Die Gartenlaube (1895)/Heft 16
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Nr. 16. | 1895. | |
Haus Beetzen.
Ditschas langes Ausbleiben ist niemand aufgefallen. Die Kranke hebt die heißgelesenen Augen vom Buch, als das junge Mädchen in die Thüre tritt, und fragt: „Schon zurück, Ditscha?“
„Ja, Tante Tine!“ Und sie hockt sich vor den Ofen, weil sie einen Frostschauer nach dem andern fühlt.
„Tante Anna suchte Dich vorhin; sie wollte Dir sagen, daß die Morgenschuhe, die Du gestickt hast, ein junger Prediger zu Weihnacht bekommt, der im Januar nach Indien abreist.“
Ach, Ditscha ist’s so egal in diesem Augenblick, wer diese Morgenschuhe anzieht. Aber sie nimmt das Bänkchen und trägt es zu Tante Tines Platz und hockt sich darauf und legt ihren Kopf an die Lehne des Krankenstuhles, der durch den Druck auf eine Feder in ein Ruhebett umgewandelt ist.
Alle Umschweife sind ihr zuwider, sie hat die Soldatennatur ihres Vaters, aber eine diplomatische Ader besitzt sie nicht. Sie ist wahr bis zum Verletzem gegen andere Menschen, gegen sich selbst am meisten.
„Tante Tine,“ fragt sie, „glaubst Du, daß ich imstande bin, einen Menschen – einen Mann – glücklich zu machen?“
Tante Tine horcht bestürzt auf. „Ja,“ sagt sie, „gewiß – wenn Du ihn liebst, wenn Du ihn glücklich machen willst.“
„Ja, ich will!“
„Ditscha?“ ruft die Kranke, rot vor Erschrecken.
„Ich habe mich eben verlobt, Tante Tine,“ sagt sie so ruhig, als ob sie erzählt, sie habe eben Staub gewischt, oder dergleichen. „Du glaubst es wohl nicht, Tante? Doch, es ist wahr, ich weiß, ich kann einen Menschen gut und glücklich machen – –. Ist das nicht eine Aufgabe, des Lebens wert?“
„Wer? Wer?“ stößt die alte Dame hervor.
„Du kennst ihn nicht, Tante – Hans von Perthien. Er ist auf Uechte beim alten Calwerwisch, um die Wirtschaft zu lernen. Sein Vater und Onkel Jochen waren Jugendfreunde – Du sagst nichts, Tante?“
„Nein – ich – was soll ich sagen – was kann ich sagen? Sprich mit Deinem Onkel, Deinem Vater und – – Gott erspar’ Dir alle Täuschung, die ein so übereilter Schritt mit sich bringt.“
Ditscha erhebt sich, sie fühlt, daß sie hier nicht verstanden wird. „Ich werde gleich mit Onkel sprechen – warum soll ich eine Täuschung erleben? Ich bin doch so dankbar, daß jemand nach mir Verlangen hat.“
„Ditscha, würdest Du auch so rasch Ja! gesagt haben, wenn Dein Vater Dir heute früh nicht geschrieben, daß Du vorderhand noch nicht zu ihm kommen kannst, oder wenn Du die Verlobungsanzeige von Liesing nicht bekommen hättest?“
„Es ist möglich, Tante, daß der Brief Papas beigetragen hat, meinen Entschluß zu bestimmen – ja, ich glaube es sogar. Für Papa bin ich nichts, also der Grund, auf ihn Rücksicht zu nehmen, fällt weg, er wird sich freuen, wenn ich, so zu sagen, untergebracht bin.“
„Und Onkel Jochen und Tante Bertha?“
„Nun?“ fragt Ditscha zurück.
„Ditscha, undankbares Kind!“
„Undankbar? Aber, Tante Klementine, ich bin ja das Einzige, was sie hindert, sich ihrer Trauer voll hinzugeben. Ich bin nicht undankbar, ich will es gewiß nicht sein! Du verstehst nicht, Tante, wie wir verkehren, Du siehst uns nicht zusammen.“
„Nein ich sehe Euch nicht zusammen, ich denke mir nur, wenn Jochen es auch nicht so zeigen kann, er hat Dich doch gern.“
Ditschas Lippen kräuseln sich, sie will mehr, als daß einer sie ein bißchen gern hat. Sie weiß es auch besser: wenn sie gegangen ist, so schlägt die Flut des alltäglichen Lebens, des Trübsinns über die winzige Lücke zusammen, die sie gelassen, so regungslos und glatt fließt es weiter wie vorher – nein, man wird sie nicht vermissen. „Du irrst Dich, Tante,“ sagt sie kurz, küßt ihr die Hand und geht, Onkel Joachim zu suchen.
Er ist um diese Zeit in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch zu finden, über dem das lebensgroße Bild des verstorbenen Lieblings hängt, ringsumher Geweihe, das ganze Zimmer ist mit Geweihen förmlich tapeziert, selbst der Kronleuchter besteht aus Stangen, selbst die Uhr, das Rauchtischchen, der Kleiderhaken.
Der Onkel raucht – es ist eine Luft zum Schneiden in dem Raum – und sitzt über einen Brief gebeugt, den er liest. Er merkt gar nicht, daß Ditscha eingetreten ist, erst Cäsar, der sich an sie drängt und einen kurzen Blaff thut, macht ihn aufmerksam.
„Du bist’s, Sophie?“
„Ja, Onkel, ich möchte mit Dir etwas besprechen – hast Du Zeit?“
„Hast wohl auch einen Brief von Deinem Vater, Kind?“
„Ja, aber deshalb komme ich nicht, Onkel Joachim.“
„So? Was ist es sonst – schieß los!“
„Morgen wirst Du Besuch bekommen, Onkel Jochen.“
„I, Gott bewahre! – Na, Friedrich weiß Bescheid.“
„Ich wollte Dich bitten, Onkel Joachim, einmal zu gunsten dieses Besuches eine Ausnahme zu machen, ihn nicht abweisen zu lassen. Er will Dich um –“ Sie stottert und bricht ab, so erstaunt und befremdet blickt Onkel Jochen sie an unter den buschigen Brauen hervor. „Es ist etwas Wichtiges,“ vollendet sie leise.
„Was ist’s denn – Schockschwerenot?“ fragt er nervös, „und was hast Du so feierlich und heimlich zu thun?“
„Herr von Perthien – –“ stammelt sie.
Er fährt empor, ein pfeifender Laut entfährt seinen Lippen. „Alle Wetter! Es thut mir leid, so es thut mir sehr leid, liebes Kind, aber ich wüßte wirklich nicht, was mir der genannte Herr Wichtiges zu sagen hätte,“ erklärt er kurz und kalt und thut ein paar mächtige Züge aus der Pfeife.
„Aber ich weiß es, Onkel, – er wünscht Dir mitzuteilen, daß wir uns verlobt haben. Sei nicht böse, Onkel, ich mag Dich nicht belästigen, er hat mein Jawort schon!“
„So! Nun vorläufig hast Du über dieses Ja noch nicht zu verfügen, und ebensowenig ich. Deshalb bitte ich Dich, vor der Hand Dich noch nicht als verlobt zu betrachten; Dein Vater hat die Entscheidung, mag sich Herr von Perthien an ihn wenden. Sagt Klaus Ja! so kann ich Dich nicht hindern, in Dein Unglück zu rennen, hinge es von meinem Urteil ab, so sagte ich Nein! Hast Du verstanden – Nein!“ wiederholt er schreiend, indem er auf den Tisch schlägt, daß die Lampe klirrt und Tante Bertha schreckensbleich aus dem Nebenzimmer gestürzt kommt, wo sie im Dunkeln gesessen, und hinter ihr Tante Anna.
