunkle Saum des Waldes abschließt, die Türme von Bützow, die man sonst sehen kann, und das Herrenhaus von Uechte verschwimmen heute in Dunst und Nebel.

Vor der Kranken stehen ein paar hellrosafarbene Rosen, die letzten des Jahres. So lang es Rosen giebt, sendet Joachim von Kronen seiner unglücklichen Schwester täglich welche hinauf; er läßt es überhaupt an keiner Aufmerksamkeit fehlen; was ihr Freude bereiten kann, geschieht. Die teuersten astronomischen Werke, die weichsten Teppiche, der komplizierteste amerikanische Krankenstuhl, alles, alles schenkt er ihr, aber – sehen will er sie nicht. Einmal nur im Jahre, am Morgen des Sylvester, pflegt er in ihr Zimmer zu treten, barsch, polternd, kurz. „Na, wie geht’s? Gratuliere – wünsche gute Besserung – fehlt es Dir an irgend etwas?“ Dabei sieht er an ihr vorüber, und sie streichelt seine Hand, und ihre Blicke voll Mitleid und Jammer hängen an seinem zuckenden Gesicht.

„Nichts, Joachim, nichts fehlt mir; ich danke Dir herzlich für alles, was Du für mich thust.“

Dann geht er wieder, räuspernd, schnaubend, und für den Rest des Tages ist er krank, und Fräulein Klementine auch.

Sie wendet jetzt den Kopf. „Hast Du auch Fräulein Sophie gesagt, Hanne, daß ich sie um drei Uhr erwarte?“

„Ja woll, gnä’ Fröln, und da ist sie auch schon,“ lautet die Antwort.

Unter den Thürvorhängen erscheint Ditscha. „Ich komme wohl spät, liebe Tante Tine,“ entschuldigt sie sich, „ich war eingeschlafen auf meinem Sofa und mußte doch auch noch den Brief an Papa fertig schreiben.“

„Wovon bist Du denn so müde, kleines Murmeltier?“ fragt Tante Tine und streichelt über das herrliche braune Haar.

„Ach, ich weiß nicht, Tanting; ich bin immer müde,“ antwortet sie apathisch und schmiegt sich in einen der tiefen Lehnstühle.

„Was hast Du denn heute tagsüber angefangen?“

„Nichts Besonderes. Geübt, Staub gewischt – – Tante Anna näht weiße Kittelchen für Indien und da hab’ ich vorgeheftet; dann hat Tante Bertha Krammetsvögelkonserven für den Winter in Blechbüchsen gelegt, und da ließ sie mich in die Küche kommen zum Kosten, sie wollte wissen, ob genug Wacholder daran sei, und weil ich Ja! sagte, meinte sie ‚Dummes Zeug!‘ und Rieke mußte noch ein Paar Körner stoßen. Und bei Tisch hat Onkel Jochen mit Tante Anna gestritten über Missionsfragen und hat gesagt, sie solle sich zunächst um unsere Dorfkinder bekümmern, die seien schlimmer als die Wilden. Und dann wollte ich eigentlich spazieren gehen, aber da kam Papas Brief und ein Brief von Lieschen Lindenberg –“ Jetzt zuckte es um ihren Mund wie verhaltenes Weinen.

„Und was schreibt Dein Papa?“

„Es geht ihm gut,“ sagt Ditscha und schluckt die Thränen hinunter, „er war in Berlin, aber, denke Dir“ – sie muß wieder schlucken „er schreibt, mit meinem Kommen zu Weihnachten würde es dieses Jahr nichts werden. Warum nicht? – Das würde mir Tante Bertha seiner Zeit mitteilen.“

Ein Ausdruck tiefsten seelischen Wehes lagert sich bei diesem Bericht über Ditschas Züge.

„Ei, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, Kind,“ tröstet die alte Dame.

„Das schreibt Papa auch.“

„Und Deine Freundin Lieschen, was läßt sie hören?“

Das kummervolle Gesicht wird nicht heller. „Denke Dir, Tante – sie bittet zwar, ich soll nicht davon sprechen, aber Dir, Du bist ja so verschwiegen, kann ich’s sagen – sie ist heimlich verlobt! Der ganze Brief ist kritzlig und kratzlig geschrieben und von Thränen halb verwischt, und zuguterletzt schreibt sie: ‚Entschuldige die Schrift, aber Fritz steht hinter mir und küßt mich und daher‘ – dann ein Klex, und von einer Männerhand noch: ‚Die Freundin seines lieben Lieschens grüßt Ihr glücklicher – („glücklich“ dreimal unterstrichen) – Fritz Hennecke.‘“

„Nu kik mal,“ sagt Hanne verwundert, „und so jung noch? Veel to jung, die Fröln Liesing!“

„Und denke Dir, Tante,“ fährt Ditscha fort, „er hat sich in sie verliebt, weil sie so schön malt, schreibt Lieschen. Er ist nämlich auch Maler. Es ist doch herrlich,“ setzt sie leise hinzu, „wenn man ein Talent besitzt, Tante Tine – ich hab’ auch gar keines, gar keines.“

„Unsinn, gnä’ Fröln,“ ruft Hanne, die eben die Tassen gefüllt hat und ihrem Fräulein Sahne hinzugießt, „das können Sie auch haben, wenn Sie’s man bloß wollen! So ’ne Talente, die kann man sich angewöhnen. Oll Kurzleb, wo Schriwer is bei Herrn Landrat in Bützow, dem sein ältester Jung’ ist auch Maler, da hat sogar was von in die Zeitung gestanden von seine Bilders, die er in Berlin ausgestellt hat, und ich weiß doch noch, wie die selige Kurzlebn zu mich gesagt hat dazumalen: ,S’ist ein Elend mit uns’ Otto, er beschmiert allens voll. Die Stühlens und Tischens und Gott weiß was allens. Er hat sich das nur so angewöhnt’, sagt sie, ,und da hilft nun kein Prügeln nich.‘ Sehen

[244]

Drachenprozession in Hongkong.
Nach einer photographischen Aufnahme.

[245] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [246] Sie, Fröln Sophiechen, Sie sollen sich auch ’mal so was angewöhnen, und wenn’s bloß is, daß Sie allein ein Vergnügen davon haben, denn um zu verkaufen, da brauchen Sie nicht zu lehren, indem daß Sie ’mal was zu leben haben.“

Ditscha lächelt und die Augen stehen ihr voll Wasser. Sie nickt Hanne zu, die eben hinausgeht mit einem nochmaligen: „Versuchen S’ man mal!“ und rührt in ihrer Tasse.

„Würdest Du wohl,“ beginnt Tante Klementine, um sie auf andere Gedanken zu bringen, „würdest Du mir wohl ein paar Seiten vorlesen, Ditscha?“

„Natürlich, Tante! Die Fortsetzung von neulich?“

„Ach nein – ich möchte – hättest Du nicht Lust, mit mir ein Paar Klassiker – – ich habe solange nicht darin geblättert, und Du kennst sie wohl kaum?“

„Nur aus der Litteraturstunde, Tante Tine – die Bibliothek ist ja immer verschlossen jetzt, wie Du weißt.“

„Aber Du hast Lust? Zum Beispiel – – ei, lesen wir auf gut Glück – geh’ an das Bücherspind und greife etwas heraus!“

Gehorsam kommt Ditscha diesem Wunsche nach.

„Faust?“ fragt die alte Dame, zweifelnd das Buch betrachtend, das ihr die Nichte reicht, „aber Du bist ja alt genug. Kannst Du noch sehen? Sonst klingle ich für die Lampe.“

Aber Ditscha hockt sich ans Bogenfenster, der Tante gegenüber, und liest:

„Habe nun, ach! Philosophie –“

Tante Tine horcht auf, als das Mädchen mit zitternder benommener Stimme vorträgt:

„Ach, könnt’ ich doch auf Bergeshöh’n
In deinem lieben Lichte geh’n,
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben!
000000000
Weh! Steck’ ich in dem Kerker noch?
Verfluchtes dumpfes Mauerloch!
000000000
Urväter Hausrat drein gestopft –
Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!

Und fragst du noch, warum dein Herz
Sich bang in deinem Busen klemmt?
Warum ein unerklärter Schmerz
Dir alle Lebensregung hemmt?
Statt der lebendigen Natur,
Da Gott die Menschen schuf hinein,
Umgiebt in Rauch und Moder nur
Dich Tiergeripp und Totenbein.“

Ditscha hört plötzlich auf zu lesen, senkt den Kopf auf das Buch und fängt laut an zu weinen. „Ach, Tante Tine, Tante Tine!“

Die Tante empfindet einen lebhaften Schrecken. „Aber, Ditscha, Kind, Sophiechen!“ ruft sie und denkt dabei: Um Gottes willen – das Kind fühlt jetzt klar, was es entbehrt, es sehnt sich!

Und laut bittet sie: „Was hast Du, mein altes Herz?“

Ditscha ist aufgesprungen. „Ach, Tante, ich will nachher wiederkommen, bitte, entschuldige mich einen Augenblick, ich will nur ’mal durch den Park laufen, ich ersticke hier im Zimmer – bitte – bitte –“

Und schon ist sie hinausgeflüchtet, hat ihr Tuch vom Stuhl gerissen im Vorzimmer und läuft nun die Treppe hinunter in fliegender Hast und durch die Halle ins Freie.

Aufschluchzend eilt sie in einen Seitenpfad hinein, immer weiter, weiter, an der Gärtnerwohnung vorüber und aus dem Park hinaus, als beengten sie auch diese Mauern noch. Auf dem nassen zerfahrenen Feldweg, zwischen Parkmauer und Waldsaum geht sie dahin. Ach, wie so öde ist die winterliche Welt, wie starr und kalt, kein lebendes Wesen weit und breit; über ihr die stummen Wolken, neben ihr der stumme Wald, und dort das stille finstere Herrenhaus in seinem schweigenden Park. Kein Licht blitzt aus den Fenstern, natürlich, sie sitzen da noch im Dämmern, sie haben nichts, das sie sehen möchten im freundlichen Lampenschimmer, und Gram und Leid macht sich gern im Finstern an sein Opfer. Tante Bertha sitzt in der Sofaecke, und Onkel Jochen wandert im Zimmer auf und ab, und keines spricht ein Wort, denn der Verlorne geht um, der Ertrunkene, und fragt sie: Wie könnt Ihr nur noch leben ohne mich? Wie könnt Ihr nur das Dasein ertragen? Was ist denn alles andere, das Ihr noch besitzt? Nichts – ohne mich! Ein schönes Gut, ein trautes Haus, Eure gegenseitige Neigung – nichts! Und was habt Ihr da an meiner Statt? Ein fremdes Mädchen – was kann sie Euch sein? – Nichts! Sie ist da, nun gut, sie ist da! Füttert sie meinetwegen groß – verdrängen wird sie mich nicht, bin ich doch da, ich, die Hauptperson – bin ich gleich tot! Ersetzen kann mich nichts!

Ditscha ist in verzweifelter Stimmung. Nur ein Menschenherz, dem ich etwas sein darf! Aber mich will keiner, keiner! schreit es in ihr. Papa vermißt mich nicht, Liesing habe ich nun auch verloren, und Tante Tine? Na, Tante Tine ließ sich aus Mitleid herab und ist froh, wenn das verträumte dumme Mädel wieder das Zimmer verläßt. – –

Ach, wenn sie wenigstens arbeiten könnte, sich müde arbeiten wie eine Tagelöhnerfrau, um dann im Schlaf Vergessenheit zu finden, Vergessenheit ihres unnützen, überflüssigen Daseins.

Aber – Arbeit giebt es für sie auch nicht.

Sie ist die Rasenböschung nach dem Wäldchen hinaufgestiegen, dort steht eine roh aus Birkenstämmen gezimmerte Bank, triefend von der Nässe des Herbstnebels und mit welkem Laube bestreut. Im Westen haben sich die schwarzen Wolken etwas gelichtet, ein trüber gelblicher Schein liegt über der Landschaft – Ditscha starrt hinein, bis ihr die Augen wehthun.

Auf einmal hört sie das Stampfen und Schnauben eines Pferdes, in geringer Entfernung von ihr kommt ein Reiter auf dem Feldweg daher, ein Reiter, der just das Tier anhält und, von ihr abgewendet, nach dem Herrenhause hinüber späht.

Das Herz droht ihr still zu stehen – trotz der tiefen Dämmerung erkennt sie ihn, es ist Hans von Perthien. Ihre Blicke hängen ganz starr an ihm, sie kauert sich auf der Bank zusammen und hat nur den einen Wunsch, er möge sie nicht sehen. Warum? weiß sie selbst nicht.

Plötzlich wendet er den Kopf und sieht scharf zu ihr hinüber. Ein paar Minuten vergehen, während sie keinen Blick voneinander lassen, dann hat auch er sie erkannt, springt vom Pferde und, dasselbe nach sich ziehend, erklettert er die Böschung.

„Mein gnädiges Fräulein, das nenne ich aber Glück!“ Seine Stimme klingt so froh und harmlos, daß sie eine ganze Schar unheimlicher Geister von Ditscha verjagt. „Was um alles in der Welt thun Sie hier, zu dieser Stunde?“ fragt er weiter. „Ich bilde mir ein, Sie sitzen da im Beetzener Salon am Klavier und phantasieren über Beethoven, und nun muß ich Sie hier treffen? Wissen Sie auch, daß ich einmal wieder so – Sie finden es sicher unbegreiflich – so unbescheiden war, mich bei Ihrem Herrn Onkel, vielmehr der Frau Tante, melden zu lassen? Natürlich wieder mit dem nämlichen Erfolg – die Herrschaften empfangen nicht.“

Er hat sich neben Ditscha gesetzt und ihre zitternde Hand geküßt. Das Pferd steht geduldig zur Seite; der alte Verwaltergaul scheint solche Situationen zu kennen.

„In dieser Zeit um Weihnacht nimmt Tante niemand an,“ stottert sie.

„O, und ich hatte mich auf eine Wiederholung des neulichen Nachmittags wie ein Kind gefreut.“

Ditscha bleibt stumm.

„Wird es immer so sein?“ fährt er fort.

„Ja!“ sagt sie trostlos.

„Und das ertragen Sie?“

„Wie Sie sehen.“ Es klingt ebenso trostlos.

„Ich möchte das Nest an allen vier Ecken anzünden!“ lacht er.

„Thun Sie das doch, ich habe nichts dagegen,“ antwortet sie trotzig.

Er horcht auf; die Stimmung ist gut!

„An allen vier Ecken,“ wiederholt er, „und dann – dann würde ich mich in die Glut stürzen, um Sie zu retten.“

Ditscha zuckt die Achseln. Dumme Phrase! denkt sie.

„So geht es nicht!“ sagt er sich. „Ich wollte,“ fährt er fort, „Sie könnten meine Mama einmal besuchen, so ein liebes herziges Mutting ist sie, und wie sie Sonnenschein liebt und Jugend und Frohsinn. Ihr einziger Kummer ist, daß sie keine Tochter hat, ein Töchterlein, das sie in rosige Tüllkleider stecken und auf den Ball führen, mit dem sie wieder jung werden kann!“

„Ich würde nicht zu ihr passen,“ erklärt sie, fast gegen ihren Willen schroff, „ich möchte nicht auf Bälle gehen, ich möchte nur – ich möchte –.“ Sie schweigt, weil sie fühlt, daß ihr ein Schluchzen in der Kehle aufsteigt.

„Ich habe nicht das Recht, nach Ihrem Kummer zu fragen,“ murmelt er.

[247] „Ich habe durchaus keinen Kummer!“ stößt sie unter Thränen hervor.

„Wenn Sie nun einen Bruder hätten, Fräulein von Kronen – denken Sie doch, Sie hätten einen und er säße – er sitzt hier neben Ihnen, würden Sie sich dem gegenüber auch nicht aussprechen?“

„Dann würde ich ihm sagen: ‚Mein guter Junge, Du kannst mir auch nicht helfen!‘“ ruft sie aufspringend.

„Ditscha!“ flüstert er dreist und hält die Falten ihres Kleides, „Ditscha, gehen Sie nicht fort, ich weiß nicht, wann ich Sie wiedersehe! Darf ich Ihnen etwas erzählen? Seit neulich, Ditscha – ich bin ein wilder Schlingel gewesen, aber seit neulich – ach, Ditscha – –“ Er ist vor ihr niedergesunken auf die nasse Erde und preßt ihr Kleid gegen seine Augen. „Sie könnten mir helfen!“ murmelt er.

Sie ist zitternd auf die Bank zurückgesunken, das Tuch ist ihr vom Kopf geglitten und der Herbstnebel legt sich schwer und naß auf ihr Haar. Sie sieht nichts mehr, sie hört nur seine gestammelten Worte: wild und schlecht war er, aber sie kann helfen, ihn gut machen, denn mit ihrem Anblick ist ihm eine bessere, eine heiligere Welt aufgegangen! Ob sie denn nicht glaubt an eine Liehe auf den ersten Blick? Allabendlich ist er hier auf dem Waldwege gewesen und hat stundenlang zu ihren Fenstern hinübergesehen – ob sie es nie geahnt hat? – Ob sie ihm helfen will, ein guter Mensch zu werden? Auf den Knieen wird er ihr danken lebenslang und – will sie es nicht, dann, dann komme, was da wolle!

Dieser ganze Sturm überfällt sie so unvorbereitet, trifft ihre dürstende Seele wie erquickender Tau. Sie kann einem Menschen etwas sein? Sie kann jemand helfen, den rechten Weg zu finden? Ein Schauer rieselt über ihren Körper, sie faltet die Hände und fragt: „Ich? Ich? O, was kann ich denn thun?“

„Mir die Hoffnung lassen, Sie zu sehen! Durch die Duldung meiner Neigung mir helfen, die Ihre zu erringen! Mir zu erlauben bei allem, was ich thue, an Sie zu denken, mich ein wenig, ein wenig, Ditscha, liebe Ditscha, lieb zu haben!“

Sie kann ihr Herz klopfen hören, so schlägt es in der Brust. Ein Chaos widersprechender Stimmen wirbelt in ihrer Seele, einen Augenblick nur, dann ist sie entschlossen.

„Ditscha, liebe mich!“ bittet er.

„Ja!“ sagt sie kindlich, „ich will Sie liebhaben.“

Dich! Ditscha – Dich!“

„Ich will Dich liebhaben,“ wiederholt sie feierlich, obgleich sie nicht weiß, wie sie es anfangen soll, „aber Du mußt auch wirklich gut werden,“ setzt sie hinzu.

„O, so gut!“ flüstert er und sitzt neben ihr auf der Bank, „so gut! Ich bin es schon jetzt – neben Dir kann man nicht anders sein als gut!“ Und er will sie stürmisch in die Arme schließen.

Da springt sie auf. „Nein! Nein!“ wehrt sie.

„Aber, Ditscha!“ Er ist ganz betroffen. „Du hast mich nicht lieb –!“

„Doch – ich will – ich werde – aber Sie – – Du mußt zuerst mit Onkel reden.“

„Ja, natürlich!“ sagt er rasch, „ich werde zu ihm gehen – morgen – natürlich –“

„Ich werde ihn vorbereiten,“ erklärt Ditscha und will noch einen Schritt zurück, denn er hat nach ihrer Hand gegriffen und preßt die zitternde an seine Lippen und Augen. „Ditscha, Sophie von Kronen – meine Braut!“ flüstert er leidenschaftlich und versucht abermals, sie an sich zu ziehen.

Da ist sie zur Seite entwichen und gleitet wie ein Schatten die Böschung hinunter.

„Ditscha!“ ruft er, aber schon hat die Dunkelheit sie verschlungen. Er tastet vergebens auf und ab und murmelt eine Verwünschung, und derweil ist sie den Weg zurückgelaufen den sie gekommen, und steht nun innerhalb des Parkes an einen Baum gelehnt und schluchzt zum Herzbrechen.

Was hat sie gethan! Was hat sie gethan? Wie will sie es anfangen, ihn liebzuhaben? Sie kennt ihn kaum, ja, sie fühlt, daß er ihr namenlos gleichgültig ist. – Sie hat es sich anders vorgestellt, Braut zu werden – Braut!

Was soll sie nun beginnen? Droben wartet Tante Tine, und wenn sie nicht bald kommt, wird Hanne sie suchen, und dazu ist gleich Abendbrotszeit! Ob sie noch vorher mit dem Onkel spricht? Oder ob sie das dritte Glas Grog abwartet nach Tische? Das letztere scheint ihr das Gescheiteste zu sein, und sie geht langsam ins Haus, die Treppe hinauf und klopft an Fräulein Klementinens Thür.

(Fortsetzung folgt.)


Torquato Tasso.

Gestorben am 25. April 1595.
Von Richard Schröder.


Wem es je vergönnt gewesen ist, an lauem Frühlingsabende die lärmvollen Gassen Neapels zu durchschlendern, wer unter den Bogengängen Bolognas oder auf den engen Plätzen und Brücken Venedigs Gelegenheit gehabt hat, das Volksleben der Italiener zu studieren, das bei aller Fremdartigkeit uns Nordländer immer von neuem so ungemein sympathisch anmutet, der wird sich gewiß auch einmal in den dichten Kreis von Männern, Frauen und Kindern hineingedrängt haben, welche einen jener volkstümlichen italienischen Erzähler umlagern, die an einer Straßenecke unter freiem Himmel oder auch unter einem weiten Thorwege mit weithin schallender Stimme und unglaublichen Gestikulationen die volkstümlichsten Stellen ihrer Lieblingsdichter vortragen. Oft sind es moderne Romanzen und ergreifende Liebesklagen, oft auch Berichte schauriger, bluttriefender Begebenheiten aus dem Leben eines kürzlich eingefangenen berühmten Banditen, daneben aber auch die schönsten Episoden aus den mittelalterlichen Heldenliedern, die dies dankbare Publikum, das mit gespanntester Aufmerksamkeit an den Lippen des Erzählers hängt, zu jubelnder Begeisterung entflammen oder zu stillen Thränen rühren. Neuerdings zwar verschwindet die typische Figur dieses „Raccontatore“ nach und nach aus den verkehrsreichen Centren der großen Städte, indessen begegnet man ihr auch heute noch häufig genug in den abgelegeneren Vorstädten und vor allem auf Dörfern und in den von der großen Verkehrsstraße abseits liegenden kleinen Landstädtchen. Was wir in solch einem weltvergessenen Oertchen der Abruzzen oder Campaniens zu hören bekommen, das sind natürlich in den wenigsten Fällen die Laute der toskanischen Schriftsprache, in deren Gewand Ariost und Tasso ihre unsterblichen Gesänge gekleidet haben, zumeist sind diese Dichtungen mit unabsichtlichen oder selbst absichtlichen Veränderungen durch mündliche Tradition in den Dialekt der Gegend übertragen und so dem Verständnis und dem Empfinden des einfachen Mannes näher gerückt. Heiße Thränen kann man bei solchem Vortrage fließen sehen, wenn der Deklamator von den Schicksalen Chlorindens und Tankreds, Sophronias und Olindos, Armidas und Rinaldos berichtet, denn unter all den hochgefeierten Sängern der Vergangenheit besitzt jenseit der Alpen noch heute keiner, Alessandro Manzoni allein vielleicht ausgenommen, auch nur annähernd die gleiche Volkstümlichkeit wie der Dichter des „Befreiten Jerusalem“, Torquato Tasso, der wie kaum ein zweiter seiner Zeitgenossen es verstanden hat, nicht allein für die Gelehrten und Kenner, sondern für die ganze Nation zu dichten.

Was indessen diesen Dichternamen so allgemein bekannt gemacht, ihm in der ganzen litterarischen Welt so tiefe Sympathien erworben hat, das läßt sich kaum allein durch die Vorzüge erklären, die den Werken Tassos eigen sind; auch die ergreifenden Schicksale, denen sein Leben unterworfen war, und die selbst wieder großen Geistern aller Nationen, ich nenne unter vielen nur Goethe, Byron, Leopardi, den Stoff zu unsterblichen Schöpfungen gegeben haben, tragen nicht wenig dazu bei. Allerdings ist der Tasso, wie ihn heute die meisten Deutschen kennen und lieben, keineswegs der historische Tasso, dessen verdüstertes Gemüt vor nun genau drei Jahrhunderten in dem einsamen Klostergärtchen von San Onofrio in Rom endlich im Tode die Ruhe fand, um welche der Dichter in seinem wechselvollen Leben vergeblich gerungen hatte, sondern [248] es ist die Idealfigur des Goetheschen Dramas, eine wunderbare Verschmelzung der geschichtlichen Gestalt des Helden mit der des Dichters selbst, der jene frei aus dem eigenen Geiste wieder erzeugte. Aber der geschichtliche Tasso steht dem der Dichtung an tragischem Interesse kaum nach. In dieser Dichternatur erscheint das gewaltige Gähren und Ringen eines Jahrhunderts, zwischen Altem und Neuem, zwischen Geistesknechtung und Freiheit personifiziert, und wenngleich es dem Scharfsinn der Tassoforscher noch immer nicht gelungen ist und vielleicht niemals ganz gelingen wird, den Schleier vollkommen zu lüften, der das innere Leben dieses Mannes deckt, so gehört doch Tasso zu jenen Persönlichkeiten, zu denen man sich, je mehr man in ihr Wesen eindringt, – vielleicht gerade deshalb, weil etwas Unerklärliches, etwas Großartig-Geheimnisvolles in ihnen waltet, – desto mehr hingezogen fühlt.

In Sorrent, jenem lieblichsten Orte der Südküste des Golfs von Neapel, das durch so manchen berühmten Namen mit der Geschichte italienischer Kunst verknüpft ist, stand auf einer hohen, schroff aus dem Meere aufsteigenden Felsenwand das Haus, in welchem Torquato, als Sohn des Dichters Bernardo Tasso, am 11. März 1544 zur Welt kam. Die stille Sehnsucht nach diesem Orte seiner glücklichen Kindheit, den Citronen- und Orangenhainen, in denen er zu spielen pflegte, nach den milden Lüften, dem klaren, tiefblauen Himmel und dem Silberglanz des leuchtenden Meeres hat ihn später oft, inmitten der rauschenden Festlichkeiten an den Fürstenhöfen, die ihn gastlich aufnahmen, schwermütig gestimmt. Auch hat die traute Heimat ihm später nach langer Abwesenheit, als düstere Schatten schon längst sein Gemüt umlagerten, noch einmal freundliche Aufnahme gewährt und an dieser lachenden Meeresküste sich das letzte kurze Intermezzo von Glück und Frieden im Leben des unglücklichen Mannes abgespielt.

Bei den Jesuiten in Neapel erhielt Torquatillo, wie ihn der Vater mit Vorliebe zu nennen pflegte, den ersten Unterricht. Aber je mehr die Patres die hohen geistigen Eigenschaften, die in dem Knaben schlummerten, erkannten, um so mehr bemühten sie sich, den klaren Verstand des frühreifen Kindes auf die dürren Wege jesuitischer Scholastik zu leiten. Unter ihrer Zucht wurde das hohe Selbstvertrauen, das bei Torquato in ganz besonders hohem Grade hervorgetreten war, abgeschwächt und möglichst ganz zu unterdrücken versucht, ja man strebte mit allen Mitteln der geltenden Disziplin dahin, dem Knaben Mißtrauen in seine geistigen Fähigkeiten einzuflößen, ein Zug, der sich selbst bei dem Mann nie wieder verlor und ihm so oft das berechtigte Vertrauen in seine dichterische Veranlagung in das Gegenteil verwandelte. Der Ausbildung natürlicher Urteilskraft wurde weder Raum noch Zeit gegeben und sein tiefes Gefühl, sein brennender Ehrgeiz, seine übermäßig erhitzte Phantasie lediglich für äußere Glaubenspraxis, für das Ceremonienwesen ausgenutzt. Bereits mit neun Jahren ließen seine Lehrer den Knaben zum Abendmahl zu, von dessen symbolischer Bedeutung er nichts verstand. Um so mehr schmeichelte der feierliche Akt, bei dem alle Blicke der versammelten Menge auf ihn gerichtet waren, seinem Ehrgeize, und teils von diesem Gefühle beseelt, teils im Banne der unbewußten Einwirkung dieses Mysteriums fiel er auf die Kniee nieder, um den Leib des Herrn zu genießen.

Alfons II., Herzog von Ferrara und Modena.

Für das leicht empfängliche, eindrucksfähige Gemüt des Knaben war es daher ein großes Glück, von dem lästigen und verderblichem Zwang dieser tendenziösen Lehrmethode bald befreit zu werden. Tasso mußte bereits nach wenigen Jahren Neapel verlassen, um seinem Vater in die Verbannung zu folgen, die dieser gleichzeitig mit dem Fürsten Ferrante Sanseverino von Salerno hatte auf sich nehmen müssen, da er zu stolz und zu treu war, sich im Unglück von seinem Herrn loszusagen. Der Abschied des zehnjährigen Torquato von seiner kaum aus schwerer Krankheit genesenen Mutter war ungemein schmerzlich; sie ahnten vielleicht, daß es auf dieser Welt für sie ein Wiedersehn nicht geben sollte, und als Tasso nach vierundzwanzig Jahren in dem trostlosesten Augenblicke seines Lebens als ein Flüchtling vor der Gehässigkeit der Menschen umherirrte, da tauchte in dem von aller Welt Verlassenen von neuem wieder die Erinnerung auf an diese schmerzlichste aller Trennungen:

„Doch vom Geschicke ward, ein zarter Knabe,
Dem Mutterbusen grausam ich enthoben,
Der Küsse denk’ ich seufzend noch im Herzen,
Der thränenfeuchten, denke noch mit Schmerzen
Ihrer Gebete, die im Wind zerstoben.
Denn nie mehr sollt’ ich Aug’ in Aug’ ihr blicken,
Nie, mehr sie an mich drücken,
Von Mutterarmen eng und fest umwoben!
Dem Vater, gleich Aeneas’ Sohn, Askanen,
Folgt’ ich dem Irrenden, auf irren Bahnen.“

Und in der That sind es irre Bahnen, die ihn der wackere Vater, der gleich dem Sohne von einem finstern Schicksal verfolgt wurde, in den nächsten zehn Jahren führt und die später Torquato allein fortsetzt, ein unstetes Wandern, das nicht eher ein Ende nimmt, bis man ihn, gebrochen an Körper und Geist, in der einsamen Klosterkirche auf dem Janiculus in Rom zur ewigen Ruhe bettet. Von Rom werden die Flüchtlinge durch die kriegerischen Verwicklungen zwischen Philipp II. und Paul IV. nach Bergamo, Bernardos Vaterstadt, getrieben, von da geht’s an den Hof des Herzogs von Urbino, von Urbino nach Venedig. Mit fünfzehn Jahren weilt Torquato als Student in Padua, wo er sein erstes großes Heldengedicht „Rinaldo“ dichtet und veröffentlicht. Von Padua geht’s an die Universität Bologna und von da zurück nach Padua, dann zum erstenmal an den Hof der Este in Ferrara, an den von Paris und Fontainebleau und wiederum nach Ferrara. Hier nun liegt der Schwerpunkt dieses abenteuerlichen Lebens, Ferrara ist das Weimar Tassos geworden, und mehr als eine Parallele ließe sich zwischen den beiden Fürstensitzen des sechzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts ziehen. Hierher wird Tasso eingeladen, um ganz seiner Kunst zu leben, aber das Hofleben und die Eindrücke des politischen Lebens lenken ihn ab von der Ausführung seiner poetischen Entwürfe; hier findet er, der zu vollem Glück nur im Frauenumgang gelangt, ganz wie Goethe in Weimar, jede Art desselben; wie diesem die Freundschaft der Herzoginmutter Anna Amalie und der Herzogin Luise zu teil wird, so darf er sich der Gunst der Schwestern des Herzogs erfreuen; und auch sein leicht entzündliches Herz gerät durch seine Stellung zum Hof in leidenschaftliche Konflikte. Das Unglück will nur, daß der Hauptkonflikt, in den er gerät, ihn hinreißt, gegen die dem Herzog und seinem Hause schuldige Rücksicht zu freveln. [249] So wird auch hier der Boden ihm bald zu heiß, und es duldet ihn in Ferrara nicht länger. Wiederholt treibt sein unruhiger Geist ihn fort nach Venedig und Padua und als Flüchtling eilt er endlich nach Sorrent, um hier im Kreise der Familie seiner Schwester Cornelia noch einmal die stillen Freuden eines ungestörten Familienlebens zu genießen.

Aber kaum ein Jahr hält es ihn in dieser traulichen Umgebung. So wenig er das Leben am Hofe Alfonsos ertragen konnte, so wenig vermochte er es auf die Dauer zu entbehren. So ergreift ihn denn die Sehnsucht nach den vergangenen glücklichen Tagen, und, von Ehrgeiz und Liebe unwiderstehlich gedrängt, fliegt er, wie der Schmetterling zur Flamme, nach Ferrara zurück. Von neuem versengt, entflieht er von neuem, diesmal weniger weit, erst nach Urbino, dann nach Turin, von dort ausgeliefert, wird er auf seines Fürsten Befehl zur Heilung seines zerrütteten Geistes in das Hospital Sant’ Anna eingesperrt. Hier setzt nun der Geist die irre Wanderung fort, an der die sicheren Wände seiner Zelle den Körper hindern, aber kaum daß er nach siebenjährigem qualvollen Aufenthalt als gebrochener Mann seinen Kerker wieder verlassen darf, beginnt auch das ruhelose Leben von neuem. Man glaubt ihn auf einer Wallfahrt zum Heiligtume in Loreto und er taucht plötzlich in Rom und Neapel auf; kaum hat er sich in Florenz auf dem lieblichen Hügel von Monte Oliveto glücklich eingerichtet, so finden wir ihn abermals in der Stadt der Päpste.