„Jochen, Du bist immer so heftig,“ ermahnt die letztere. „Was hast Du nur?“
„Was ich habe? Da werde der Teufel nicht heftig! Ein dummes Mädel habe ich da – teilt mir eben mit, sie habe sich verlobt – fait accompli, und wir werden damit überrascht – heutige Jugend! Vertrauen zu der Erfahrung älterer Leute – Ehrfurcht – giebt’s nicht mehr! – Bertha, na, Du weißt’s ja noch, als wir uns verlobten, da ging ich zu Deinem Vater und –“
„Hans hat versucht, zu Euch zu kommen und auf dem hergebrachten Wege um mich zu werben, aber Ihr habt ihm den Eintritt in Euer Haus nicht gestattet,“ sagt Ditscha.
Tante Bertha faßt sich an die Kehle, als müßte sie ersticken. „Aber Ditscha! Ditscha!“ ist alles, was sie hervorbringt.
Tante Anna aber schreit auf: „Hans nennt sie ihn schon! Jochen, ich bitte Dich, das ist ja, weiß Gott, als treffen sich Hans und Grete auf dem Tanzboden, und andern Tages sind sie einig! Kind, thörichtes Kind, weißt Du, was in der Bibel steht? ‚Heiraten ist gut, aber nicht heiraten ist besser!‘“
„In der Bibel steht allerlei,“ donnert Onkel Jochen, „da steht auch: ‚Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei‘, aber es kommt darauf an, mit wem man sich zusammenthun will! – Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe,“ fährt er fort, „ich empfange Herrn von Perthien nicht. Wenn dieser angenehme Jüngling denkt, weil ich als junger Kerl lustig war mit seinem Vater, hat er das Recht, hier wie ein Wolf in die Hürde zu brechen, so irrt er sich. – Geh’ auf Dein Zimmer, Ditscha, und denke nach über Deine Thorheit! An Deinen Vater werde ich schreiben, und an den freundlichen Herrn von Perthien auch.“
Ditscha steht da inmitten des Zimmers in ihrem schlichten dunkelgrünen Tuchkleidchen, schlank und hoch aufgerichtet; das feine Köpfchen schwebt auf den bläulichen Rauchwolken, als habe [263] es verborgene Engelsflügel. Sie hält die Augen gesenkt, ein herber Zug liegt um den Mund. Sie weiß genau, hätte der polternde Mann dort sie bei der Hand genommen, hätte er zu ihr gesprochen: „Ditscha, Kind, liebst Du ihn denn wirklich? Hab’ ’mal Vertrauen zu Onkel Jochen – gelt, Ditscha, es ist Einbildung von Dir –,“ sie hätte aufschreiend den Kopf an seiner Brust geborgen und geschluchzt: „Onkel, ich weiß es nicht – ich glaube, Du hast recht, ich liebe ihn nicht, ich – es ist die pure Verzweiflung von mir – hilf mir, habt mich ein wenig lieb –.“
So aber empörte sich jeder Nerv in ihr. Gekränkt bis ins innerste Herz, trotzig, geht sie hinaus, und bei jeder Stufe, die sie emporschreitet, wiederholt sie sich: „Ich liebe ihn – Hans, ich liebe Dich – ich helfe Dir, ich bleibe Dir treu!“
Und dasselbe schreibt sie ihm, mit der Bitte, sich keinen Unannehmlichkeiten auszusetzen und ja nicht zu kommen, da Onkel Jochen der Angelegenheit völlig abgeneigt sei. „Aber ich bleibe Dir treu, und morgen nachmittag gehe ich am Feldweg spazieren, wenn Du etwa zufällig – –“ Sie hört auf, das Blut schießt ihr siedend in die Wangen. – „Ein Rendezvous! – Sophie von Kronen – ein Stelldichein!“ Sie streicht es wieder aus, legt den Kopf auf die Platte des Tisches und grübelt. Dann schreibt sie den Brief noch einmal ab – den Schluß läßt sie fort. Sophie von Kronen trifft ihren Geliebten nicht heimlich, er muß sich begnügen mit der Versicherung ihrer Treue.
Ein Liebesbrief ist’s gerade nicht, dazu fehlt jede Innigkeit, jedes wärmere Gefühl, aber es steht doch da, daß sie ihr gegebenes Wort halten will, daß sie hofft, nein – daß sie bestimmt weiß, ihr Vater werde seine Einwilligung nicht versagen.
Hanne bringt dem jungen Mädchen endlich das Abendessen in ihr Zimmer. Hanne ist natürlich eingeweiht. Ditscha hat aber auch noch an ihren Vater geschrieben und sitzt nun am Tisch und stickt an einer Weihnachtsarbeit für irgend jemand. Sie ist jetzt ganz und gar ruhig und sie lächelt sogar, als Hanne ihr das Abendessen aufträgt und dabei stumme Seitenblicke auf sie richtet.
„Das ist ja, als hätte ich ein Verbrechen begangen, Hanne?“ sagt sie. „Habe ich denn gestohlen, oder –“
„Ja, das mein’ ich auch, Fröln Ditscha, as wenn Sie säben Jahr’ alt wären, wo sie nicht mit am Tisch essen durften, wenn Sie unartig gewesen waren, und daß Sie heraus möchten aus dies Hus, dat kann ich auch nachfühlen. Aber es hätt’ jawohl noch ’ne Thür gegeben, warum rennen Sie denn glik mit den Kopp durch die Wand, Fröln Ditscha?“
Ditscha sieht sie finster an.
„Nehmen Se’s mir nicht übel, Fröln Sophiechen, aber –“
„Ach Hanne, quäle Du mich nicht auch,“ ruft das Mädchen, „hast Du Dir etwa dreinreden lassen, als Du Deinen Seligen nahmst?“
„Um Gotteswillen!“ wehrt Hanne, „aber das war auch ein Minsch – so ein, veel to god, veel to god vör mi und vör düsse olle Welt.“
„Na ja!“
„Ick weit all! Jeden Narr’n gefällt sin Kapp’, Fröln Ditscha. Aber wer ’nen groten Sprung don will, de möt toerst rückwerts gähn, das heißt, he öberlegt sik en beten und huppt nicht mit beide Padden und ohne Besinnung öwer den Graben, und das haben Sie gethan. Gott gew Sei Glück dorbi.“
Ditscha bleibt allein, allein an ihrem Verlobungsabend; kein freundliches glückverheißendes Wort, keine liebevolle Zurede! Sie fühlt nichts als Kälte und Einsamkeit. Und plötzlich breitet sie die Arme aus. „Wenn ich eine Mutter hätte,“ jammert sie laut, „die würde mir sagen, was ich thun soll, sie würde mich liebhaben!“ Aber sie hat eben keine Mutter, hat sie nie gekannt. Sie weiß gar nicht, wie wohl es thut, so ein Mutterkuß, kennt nicht das grenzenlose Vertrauen, das Gefühl von Geborgensein an der Mutter Seite. Sie hat nur einen Vater, der ihr heute schreibt, daß sie Weihnacht nicht kommen dürfe – aus irgend einem geringfügigen Grunde, den er nicht einmal angiebt. O, und Ditscha hat seit dem letzten halben Jahre nur noch von diesem Weihnachtsbesuch geträumt, Tag und Nacht; hat sich gesehnt nach dem Papa mit allen Fasern ihres liebebedürftigen Herzens – und sie darf nicht kommen!