Und so geht es neun Jahre lang fort! Wohl siebenmal pilgert der müde Fuß die staubige Landstraße von Rom nach Neapel, von Neapel zurück nach Rom. Elend und krank langt er zum letztenmal in der ewigen Stadt an, wohin er auf Einladung der Kardinäle Quinto und Cinzio gewandert ist, um der höchsten Ehre, von der er sein Leben lang geträumt hat, der Krönung auf dem Capitol mit dem Lorbeer Petrarcas, teilhaftig zu werden. An den Thoren empfangen ihn die Neffen des Papstes mit einem großen Gefolge von Würdenträgern und eine unabsehbare Menge jubelnden Volkes, dem Papst darf er die Füße küssen und empfängt dessen Segen. Doch ehe seine Hand den so heiß ersehnten Lorbeer ergreifen kann, bricht er zusammen, nachdem er noch auf dem Totenbette den Wunsch geäußert hat, man möge gerade dasjenige seiner Werke, das allein der Nachwelt seinen Namen überliefert hat, die Gerusalemme liberata, das „Befreite Jerusalem“, dem Feuer weihen. In aller Stille ist er dann wenige Tage darauf in dem reizenden Klostergärtchen von San Onofrio, das jeder Romfahrer kennt, zu Grabe getragen worden.

Das äußere Lebensbild des Dichters, das sich hier in aller Kürze vor dem Leser entrollt hat, ist vollendet. Tasso selbst hat nur allzu wahr in dem Gedicht an seine Seele davon gesungen:

„Indes ist sonnenlos mein Tag; ich sehe
Verhüllt des Nachts der Sterne lichtes Heer.
Ich hatte Wünsche viel wie Sand am Meer
Und innen nichts und außen nichts denn Wehe.“

Leonore von Este.

Es war ein Dichterleben in jedem Sinne des Wortes, auch darin, daß alle persönlichen Schicksale im engsten Zusammenhange stehen mit der großen Aufgabe, die diesen Feuergeist von den ersten knabenhaften Flügen bis zu seinen letzten Entwürfen erfüllte: mit dem großen unsterblichen Heldengedicht vom „Befreiten Jerusalem“. Die schwere Krisis, deren Verlauf in die Tage seines Aufenthaltes am Hofe Alfonsos II. zu Ferrara fällt, ist auch eine Krisis in seinem dichterischen Schaffen, und darum ist es nötig, um zu einem vollen Verständnis des Lebens und Dichtens Tassos zu gelangen, den wichtigsten Personen einige Beachtung zu schenken, die in den Villen und Gärten von Belriguardo und Castel Durante, in den glänzenden Palästen von Ferrara mit dem Dichter in nächste Berührung gekommen sind, ihn zu begeistertem Schaffen angeregt, ihm dabei vor der Seele geschwebt haben und von denen eine ihm jene Liebe eingeflößt hat, die er, freilich durch eigene Schuld, mit einem Leben voll Verzweiflung und brütendem Wahnsinn hat bezahlen müssen: ich meine die Schwester des Herzogs Alfonso II. von Este, Leonore.

Noch immer, nachdem die Kritik nun drei Jahrhunderte Zeit gehabt hat, sich mit den Personen und Verhältnissen an diesem damals glänzendsten aller Höfe Italiens zu beschäftigen, nachdem litterarische Fälschungen begangen, Prozesse geführt, auf Anklagen und sogenannte „Ehrenrettungen“ Ströme von Tinte verschwendet worden sind, werden von neuem die Kardinalfragen aufgeworfen: Hat Alfons als ehrlicher Freund oder hat er als Verräter an Tasso gehandelt? Hat dieser die Prinzessin Leonore ernstlich geliebt, wurde seine Neigung erwidert? Und ist Tasso um dieser Leidenschaft willen sieben Jahre lang in dem Irrenhause von Sant’ Anna eingesperrt gewesen, oder war er in der That geistesgestört? So viele Biographen des Dichters wir hierüber um Rat fragen, von seinem Zeitgenossen Manso bis herab zu dem unsrigen Pier Leopoldo Cecchi, von Goethe, Byron, Leopardi bis auf Silvio Pellico, Quinet und Speyer, so viele verschiedene Antworten auf diese uns so lebhaft interessierenden Fragen erhalten wir. Und selbst die treffliche im Jahre 1855 von Guasti besorgte fünfbändige Ausgabe der Briefe Tassos, die mit seinem zehnten Jahre beginnen und bis in die Tage seiner letzten Krankheit reichen, haben den Federkrieg nicht zu enden vermocht. So müssen wir uns denn einstweilen der Meinung anschließen, die, auf diese Briefe und seine lyrischen Gedichte gestützt, den größten Grad von Wahrscheinlichkeit für sich zu haben scheint.

Als Torquato, ein kühn in das Leben schauender 21jähriger Jüngling, dem dank seinem „Rinaldo“ schon der Ruhm eines trefflichen Dichters vorausging, in Ferrara einzog, fand er den glänzenden Hof anläßlich der Hochzeit des Herzogs mit Barbara von Oesterreich in einem Taumel von Festlichkeiten und Enthusiasmus und das höfische Leben zeigte sich ihm von der glänzendsten Seite. Eine hochgespannte Natur, welche Liebe und Freundschaft gleich der Dichtkunst nur als reine, hohe Seelenkraft zu empfinden vermochte, fühlte sich Tasso in Gesellschaft der beiden Schwestern des Herzogs, der schon reifen, um ein Jahrzehnt älteren Lucrezia, der späteren Herzogin von Urbino, und der blassen, kränkelnden, idealgestimmten Eleonore, der „Schülerin des Plato“, in einer Region, wo „alles Gemeine schwand“; anerkennungsbedürftig und ehrgeizig schlürfte er hier den vollen Becher feinsten und berauschendsten Lobes, von zartesten Händen kredenzt. Bei hundert Gelegenheiten, wenn wir den in dieser Zeit entstandenen lyrischen [250] Gedichten Glauben schenken dürfen, erwachen in seinem Herzen wechselnde Liebesgefühle:

„Gespornt von jener Sehnsucht, welche führet
Die Seelen gern zu süßen Liebesschmerzen,
Versucht’ ich viel der Frau’n und vieler Herzen
Fand weich ich, wen’ge blieben ungerühret.“

Aber schnell, wie sie gekommen, verlöschen sie alle wieder und erblassen vor einer glühenden Leidenschaft, die des schwärmerischen Jünglings Herz dauernd erfüllt. Sie galt der jüngeren Schwester seines Fürsten, ihr widmet er mehr oder weniger alles, was seine Kunst Herrliches in dieser Zeit hervorbringt, und beklagt nur, daß seine Feder nicht imstande sei, von ihr, der Göttlichen, ein treffendes Bild zu entwerfen. Auch in der herrlichen Episode von Olindo und Sophronia, die er zu Leonores Verherrlichung dem zweiten Gesange seines „Befreiten Jerusalems“ einwob, hat uns Tasso mit leuchtenden Farben ihr Bild, wie es ihm vorschwebte, gezeichnet, und wie er das Verhältnis zwischen jenen beiden Liebenden dort geschildert, so oder ähnlich wird es zu jener Zeit wohl zwischen ihm und Leonore gestanden haben:

„So reizend sie, so sehr ist er bescheiden,
Voll Wunsch, an Hoffnung arm, fern von Begier.
Zu reden bang, erträgt er still sein Leiden,
Wenn nicht verschmäht, doch unbemerkt von ihr.
So hat der Arme längst für sie geschmachtet,
Die ihn nicht sieht, nicht kennt, vielleicht verachtet.“

Gerade diese Liebe Tassos zu Leonore ist es, um die sich ein ganzer Mythenkreis gebildet hat, Einige glauben sie zwar in das Reich der Fabel verweisen zu müssen und wollen alle seine Aeußerungen überschwenglicher Liebe zu bloßen dichterischen Komplimenten stempeln, wie sie Tasso auch andern Damen des Hofes, z. B. der geistvollen Lucrezia Bendidio und der schönen Leonore Sanvitale, in gleichem Maße dargebracht habe; allein wenn man seine an die Herrin gerichteten Sonette mit Aufmerksamkeit durchliest, so wird man unschwer herausfühlen, daß durch die Ehrfurcht und die durch äußere Rücksichten gebotene Zurückhaltung an vielen Stellen ein Ton echter Leidenschaft unverkennbar hindurchklingt. Daß Tasso einmal in überwallender Leidenschaft der Prinzessin an die Brust gesunken, dabei verraten und dieserhalb aus seinem Paradiese verjagt worden sei, ist zwar bei seinem Temperament nicht ohne weiteres unter die Unmöglichkeiten zu verweisen, indessen durch urkundliche Beweise kann diese Episode nicht gestützt werden. Auch daß diese unerlaubte Liebe zu der Schwester seines Fürsten diesen bewogen habe, Tasso in ein Irrenhaus zu stecken und ihn sieben Jahre lang darin schmachten zu lassen, ist geschichtlich nicht unanfechtbar zu beweisen und um so unwahrscheinlicher, als andere weit näher liegende Gründe einen Wechsel in der Gesinnung Alfonsos seinem Schützling gegenüber vollkommen erklärlich machen. Es ist ja allgemein bekannt, daß zwischen den Höfen der Medici und der Este seit alter Zeit eine tief eingewurzelte Eifersucht bestand, die mehr als einmal dazu verleitete, sich gegenseitig Berühmtheiten des Kunstlebens abspenstig zu machen. Nun war es keineswegs ein Geheimnis, und Tasso selbst hat kein Hehl daraus gemacht, daß er mit dem Herzog von Toskana in Unterhandlungen zum Zwecke seines Uebergangs in dessen Dienste gestanden habe. Alfonso aber war nicht die Persönlichkeit, unter seinen Augen Waffen gegen sich schmieden zu lassen; er ließ Tasso, als sich bei ihm zu alledem noch untrügliche Symptome einer Krankheit, die man füglich nur als Verfolgungswahnsinn bezeichnen kann, gesellten, in Haft nehmen und ihn in dem Hospital von Sant’ Anna jene sieben Jahre lang in Gewahrsam halten.

Der Dichter verließ die Haft, wie erwähnt, gebrochenen Geistes und auch die ferneren Jahre seines Lebens zeigen ihn in einer Zerrüttung, welche ihren Charakter von quälenden Wahnvorstellungen erhielt, wobei nur allmählich die hoffnungslose Ergebung in sein trauriges Schicksal und die Abmattung seines Geistes den Zustand milderten.

In San Onofrio in Rom, wo Tasso starb, hat er auch die letzte Ruhestätte gefunden. Pius IX. ließ vor kaum vierzig Jahren das Grab des unglücklichen Sängers der Gerusalemme liberata mit einem kostbaren Denkmal schmücken, das allerdings in seiner pomphaften Geschmacklosigkeit wenig zu dem Wesen des Toten paßt. Auch das römische Volk ehrt noch heute das Andenken des Dichters, denn an seinem Todestage pilgert Arm und Reich zur Klosterkapelle hinauf, um der Seelenmesse beizuwohnen, die fromme Mönche alljährlich für das Heil der Seele dieses unglücklichen Dichters lesen.




Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Neue Entdeckungen in der Luft.

Die Eroberung und Erforschung des Luftreiches bildet eine der wichtigsten Aufgaben der Neuzeit. Ueber die Fortschritte der Technik auf dem Gebiete der Luftschiffahrt haben wir unsern Lesern schon wiederholt berichtet; nun sind aber in der Erforschung der Atmosphäre neueste und sehr wichtige Errungenschaften der Wissenschaft zu verzeichnen. Sie sind erfolgt zum Teil im Ballon hoch über den erhabensten Bergen der Erde in dem Reiche der Federwolken, zum Teil unten auf der Erde in den chemischen Laboratorien der Forscher.

Es war am 4. Dezember vorigen Jahres um 10 Uhr 28 Minuten vormittags, als auf einem freien Terrain bei Leopoldshall-Staßfurt aus der Mitte einer großen Zuschauermenge der berühmte zu wissenschaftlichen Zwecken erbaute Ballon „Phönix“ sich zu einer neuen Hochfahrt erhob. In seiner Gondel befand sich, inmitten zahlreicher wissenschaftlicher Instrumente, als einziger Luftschiffer Dr. A. Berson aus Berlin. Um 3 Uhr 45 Minuten landete der „Phönix“ glücklich in der Nähe von Schönwohld bei Kiel und in dieser kurzen Zeit hatte er den kühnen Forscher bis zu einer Höhe von 9150 m emporgetragen. Das war also eine denkwürdige Hochfahrt; denn in so hohe Regionen haben sich bis dahin Menschen nur zweimal verstiegen. Im Jahre 1875 erreichten die Franzosen Tissandier, Sivel und Crocé-Spinelli eine Höhe von über 8000 m, wobei die beiden letzteren Luftschiffer den Erstickungstod fanden, und im Jahre 1862 soll der Engländer James Glaisher die Höhe von 11277 m erzielt haben; die Feststellung derselben ist jedoch nicht zuverlässig, da Glaisher bereits in 8500 m Höhe von Ohnmacht befallen wurde. Unser deutscher Luftschiffer Dr. Berson hat nun, dank dem mitgenommenen Sauerstoff, den er während der Hochfahrt einatmete, keinen Augenblick das Bewußtsein verloren und seine Angaben beruhen darum auf völlig sicheren und zuverlässigen Beobachtungen.

Als das wichtigste wissenschaftliche Ergebnis dieser Hochfahrt muß die Feststellung der Lufttemperatur in jenen hohen Schichten der Atmosphäre hervorgehoben werden. Tissandier hat in der Höhe von 7000 m nur eine Kälte von - 11° C., Glaisher in 8000 m eine solche von - 206° C. ermittelt. Diese Beobachtungen waren jedoch nicht genau, da die betreffenden Thermometer der Einwirkung der Sonnenstrahlen ausgesetzt waren und, von diesen erwärmt, die wirkliche Temperatur der Luft nicht angeben konnten. Die deutschen Forscher benutzen darum gegenwärtig bei ihren Fahrten neue von Professor Aßmann in Berlin konstruierte Aspirationsthermometer, Apparate, in welchen die Kugel des Thermometers vor Sonnenstrahlen völlig geschützt ist, während fortwährend von einem Mechanismus Luft angesaugt wird, welche die Thermometerkugel umspült und ihr die wirkliche Lufttemperatur mitteilt. Mit Hilfe dieses Instrumentes ermittelte nun der „Phönix“ in einer Höhe von 8000 m eine Kälte von - 385° und in 9150 m eine solche von – 48° C., während das Strahlungsthermometer in voller Sonne in letzterem Falle - 238° C. zeigte.

Die Wahrnehmungen, die er in höchster Höhe gemacht hat, schildert Dr. A. Berson in einem Artikel „Eine Reise in das Reich der Cirren“ (vergl. „Das Wetter“, Jahrgang 1895, Heft 1) mit folgenden Worten: „Um 12 Uhr 24 Minuten habe ich die Höhe von 8000 m überschritten, unsere größte Höhe auf der früheren Fahrt vom 11. Mai 1894. Ich prüfe meinen Zustand und finde, daß ich ruhig höher gehen kann, was mir mein Ballastvorrat auch gestattet. Allerdings atme ich dauernd Sauerstoff, wobei ich dann nur ein leichtes Gefühl von Schwindel im Kopfe wahrnehme, von mäßig starkem Herzklopfen begleitet, und sonst durchaus imstande bin, zu beobachten, zu überlegen, zu schreiben. Sobald ich jedoch nur auf wenige Sekunden, durch Arbeiten im Korbe dazu verführt, oder absichtlich zum Zwecke physiologischer Feststellung, das Mundstück des Schlauches fallen lasse, überfällt mich ganz gewaltiges Herzklopfen, dann fange ich beinahe an zu taumeln und greife rasch wieder nach dem lebenspendenden Gasschlauche. Einmal überrasche ich mich selber dabei, wie mir trotz allem die Augen leicht zufallen; ich rüttle mich mit lauten Scheltworten auf, denn ich fühle, daß hier viel auf dem Spiele steht.

Indessen ist der Ballon den verwaschenen Cirruswolken nahe gekommen, die seit früh sich hoch am Himmel gezeigt hatten, um dann allerdings stark abzunehmen; nun taucht er in dieselben ein … Sie bestehen zu meiner Ueberraschung, ich bin jetzt in 8700 m angelangt (das Quecksilberbarometer zeigt 245 mm, das Thermometer – 437°), nicht aus Eisnadeln, sondern aus wohlgebildeten kleinen Schneeflocken, die ziemlich dicht um mich herumwirbeln. Der Ballon sieht in der Wolke weißlich aus; doch schon taucht er wieder hervor, nachdem ich den letzten Sack, den ich opfern durfte, abgeschnitten. Bei über 9000 m habe ich die Wolke überwunden, rein und kalt wölbt sich der Himmel über mir; doch zeigt er nicht das tief dunkle, oft schon in 3000 bis 4000 m Höhe bewunderte Blau, sondern eine hellere blasse Färbung – in noch größeren Höhen über mir schwimmen offenbar feine, dem Auge nicht wahrnehmbare Dunstmassen. Ich fühle mich jetzt viel wohler und freier als bisher, aber ich habe nur noch sechs Sack Ballast. Um 12 Uhr 49 Minuten, also 21/3 Stunden nachdem ich die Erde verlassen, zeigt das Barometer [251] 231 mm Luftdruck, das Thermometer – 479°; selbst das Strahlungsthermometer in voller Sonne nur – 238°. Der Ballon hält jetzt wieder einmal inne; ich darf keinen Ballast mehr opfern, wie gerne ich auch höher möchte, und obgleich ich mich so wohl befinde, daß ich rasch eine Höhenberechnung vornehme, die mir meine Erhebung als auf roh 9600 m, reduziert 9150 m wahre Höhe angiebt … der Aufstieg hat sein Ende gefunden.“

* * *

Die zweite Entdeckung, die wir kurz besprechen möchten, wurde in chemischen Laboratorien gemacht und war, als sie im August vorigen Jahres in kurzen Mitteilungen bekannt gegeben wurde, so überraschend, daß die meisten Forscher ihr keinen Glauben schenken wollten und meinten, die Entdecker müßten sich getäuscht haben. Diese Entdeckung betraf die Zusammensetzung der Luft, eine Frage, über die nicht nur Chemiker von Fach, sondern alle Leute mit guter Volksschulbildung genügend unterrichtet zu sein vermeinten.

In alten Zeiten glaubte man, die Luft sei ein Urstoff, hielt sie für eins der vier Elemente. Erst vor 120 Jahren wurde diese Lehre durch eine bessere ersetzt, denn im Jahre 1771 entdeckten Priestley und Scheele den Sauerstoff und man erkannte nunmehr, daß die Luft ein Gemenge zweier Gase, des Sauerstoffs und des Stickstoffs, bilde, und rechnete heraus, daß in hundert Raumteilen Luft 21 auf den Sauerstoff und 79 auf den Stickstoff entfallen. Später fand man noch, daß auch in der reinsten Luft im Freien stets etwas Kohlensäure enthalten sei, und wies nach, daß die Mengen derselben etwa 4/100 bis 7/100 Prozent der Luft ausmachen. Mit feinsten Untersuchungsmethoden wies man endlich in der Luft noch geringe Mengen von Ozon, verändertem Sauerstoff, Spuren von Ammoniak und Salpetersäure nach, schließlich lernte man die in der Luft schwebende Menge des Wasserdampfes, sowie die Zahl der feinsten in ihr schwebenden Staubteilchen bestimmen. Kurz und gut, die Luft galt als ein Stoff, der chemisch aufs genaueste erforscht war.

Nicht gering war darum die Ueberraschung, als im vorigen Jahre die englischen Chemiker Lord Rayleigh und Professor Ramsay mit der Behauptung auftraten, daß in der Luft außer den bereits genannten Gasen noch ein anderes bisher gänzlich unbekannt gebliebenes vorhanden sei und daß dieses Gas in zwar noch nicht genau ermittelten, aber keineswegs geringen Mengen in der Atmosphäre vorkomme.

Zu dieser Entdeckung gelangten die genannten Forscher auf folgendem Wege. Lord Rayleigh beschäftigte sich mit der genauen Bestimmung der Dichtigkeit verschiedener Gase. Als er mit dem Stickstoff arbeitete, fand er, daß der Stickstoff, den er auf chemischem Wege aus stickstoffhaltigen Verbindungen im Laboratorium erzeugte, sich stets weniger dicht zeigte als der in der Atmosphäre verbreitete. Dies veranlaßte nun die genannten Forscher zur genaueren Untersuchung der Luft. Aus einer bestimmten abgeschlossenen Menge Luft wurden zunächst die Kohlensäure und der Sauerstoff entfernt, so daß der Rest, der zurückblieb, nach der damals feststehenden Meinung aus reinem Stickstoff bestand. Nun haben Magnesiumspäne, bis zur Rotglühhitze erwärmt, die Fähigkeit, Stickstoff zu absorbieren, es wurde darum der atmosphärische Stickstoff über solche Späne geleitet, aber siehe da, es gelang niemals, die ganze Gasmenge zur Absorption zu bringen, stets blieb als Rest ein schweres Gas zurück. Die Untersuchung desselben ergab, daß man einen bis dahin völlig unbekannten Körper vor sich habe. Die merkwürdigste seiner Eigenschaften ist aber die, daß es bis jetzt nicht gelungen ist, ihn dazu zu bringen, daß er mit irgend einem anderen Körper eine chemische Verbindung eingehe; er ist nach den bisherigen Erfahrungen im chemischen Sinne ein völlig träger, energieloser Körper und erhielt darum den Namen Argon. Professor C. Olszewski in Krakau hat das Argon durch Druck und Kälte in festen Zustand übergeführt und dabei weiße Krystalle erhalten Professor Crookes in London untersuchte es spektroskopisch und kam zu dem Ergebnis, daß das Argon ein neues Element sei oder auch möglicherweise eine Verbindung zweier bis jetzt unbekannter Elemente darstelle. Ueber das Gesamtergebnis ihrer Forschung statteten die Gelehrten in der Sitzung der Royal Society zu London vom 31. Januar d. J. einen ausführlichen Bericht ab und die beigebrachten Beweise sind für das Vorhandensein eines weiteren Luftbestandteiles, der bis jetzt nicht bekannt war, sehr überzeugend.

Merkwürdig wäre es, wenn so große Mengen des „Argons“ bis auf unsere Zeit der scharfen Beobachtung der Chemiker sich hätten entziehen können. Mit Spannung aber darf man den durchaus nötigen weiteren Versuchen entgegensehen; denn es ist kaum zu denken, daß dieses so weit verbreitete Gas in dem Haushalt der Natur gar keine Bedeutung haben sollte. Hat das Argon Einfluß auf lebende Wesen, auf uns Menschen, die wir die Luft so unumgänglich als vornehmste Lebensnahrung brauchen? Welche Beziehungen besitzt es zu der atmosphärischen Elektricität, zu Licht und Wärme der Sonnenstrahlen? Das sind neue höchst interessante Fragen, deren Lösung in der nächsten Zeit den Scharfsinn der Forscher herausfordern wird. M. Hagenau.     


Echt.

Erzählung von R. Artaria.

     (Schluß.)

Toni begann dem aufhorchenden Lorenz vom Anfang an die Geschichte der letzten Tage zu erzählen und schonte sich nicht. Es war ihr ganz wohl, endlich einmal gegen einen Menschen frei heraus reden zu können, und sie that es mit der ihr eigenen Unumwundenheit; sie erzählte alles, oder doch beinahe alles: Peredas gewissenloses Spiel, ihre eigene thörichte Leichtgläubigkeit und wie sie eben keinen andern Wunsch und Gedanken gehabt habe als ihn, der ihr dafür so schlecht lohnen sollte. Nur eines – das Bekenntnis von dem Kuß in der Grotte – das wollte doch nicht über ihre Lippen. Sie hätte es nicht fertig bringen können, das zu sagen. Und schließlich: alles brauchte der Lorenz auch nicht zu wissen!

Dies war richtig: das Vernommene genügte vollständig, um einen schweren Zorn in seinem ehrlichen Herzen emporsteigen zu lassen.

„Auf dem Fleck erschlagen sollt’ man so einen niederträchtigen Kerl,“ sagte er, als Toni erschöpft und mit ein paar Thränenspuren auf den Wangen endlich schwieg. Er reichte ihr jetzt die Hand hin. „Trösten Sie sich, Tonerl, der ist’s nicht wert, daß Sie um ihn weinen. Und jetzt wollen wir die ganze Geschichte sein lassen und nimmer davon reden.“

„Sind Sie mir jetzt noch bös, wo Sie hören, daß mir viel ärger weh geschehen ist als Ihnen?“ fragte sie mit einem jeden Widerspruch ausschließenden Ueberzeugungston.

„Na,“ antwortete er, „über den Punkt wäre wohl noch zu reden. Aber einerlei, ich sehe jetzt, daß Sie’s doch nicht so schlimm gemeint haben –“

„Also?! …“

„Ja, also!“ Sein altes gutmütiges Lächeln erschien zum erstenmal an diesem Tage. „Es ist schon wieder recht, Tonerl!“

„Sind wir jetzt wieder ganz gut Freund, wie früher? Ohne Nachtragen und hinterher fremd thun?“ Sie streckte ihm die Hand hin.

„Ohne Nachtragen!“ bekräftigte er einschlagend. „Ich mein’, soweit dürften Sie mich kennen, Toni!“

„Ja, Sie sind gut,“ sagte sie aufrichtig. „Und daß ich auch nicht so schlimm bin, als Sie mir’s manchmal zutrauen, das werden Sie künftig schon merken. Und wenn Sie heiraten, Lorenz, dann mach’ ich die erste Kranzeljungfer und werde die beste Freundin von Ihrer Frau!“

„Damit hat’s noch gute Wege,“ sagte er lachend. Aber innerlich dachte er: „Sie ist doch ein ehrliches Mädel, und wie ihr das steht, wenn sie einmal so ernsthaft vom Herzen herunter redet! Rein nicht zum Wiedererkennen!“

Und sie dachte sich. „Der ist ‚echt‘, mit seinem guten treuen Gemüt. Sonderbar, daß man das nicht früher einsieht und so einen für nichts achtet. Er versteht halt nicht, etwas aus sich zu machen. Na, ich werde ihn künftig gewiß nicht mehr schlecht behandeln …“

„Prien,“ ertönte jetzt draußen der Ruf des Schaffners und der Zug hielt vor dem Stationsgebäude.

„Wünschen Sie vielleicht jetzt das Coupé zu wechseln, Fräulein Burghofer?“ fragle Lorenz mit ernsthafter Verneigung.

„Wenn es Ihnen einerlei ist, Herr Käsmeyer, bleibe ich lieber hier,“ versetzte sie ebenso, um gleich darauf lachend fortzufahren. „Das hätt’ ich mir freilich nicht gedacht, wie ich vorhin den Mordsschrecken bekam, daß g’rad wir allein in einem Coupé fahren müssen. Und jetzt bin ich so froh darüber, ich kann’s gar nicht sagen! Und gelt, Lorenz, der Papa erfährt nichts von allem, was in München gewesen ist!“

„Ja – von meinem Brief weiß er aber schon!“ erwiderte Lorenz bedenklich.

Toni dachte einen Augenblick nach. „Nun, ein bisserl muß ich dann schon beichten! Aber Sie besuchen uns wieder wie früher, gelt?“

„Ich werde es nicht mehr lange können.“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich in acht Tagen eine große Reise antrete. Ich will mir London und Paris ansehen und dann bei meinem Onkel in Triest einmal das große Geschäft kennenlernen. Es wäre auch in Salzburg allerhand zu machen für einen, der richtige Verbindungen hätte. Vielleicht bleibe ich ein ganzes Jahr aus; der Vater kann mich ja leicht entbehren und ich möchte einmal aus den kleinen Verhältnissen hinauskommen und dann später in Salzburg ganz anders anfangen.“

Fabelhaft, was dieser Lorenz heute für Reden führte! Toni sah ihn ganz erstaunt an ob solcher unerhörten Selbständigkeitsgelüste. Er machte wirklich einen viel männlicheren Eindruck als [252] früher und sah gar nicht übel aus in seinem neuen Münchener Anzug mit der dunkelblauen Krawatte, wenn er auch freilich zum Elegant noch weit hin hatte! Ach – da gab’s schon wieder einen Stich ins Herz! …

„Sie haben’s gut, daß Sie so in die Welt hinaus können,“ sagte sie nachdenklich. „Die Männer sind halt immer besser dran als unsereins.“

Von da ab wandte sich das Gespräch ganz unbefangen andern Dingen zu, sogar dem Münchener Fest, dessen Einzelheiten – mit alleiniger Ausnahme des Phantasiewagens! – nun ohne Bitterkeit besprochen werden konnten. So flogen die nächsten zwei Stunden hin, und ehe man sich’s versah, rollte der Zug über die Salzachbrücke und in den Bahnhof ein.

Von Ferne schon sah Toni den Papa, mit Taschentuch und Regenschirm winkend, auf dem Perron stehen, sie fiel ihm buchstäblich aus der geöffneten Coupéthüre herunter um den Hals und küßte ihn zärtlich auf beide Wangen.

Der kleine Herr warf einen ausdrucksvollen, fragenden und hoffenden Blick über sie hinweg auf den jetzt gleichfalls heraussteigenden Lorenz, der die Gepäckstücke aus dem Coupé herunter beförderte, aber nur ein unmerkliches Achselzucken zur Antwort gab; dann verabschiedete er sich mit ein paar kurzen Worten und ging den Droschken zu.

Die beiden folgten zu Fuß, den Träger hinter sich, aber kaum waren sie auf der Straße, so fragte der Papa, nach der Richtung weisend, die Lorenz genommen hatte:

„Nun? … Was ist’s mit dem?! …“

„Wir haben uns unterwegs ausgesprochen, Papa. Ich erzähle Dir alles nachher. Geheiratet wird nicht, aber gute Freunde bleiben wir doch!“




Beinahe fünf Jahre waren über die Welt hingezogen, seit Toni Burghofer von dem Münchener Künstlerfest nach Salzburg zurückkehrte. In unveränderter Schöne ruhte diese heitere Stadt inmitten ihres Bergkranzes und der Fülle von Grün, das sich ringsumher von den Wäldern abwärts als blumenreiche Matte zu Thale zieht. Drüben, wo das Schloß Aigen auf geringer Höhe über dem weiten Rundbilde thront, wiegen mächtige Buchen ihre Wipfel im tiefen Blau des Sommerhimmels und legen einen breiten Schattenrand über die ansteigenden Wiesenhalden. Ueberall rauscht es unter den Bäumen der Bergfalten von kleinen Wasserstürzen, und am heißesten Nachmittag, wenn drinnen am Residenzplatz die Pflastersteine glühen, ist hier köstliche Waldfrische und leis bewegte Luft zu finden. Deshalb wird der Aigener Aufenthalt vorzugsweise von Einheimischen aufgesucht, die hierher nach des Tages Last und Hitze herausfahren, um den Abend mit ihrer Familie im Genuß der freien Natur zu verleben. Große und kleine Landhäuser umgeben den herrlichen Schloßpark, meist wenden sie ihre Aussichtsterrassen dem Untersberg zu, dessen steile Wände hinter der thalbeherrschenden Feste Hohen-Salzburg majestätisch emporsteigen.

Auf solchen von wildem Wein umzogenen Veranden sitzt es sich herrlich im Schatten, wenn an einem wolkenlosen Augustnachmittag die warme Sonnenluft über die Gartenwipfel streicht und die fernen Bergwände silberhell mit blauen Schatten über das gesättigte Grün hereinschauen. Wer dieses selige Ausruhen nur ein paar Wochen lang genießen kann, nimmt eine unverlöschbare Erinnerung daran mit heim; wem es aber so gut wird, ein Landhaus mit solchem Ausblick sein eigen zu nennen, der pflegt genau zu wissen, welche ungeheure Gunst ihm das Geschick hiermit erwiesen hat.

In diesem angenehmen Fall schien sich eine kleine Gesellschaft zu befinden, deren Schattenbalkon jedenfalls zu den schönstgelegenen des Aigener Berghanges gehörte, obwohl das Haus selbst keine prächtige Villa war, sondern sich in bürgerlicher Behaglichkeit mit seinen weißen Wänden und grünen Holzläden inmitten eines großen Blumengartens erhob. Jeder Windhauch trug die warmen Heliotrop- und Resedadüfte in leichten Wellen durch die drei großen Bogenöffnungen der Altane herein, deren dichter Kranz von wilden Weinranken die weite Rundsicht als einzelne Bilder mit seinem Rahmen einfaßte.

Ein zierlich gedeckter Kaffeetisch mit bunter Decke trug die funkelnde „Wiener Maschine“, und ihr entströmte jenes starke Arom, das man auch jenseits der schwarzgelben Grenzpfähle zu schätzen weiß. Mit dieser Empfindung saß denn auch eine Dame, die von dorther stammte, als Gast vor der Mitte des bis hart zur Brüstung vorgerückten Tisches und betrachtete voll Wohlgefallen die flink und gewandt mit den Tassen hantierende junge Hausfrau im hellen Sommerkleid und gestickten Schürzchen. Die letztere hat eine ganz unverkennbare Aehnlichkeit mit unserer Freundin Toni Burghofer: dieselbe muntere Beweglichkeit in Blick und Wort, wie sie ihr vor jenen verhängnisvollen Tagen der Niedergeschlagenheit in München eigen war, derselbe glänzende Blick unter den braunen Kraushaaren hervor. Eine gewisse frauliche Fülle der Gestalt und der frischresolute Gesichtsausdruck deuten darauf hin, daß sich Frau Toni nicht nach der Phantasieseite hin weiter entwickelt hat. Sie überläßt das Träumen und Dichten andern Leuten und bewegt sich indessen vollbefriedigt in ihrer kleinen wirklichen Welt, die, seitdem der dicke Stammhalter seinen Platz daran ergriffen hat und voll Energie behauptet, alle ihre Gedanken und Kräfte vollauf in Anspruch nimmt.

Und der gegenüber sitzende Gatte, aus dessen behaglichem Gesicht eine vollkommene Zufriedenheit mit der Welt und sich selbst hervorschaut, er scheint solche Thätigkeit ihr nicht einmal auf den Knieen zu danken! Der schüchterne Lorenz Käsmeyer hat sich in einen völlig normalen Eheherrn verwandelt, der die an ihn gewandte Sorge und Mühe nur ganz natürlich findet und seine Zufriedenheit mehr schweigend als redend kund giebt. Der Aufenthalt in der Fremde hat ihm etwas größere Weltläufigkeit verliehen: seine Anzüge sind jetzt von einem guten Schneider ganz aus einem Stoff gearbeitet, und er trägt keine buntgestreiften Krawatten mehr. Aber – es giebt Elegantere in Salzburg, darüber kann kein Zweifel bestehen! … Das „gewisse Etwas“, einstens Tonis höchstes Ideal, ist ihm nicht verliehen, sie muß sich trösten mit dem Eindruck von gesunder Tüchtigkeit und ruhiger Thatkraft, den der jetzige Inhaber einer der solidesten Salzburger Handelsfirmen auf jeden Unbefangenen macht. Und, nach ihrem vergnügten Gesicht zu urteilen, wird ihr dies nicht einmal schwer.