Sie meint plötzlich die Stimme von Hans Perthien zu hören: „Ditscha, liebe mich, rette mich, hilf mir gut werden!“
Sie will, sie will ihn lieben – aus Verzweiflung, aus Liebe nicht.
„Lieber Jochen!
Ditschas Glück liegt mir natürlicherweise sehr am Herzen, leider kenne ich sie so wenig, den Erwählten aber gar nicht, und so muß ich Dich bitten – da ich im allgemeinen dafür bin, in Herzensangelegenheiten nicht mitzusprechen, sondern jedem die Wahl zu überlassen – wenn der junge Mann ein Gentleman ist und auch sonst die Verhältnisse passen, den beiden meine Einwilligung zu übermitteln.
Ich sage: wenn die Verhältnisse passen. Ich kenne Familie von Perthien nicht; Erkundigungen sind oft unzuverlässig, man hört nie das, was man hören sollte – Du weißt ja ohngefähr.
Ditscha erhält zwanzigtausend Thaler Vermögen und eine standesgemäße Aussteuer; eventuell auch noch mehr, wenn ich keinen Sohn haben sollte. Vielleicht erfüllt aber Gott unsere Bitte, schon um Euretwillen. Ich werde sehen, hinzukommen, sobald sich die Sache entschieden. Den Besuch Perthiens habe ich abgelehnt, er paßt jetzt nicht in unsere Verhältnisse. Comprenez?Dein Bruder Klaus von Kronen.“
Diesem Brief ist eine Depesche gefolgt mit dem lakonischen Bescheid: „Eben Deinen Brief erhalten mit Auskunft über P. Antrag ablehnen. Klaus v. Kronen.“
„Aha!“ sagt Onkel Jochen, und er nimmt sofort einen wappengeschmückten Briefbogen und schreibt:
„Sehr geehrter Herr von Perthien!
Im Auftrage meines Bruders, des Oberst Klaus von Kronen, bin ich genötigt, Ihnen mitzuteilen, daß er auf die Ehre, Sie als Schwiegersohn umarmen zu können, leider verzichten muß.
ganz ergebenst
Joachim von Kronen.“
So! Er schließt mit einem fabelhaften Schnörkel, streut Sand darauf, blauen goldig glänzenden Sand, tippt dann auf die Klingel und befiehlt dem eintretenden Friedrich, Fräulein Sophie zu melden, er habe mit ihr zu sprechen.
Ditscha tritt gleich darauf ein. Es ist abends, vor Tische, und draußen flockt der erste Schnee.
„Hier lies, Ditscha, wir meinen es gut.“ Er reicht ihr das Telegramm.
„Was hattest Du Papa geschrieben, Onkel Jochen?“ fragt sie, nachdem sie gelesen.
„Du hast ein Recht darauf, es zu wissen. Setze Dich!“
„Danke!“
„Wie Du willst. – Ich habe ihm geschrieben, daß Hans von Perthien ein junger leichtsinniger Dachs ist, dem ein Weib zuzuführen ebenfalls Leichtsinn sein würde. Hans von Perthien hat sich in Halle durch seine tollen Streiche zwar einen Namen gemacht, seinen Eltern aber nichts als Kummer; er hat auch eine recht hübsche Summe Schulden auf dem Halse, und da sein Vater absolut nicht in der Lage ist, dieselben zu bezahlen, so weiß man nicht recht, wie es mit ihm werden soll.“
Sie steht ganz unbeweglich.
„Ist Dir’s nicht genug?“ fragt der Onkel ärgerlich.
„O, dieses alles wußte ich ja, Onkel.“
„So! Und trotzdem?“
„Er hat mir das alles selbst erzählt, er hat mir aber auch gesagt, er würde ein anderer Mensch, er würde es bestimmt, wenn ich ihm helfen wollte.“
„Natürlich!“ stimmt der alte Herr ironisch zu, „so sagen sie immer, diese Herren. Aber es geht wirklich nicht, daß Du ihm hilfst, er muß aus eigner Kraft ein anderer werden, oder so bleiben – je nachdem; Du bist zu gut dafür und deshalb geht dieser Brief hier an ihn ab.“
„Aber wenn ich nun – wenn ich damit nicht einverstanden bin?“ ruft sie flammend.
„Du wirst es sein, Ditscha.“
„Nie – nie, Onkel – ich nehme mein Wort nicht zurück.“
„Er ist hoffentlich so viel Kavalier, daß er sich nicht weiter um ein Mädchen bemüht, dessen Vater ihn zurückwies.“
Sie antwortet nicht, sie sieht starr auf einen Punkt.
[264] „Du wirst Dich also vernünftig benehmen, Ditscha, nicht wahr?“ beginnt er von neuem. „Sei üherzeugt, wir wollen nur Dein Bestes.“ Aber es klingt barsch und ungeduldig. Und wie sie ohne ein Wort zu sagen hinausgeht, fängt er an zu pfeifen. „Ah, bah!“ sagt er dann, „sie wird sich schon geben, was soll sie denn auch machen? Sich das Leben nehmen? Na, na – i Gott bewahre, hat ja ihre fünf Sinne – hm – sonst ganz vernünftig, die Deern – na – na – –“
Ditscha scheint seine Hoffnung zu bewahrheiten, sie fehlt auch nicht abends, noch andern Tags bei Tische, sie spricht zwar nicht viel, aber sie antwortet artig. Blaß sieht sie aus, blaß zum Erbarmen. Na, es wird überwunden werden!
Onkel und Tante legen sich beruhigt zum Mittagsschlaf, Tante Anna schläft, Tante Tine schläft, nur Hanne sitzt am Fenster und stopft Strümpfe.
„Nee, so wat,“ sagt sie, „da gait uns lütt Fröln, un sünst dämmert sie doch auch um düsse Tid auf ihr Sofa.“
Ditscha wandert langsam durch die Hauptallee, biegt dann nach links ein, wo die Gärtnerwohnung sich befindet, und entschwindet den Augen der alten Frau. Sie öffnet nach kurzem Zögern die Hausthür und tritt in das Gärtnerhaus. Dort ist nur oll Mutter Buschen um diese Tageszeit zu finden, sie besorgt die kleine Wirtschaft, der Mann und die Gehilfen sind im Park und Obstgarten mit dem Verschneiden der Bäume und Sträucher beschäftigt.
Ditscha will fragen, ob Karl Busch, der zwölfjährige Junge, vor drei Tagen den Brief an Herrn von Perthien richtig abgegeben hat. Sie ist ohne Nachricht von ihm geblieben. Nach kurzem Klopfen öffnet sie die Stubenthür und verweilt stumm auf der Schwelle, denn da sitzt eine junge Dame in sehr elegantem Negligé in der Sofaecke und liest. Nun hat sie Ditscha erblickt und springt auf.