Zwischen ihnen sitzt, etwas grauer und spitzer geworden, aber im übrigen in gewohnter Rüstigkeit und Untermehmungslust, die Verfasserin der bemerkenswerten „Streifzüge durchs Salzkammergut“, Fräulein Sophie Panke. Die damals in München mit Lorenz angeknüpfte Bekanntschaft war von der praktischen Reisenden nicht vergessen worden: zwei Jahre nach ihren gemeinsam erlebten Abenteuern stand sie eines schönen Tages in seinem Comptoir in Salzburg, voll Wünschen nach Auskunft und Beistand in den verschiedensten Angelegenheiten. Er hatte ihr alles besorgt und geordnet, sie auch noch des Abends zur Musik in den Mirabellgarten begleitet und sich dadurch ihren lebhaften Dank erworben. Aber es gelang ihr trotz aller freundschaftlichen Teilnahme nicht, nochmals einen Blick in sein früher so offen daliegendes Innere zu thun; er blieb einsilbig, sobald ihre Fragen ein gewisses Thema streiften, und alles, was sie erfuhr, war nur, daß Fräulein Toni schon beinahe ein Jahr von Salzburg weg sei. Es schien, er wollte weder an den Morgen nach dem Ball erinnert werden, wo sich seine ganze Bitterkeit in einem heftigen Ausbruch gegen Toni Luft gemacht hatte, noch an ihre Person überhaupt. Somit schwieg Fräulein Panke. Sie hatte sich ja auch damals, alles in allem, mehr über die „kleine Kröte“ geärgert als gefreut, und ihr flatteriges Persönchen schien ihr für einen so braven, grundehrlichen und – offenbar sehr vermöglichen Menschen wie diesen da noch lange nicht gut genug.

Den Frühling darauf – die Verlobungskarten! Toni Burghofer, Lorenz Käsmeyer schwarz auf weiß und nichts weiter! Der etwas kühl gehaltene Gratulationsbrief wurde nicht beantwortet, und Fräulein Panke kam zwei Sommer lang nicht nach Salzburg, weil sie ihre „Streifzüge“ nach dem Ortlergebiet und Grödnerthal richtete und dort Material für lange Artikelreihen fand. Nun aber, wo es sich für die nach immer höheren Zielen ausschauende Touristin um nichts Geringeres handelte als um eine Glocknerfahrt mit nachfolgendem Feuilleton „Ueber den Wolken!“ – nun hatte sie auf der Durchreise wieder im Comptoir vorgesprochen und man hatte sie hier heraus gewiesen.

Der herzliche Empfang von Tonis Seite übertraf ihre Erwartungen, sie mußte gleich zum Mittagessen bleiben und erfragte während desselben alles, was ihr zu wissen not that, denn Lorenz kannte als eifriges Alpenvereinsmitglied die ganze Tour aus eigener Erfahrung. Ihre Hoffnung auf „Adlersruhe“ schlug er zwar durch die Schilderungen der dahin führenden Schaueranstiege

[253]

Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München.

Das Bild der Großmutter.
Nach einem Gemälde von Hugo Oehmichen.

[254] über stundenlange Gletscher gründlich nieder, aber was er von der leichter erreichbaren „Stüdlhütte“ mitteilte, erweckte ihr die bestimmte Aussicht auf so viel Lokalkolorit, um obengedachtes Feuilleton auch ohne persönliche Anwesenheit auf „Adlersruhe“ mit Ehren in die Welt senden zu können.

Infolgedessen war die Stimmung der verdienstvollen Schriftstellerin eine sehr rosige geworden, und als man nun nach vollendetem sehr guten Mittagessen sich hier auf dem Altane zum Kaffee zusammensetzte, da fühlte sie sich geneigt, die Thatsache, daß diese „schlaue kleine Person“ den „guten armen Lorenz“ schließlich doch noch eingethan hatte, in einem milderen Lichte zu betrachten. Offenbar waren die zwei Leute ganz glücklich miteinander, aber diese Beobachtung genügte ihr doch noch nicht, sie mußte jetzt wissen, auf welche Weise diese früher beiderseits gegen sie so hoch verschworene Verbindung zustande gekommen war.

„Und nun erzählen Sie mir,“ begann sie, nachdem Lorenz ihren Stuhl auf den besten Aussichtsplatz gerückt und Toni sie mit Kaffee versorgt hatte, „aber ganz aufrichtig und ausführlich, wie denn das alles mit Ihnen beiden gekommen ist!“

„Was ist da viel zu erzählen?“ antwortete ihr der junge Ehemann mit einem vergnügten Blick auf seine Frau. „Sie wissen doch, daß ich damals von Salzburg weg bin, um einmal die ganze Geschichte aus den Gedanken zu kriegen. Aber das Reisen hat mir nicht geholfen und das Tonerl hab’ ich nicht vergessen können über den Mädels draußen. Hab’ mir aber immer wieder gesagt: nein, du fangst nicht noch einmal davon an, wenn du heimkommst, sie läßt dich doch nur wieder abfallen und lacht dich hinterher aus. Aber bis ich nach einem Jahr heimgekommen bin, da hat sie überhaupt nicht mehr gelacht, da ist zuerst nach schwerem Leiden ihre Mutter gestorben und ein halb Jahr darauf der Vater auch.“

„O! das wußte ich ja gar nicht!“ sagte Fräulein Panke bedauernd, indem sie die Hand nach Toni ausstreckte.

„Ja,“ erwiderte diese, „das war wohl schwere Zeit. Und sehen Sie, Fräulein, damals hab’ ich meinen Lorenz erst kennen gelernt, so lang’ vorher ich ihn auch schon gekannt habe. Na, ich will ihn jetzt nicht lang’ ins Gesicht loben, aber wie ich über die Zeiten, die letzten meine ich vom Vaterl, hätt’ ohne ihn hinauskommen sollen, das weiß ich heute noch nicht.“

„Aber Ihre Schwester und Ihr Schwager waren doch auch da!“

„Zu den Begräbnissen sind sie gekommen, ja. – Wie dann, nach ein paar Wochen, alles auseinandergethan und versteigert war, da mußte ich natürlich zu ihnen nach München, denn eine andere Heimat hab’ ich ja nicht mehr gehabt. Aber gerade dort – wenn auch viel inzwischen anders geworden war – dort hab’ ich immer mehr eingesehen, daß ich in das Leben nicht hineinpasse. Man meint so was manchmal, und da ist es ein Glück, wenn man beizeiten innewird, daß es nichts ist damit. Die wirklich Vornehmen und Eleganten – du liebe Zeit, da kann unsereins nicht hin, und die vielen anderen Künstler wirtschaften mit Not und Sorgen, und nicht dergleichen thun – das hielt’ ich nicht aus, dafür wär’ ich zu spießbürgerlich. Es war mir auch damals gar nicht d’rum, solche Gedanken zu haben. Ein recht trübseliger Winter war’s deshalb; die Resi hat bald die Trauerkleider abgelegt und ist wieder auf die Bälle gegangen, aber ich hätt’ das nicht gekonnt. So war ich meistens abends in der Kinderstube, wenn sie miteinander aus sind, und die Zeit ist mir lang geworden bis zum Frühjahr. Aber dann, wie die Bäum’ einmal ausgeschlagen haben, da hat’s mich nicht mehr in München gelitten, ich hab’ ein solches Heimweh nach die Berg’ gehabt –“

„Und wohl auch nach dem Herrn hier?“

„Kann sein – gewußt hab’ ich’s nicht. Aber wie ich zu seinen Eltern, die mich eingeladen haben, auf Besuch gekommen bin –“

„Da hat sich alles von selber verstanden,“ fügte Lorenz bei. „Punktum!“

„Ja,“ lachte seine kleine Frau, „wir sind unserem Vorsatz treu geblieben. Damals, als wir uns im Zug beim Heimfahren miteinander ausgesprochen und als gute Freunde versöhnt haben, da haben wir ausgemacht, daß wir nie mehr vom Heiraten reden wollten. Und dabei ist’s wortwörtlich geblieben: geredet haben wir so gut wie nichts, gelt, Lorenz?“

Sie sah ihn mit lachenden Augen an.

„Nur geheiratet,“ bekräftigte er lakonisch. „Das hat gerade gereicht.“

„Obwohl er kein ‚Abgrund‘ ist, Frau Toni?“

„Meinen Sie?“ erwiderte diese, „da irren Sie sich aber! Der ist wohl ein Abgrund, den sollten Sie einmal kennenlernen, wenn’s blitzt und donnert, da macht man gern, daß man beiseite kommt. Und was die übrigen Abgrundseigenschaften betrifft – da ist es mir schon lieber, daß er sie nicht hat, die gefallen mir heute lange nicht mehr so gut wie ehemals.“ …

Jetzt erschien nach seinem Mittagsschlaf der kleine dicke Prachtbubi auf dem Arm seiner Kindsmagd und Fräulein Panke mußte notgedrungen bewundern und alle die erstaunlichen Kunden anhören, womit glückliche Eltern auch die abgesagtesten Kinderfeinde so freigebig überschütten. Zu diesen gehörte sie wohl gerade nicht, aber es war ihr doch eine gewisse Erleichterung, als Toni, über die Brüstung blickend, rief: „Da kommen Volkhards“ und, den Kleinen seiner Wärterin zurückgebend, sich beeilte, noch ein paar Tassen zu holen.

Unmittelbar darauf erschien in dem Thürrahmen Volkhards breite Gestalt, neben ihm die immer noch sehr schöne Frau Resi. Sie wohnten mit ihren Kindern in einer benachbarten Villa und kamen oft am späteren Nachmittag zu einem Tarock hier herüber. Volkhards geübtes Auge umfaßte mit einem Blick die heutige Situation und ein bedauerndes Pfeifen durch die Zähne ging seiner Begrüßung voraus, die gerade keinen sehr angelegentlichen Charakter trug.

Aber Toni, die aus den vorhergehenden alpinen Gesprächen ersehen hatte, wie hoch Fräulein Panke das herrliche Auskunftsmittel für eingeschneite Tage in den Bergwirtshäusern, das edle Tarockspiel, zu schätzen wußte, sie stellte mit den Worten: „Das Fräulein spielt mit!“ des Schwagers gute Laune wieder her und holte nach den ersten Begrüßungen gleich die Karten herbei. Dann rückte sie sich einen Schaukelstuhl an die Altanbrüstung und streckte sich behaglich ausruhend darin aus, während drüben am Tisch diese so verschiedenen Lebenskreisen angehörigen Vier sich alsbald mit Eifer und Gründlichkeit in ihr Spiel vertieften.

Das Gespräch durfte nur in den Gebepausen geführt werden. Fräulein Panke benutzte sie, um aus Volkhard dies und jenes von künstlerischen Dingen herauszufragen, das ihr später von großem Nutzen sein konnte. Er ließ es an freimütigen Aeußerungen über Freunde und Gegner auch durchaus nicht fehlen. O, hätte Sophie Panke statt des Eichelober und Schellendaus eine Notiztafel und einen Griffel in Händen halten dürfen! Wie viel von den kostbaren Urteilen ging da verloren, bis sie endlich in stiller Nachtstunde zum Aufschreiben kam!

„Was mag denn,“ fragte sie, nach Beendigung des ersten Spieles, „an der Notiz sein, die kürzlich durch die Blätter lief: der Maler Pereda habe in Paris im Duell wegen einer skandalösen Liebesgeschichte seinen Gegner schwer verwundet und deshalb schnell die Stadt verlassen müssen?“

„Ich weiß nichts Näheres,“ erwiderte Volkhard. „Wird aber schon so sein. Dem sein Unglück sind die Weiber. Schade! ’s ist ein verteufelt geschickter und auch sonst ein braver Kerl.“

„Was halt die Männer so heißen,“ sagte Frau Resi mit einem verächtlichen Achselzucken. „Unsereins möcht’ sich für so einen bedanken.“ Sie warf einen Blick nach der Schwester hinüber, welche mit großer Gemütsruhe Stich um Stich an einem Kinderjäckchen machte.

„Er möchte sich auch für Euereins bedanken!“ lachte Volkhard. „Für den sind die guten, ordentlichen Frauen nicht gewachsen, der braucht eine andere Sorte. Wenn er nur nicht einmal an solchen Geschichten völlig zu Grunde geht! Er muß es jetzt, nach allem, was man hört, viel toller treiben als damals in München!“

„Uebrigens -,“ hier schlug er das Kartenspiel, das er bisher zwischen den Fingern bewegt hatte, auf den Tisch und erhob den mächtigen Körper in voller Länge – „übrigens ist’s doch eigentlich eine Sünd’, hier zu spielen, wenn draußen eine solche Beleuchtung losgeht!“ Er deutete hinaus auf die in tiefem Rosenrot glühenden Schrofen und die ganze friedevolle Landschaft zu ihre Füßen.

„Da schaut hin, wie das wieder einmal prachtvoll ist heute abend! Jetzt, wo wir wegen den dummen Schulen bald heim müssen, jetzt möchte ich am liebsten gar nicht fort. Wißt Ihr was – Ihr zwei? Ihr habt’s am besten von uns alle, das sage ich. Keine Sorgen und so ein Besitz! Ihr seid beneidenswerte Leute.“

Nun ging es ans Aufbrechen. Die beiden Töchter, blonde aufblühende Schönheiten, wie Toni der Schriftftellerin eifrig versicherte, waren umsonst erwartet worden. Nicht etwa, daß sie den Kuchen und Aprikosen der Tante nicht im Vorbeigehen gerne alle Ehre angethan hätten, aber – sie hatten hier viel vornehme Gesellschaft: junge gräfliche Institutsfreundinnen auf einem benachbarten [255] Schloß und einen Kreis sehr junger, aber eleganter Verehrer, da konnte man sich doch nicht an einem Sonntagnachmittag auf den Balkon der Villa Käsmeyer den Blicken der Vorüberfahrenden und -reitenden aussetzen. Das ging einfach nicht. Sie hatten dies der Mama mit aller Entschiedenheit erklärt, und diese, die es längst aufgegeben, ihre frühreifen damenhaften Backfischchen mit mütterlicher Autorität meistern zu wollen, sie konnte gegen eine solche Unmöglichkeit selbstverständlich nicht aufkommen. So ließ sie eben dieses wie manches andere mit einem stillen Seufzer gehen, vor allem stets einzig bestrebt, ihres Mannes oft sehr mißmutige Stimmung über die riesenhaft wachsenden Ausgaben durch den Hinweis auf die gewiß sicher eintreffenden glänzenden Versorgungen der beiden zu verscheuchen. Aber immer gelang ihr dies nicht. –

Als sie beide gegangen waren und später die zurückgebliebenen Drei das vortrefflich zubereitete und mit österreichischer Zierlichkeit angerichtete Abendessen auf der Veranda einnahmen, da sagte Fräulein Panke, über den mondbeschienenen Garten hinsehend: „Meine lieben Freunde, ich habe eine Idee. Sie geht mir schon den ganzen Nachmittag im Kopf herum, ich muß sie aussprechen! Herr Volkhard hat recht, Sie sind beneidenswert. Aber wäre es nicht eine schöne Aufgabe, dieses Ihr Glück auf andere auszudehnen, die es mitgenießen könnten, ohne Sie zu schädigen? … Dieses Haus hat soviel Raum, Frau Toni ist eine so vortreffliche Hausfrau, wie wäre es, wenn Sie hier – eine Pension für Ausgewählte und Empfohlene einrichteten, die Ihnen eine angenehme Gesellschaft sein könnten, während sie selbst den herrlichen Aufenthalt hier genössen? … Ich darf, ohne mir zu schmeicheln, sagen, daß ich etwas zu dem litterarischen Charakter dieser Gesellschaft beitragen könnte. Und richtig geleitet, sind solche Unternehmen wahre Goldgruben!“

Aber weder die eine noch die andere dieser Lockungen verfing bei Lorenz Käsmeyer. Er lachte aus vollem Hals. „Nein, liebes Fräulein, da ist kein Gedanke daran. Als Gast sind Sie hier im Haus stets willkommen, aber Pensionärin können Sie bei uns nicht werden!“

„Schade, sehr schade!“ sagte die Schriftstellerin und neigte trauernd ihr großes Haupt. „So läßt uns das Leben doch immer einen Punkt des Ungenügens, wie erfreulich und genußvoll auch der Tag im übrigen sein möge!

An diesen Satz dachte Toni, nachdem die kühne Alpenfahrerin des andern Morgens glocknerwärts abgezogen war, im stillen zurück und in der Folge noch oft genug, denn auch sie spürte den bewußten Punkt auf dem Grund ihrer Seele, trotz Liebe und Glück, trotz Haus und Bubi: den nie verwundenen Namen Käsmeyer!

Dem ahnungslosen Lorenz verheimlichte sie es streng; aber sie konnte sich nicht helfen, dieser Klang fiel ihr stets neu auf die Nerven. Es war ja nicht viel, aber es war etwas, ein kleiner Wolkenschatten im Sonnenschein ihres Glückes.

Doch auch dieser sollte sich ein Jahr später, nachdem dem Stammhalter ein rundes Schwesterlein gefolgt war, aufs glänzendste aufhellen. Als Pate stand neben Frau Resi zum großen Stolz des Ehepaares ein gelehrtes Alpenvereinsmitglied aus Wien, dessen Hochachtung und Freundschaft sich Lorenz bei gefährlichen Steigereien im Gebiet der Dolomiten erworben hatte. Jener nun, welcher Namenskunde als zweites Steckenpferd neben seinem medizinischen Berufe betrieb, erklärte Frau Toni gelegentlich die gänzliche Verwerflichkeit der Schreibweise „Käsmeyer“. Kein Maier ziehe seinen Namen von den Käsen, welche er, wie alle andern Maier auch, verfertige, sondern von dem Ort, da sein Hof stehe. Dies sei nun ganz unzweifelhaft bei dem Stammvater ihres Gatten der Platz unterhalb eines „Kees“ oder Gletschers gewesen, folglich müßten sich seine Nachkommen von Gott- und Rechtswegen für ewige Zeiten nicht Käsmeyer, sondern „Keesmaier“ schreiben.

Daß Toni diese Heilsbotschaft mit Jubel begrüßte und voll Feuereifer die neue Rechtschreibung in ihren Briefen begann, ist nur selbstverständlich. Schwieriger hält des konservativen Lorenz Bekehrung, doch Toni verzweifelt nicht daran: sie hat schon viel mit ihm hingebracht, sie wird auch dies noch hinbringen! Seine Ausflüchte und Bedenken über notwendige Eingaben wegen Namensänderung sind rein lächerlich: wozu hat man Papier, als um darauf zu schreiben? An wen man schreibt, ist auch ganz einerlei, wenn es eine gute Sache gilt! Und daß diese Sache gut ist – darüber kann er heute schon, nach den zahlreichen, lebhaften und eindringlichen Vorträgen seiner kleinen Frau, nicht mehr im Zweifel sein. Ihre Haupthoffnung setzt diese nebenbei auf den Zustand des alten Firmenschildes in der Getreidegasse. Es zählt seine guten sechzig Jahre und ist ganz schauderhaft verwittert, geradezu eine Schande für das Geschäft. Ein neues wird in Bälde nötig sein, und wie dessen Inschrift dann lauten wird – das dürften die Leser dieser wahrhaftigen Geschichte schon heute ziemlich genau im voraus wissen.


Allerlei Mißhandlungen des Ohres.

Von Dr. Rudolf Haug.


Nicht von großen Verletzungen, wie sie bei Unglücksfällen, bei dem ungeheuren Maschinenbetriebe der Neuzeit so häufig vorkommen, auch nicht von den „Schmissen“, die sich unsere studierende Jugend auf der Mensur holt, oder sonstwie entstandenen Schnitt-, Stich-, Hieb- oder Quetschwunden des Ohres wollen wir reden, sondern die tagtäglich vorkommenden, oft von der Mode bedingten Verunglimpfungen des Ohrs, die vielen Mißbräuche und kleinen Mißhandlungen, unter denen unser Ohr zu leiden hat, sie wollen wir in das Bereich unserer Betrachtungen ziehen. Und mit Erstaunen wird da mancher Leser erst innewerden, welche Unsumme solcher Verletzungen es giebt, die Tag für Tag vorkommen und deren Folgen oft recht traurig für den Betroffenen sind.

Es ist eigentümlich, daß gerade das Ohr – wir haben zunächst das äußere, die Ohrmuschel, im Auge – wie kaum ein anderes Organ unseres Körpers den Launen der menschlichen Leidenschaften ausgesetzt ist. Die Eitelkeit sucht es zu verschönern, im Zorne wird es geschlagen, gebissen und zerrissen, die Liebe küßt es und grausame Rachsucht willkürlicher Despoten hat es in früheren Jahrhunderten einfach abgeschnitten, so kennzeichnet Magnus dies Schicksal. Im Spiele der Kinder wird es oftmals zu einem höchst unzweckmäßigen Versteckplatz gewählt und die Erwachsenen fügen ihm, oft aus übergroßem Reinlichkeitsdrange, oft aber auch absichtlich aus purem Unbedacht, allerlei Schaden zu. Laster und Tugenden versündigen sich gleichmäßig am Ohre. Ein gut Teil Schuld daran trägt die exponierte Lage des Ohres, obschon es dieserhalb keineswegs gerade häufiger mißhandelt zu werden brauchte als unser edles Geruchsorgan, der Gesichtsvorsprung der Nase, und doch ist es so.

Wollen wir nun zuerst einmal die Folgen der Eitelkeit am Ohre betrachten. Da haben wir den uralten Brauch der Ohrringe und Ohrgehänge, die unser Interesse wachrufen. Uralt ist derselbe, finden wir doch schon im 1. Buch Mosis seiner Erwähnung gethan; gleicherweise war er verbreitet bei den Völkern des Ostens und des Westens und durch das Mittelalter zieht er sich in breiter Spur bis in unsere Zeit. Hanptsächlich sind es die Frauen, die diesem Brauche huldigen, doch sehen wir, so auch zum Beispiel im bayerischen Gebirge, nicht selten kleine Ohrringe bei den stämmigen Burschen und älteren Männern, ganz abgesehen von der Unzahl beohrringter Kinder, auf die wir noch besonders zu sprechen kommen. Bei manchen Völkern Afrikas und Amerikas werden gewichtige Scheiben und Klötze als Ohrgehänge getragen. Ueberall und zu allen Zeiten war das Ohr ein Sklave der Mode.

Was soll mit dem Ohrgehänge bezweckt werden? Es soll das Ohr schmücken, verschönern. Aber ein jedes normale Ohr ist von der Natur so ausgestattet, daß es durchaus keiner künstlichen Verschönerung bedarf; jedes normal gebaute Ohr ist im allgemeinen schön, so daß es durch solchen Anhang geradezu verunziert wird, ja ein natürlich schönes Ohr wird durch die oft ziemlich gewichtigen Gehänge mit der Zeit sehr unschön, da die zarte Rundung des Läppchens leidet. Es hängt dann als breiter dünnhäutiger Lappen herunter, und nicht gar selten kommt es vor, daß infolge der Schwere der Gehänge das Läppchen allmählich durchschnitten wird, so daß dann zwei hahnenkammähnliche Fetzen die Stelle des einst so anmutigen Ohrendes einnehmen. Bei kleinen Ohrringen ist das allerdings nicht so leicht zu befürchten.

Und ein häßliches, mißbildetes Ohr, wird es schöner dadurch, daß wir es mit funkelnden Steinen zu schmücken suchen? Hand aufs Herz! es bleibt trotzdem häßlich. Und das Auge der Andern wird durch den Schmnck gerade auf seine Häßlichkeit gelenkt. Es [256] bildet außerdem einen Gradmesser für das willkürliche oder unwillkürliche Protzentum des Trägers.

„Aber ich trage ja die Ohrringe gar nicht aus Eitelkeit,“ hört man sehr oft sagen, „sondern meiner Augen wegen.“ Es ist eine alte, besonders in den niederen Volksklassen verbreitete Anschauung, daß durch das „Stechen“ und Tragen von Ohrringen die Augenkrankheiten verhütet oder geheilt werden könnten, und sie läßt sich, wie so mancher Aberglaube, nicht ausrotten. Insbesondere sind es die Kinder, speziell die sogenannten „skrofulösen“, die Ohrringe haben müssen wegen der bei ihnen sich häufig einstellenden Augenaffektionen, auch das Zahnen der Kinder muß häufig „erleichtert“ werden durch das Stechen von Ohrringen. Heilige Einfalt! Diese Meinung hat auch nicht den Schein einer Berechtigung für sich. In keinem einzigen Falle hat sich bei rein objektiver wissenschaftlicher Betrachtung irgend welch günstiger Einfluß der Ohrringe auf Augenleiden nachweisen lassen.

Der Ausführung des Ohrringstechens aber haftet etwas Barbarisches an. Ganz abgesehen von den unnötigen Schmerzen, die dem Kinde oder dem sonst Betroffenen durch dieselbe erwachsen, ist sie keineswegs ungefährlich. Gewöhnlich sind es Bader, Heilgehilfen, Hebammen, die die Durchbohrung des Läppchens mittels einfacher Ahlen oder auch glühend gemachter Nadeln vornehmen; zur völligen Beruhigung des Operierten wird auch manchmal „eine goldene Nadel“ zum Durchstechen benutzt, hierauf werden dann entweder Seidenfäden durch das Loch gezogen und dort geknotet so lange liegen gelassen, bis das Loch nicht mehr zuwächst, oder es wird auch sofort das Ohrgehänge eingesetzt. In der Folge kommt es nun beinahe durchgehends zu einer starken Schwellung und Rötung des ganzen Teiles, verbunden mit starker Schmerzhaftigkeit. „Das ist notwendig,“ sagen die betreffenden „Operateure“, es ist aber nur eine ganz natürliche Folge der den Grundgedanken unserer heutigen chirurgischen Anschauung direkt hohnsprechenden Behandlungsweise! Die unreinen Hände, die unreinen Nadeln (selbst eine „goldene“ Nadel ist nicht rein, solange sie nicht durch entsprechende Vorbereitung keimfrei gemacht wird), der unreine Seidenfaden, das Ohrgehänge selbst (auch wenn es golden ist), sie alle bringen und pressen geradezu eine Unzahl von Infektionsstoffen in die frische unbedeckte Wunde hinein; sie und die direkten Veranlasser dieser Entzündung – eine reine, chirurgisch rein angelegte und behandelte derartige Wunde eitert nie, noch schwillt sie unter Schmerzen an. Nicht selten entwickelt sich aus der kleinen örtlichen Wunde ein Wundrotlauf, der den Patienten dem Rande des Grabes nahe bringen kann, ja es ist sogar wirklich eine Anzahl von Todesfällen bekannt geworden, die nur der unglücklichen Mode in die Schuhe zu schieben sind.

Ein blühendes Kind wegen eines solchen Unsinns eine Leiche! Aber auch weiterhin dauert oft die üble Einwirkung fort; die kleinen Wundkanäle werden immer wieder gereizt (durch die Gehänge selbst, die oft mit Schmutz, Grünspan überzogen sind, durch das Ziehen an denselben), und so kommt es zu nässendem Ausschlage, der sich auf das ganze Ohr, den ganzen Kopf weiter verbreiten kann und den armen Kleinen unendlich viel Pein verursacht. In jeder Zeit kann auch von diesen chronisch erkrankten Teilen ein Rotlauf, eine Gesichtsrose sich entwickeln. Die in der Nähe des Ohres gelegenen Drüsen können durch den immerwährenden Reiz geschwellt, vergrößert werden, zuweilen sogar in Eiterung übergehen, und man sieht dann solche Kinder gewöhnlich für „skrofulös“ an, obschon sie es keineswegs sind, sondern nur die Folgen eines thörichten unbesonnenen Eingriffes zur Schau tragen müssen.

Das sind aber noch lange nicht alle Schattenseiten der Folgen des Ohrringstechens. Selbst wenn die Stichkanäle längst zugeheilt, überhäutet sind, stellen sich gar nicht so selten noch ganz andere Folgeerscheinungen ein. Es bilden sich, hervorgebracht durch den fortdauernden Reiz, den die Anhängsel ausüben, Verdickungen, Knoten in dem Läppchen, die, langsam wachsend, allmählich bis zu Tauben-, ja Hühnereigröße herangedeihen. Besonders in manchen Tropengegenden erreichen diese Geschwülste eine außerordentliche Größe; aber auch bei uns kommen sie zur Beobachtung und ich selbst war schon zu wiederholten Malen in der Lage, wegen solcher Neubildungen große Teile des Ohres mit dem Messer abtragen zu müssen.

Daß außer diesen harten Geschwülsten sich noch andere aus den Stichkanälen und ihrer Umgebung entwickeln können, die den Bau der Knotentuberkulose aufweisen, oder solche, die sich später in Krebsgeschwüre umwandeln, das möchte ich nur noch andeuten. Denn schon zur Genüge geht aus dieser in keiner Weise übertreibenden Darstellung hervor, daß der Brauch des Ohrringtragens nicht bloß vom ästhetischen Standpunkte, sondern speziell auch vom einfach sanitär hygieinischen aus wegen der großen Reihe der möglichen schlimmen Folgen unter allen Umständen verwerflich ist.

Obschon nun ein großer Teil unserer wahrhaft gebildeten und denkenden Frauen einsehen gelernt hat, daß das Ohr keinen Schmuck weiter braucht, am allerwenigsten einen gefährlichen, so muß doch das Bewußtsein der direkten Schädlichkeit und Gefährlichkeit in noch viel weitere Volkskreise dringen. Dann werden normale gesunde schöne Ohren viel häufiger zu sehen sein als heute. Und das wäre sehr wünschenswert, denn nur das unentstellte Ohr erlaubt uns, in gewisser Beziehung ihm eine physiognomische Bedeutung zuzuschreiben, wenn wir auch nicht so weit gehen wollen wie ein französischer Gelehrter, der aus der Form der Ohrmuschel den Charakter, die geistige Begabung und die Echtheit der Familienabstammung bei jedem Einzelnen mit untrüglicher Sicherheit zu erkennen vermeinte.

Nun einen Schritt weiter!

Wir kommen jetzt zu dem beliebten Kapitel der Ohrfeigen und Maulschellen. Auch diese verbreitete Züchtigungsart, die der Vater dem Sohne, der Meister dem Lehrjungen etc. in einer berechtigten oder unberechtigten Zornesaufwallung zuteil werden läßt, kann sich für das Ohr verhängnisvoll erweisen. Ich bin im Prinzip durchaus nicht gegen einen gewissen Grad der körperlichen Züchtigung; ein ungezogener Junge wird am eindringlichsten und nachdrücklichsten bestraft burch eine mit körperlichem Schmerzgefühl verbundene Strafe, aber daß der Kopf gerade dazu herhalten soll, das ist völlig ungerechtfertigt, ja sogar zu verpönen, weil die Folgen für den Betroffenen äußerst schlimmer Natur sein können, während es niemals Schaden bringen wird, wenn wir einem ungezogenen Sprößling die „Hosen ordentlich anziehen“ und seine Kehrseite mit einem Haselnußstocke innige Bekanntschaft machen lassen.

Der Kopf und das Ohr speziell muß von Schlägen frei bleiben. Freilich ist es ja durchaus nicht notwendig, und das soll auch hier nicht behauptet werden, daß jede Ohrfeige eine üble Folge haben muß, aber daß es eben gerade oft genug zu unglücklichen Ereignissen dabei kommen kann, muß uns abhalten, von dieser Art der Züchtigung oder der Zornesäußerung Gebrauch zu machen.

Und weshalb, höre ich fragen, ist denn solche Züchtigung so sehr bedenklich? Weil durch sie gerade das Gehörorgan als solches schwer in seiner Funktion, vielleicht auf Lebensdauer, beeinträchtigt werden kann. Das kann aber doch wohl bloß vorkommen bei recht starken, heftigen Schlägen, nicht bei einem einfachen leichten Klaps!! Gemach! Das ganze Ohr ist ein so wunderbar fein gebautes Organ, daß es unter Umständen schon auf recht leicht erscheinende Gewalteinwirkungen hin seinen Dienst versagt und leider oft genug auf die Dauer.

Vergegenwärtigen wir uns in Kürze den mechanischen Vorgang einer Ohrfeige und ihrer Wirkung. Die schlagende Hand – und gewöhnlich ist es, da die meisten Menschen rechtshändig sind, die rechte, falls nicht von hinten meuchlings zugeschlagen wird – trifft mit einer gewissen, mit Erschütterung einher gehenden Gewalt zunächst auf die ihr entgegenstehende Ohrmuschel, am häufigsten also die linke, und schließt den Gehörgang, der zum Trommelfell führt, für einen Moment mehr oder weniger luftdicht ab. Hierdurch wird die Luftsäule innerhalb des Gehörganges außerordentlich rasch zusammengedrückt und sie wird sich, einem allgemeinen physikalischen Gesetze zufolge, wieder auszudehnen trachten und zwar geschieht das natürlicherweise in der Richtung des geringsten Widerstandes. Da die komprimierte Luft nach außen durch den Gehörgang so schnell nicht entweichen kann, so muß sie naturnotwendig auf das ihr entgegenstehende Trommelfell auftreffen. Obschon nun das Trommelfell trotz seiner Dünnheit (sein Dickendurchmesser beträgt im allgemeinen 0,1 mm!) für gewöhnlich eine außerordentliche Widerstandsfähigkeit und Elastizität besitzt und erst bei einer Belastung mit einer Quecksilbersäule von etwa 150 cm Höhe, bzw. einem Luftdrucke von etwa 13/4 Atmosphären, reißt, so kommt es eben doch leider recht häufig vor, daß der durch die Ohrfeige bewirkte Luftdruck genügt, eine Sprengung zu verursachen. Es braucht der Schlag, wie gesagt, durchaus kein heftiger gewesen zu sein, und doch kann es zum Zerreißen der Membran kommen. Da spielt eben noch eine Reihe anderer Verhältnisse mit, wie der zufällige luftdichte Abschluß, dann der Umstand, daß das Ohr nicht vorbereitet ist auf die jähe Einwirkung der Luftwelle. Haben wir doch in unserem Ohre

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Walliser Gemsjäger.
Nach einer Skizze von Josef Scotti gezeichnet von W. Hoffmann.