„O je! Das gnädige Fräulein Sophie!“ ruft sie – „gnädiges Fräulein kennen mich wohl nicht mehr?“
„Du bist’s, Grete?“ fragt Ditscha sehr gedehnt und kalt. „Wo kommst Du her?“
„Aus Berlin, gnädig Fräulein – wollt’ nur ’mal die Eltern besuchen.“
„So? Geht’s Dir gut dort?“
„O danke – sehr gut – das heißt, man muß sich so durchschlagen, es wird aber schon ’mal besser werden; man wird ja doch auch einmal ein Glück haben.“
In diesem Augenblick tritt Mutter Buschen ein, eine welke, unter schwerer Arbeitslast früh gealterte Frau. Sie wirft einen Umhang vom nächsten Stuhl, daß der kostbare Schmelzbesatz daran nur so klappert, macht eine böse Bemerkung über Unordnung und Unhöflichkeit zu ihrer Tochter, wischt einen Stuhl mit der Schürze ab und bittet „gnä’ Fröln“ Platz zu nehmen. „Grete, kiek’ nah den Kaffee,“ befiehlt sie, und die kleine üppige Blondine in dem blauen mit weißen Spitzen überreich garnierten Morgenkleide, das zu dieser einfachen Stube in höchst wunderlichem Gegensatz steht, geht hinaus, lächelnd, mit hocherhobenem Stumpfnäschen.
Ditscha ist ihr sprachlos mit den Augen gefolgt. Mutter Buschen sieht ihr halb stolz, halb ärgerlich nach und geht dann an den Glasschrank, den sie mit vieler Umständlichkeit aufschließt.
„Da ist ein Brief vor gnä’ Fröln,“ sagt sie, „Karl sollt’ ihn gnä’ Fröln geben, wenn Sie im Parke spazieren gahn; gestern abends hat ihn ein junger Herr gebracht.“
Dunkel erglühend greift Ditscha nach dem Schreiben. Die einfache Frau sieht sie an mit Augen, in denen sich tiefer Respekt mit Zweifel und Mißtrauen streitet. „O, gnä’ Fröln!“ murmelt sie.
„Was denn Mutter Buschen?“
„O, die Welt wird immer wunderlicher, ick verstah ihr nu bald nich mehr,“ und die alte Frau nimmt das Buch, in dem ihre Tochter gelesen, und die Sammetmantille und legt beides auf einen Stuhl im Winkel und deckt es mit einem Stück des Wochenblattes zu. „O, ich mein’ man so, gnä’ Fröln.“
Ditscha fühlt ihre Wangen brennen; sie weiß, die Frau wundert sich über ihre Korrespondenz, aber sie darf sich nicht anklagen, indem sie sich entschuldigt.
„Wollen sich gnä’ Fröln nicht setzen?“
„Danke, Mutter Buschen, nur so lange, bis ich gelesen.“
Grete Busch tritt eben wieder mit dem Vesperbrot ein, Ditscha spürt den Duft von geringwertigem Kaffee, vermischt mit Patschuli. Unwillkürlich nimmt ihr Gesicht einen hochmütigen Ausdruck an; sie steckt das Schreiben ungelesen ein und wendet sich zum Gehen.
Die hochfrisirte, stark gepuderte Grete lächelt ironisch, als der Brief in Ditschas Tasche verschwindet. Mutter Buschen fühlt, sie muß irgend etwas sagen. „Ja, das ist so, gnä’ Fröln, Kinner gehn ihre eigenen Straßen, und die Grete heirat’ ja nu auch bald.“
„So?“ – Ditscha kann sich nicht entschließen, freundlicher auszusehen; das aufgedonnerte Geschöpf mit dem frechen Lächeln ist ihr unsagbar zuwider. Was ist aus dem lieben blauäugigen kleinen Mädchen geworden, das sie einst gekannt, das einst, frisch gewaschen und gekämmt von Hanne, zum Spielen mit der kleinen Baroneß Ditscha ins Herrenhaus geholt wurde. – „So?“ sagt sie kühl, „ich gratuliere.“
„Ja, und was der Bräutigam is,“ fährt die Mutter fort, „der hat ja woll ’ne ganz gute Stellung – nich, Grete? Aber unsereins kennt sich nich aus mit die neumodischen Titels; ich weiß nich, was das vor einer is, ein spanischer Reitschulstallmeister – nich, Grete? Hat mit Pferde zu thun! Aber wie? Das versteh’ ich nich. Und was Grete ist, die sagt, nu muß sie auch reiten lehren, wobei mich das Grausen ankommt, denn es ist nix Paßliches vor ein Mädchen auf unserm Stand, und sie kann da ja doch auch Malhör bei haben!“
Und Mutter Buschen schüttelt den Kopf mit trostlosem Blick auf die lächelnde Tochter.
Ditscha verabschiedet sich mit einem: „Frau Busch, es steht ja alles in Gottes Hand! – Adieu, Grete, adieu, Mutter Busch! – Vielleicht kann Karl noch einmal für mich einen Gang thun?“
Oll Mutter Busch sieht sie wieder so eigentümlich an. „Wenn’t sin möt, gnä’ Fröln Sophie!“
Ditscha zuckt zusammen und bemerkt, wie Grete den Mund verzieht. Sie wirft den Kopf zurück und geht aus der Stube, die alte Frau folgt ihr. „O, gnä’ Fröln, dragen Se mi nix nach, gnä’ Fröln, ick hew Se doch von lütt up kennt, und wann ick ock man blot de Gärtnersfru bin, ick hew Se so leef as min eigen Deern.“
„Dann bekümmern Sie sich auch nur um Ihre eignen Sachen,“ sagt Ditscha mit blitzenden Augen. „So lange ich denken kann, hat mir einer von Ihren Jungen kleine Wege gethan – was kommt Ihnen bei, Frau Busch?“
„O, gnä’ Fröln,“ bittet die Alte und führt den blauen Schürzenzipfel an die Augen, „vergeben’s mi! Se hebb’n recht! Min Deern – ja ’s ist wahr, dodschrieen künn ick mi, wenn ick ehr ansieh. Aber se is doch man en gewöhnlich Mäken, und uter dat min Mann und ick uns darum kibbeln, kraiht da kein Hund un kein Hahn nah –. Aber so’n Fröln wie Sie, gnä’ Fröln –“
Ditscha wird jetzt bleich und dreht der alten ungeschickten Frau, die sich erdreisten will, ihr Verhaltungsmaßregeln zu geben, heftig den Rücken zu und verläßt das Haus.
„Gnä’ Fröln!“ schallt es hinter ihr her. „Karl kann ja, gnä’ Fröln – alles, wat Se wulln – Se brukens blot to seggen.“
Aber Ditscha antwortet nicht. Mit einem Gefühl des Ekels geht sie durch den Park. Neben der zerbrochenen Nymphe im einsamsten Teil des Gartens bleibt sie stehen und liest. Er schreibt ruhig, liebevoll, er fühlt, daß solch ein Glück nicht leicht zu erringen ist; er will sich’s verdienen und dankt ihr, daß sie warten wird, hofft auf gute Nachricht vom Papa. „Darf ich Dich nicht einmal sehen? Kommst Du nicht zu unserer Bank während der Dämmerung?“ fragt er. Thue es – bitte, gieb mir diesen Liebesbeweis – es ist so nötig, damit ich mich aufrecht erhalte. Bis in den Tod Dein Hans.
P. S. Morgen um vier Uhr werde ich dort sein.“
Er hat die Nachricht, die verneinende vom Onkel im Auftrag Papas, noch nicht, natürlich nicht – Onkel schrieb heute, und dieser Brief ist von gestern, sagt sich Ditscha.
Sie wird hingehen zu der Bank und wird ihm sagen, daß sie auf jeden Fall ihr gegebenes Wort zu halten gedenkt, daß er aber nicht gebunden sein soll, er, der so viel Aussichten auf ein anderes Glück. Will ihm sagen, daß sie sich nicht schreiben können – Beetzen hat keine Post, und sie hat keinen Boten – also stillschweigend warten. Das ist alles, was sie thun kann – wenn er damit einverstanden ist.
Sie kehrt um und geht am Gärtnerhause vorüber der Parkpforte zu. Es ist schon ziemlich dunkel, aber sie erkennt noch, wie Grete Busch ihr weißes Gesicht an die Scheibe drückt und sie anstarrt. Mag die denken, was sie will, Ditscha thut nichts Unrechtes.
Neben der Bank, auf der heute leichter großflockiger Schnee liegt, lehnt eine Gestalt, das Pferd ist auf dem Fahrweg geblieben, es steht mit schlagenden Flanken und tief gesenktem Kopf da, als sei es halb zu Tode gehetzt worden.
Ein Künstlerkleeblatt.
Wenn wir aus der Zahl der jüngeren Darsteller der deutschen Bühne, unter denen sich so viele anerkennenswerte Talente befinden, das auf der Vorderseite dieser Nummer abgebildete Künstlerkleeblatt herausheben, so geschieht es nicht nur deshalb, weil diese drei gegenwärtig zu den gefeiertsten Schauspielern zählen, sondern auch, weil sie thatsächlich für die Kunst der Gegenwart in ihrem Gebiet besonders hervorragende Vertreter sind. Es ist begreiflich, daß die Darsteller der feurigen Liebhaberrollen auf die empfänglichen Gemüter der Mädchen und Frauen den größten Eindruck machen; der Lebenskreis, in welchem sich ihre Gefühle und Gedanken bewegen, wird ja hauptsächlich von diesen Darstellern vertreten, und wenn jene für das hinreißende Dichterwort noch zugleich den Zauber einer anziehenden Persönlichkeit einsetzen, so müssen sie ja auf der ganzen Linie triumphieren. Daher kommt es, daß für unser Künstlerkleeblatt in der Frauenwelt ein besonders reges Interesse besteht, welches sogar bisweilen den gerechten Maßstab der Beurteilung etwas zu gunsten dieser „Jugendlichen“ verrückt hat. Wir kennen nicht die
Geheimnisse der Schreibsekretäre, wir können nicht die Huldigungen in Vers und Prosa, nicht die Rosabriefchen und Schleifchen und Haarlöckchen kontrollieren, mit denen stille Bewunderung und leidenschaftliche Verzücktheit die Künstler heimgesucht hat; wir wissen nicht, in wie vielen Boudoirs die Bilder derselben zu andächtiger Verehrung aufgestellt sind, doch das wissen wir, daß nach den Aufführungen, in denen sie mitgewirkt haben, sich öfters das ganze weibliche Publikum in eine große Claque verwandelte und die Begeisterung desselben weit über das Maß hinausging,
das an gewöhnlichen Theaterabenden üblich ist. Doch die Begeisterung für Kunst und Künstler, die wie jeder Enthusiasmus etwas Epidemisches hat, hängt mit den edelsten Strebungen und Richtungen unseres Gemütes zusammen und wenn sie auch einmal das rechte Maß überschreitet – wir möchten nicht wünschen, daß die Ansteckungsfähigkeit dafür je erlösche.
Der erste dieses Kleeblatts, Josef Kainz, hat, ganz abgesehen von seinen künstlerischen Leistungen, schon wiederholt von sich reden gemacht: einmal durch seine Beziehungen zu König Ludwig II. von Bayern, deren wir in unserem Blatte bereits gedacht haben (s. Jahrg. 1886, Nr. 27), dann durch seinen Konflikt mit dem Direktor des Berliner Theaters, Ludwig Barnay. Josef Kainz ist am 2. Januar 1858 zu Wieselburg in Ungarn geboren als einziger Sohn eines Staatseisenbahnbeamten; auf den Wunsch seines Vaters versuchte er sich als Schauspieler auf dem Wiener Sulkowskitheater und wurde dann Schüler der Wiener Hofburgschauspielerin Kupfer-Gomansky-Heigel. Ein Probegastspiel vor Dingelstedt und den Regisseuren des Burgtheaters hatte die Folge, daß er von August Förster für das Leipziger Stadttheater engagiert wurde, das dieser im Juli 1875 übernehmen sollte. Bei einem Gastspiel am Kasseler Hoftheater, welches Kainz in der Zwischenzeit unternommen, machte er trübe Erfahrungen; er wurde als völlig unreif entlassen. Und nicht besser erging es ihm in der Theaterstadt an der Pleiße; er debütierte mit wenig Erfolg und wurde, wie er selbst in seinen eigenen Aufzeichnungen sagt, eine Zielscheibe des Spottes für fast alle Theaterbesucher Leipzigs, wegen seiner affenartigen Gebärden als Liebhaber. Doch die Zeit der Niederlagen endete bald – und zu den ersten Siegen verhalfen ihm die „Meininger“. Er war im August 1876 am Hoftheater zu Meiningen als Ferdinand in „Kabale und Liebe“ aufgetreten, wurde auf drei Jahre engagiert, zog mit ihnen durch die deutschen Lande und errang 1879 seine ersten großen Erfolge in Berlin als Prinz von Homburg und als Kosinsky in Schillers „Räubern“. Am Wiener Stadttheater spielte er dann den Melchthal mit solchem Gelingen, daß ihn Laube sofort engagierte, doch noch ehe Kainz die Stellung angetreten, legte Laube die Direktion nieder. Durch Possart an das Münchener Hoftheater berufen, machte er unter der genialen Leitung desselben große Fortschritte in seiner Kunst und wurde von ihm der „Societät“ des „Deutschen Theaters“ in Berlin empfohlen. Bei der Eröffnungsvorstellung am 19. September 1883 spielte er den Ferdinand in „Kabale und Liebe“, bald darauf den Don Carlos, eine Glanzleistung des Darstellers, die außergewöhnliches Interesse erregte. 1886 verheiratete er sich mit der deutsch-amerikanischen Schriftstellerin Sara Hutzler, die ihm 1893 durch den Tod entrissen wurde. 1889 trat er in den Verband des „Berliner Theaters“, ein Schritt, der für ihn schlimme Verwicklungen und trostlose Verhältnisse zur Folge hatte. Denn bei einem Konflikt zwischen ihm und dem Direktor Barnay gab das Schiedsgericht des Kartellverbandes dem letztere recht und Kainz wurde von allen Bühnen, die dem Verband angehören, geächtet. Er mußte durch Gastspiele an kleinen Theatern und durch Vorlesungen, zu denen in Berlin die begeisterte Frauenwelt strömte, sich seinen Lebensunterhalt verdienen. Oskar Blumenthal, der nicht dem Verbaud des Bühnenvereins angehörte, öffnete ihm die Pforten des Lessingtheaters in Berlin und er spielte dort den Willy Janikow in „Sodoms Ende“. Dann reiste er nach Amerika zu einem Gastspiel, das ihn nach New York, Chicago und Milwaukee führte. Zurückgekehrt nach Berlin, wurde er von L’Arronge, der zu diesem Zweck aus dem Kartellverband ausgetreten war, wieder dem Deutschen Theater gewonnen, nachdem Kainz 20000 Mark an Barnay gezahlt hatte. Hier wagte er seinen ersten Versuch als Charakterdarsteller und spielte den Franz Moor mit gutem Erfolg. Auch in seinem Hamlet traten erfolgreich Eigenschaften seines Talents hervor, die im Charakterfach erst Gelegenheit zu voller Entfaltung haben. Unter der neuen Direktion des „Deutschen Theaters“, die im vorigen Jahre Otto Brahm übernahm, hat er sein Rollengebiet in dieser Richtung erweitert.