[258] einen kleinen Muskel, den Trommelfellspanner, der sich, wenn wir wissen, daß eine Schall- oder Luftwelle auftrifft, unwillkürlich zusammenzieht und so die Gewalt des Druckes abzudämmen vermag. Nicht unerwähnt dürfen wir lassen, daß es zumeist keine ganz gesunden Trommelfelle sind, die solchen Gewalteinwirkungen so rasch erliegen.

Das Trommelfell hat also jetzt ein Loch, einen Riß. Für gewöhnlich hat diese Verletzung durchaus nicht so viel auf sich, wie man als Laie anzunehmen geneigt ist. Wird ein derartiges Ohr sachgemäß behandelt, d. h. werden alle Einträufelungen und Einspritzungen von Oel und Wasser etc. unterlassen und wird der Patient zudem noch angewiesen, mit dem Schneuzen sehr vorsichtig zu sein, ja nicht heftig zu schneuzen, wird ferner das Ohr einfach gegen die äußern Einflüsse durch einen Wattepfropf geschützt, so heilt eine derartige auch ziemlich ausgedehnte Verletzung innerhalb weniger Tage völlig spurlos, ohne irgend welche Störung zu hinterlassen. Die Vorsicht beim Schneuzen empfiehlt sich deshalb, weil die zerrissenen Trommelfellränder durch den bei dieser Procedur unfehlbar von innen her eindringenden Luftstrom jedesmal wieder von einander getrennt werden und somit ihre Verklebung direkt verhindert wird.

Wird aber die Trommelfellwunde infiziert, was durch Einträufelungen regelmäßig geschieht, so stellt sich jetzt eine oft folgenschwere eitrige Entzündung ein, der nicht nur das Trommelfell und Gehör, sondern auch sogar das Leben des Patienten zum Opfer fallen kann. Derartige traurige Fälle sind etliche bekannt. Es muß aber bei Gelegenheit einer solchen momentanen Luftverdichtung durchaus nicht zum Zerreißen des Trommelfells kommen und doch kann das Gehörorgan schwer geschädigt werden. Ja, es sind solche Fälle gerade im Gegenteil als viel ungünstigere zu betrachten. Hier wird eben die Membran samt der mit ihr in inniger Verbindung stehenden Kette der Gehörknöchelchen sehr stark und rasch nach einwärts getrieben, diese Bewegung setzt sich ebenso weiter nach innen fort und bewirkt in dem im inneren Ohre befindlichen Labyrinthwasser, das die zarten Nervenendigungen umspült, gewissermaßen eine heftige Sturzwelle, welche die feinen tonauslösenden Endfäserchen der Hörnerven entweder ungewöhnlich reizt oder direkt lähmt. Derartige Fälle gehen, obschon am Trommelfelle nicht die Spur einer Verletzung zu sehen ist, nicht selten in höchstgradige, bleibende Schwerhörigkeit oder Taubheit aus.

Das was bis jetzt über die mögliche Wirkung einer gut aber unglücklich applizierten Ohrfeige gesagt worden ist, gilt selbstverständlich auch für alle anderen Arten von momentanen starken Luftverdichtungen am Gehörorgan, wie z. B. Detonationen von Kanonenschüssen, Explosionen und Aehnliches.

Jedenfalls dürfen wir aus diesen Ausführungen den berechtigten Schluß ziehen, daß das Ohr kein Platz ist, an welchem körperliche Züchtigung ausgeführt werden darf. Auch das Ziehen oder Zerren an den Ohren ist eine verwerfliche Strafart, weil es dadurch leicht zu Einrissen hinter der Ohrmuschel oder sogar zu Zerreißung der Gehörgangswand kommen kann.

Aber nicht bloß die Strafe, der Zorn können das Ohr schädigen, zuweilen geschieht dies auch durch ein Uebermaß der Liebesbezeigung.

Es wird die Leserin interessieren, zu hören, daß auch unter Umständen das Küssen einen sehr schlimmen Einfluß haben kann. Sie staunen? und doch ist es so! Der küssende Mund legt sich auf das niedliche rosige Oehrchen, auf den Ohreingang und schließt denselben einen Augenblick luftdicht ab. Jetzt tritt das gerade Gegenteil ein von dem, was wir bei der Ohrfeige sahen: beim Küssen wird durch die Lippen eine saugende Bewegung ausgeübt und hierdurch wird die Luft innerhalb des Gehörganges rasch verdünnt, das Trommelfell aus seiner natürlichen nach einwärts trichterförmigen eingezogenen Lage ziemlich heftig nach außen gezogen und gewölbt. Da kann es nun infolge dieser Luftverdünnung zum Zerreißen der zarten Blutgefäße des Trommelfells kommen oder es kann gar die Membran selbst einen Riß abkriegen. Derartige Fälle sind bekannt, in denen z. B. die ungestüme Zärtlichkeit einer Mutter durch einen Kuß das Trommelfell ihres Kindes teilweise zerstörte.

Ich komme jetzt zu einem andern mit Recht sehr verbreiteten Gebrauche, dem der Reinigung des Ohres. Ueberall, in allen civilisierten Ländern ist es Sitte, sich die Ohren zu reinigen. Dieser Gebrauch ist an und für sich, wie alle hygieinischen Maßnahmen, durchaus lobenswert, aber die Art und Weise, wie die Reinigung zu erfolgen pflegt, ist nur zu häufig unzweckmäßig, sogar schädlich, gleichwie die zulässigen Grenzen für die Reinigung leider oft genug überschritten werden.

Es ist eine ganz falsche Ansicht, daß das Ohr, das heißt der Gehörgang, nicht die Ohrmuschel, möglichst häufig, womöglich täglich, von dem in ihm sich bildenden Ohrenschmalz befreit werden müsse; dadurch arbeiten wir der Natur gerade zuwider. Das Ohrenschmalz ist das physiologisch natürliche Produkt der Ohrenschweißdrüsen und hat als solches einen bestimmten, von der Natur ihm vorgeschriebenen Zweck: es schützt den Gehörgang gegen die Einwirkungen von außen und hält ihn in einem normalen Feuchtigkeits- und Befettungszustand, wie ja die ganze Haut unseres Körpers durch die Talgdrüsen ihre Geschmeidigkeit erhält. Arbeiten wir gegen dieses Naturgesetz an durch wohlgemeintes, aber falsches zu häufiges Reinigen, so nützen wir dem Ohre nicht, sondern schaden ihm: der Gehörgang wird abnorm trocken, künstlich trocken gemacht; ein unangenehmes Gefühl der Spannung, des Zuengeseins ist die Folge, ein Juckreiz und Kitzeln, zuweilen auch Sausen und kleine Einrisse in die Oberhaut, die sich in Geschwüre umwandeln können.

„Aber ich kann doch den Schmutz nicht im Ohre lassen, das wäre ja zu unanständig!“ Ganz recht. Jedoch wenn der Gehörgang alle zwei bis drei Monate einmal gründlich gereinigt, das heißt sanft ausgespült und sorgfältig nachgetrocknet wird, so ist dies unter normalen Verhältnissen gerade oft genug. Eine öftere Reinigung ist bloß bei Leuten, die mit einer sehr starken, über die Grenzen des Normalen hinausgehenden Ohrenschmalzabsonderung behaftet sind, notwendig; da muß das Ohr mit Spritze und lauwarmem Wasser von seinem „Pfropfe“ befreit werden.

Jedoch nicht bloß in Bezug auf Häufigkeit der Reinigung wird viel gefehlt, sondern noch viel mehr in der Art der Reinigung, die sehr, sehr häufig nicht nur unzweckmäßig, sondern einfach schädlich ist. Sehr verbreitet ist der Gebranch von Ohrlöffeln und trotzdem ist die Anwendung derartiger Instrumente dringend zu widerraten. Die Ohrlöffel, mögen sie nun aus Elfenbein, Holz, Hartgummi, Silber oder gar Gold gearbeitet sein, taugen trotz ihrer verhältnismäßig zweckmäßigen äußeren Gestalt nicht zur schadlosen Reinigung des Ohres, weil sie bei nur einigermaßen stärkerem Drucke – und das geschieht sehr gern, besonders wenn es uns gerade ein bißchen im Ohre juckt – die Oberhaut sehr leicht verletzen, aufreißen können. Und gar nicht selten schließen sich dann an eine solche kleine Verletzung, die dem Patienten vielleicht kaum zum Bewußtsein gekommen ist, schmerzhafte Entzündungen im Gehörgange an; der Gehörgang schwillt infolge des Eindringens von Infektionskeimen, die durch den Löffel selbst meist geradezu in die verletzte Stelle eingeimpft werden, entweder gleichmäßig zu oder es bilden sich kleinere umschriebene sehr schmerzhafte Erhöhungen, die einen kleinen Eiterpfropf enthalten. Gerade diese „Furunkel“ des Gehörgangs verdanken recht oft ihre Entstehung dem Ohrlöffel. Auch recht bösartige Rotläufe entwickeln sich nicht zu selten aus solch unscheinbaren infizierten Stellen. Insbesondere sind hier die metallenen, auch selbst die goldenen Löffel gefährlich, weil das Metall immer etwas scharf, hartkantig auch in der feinsten Bearbeitung bleibt; am wenigsten schädlich sind solche von Hartgummi. Alle diese Instrumente sind nie absolut rein, sie werden in der Tasche herum getragen, in den Schubladen aufbewahrt und dann nach oberflächlicher Reinigung wieder gebraucht; so bleiben sie immer Träger von Infektionsstoffen. Hat sich eine größere Menge von Ohrenschmalz angesammelt, so gelingt es mit dem Löffel gewöhnlich nicht mehr, es völlig zu entfernen, und es wird der größere Rest durch den Ohrlöffel nur weiter hineingearbeitet, auf das Trommelfell hinaufgestoßen. Daß natürlich Zündhölzchen, Bleistifte, Federhalter, Strick- und Häkelnadeln u. a. m. höchst unzweckmäßige, geradezu gefährliche Instrumente sind, sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber doch wird recht häufig mit ihnen im Ohre gewirtschaftet. Ganz abgesehen von den Entzündungen, die sich hier in gleicher Weise wie beim Gebrauch des Löffels zeigen können, bergen derartige Manipulationen noch die große Gefahr der direkten Verletzung des Trommelfells und der tieferen Ohrteile in sich. Ein unachtsames Ausrutschen oder ein unvorsichtiger und unbeabsichtigter Stoß von seiten einer zweiten Person und der Griffel durchbohrt das Trommelfell und fährt schließlich noch weiter in die Tiefe. Derartiger Fälle mit den traurigsten Folgen – absolute Taubheit, Hirnhautentzündung und Tod – sind leider manche bekannt geworden.

Zweckmäßiger als die bisher berührten häuslichen Reinigungsinstrumente [259] ist das bekannte Ohrschwämmchen. Aber, obschon demselben der oben gerügte Fehler abgeht, ist doch auch dieses nicht zu empfehlen. Das Schwämmchen hat den großen Uebelstand, daß es als hygroskopischer, d. h. Feuchtigkeit aufsaugender Körper sich mit den verschiedensten Bestandteilen, dem Inhalte des Ohres, dem Staube etc., imprägniert, und so häuft sich in ihm bei wiederholtem Gebrauch eine Unmasse von Schmiere an; eine Reinigung mit einem solchen Schwamme ist eine direkte Verunreinigung, und es wird die Möglichkeit für eine Infektion bei ihm in noch höherem Grade gegeben als beim Löffelchen. Dieser „Vermuffelung“ hat man durch Auswaschen in Seife, Alkohol etc. vorzubeugen gesucht, allein wenn dieses nicht nach jedem Gebrauch des Schwämmchens sehr sorgfältig wiederholt wird, ist der an und für sich schon ziemlich zweifelhafte Nutzen völlig hinfällig; dazu haben aber wohl die wenigsten Lust und Ausdauer genug. Hier und da kommt es dann auch vor, daß ein nicht mehr gut befestigtes Schwämmchen beim Gebrauch sich ablöst und als Fremdkörper im Gehörgange stecken bleibt. Also auch das Schwämmchen entspricht den gerechten Anforderungen der Hygieine nicht.

„Aber womit soll ich mir dann das Ohr reinigen, wenn alles nichts taugt?“

Doch! Es giebt ein einfaches Mittel dafür: völlig entfettete Watte, die sogeannte chirurgische Verbandswatte (Bruns’sche Watte). Sie schnitzeln sich ein kleines dünnes Holzstäbchen, kerben es an dem einen Ende mit einigen kleinen Einschnitten ein und wickeln nun ein Flöckchen Watte, gerade groß genug für den Gehörgang, um das eingekerbte Ende des Hölzchens in der Weise, daß Sie die Watte locker festhalten und das Stäbchen immer in der gleichen Richtung von links nach rechts drehen, dadurch wickelt sich die Watte sehr fest um das Holz, so daß ein Abrutschen nicht zu befürchten ist, und mit dem pinselförmig aufgebrachten weichen und angenehmen Ende können Sie jetzt bequem genug ohne jede Furcht den Gehörgang bearbeiten. Haben Sie es ausgebraucht, so ziehen Sie das Wattebäuschchen ab und heben das Hölzchen auf, um es beim nächsten Gebrauch wieder so herzurichten. Ein einmal gebrauchtes Bäuschchen darf nie zum zweitenmal Verwendung finden; es muß zerstört, am besten verbrannt werden.

Das ist die einzige Methode, die allen hygieinischen Anforderungen entspricht und deren Durchführung weder die Gefahr einer Verletzung noch einer Infektion in sich birgt.

Es giebt eigene Watteträger hierfür, jedoch kommt man mit dem einfachen billigen Hölzchen eben so gut oder noch besser zurecht. Erweist sich das Ohrenschmalz als sehr zäh, so ist es nicht unvorteilhaft, das Wattebäuschchen vor dem Gebrauche in eine Lösung von Alkohol und Wasser zu gleichen Teilen einzutauchen, weil dadurch dann die zähe Aussonderung leichter zur Lösung gelangt.

Jetzt hätte ich noch ein großes Anliegen, und das möchte ich besonders den Müttern unserer lieben Kleinen ans Herz legen. Wie oft kommt es vor, daß einer der kleinen Sprößlinge ins Zimmer stürzt mit dem Rufe: „Mama, Mama, die Schwester (der Bruder) hat sich einen Kirschkern ins Ohr gesteckt.“ Alles Mögliche bringen ja die Kinder beim Spielen ins Ohr hinein, Bohnen, Linsen, Erbsen, Johannisbrotkerne, Schrotkörner, Bleistiftköpfe, Papierkügelchen, sogenannte Palmkätzchen, Glasperlen und, Gott weiß, was noch mehr. Da heißt es nun vor allem, ruhig Blut behalten, den Kopf nicht verlieren und zunächst einmal das Kleine beruhigen; halten Sie den Gedanken fest: wie der Fremdkörper ins Ohr hineingekommen ist, so wird er auch wohl wieder herauskommen.

Vor allem sollte man, auch wenn der Fremdkörper noch so verführerisch einladend am Eingange des Gehörganges herauslugt, niemals versuchen, des Körpers habhaft zu werden mit Haarnadeln, Häkelnadeln oder gar mit einer unglücklicherweise im Haushalte vorhandenen Pincette. Mit beinahe unfehlbarer Sicherheit wird der Fremdkörper nicht nur nicht herausgebracht, sondern nur viel tiefer hineingestoßen, und dabei werden noch bei der immer vorhandenen Unruhe der Kinder Verletzungen hervorgebracht.

Gehen Sie, ohne nur ein bißchen an dem Dinge gerührt zu haben, zu Ihrem Arzte; er wird dann entscheiden, ob er, wenn er sich heimisch genug in diesem Gebiete weiß, selbst die Entfernung vornehmen kann oder ob diese von einem Ohrenarzte gemacht werden muß.

Der Fremdkörper an und für sich wird wohl kaum jemals einen Schaden anrichten, selbst wenn er im Ohre bliebe. Wissen wir doch, daß die allerverschiedensten Fremdkörper jahre- und jahrzehntelang sich im Ohre befunden haben, ohne es irgendwie zu beeinträchtigen, höchstes, daß sich mit der Zeit ein Ohrenschmalzüberzug um sie herum bildete. So habe ich Palmkätzchen nach 7jährigem Verweilen, Glasperlen nach 25jährigem Aufenthalt im Ohre entfernt, ohne daß die Leute eine Ahnung davon hatten, daß sie sich überhaupt je etwas ins Ohr gesteckt hatten, und derlei Beispiele giebt es noch sehr, sehr viele. Wohl aber sind es die unglücklichen und verunglückten Entfernungsversuche von seiten Unberufener, die mit Instrumenten aller Art im Finstern hantierend schon manches jugendliche Ohr zerstört, seinen Besitzer der Taubheit, Taubstummheit oder dem Tode zugeführt haben.

Ehe ich zum Schlusse meines heutigen Kapitels komme, möchte ich noch einen weiteren verhängnisvollen Unfug und seine Folgen besprechen.