Josef Kainz hat keine Heldenfigur, das Heroische liegt ihm fern; aber schwärmerische Liebhaber, zartbesaitete Charaktere mit einem leidenschaftlichen Zug, von einer lebhaften Jugendlichkeit, in welcher bisweilen noch das Knabenhafte durchblickt, auch junge Helden, die von der bleichen Farbe der Reflexion angekränkelt oder die innerlich zerrüttet und schwankend sind, Rollen, welche dabei geistige Beherrschung und Durchdringung verlangen – das sind die Aufgaben, die er mit seiner Persönlichkeit deckt und in denen er Vorzügliches leistet. „Eine schlanke Gestalt, jede Bewegung geschmeidig und anmutig, ein blasses, nicht schönes, aber geistvolles, von nervöser Lebendigkeit durchzucktes Gesicht, in welchem ein Paar dunkler, jetzt schwärmerisch blickender, jetzt feurig aufleuchtender Augen eine wundervoll beredte Sprache führt, eine warme sonore Stimme, welche jeder seelischen Empfindung den überzeugendsten Ausdruck leiht,“ so hat ein deutschamerikanischer Kritiker die Erscheinung des Künstlers und die Mittel seiner Kunst treffend charakterisiert. Frei von allem Deklamatorischen, sucht er seinen Gestalten charakteristische Lebenswahrheit zu geben. Darin gelang ihm der glücklichste Wurf mit seinem Don Carlos, den er mit einer fast kindlichen Jugendlichkeit spielt, als einen unverdorbenen, aber auch unreifen Jüngling, der nervös überreizt in dem Banne der Leidenschaft liegt. Von dieser Auffassung ausgehend, stattet er seine Rolle mit einer großen Zahl von eigenartigen Zügen aus, von denen keiner aus dem Gesamtbilde herausfällt. Seine feurige Beredsamkeit an der Leiche Posas im letzten Akt hat etwas Hinreißendes. Auch sein Romeo hat eine scharf ausgeprägte Jugendlichkeit und wird ganz von seiner Leidenschaft wie von einer unwiderstehlichen dämonischen Macht beherrscht, er weiß seiner Darstellung einen so hinreißenden Zug zu geben, daß das Publikum diese Macht mitempfindet. Sein Prinz von Homburg, für dessen träumerisch nervöses Naturell Kainz wie geschaffen erscheint, der feurige, stürmische Ferdinand in „Kabale und Liebe“, der übermütige Prinz Heinz in „Heinrich IV.“, der Ernesto in Echegarays „Galeotto“, der von Akt zu Akt an Bedeutung wächst, der Marcus in „Arria und Messalina“ mit seiner Liebesglut und seinem innern Kampf, vor allem der König in Grillparzers „Jüdin von Toledo“ – jede dieser Rollen bedeutet für den Künstler einen als Bühnenereignis gewürdigten Triumph, den er auf der Bühne davongetragen.
Der zweite Künstler unseres Dreiblatts, Adalbert Matkowsky, preußischer Hofschauspieler, stammt von den baltischen Gestaden, er ist am 6. Dezember 1859 in Königsberg, der Stadt der „reinen Vernunft“, geboren und hat dort seine Gymnasialbildung erworben. Man erzählt sich, daß Alexander Strakosch, als sich Matkowsky ihm vorstellte und um ein Urteil über seine schauspielerische Befähigung bat, ihm jedes Talent absprach. Doch Matkowsky ließ sich durch dies ablehnende Urteil nicht entmutigen, er nahm in Berlin Unterricht und beteiligte sich an den Vorstellungen der Liebhabergesellschaft Urania. Ohne lange an kleinen Theatern Spießruten laufen zu müssen, fand er schon 1877 ein Engagement am Dresdner [267] Hoftheater, wo er sich schnell einen so günstigen Ruf erwarb, daß sich Pollini veranlaßt sah, ihn 1886 dem Ensemble des Hamburger Stadttheaters einzureihen; von dort kam er 1889 an das Königliche Schauspielhaus in Berlin, dessen Ueberlieferungen wesentlich dazu beitrugen, seinem Talent, das noch viel Ueberwucherndes und Ueberschäumendes hatte, die rechte Bahn zu weisen.
Matkowsky ist ein so eigenartiger Darsteller wie Kainz; er hat dieselbe hinreißende Leidenschaftlichkeit wie dieser, aber sie ruht doch auf einer andern Grundlage. Bei Kainz ist sie nervös, die Summe verschiedener zusammenwirkender Einflüsse, bei denen hohe geistige Reizbarkeit und Erregbarkeit wesentlich mitspielen; bei Matkowsky hat sie eine elementare Kraft und geht aus einem temperamentvollen Wesen hervor. Er hat nichts Grüblerisches, nichts geistig Zersetzendes, es ist bei ihm alles aus einem Guß; er setzt stets sein ganzes Wesen ein und erobert sich meist im Sturm die Sympathien des Publikums, besonders der schöneren Hälfte desselben. Wo ihm dies nicht gelingt, stößt er auch bisweilen auf entschiedene Ablehnung. So hat die Wiener Kritik neuerdings nicht viel von ihm wissen wollen. Zu seinem Rollenkreis gehören nicht blos Don Carlos und Ferdinand, sondern auch Fiesko und Egmont. Sein Don Carlos ist von ganz anderer Art als derjenige von Kainz; er ist auf einen andern Ton gestimmt. Aehnlich wie er spielte einst der große Charakterdarsteller Dawison die Rolle. Man wird zwar den Don Carlos Matkowskys, der das Liebhaberfach seit Jahren bekleidet, nicht mit jenem ungelenken Infanten Dawisons vergleichen wollen, der nur ein Versuch, ein Seitenpas seiner Künstlerschaft war; gleichwohl sind zwei Ähnlichkeiten unverkennbar: einmal das hinreißende Feuer der Darstellung und dann in den Gefühlsscenen ein etwas weinerlicher Ton, der an slavische Sentimentalität erinnert.
Zündend wirkt Matkowsky auf den Höhen des Affektes, wo sich sein Organ voll, groß, imposant entfaltet: so als Carlos beim Abgang in der Scene mit der Eboli und in den beiden großen Scenen mit dem Könige; in den ersten Auftritten mit Posa wie auch später bisweilen zeigte sich eine etwas süßliche Ueberschwenglichkeit. Das Organ Matkowskys ist ausgiebiger und mächtiger als dasjenige Dawisons, sein Fach ein anderes, aber gerade das elektrisierende Feuer des Vortrages ist beiden gemein. Das zeigte Matkowsky auch als Prinz von Homburg. In den späteren Scenen, in denen der Prinz sich wiedergefunden aus haltloser Schwärmerei und schwächlicher Verirrung – da schlägt er einen vollen innerlichen Ton an und wird den wunderbaren Versen der Kleistschen Muse durch einen Vortrag gerecht, bei dem ein schönes machtvolles Organ und innere Begeisterung harmonisch zusammenwirken. Daß Matkowsky in einer Rolle, in welcher er nur sein Temperament frei gewähren zu lassen braucht, als Ferdinand in „Kabale und Liebe“ glänzt, ist selbstverständlich; geradezu hinreißend wirkt er vor allem in der Vergiftungsscene des letzten Aktes, die er nicht nur mit einer alles Detail trefflich ausmalenden künstlerischen Sauberkeit, sondern auch mit einem wahrhaft dämonischen Zug spielt, wobei der Sarkasmus, die wilde Entschlossenheit, die maßlose Verzweiflung, nachdem er seinen Irrtum erkannt, in Spiel und Rede mit ergreifender Wahrheit zum Ausdruck gelangen. Sein Romeo atmet die ganze sinnliche Liebesglut des feurigen Südländers, die namentlich in der Balkonscene eine berauschende Schwüle und Ueppigkeit entfaltet. Bei dem eigenartigen Naturell Matkowskys ist es begreiflich, daß die Charaktere, die von der bleichen Farbe der Reflexion angekränkelt sind, ihm weniger zusagen, daß er wenigstens größere Schwierigkeiten darin findet, sie mit seinem eigensten Wesen zu verschmelzen. Dies gilt besonders von seinem Hamlet, trotz der Vorzüge, die auch dieser Leistung nachzurühmen sind.
Der dritte unserer jungen Liebhaber und Helden ist Alexander Barthel, dessen künstlerische Physiognomie weniger markante Züge trägt, aber dafür durch einen harmonischen Gesamteindruck anzieht und befriedigt. Barthel ist am 18. Mai 1864 als Sohn des Hofmalers Gustav Adolf Barthel zu Braunschweig geboren, besuchte das dortige Realgymnasium und machte seine ersten theatralischen Versuche auf dem Sommertheater in Celle, wo er den Falkentoni im „Goldbauer“ spielte. Dann wurde er am Braunschweiger Hoftheater engagiert, wo er unter Anton Hiltls Leitung in seiner Kunst bemerkenswerte Fortschritte machte. Eine kürzere künstlerische Station in Hamburg blieb ohne Einfluß auf seine Entwicklung; doch ein glücklicher Stern führte ihn dann zu den „Meiningern“, wo er sich als Romeo die ersten Lorbeern erwarb. Wenn ihm die ausgezeichnete Schule dieser künstlerischen Truppe, die er auf ihren letzten Kunstreisen begleitete, sehr zu statten kam, so trug er auf der anderen Seite nicht wenig dazu bei, daß ihre Vorstellungen glänzenden Beifall und Ruhm erwarben; denn mit seiner sympathischen Persönlichkeit war er ein Hauptträger des Ensembles. Er spielte überall in Deutschland und auch im Auslande eine große Zahl der jugendlichen Liebhaber- und Heldenrollen und die Begeisterung der Zuhörerschaft galt oft in erster Linie seinen Leistungen. Nach der Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ durch die „Meininger“ in Berlin engagierte L’Arronge den Künstler für das Deutsche Theater im November 1890. Er hatte hier keinen leichten Stand, denn sein Vorgänger war Josef Kainz. Doch er behauptete sich mit Erfolg in seiner Stellung, die er zwei Jahre lang einnahm. Seit dem Jahre 1892 ist Barthel am Stadttheater in Frankfurt a. M. engagiert, wo er ebenfalls bereits die Sympathien des Publikums gewonnen hat.
Barthel besitzt nicht jenen schwärmerischen Zug, wie er einem Kainz und Matkowsky eigen ist, die wie mit einem magnetischen Bann das Publikum und besonders die Frauenherzen fesseln; aber er gewinnt seine Siege durch die edle und schöne Haltung, die er seinen Jugendgestalten giebt, wobei er keineswegs den lyrischen Zauber preisgiebt, der einem Max Piccolomini, Romeo und Leander eigen sein muß; sein klangvolles und warmes Organ vermag diesen Zauber festzuhalten. Doch wo diese Jünglingsgestalten einen heldenhaften Zug gewinnen, wie in Romeos Tybaltscene oder heim Abgang des Max am Schluß des dritten Aktes in „Wallensteins Tod“ – da ist er in seinem eigentlichen Element. Eine Prachtleistung ist sein Karl Moor – er deckt das Idealbild dieses Schillerschen Helden mit seiner Kraft, seinem Feuer und einem Zug von Größe, der die verbrecherischen Verirrungen adelt. Unübertrefflich ist er in der Schlußscene des vierten Aktes, die er mit hinreißendem Schwung und allem Aufwand seiner nie versagenden Mittel durchführt. Welchen ritterlichen Adel hat sein Lionel! Und welch ein fein und glänzend ausgeführter Charakterkopf ist sein Marc Anton! Wie ergreifend sein Schmerz an Cäsars Leiche, wie machtvoll in ihrer Steigerung seine Beredsamkeit auf dem Forum! Wie versteht er die merkwürdige Mischung in Kleists Hermann, dem Cherusker, zur Einheit zu gestalten. Daß Barthel zu charakterisieren versteht, zeigte er auch als König in dem grellbeleuchteten, aber spannenden Drama Fitgers „Die Rosen von Tyburn“; er wußte dem wankelmütigen Fürsten durch den Adel der Erscheinung noch eine gewisse Sympathie zu sichern.
Das „Deutsche Theater“ in Berlin hat bisweilen Dramen von Friedrich Hebbel und Friedrich Halm gegeben, die nicht zum eisernen Bestand des deutschen Bühnenrepertoires gehören, und so den Darstellern Gelegenheit geboten, neue Rollen aus sich selbst heraus zu schaffen. So war das Hebbelsche Drama „Gyges und sein Ring“ wohl nur auf dem Burgtheater aufgeführt worden, als L’Arronge es auf sein Repertoire setzte. Herr Barthel spielte den Gyges und zeigte sich in der Darstellung des jungen feurigen Griechen auch der Hebbelschen Dramatik und ihrer spröden Kraft gewachsen. Die großen Scenen mit Rhodope spielte er trefflich. Viel öfter ist Friedrich Halms „Wildfeuer“ über die Bühne gegangen. Doch sagte das Stück im ganzen dem Berliner Geschmack nicht zu. Den Erfolg am „Deutschen Theater“ verdankt es dem guten Spiel der Mitwirkenden, besonders auch Barthel, der als Marcel einen der Halmschen Pädagogen so darstellte, daß die Kritik diese Rolle für seine beste erklärte. Und wenn es die Pädagogik der Liebe gilt, da müssen wir noch einer anderen Rolle gedenken, in welcher sie ihr Lehramt in etwas derberer Weise ausübt – des Shakespeareschen Petrucchio in der „Widerspenstigen Zähmung“. Hier zeigt der Darsteller die ganze Quellfrische seines ursprünglichen Talents; dieser Petrucchio ist ein Prachtmensch, naiv, urwüchsig und von unverwüstlichem Humor bei allen seinen Gewaltthätigkeiten.
Barthel ist ein Darsteller, frei von aller Verschwommenheit und Zerflossenheit, mehr für diejenigen jugendlichen Charaktere geschaffen, die einen heldenhaften Zug, einen männlichen Charakter haben und dem in Bezug auf die Liebe ein leidenschaftlicher Jaromir immer besser liegt als ein schwärmerischer Max oder Carlos. Jedenfalls ist Barthel mehr für das Heldenfach berufen, während sich Kainz dem Charakterfach zuwendet und Matkowsky noch auf lange hinaus das Monopol für die Darstellung leidenschaftlicher Liebesglut behaupten wird. †
Schwester Brigitte.