Das Zahnweh ist ein schlimmer Gast, aber ehe man möglichst bald zum richtigen Schmied, zum Zahnarzt geht, dessen Kunst in Bälde die Ursache des tobenden Schmerzes beseitigen kann, wird meist eine große Reihe von Hausmittelchen probiert, die doch alle die Ursache des Schmerzes nicht beheben können. Da weiß eine alte weise Dame, daß es vorzüglich wirkt, wenn man sich Knoblauch ins Ohr steckt, den kriegt man dann nicht mehr heraus und nun muß der Arzt außerdem den Knoblauch herausziehen und die durch ihn jetzt entstandene Entzündung bekämpfen. Ein anderer verbrennt sich den ganzen Gehörgang, indem er, den rasenden Schmerz zu dämpfen, Chloroform oder Aether ins Ohr hineingießt: starke Rötung des Gehörganges und schmerzhafte Entzündung des Trommelfells sind die prompte Antwort auf den Angriff. Auch der sogenannte „Painexpeller“ spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in diesen wegen Zahnwehs willkürlich hervorgebrachten Schädigungen des Ohres.

Dann wegen des Ohrenschmerzes, des Ohrenzwanges selbst, wie viel Unzweckmäßiges wird da nicht vorgenommen! Wollten die Leute bloß das verhältnismäßig harmlose Mandelöl nehmen, so wäre dies wenigstens nicht geradezu schädlich, statt dessen aber wird Milch in das Ohr geschüttet oder in Milch gekochte Reiskörner oder Rosinen, ein andermal auch Feigenstückchen hineingebracht, um „das Geschwür rasch zu zeitigen“, auch ein Stück rohes Fleisch habe ich einmal im Ohre gefunden. Alle diese Substanzen sind, ganz abgesehen davon, daß sie ihren Zweck, den Schmerz zu stillen, doch verfehlen, infolge ihrer leichten Zersetzbarkeit geeignet, die höchstgradigen Reizerscheinungen hervorzurufen; sie wirken direkt als Infektionsherde. Daß das Eingießen von Schnaps und Kölnischem Wasser gerade so wirken wird wie die beim Zahnweh berührten Mittel, dürfte sich von selbst verstehen. Auch Ohrbähungen werden nicht selten wegen des Ohrenschmerzes sowohl als auch wegen Schwerhörigkeit in Anwendung gezogen. Da werden durch einen Trichter die Dämpfe siedenden Wassers ins Ohr eingelassen oder der Unglückliche läßt sich, wie das auch in manchen Gegenden ortsüblich ist, gekochte Kartoffeln auflegen, so heiß als er sie ertragen kann. Die Folge dieser Eingriffe ist eine gründliche Verbrühung des Ohres, es bilden sich Brandblasen, später stellt sich eine oft sehr langwierige Eiterung mit Zerstörung des Trommelfells ein und schließlich kann der Gehörgang auch infolge der Narbenbildung hochgradig verengt werden, ja völlig zuwachsen.

Zum Schlusse möchte ich noch einen Punkt kurz berühren. In so ziemlich allen civilisierten Ländern ist die Militärdienstpflicht eingeführt, leider fehlt es überall nicht an solchen, die aus diesem oder jenem Grunde sich um den Dienst zu drücken versuchen. Unter den viele Simulationen, die im Schwange sind, um bei der Gestellung den Militärarzt zu hintergehen, giebt es gar manchen Unfug, der mit dem Ohre getrieben wird. Manche scheuen sich nicht, sich den schmerzhaftesten, gefährlichsten Selbstmißhandlungen zu unterwerfen zur Erreichung ihres Zieles. Der eine legt ein Spanischfliegenpflaster in den Gehörgang, das zieht Blasen und bewirkt eine oberflächliche Eiterung, ein Blick ins Mikroskop läßt uns sofort die Reste der Flügeldecke der spanischen Fliege (Lytta vesicatoria) erkennen. Ein anderer verätzt sich mit Schwefelsäure oder Salzsäure absichtlich den Gehörgang! Der so sich selbst Mißhandelnde zieht sich allerdings eine sehr thatsächliche, aber auch sehr folgenschwere Entzündung des ganzen Ohres zu, deren Ursache keinem Militärarzte verborgen bleibt, dem „Drückeberger“ aber leicht als kleine Dreingabe Gehör und Leben kosten kann.




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Blätter und Blüten.


Luise Otto-Peters †. Von den „Führerinnen der deutschen Frauenbewegung“, welche die „Gartenlaube“ erst vor Jahresfrist (siehe vor. Jahrgang, S. 256) ihren Lesern in Wort und Bild vorgeführt hat, ist nunmehr, am 17. März, die dort an erster Stelle genannte und als Urheberin der Bewegung in Deutschland gerühmte vortreffliche Schriftstellerin Luise Otto-Peters ihrer segensreichen Wirksamkeit durch den Tod entrissen worden. Die „Gartenlaube“ verliert in ihr eine altbewährte Mitarbeiterin, die bereits in den „Leuchtthurm“ Ernst Keils wertvolle Beiträge geliefert hatte. Indem wir auf den Lebensabriß verweisen, der in dem bezeichneten Aufsatz enthalten ist, rufen wir der edlen Frau, welcher die Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins und so viel anderes noch zu danken ist, was dem heranwachsenden Mädchen und der strebenden Frau zum Vorteil und zur Förderung gereichte, unseren Dank in das Grab nach. „Neue Bahnen“ – so nannte sie die von ihr gegründete Zeitschrift – ist sie selbst in ihrer fruchtbringenden Wirksamkeit tapferen Geistes geschritten, neue Bahnen hat sie geebnet zur Erweiterung und Hebung des Bildungslebens und des Berufslebens der deutschen Frau!

Eine Drachenprozession in Hongkong. (Zu dem Bilde S. 244 und 245.) Bei dem lebhaften Interesse, welches der Krieg in Ostasien den Kulturzuständen in China und Japan zugewendet hat, wird das große Straßenbild aus Hongkong gerade jetzt vielen unserer Leser besonders willkommen sein. Es bietet sich ihnen dar als eine lebensvolle Ergänzung der Illustrationen, welche den Aufsatz „Ein Tag in China“ in Nr. 47 des vor. Jahrg. begleitet haben. Wurde dort auf einem Gang durch die Stadt Kanton geschildert, was einer solchen chinesischen Hauptstadt an Sehenswürdigkeiten und Eigentümlichkeiten dauernd ihren Charakter verleiht, so stellt die große Drachen-Prozession ein bewegtes chinesisches Straßenbild dar, wie es sich nur bei besonders festlichen Anlässen gestaltet. Die Inselstadt Hongkong, die seit dem Jahre 1842 britischer Besitz ist, steht infolgedessen und als Freihafen dem europäischen Verkehr wie keine andere chinesische Stadt offen. Aber unter ihren 222000 Einwohnern befinden sich 211000 Chinesen und nur etwa 9000 Weiße. Gerade sie bietet daher dem Europäer Gelegenheit, chinesisches Leben ungehindert zu studieren. Ein Besuch aus Europa war es übrigens auch, dem zu Ehren die große Drachen-Prozession stattfand, aus welcher unser Bild einen Teil wiedergiebt, der Besuch des Herzogs von Connaught, der auf seiner Reise um die Welt kurze Zeit in Hongkong weilte.

Der Drache ist das geheiligte Tier des chinesischen Kultus. Bei feierlichen Gelegenheiten wird nun die phantastische Nachbildung eines solchen in glänzender Prozession herumgetragen. Aus Seide und Papier ist eine bunte, in allen Farben schillernde Drachenhaut hergestellt, sie wird über ein entsprechend langes Rohrgestell gespannt und mit Gold- und Silberflitter behangen. Ein solcher Drache ist meist einige hundert Fuß lang und wird von 40 bis 50 Personen getragen, die halb verdeckt unter ihm gehen. So windet sich der Drache in phantastischen Bewegungen durch die Straßen, wobei die schwerste Aufgabe den Trägern des Kopfes zufällt, welche die natürlichen Bewegungen desselben nachahmen müssen und sich in wilden Sprüngen vorwärts bewegen. An den Drachen schließt sich noch ein langer Zug, in dem geweihte Gegenstände, Prunkstücke aus den Tempeln u. dergl. getragen werden und an welchem nur solche Personen beteiligt sind, die entweder als Träger von solchen Dingen oder zur Ueberwachung derselben mitgehen. Sie schreiten aber nicht, wie bei unseren Prozessionen, in geschlossenem Zug, sondern in lockerem Zusammenhalt; die Träger sind Kulis, die Wächter aber Beamte des Tempeldienstes. Als solche tragen sie reiche seidene Gewänder und große stoffüberzogene weiße Hüte mit allerhand Schriftzeichen. Diesen Teil des Zuges vergegenwärtigt unser Bild. Die vorn in der Mitte sichtbaren hellen Ballons bestehen aus glasiertem Papier, das über ein Rohrgestell gespannt ist; beim Dunkelwerden wird in ihnen Licht angezündet. Die merkwürdigen mit Flitter bedeckten Schaustücke, welche die Kulis vor und zwischen den Tempelbeamten tragen, sind zierliche bunt bemalte tempelartige Aufsätze, aus Holz geschnitzt und mit goldenen Flittern überhangen. Sie gehören zum Ausschmuck der Tempel. Zahlreich sind die kleinen Musikbanden, welche in dem Zug mitgehen, jede etwa 8 Mann stark, die mit Pfeifen, Trommeln, Gongs, Pauken und Geigen einen gewaltigen Lärm machen. Sobald diese Musik in der Straße ertönt, stürzt jung und alt aus den Häusern, um sich dem Zug begleitend anzuschließen oder doch jedenfalls den Vorbeimarsch bis zum Ende zu bewundern; freilich gilt dies nur von den männlichen Anwohnern, Frauen und Mädchen fesselt die Sitte ans Haus. Welches Interesse für diese Prozessionen im Volke besteht, kann man so recht an dem Wagehals ersehen, der von einem der Dächer links auf das Gepränge herniederschaut. O. G.     

Das Bild der Großmutter. (Zu dem Bilde S. 253.) So eine Sommerfrische kann sich ein reisender Maler wohl gefallen lassen! Nicht nur eine biedere, mütterlich sorgsame Wirtin, bei deren Schüsseln es einem von Herzen wohl sein kann, sondern auch zugleich ein Prachtkopf, dessengleichen es unter den runzeligen Spittelfrauen-Modellen der Akademie nicht giebt. Freilich, ans Abgemaltwerden wollte sie lange nicht heran und hatte hundert Ausreden: heute waren es die Gänse und morgen die Schweine, die ihr keinen Augenblick zum Stillsitzen gönnten, ganz abgesehen von der notwendigen Putzerei in Küche und Stuben, die am Montag beginnt und am Samstag endet.

Aber endlich kommt ein Sonntagnachmittag, wo sie keine Ausrede mehr hat. Ihr „Alter“ hilft auch noch dem künstlerischen Quälgeist und ebenso das Gretle mit dem dicken Buben auf dem Arme; so giebt sie denn nach, wirft sich in ihr Staatsgewand, setzt die majestätische Florhaube auf ihr graues Haar und wendet nun, die arbeitsgewohnten Hände übereinandergelegt, dem Maler ruhig das Gesicht zu. Aber jetzt merkt dieser, daß die Schwierigkeit, sie zum Sitzen zu bringen, noch gar nichts war gegen diejenige, dieses würdevolle, gute, schöngebliebene Matronengesicht ähnlich auf die Leinwand zu zeichnen. Tausend noch einmal – da heißt es, sich zusammennehmen! Hoffen wir, daß es seiner Kunst gelingt, wenigstens das zuschauende Publikum zu befriedigen und die große Florhaube so ähnlich zu porträtieren, daß jeder, sogar der kleine Friederle, unzweifelhaft erkennt: das ist die Großmutter!

Im Laufe der Jahre erwächst dann der junge Kunstschüler zum wirklichen Nachfolger desjenigen, der hier hinter seinem Rücken die ganze gemütliche Stube mit den Leuten darin und die prächtige Großmutter so sprechend lebendig zu malen verstand! Bn.     

Schweizer Gemsjäger im Kanton Wallis. (Zu dem Bilde S. 257.) Alle anderen Kantone der Schweiz überragt der von Wallis in Bezug auf die wilde Großartigkeit der Hochalpen, die sich über seinen Thälern emporgipfeln. Monterosa und Matterhorn, Rhonegletscher und Aletschgletscher, Großer St. Bernhard und Simplon, Furka, Grimsel und Gemmi – wir brauchen nur diese Namen zu nennen, um dem Kenner der Schweiz die ganz einzige Fülle von erhabenen Alpenscenerien, welche die Walliser Alpen umfassen, zum Bewußtsein zu bringen. Hier hat sich denn auch die spezifische Alpentierwelt, die in anderen Hochgebirgskantonen beinahe ausgestorben ist, noch in reicher Mannigfaltigkeit erhalten. Noch giebt es hier Bären, Wölfe und Luchse; besonders aber ist es die zierliche behende Gemse, die an den Rändern der Walliser Gletscherwelt sich verhältnismäßig noch recht zahlreich vorfindet. Diesem Wildstand entspricht auch der Ruf, den die kühnen Schützen des Kantons als Alpenjäger besitzen. Das staatliche Forstpersonal, die angestellten Bann- und Flurwärter, sowie die im Besitz eines Jagdpatents befindlichen Jäger aus den Dorfgemeinden wetteifern miteinander, diesen Ruf dem Kanton zu erhalten. Der Gemsjäger, wenn er sich zur Jagd rüstet, verzichtet selten auf den breiten Walliser Hut, auf die farbige Weste der alten Kantonaltracht; dazu trägt er Kniehosen und Gamaschen. Rucksack, Steigeisen, der Stutzen, der Bergstock und ein gutes Fernrohr vervollständigen seine Ausrüstung. Oft tagelang hat er mit unsäglicher Geduld und Vorsicht die Spur und Kreuzung der Gemsen zu verfolgen, bis er in die Lage kommt, sich einen günstigen „Stand“ beim Wechsel der Tiere zu wählen. Bisweilen nimmt man Treiber zu Hilfe, um die Gemsen aufzuscheuchen und dem Standort des Jägers zuzutreiben. Meist zieht man übrigens nicht allein, sondern zu zweien und dreien, wie es die Gruppe auf unserem Bilde andeutet, auf die Jagd. Gar leicht kommt in jenen entlegenen Hochgebirgsrevieren der Einzelne in eine Lage, wo er der helfenden Hand eines kräftigen Genossen bedarf.

Früher stieß man im Wallis noch oft auf Rudel von fünfzig bis sechzig Gemsen, aber Flinte und Winterstrenge haben in neuerer Zeit ihre Zahl auch hier vermindert. Jetzt dürfen sie nur zu gewissen Jahreszeiten geschossen werden, und so bewahrt sie der Schutz des Gesetzes vor dem Aussterben.

Der Dichter des Rheinlands, Wolfgang Müller von Königswinter, soll in seiner Vaterstadt, deren Namen längst mit dem seinen verwachsen ist, ein Denkmal errichtet bekommen. Welche Fülle goldechter Poesie, welche Wärme patriotischer Empfindung den Liedern innewohnt, die er an den Ufern des heimatlichen Stromes gesungen, das ist vor 22 Jahren, bald nach seinem Tod, in der „Gartenlaube“ von berufener Feder geschildert worden. Was er in seines Lebens Maienblüte von seinem Herzen gesungen, – „mein Herz ist am Rheine“, das hat sich seitdem auch an seiner Poesie erfüllt; dort, am Rhein, lebt sie weiter mit den Rebenbergen, den sagenumwobenen Burgen und ruhmreichen Städten, die sich in den Fluten des herrlichen Stromes spiegeln. Dort – in seiner Vaterstadt Königswinter – soll darum auch sein Denkmal erstehen und von seiner liebenswürdigen Persönlichkeit der Nachwelt zeugen. Der Aufruf, der um Beiträge für dieses schöne Unternehmen bittet, trägt die Unterschrift einer großen Anzahl namhafter Persönlichkeiten des Rheinlands; natürlich fehlt auch nicht diejenige unseres getreuen Mitarbeiters Emil Rittershaus in Barmen, der bereit ist, Beiträge für das Denkmal in Empfang zu nehmen und ihrer Bestimmung zuzuführen.


Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg. (1. Fortsetzung). S. 241. – Drachenprozession in Hongkong. Bild. S. 244 und 245. – Torquato Tasso. Gestorben am 25. April 1595. Von Richard Schröder. S. 247. Mit Bildnissen S. 241, 248 und 249. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Neue Entdeckungen in der Luft. Von M. Hagenau. S. 250. – Echt. Erzählung von R. Artaria (Schluß). S. 251. – Das Bild der Großmutter. Bild. S. 253. – Allerlei Mißhandlungen des Ohres. Von Dr. Rudolf Haug. S. 255. – Walliser Gemsjäger. Bild. S. 257. – Blätter und Blüten: Luise Otto-Peters †. S. 260. – Eine Drachenprozession in Hongkong. S. 260. (Zu dem Bilde S. 244 und 245.) – Das Bild der Großmutter. S. 260. (Zu dem Bilde S. 253.) – Schweizer Gemsjäger im Kanton Wallis. S. 260. (Zu dem Bilde S. 257.) – Der Dichter des Rheinlandes, Wolfgang Müller von Königswinter (Aufruf für sein Denkmal). S. 260.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.