Der Kampf war beendet. Zwei Tage lang hatten die Truppen in zerstreuten Gefechten gerungen, den Feind aus der bedrohlichen Stellung zu verdrängen. Zwei Tage lang waren die kleine Stadt und die Ortschaften rings umher in schweren Pulverdampf gehüllt gewesen, so daß die Augustsonne wie durch ein weißes Nebelmeer brach. Und heute war die Entscheidung gefallen. Zahlreich waren auf beiden Seiten die Opfer an Mannschaft, an Pferden, an Equipage. Die weiten Felderstrecken zwischen dem Fluß und den Waldhügeln waren zerstört, zerstampft, von den Geschossen zerwühlt und vernichtet. Wo vor wenigen Tagen noch die wogende Saat geprangt, lag ein verwüstetes Blachfeld. Viele Gehöfte, die in dem von den Batterien bestrichenen Gebiete gestanden, lagen in Trümmer zerschossen andere waren geräumt und verlassen. Furchtbare Opfer hatte der Sieg gekostet, aber er war unser.
Eine feindliche Batterie, in halber Höhe am Ausgange der Thalsohle aufgefahren, hatte den Abzug der Truppen gedeckt, so daß an eine Verfolgung nicht gedacht werden konnte. Die Einnahme dieser Batterie war die letzte schwere Aufgabe der Sieger gewesen. Dreimal schmetterten die Trompeten die Signale zum Sturm, dreimal fegten die blitzenden Salven aus der Geschützreihe die Stürmenden zurück, ein Knäuel von Toten und ächzenden Verwundeten - alles hinabkollernd durchs Gebüsch, über die Grashänge, ins Bachbett. Die Batterie ist zu nehmen, um jeden Preis! - und das vierte Mal gelang es. Unter dem gellenden Hornruf der Signale rückten die Bataillone geschlossen vor, über die Steine, durchs Jungholz, durch Dorngestrüpp, beim Krachen der Geschütze, im prasselnden Gewehrfeuer. Ein letzter furchtbarer Anprall, das dumpfe Getöse des Handgemenges an den aufgeworfenen Schanzgräben, abgerissene Hornrufe, wie ein schwirrender Kampfschrei - und dann schwiegen die Geschütze plötzlich, nur vereiuzelt tönte hin und wider noch ein Gewehrschuß - die Batterie war genommen, die Bemannung niedergemacht oder gefangen. - Aber um welchen Preis! - Innerhalb der Schanze lag alles wirr durcheinander - Tote, Verwundete, umgestürzte Munitionskarren, zertrümmerte Lafetten, verendende Pferde, Waffen, Monturfetzen. Wo die Sieger das letzte Geschütz genommen, waren breite dunkle Flecken am Boden, wie auf einem Schlachtplatz. Zwei Kanoniere, die man nicht von ihrem Platze zu reißen vermocht, und die das Stück bis zum letzten Augenblick bedient hatteu, lagen da, der eine auf dem Rücken, langausgestreckt, den blutenden Kopf mit dem Todesgesicht am Fuß der Lafette, der andere, mit einem Fetzen in der starren Hand, ein formloser Klumpen, unter dem Geschützrohr.
Die Truppenreste sammelten sich und rückten ab. Ein paar Detachements wurden vorgeschoben und besetzten den Straßenzug. Im blutigroten Schein der tiefstehenden Sonne zogen lange Wagenkolonnen über die Walstatt - Geschütze, abrückende Munitionszüge, Gepäck- und Proviantwagen, dann Sanitätskolonnen. Und letztere blieben da, zerstreuten sich über das Schlachtfeld, Aerzte, Krankenwärter, Träger, barmherzige Schwestern. Langsam, in kleinen Abteilungen fuhren die Wagen mit den Toten und Verwundeten ab, eigenes Fuhrwerk und anderes aller Art, wie es zu requirieren gewesen: Mietwagen, strohbedeckte Bauernkarren, Leiterwagen. Langsam fuhren sie die Chaussee dahin, dem Städtchen zu. -
Eine Strecke Weges vor diesem, in einem weitläufigen offenen Garten, wo große Baumgruppen stehen, liegt zwischen Eichen und Tannen ein einstöckiges altmodisches Landhaus. Im Erdgeschoß war eine Ambulanz errichtet worden, die jetzt aungelassen und zum Lazaret nach der Stadt gebracht werden sollte. Das alte Paar, das einsam in dem Hause lebte, ein strammer hagerer Herr und eine silberhaarige rüstige Greisin, hatten sich vielen Dank verdient in diesen schweren Stunden. Jetzt sollte die Sorge und Unruhe, die in ihr stilles Leben gefallen war, wieder weggenommen werden. Nur einer, ein Schwerverwundeter, mußte hier belassen werden. Die alten Leute fanden es natürlich und sagten ihre beste Pflege zu. „Es ist der Lieuteuaut Georg Werter von den Sechser-Dragonern,“ sagte der Stabsarzt. „Sie wissen, vor dem Sturm auf die Batterie - eine Kartätsche hat ihm das Pferd unterm Leib weggenommen und er selbst ist durch einen Splitter auf der Brust verwundet, sehr schwer -“ der Stabsarzt sah den alten Herrn mit einem bedeutsamen Blicke an. „Es wäre ja möglich, daß er davonkommt, stark genug wäre er dazu. - Der muß hier bleiben, Herr Landrat. Einer der Aerzte wird täglich heraufkommen, früh und abends, und ich werde Ihnen eine Wärterin schicken, die hier zu bleiben hat. Haben Sie niemand im Haus, der sie in den nötigen Stunden ablösen könnte?“
„O ja, Frau Stübel, unsere Beschließerin; sie ist geschickt.“
„Sehr gut,“ sagte der Stabsarzt. „Das ist mir angenehm; wir haben keinen Ueberschuß. Ich werde gleich eine tüchtige verläßliche Person heraufbeordern. Gleich nach meiner Hinkunft will ich einen Zettel schreiben, daß Schwester Brigitte sich zwecks Pflege eines Schwerblessierten zu Landrat von Kolbing zu begeben und bis auf weiteres da zu verbleiben hat - bis auf weiteres. Es ist nur noch der Patient zu befragen, ob und wo er Eltern, Geschwister oder sonst jemand Nahestehenden hat - der Form wegen, Herr Landrat.“
Die Anfrage hatte keinen Erfolg. Lieutenant Georg Werter hatte niemand, keine Eltern, keine Geschwister. Er wurde in dem Eckzimmer des oberen Geschosses gebettet, dessen Fenster in den Garten gingen und wo man das Rollen der Wagen, die passierenden Truppen und Pferde von der Landstraße nicht hörte.
Schwester Brigitte kam. Es war ein hochgewachsenes Mädchen von schlanker Gestalt mit stillen Zügen, denen die von Luft und Wetter gebräunten Wangen den darin ausgeprägten Ernst verstärkten. Sie kam in einem kleinen Wägelchen angefahren und fand den Weg durch die leere Thorhalle über die Treppe zu den Wohnräumen hinauf. Oben begegnete ihr die alte Frau und sah das junge Wesen mit einer Art neugieriger Teilnahme an, wie Schwester Brigitte dastand in ihrem schwarzen Gewande, ein kleines Täschchen in der Hand, freundlich heraufblickend unter dem weißen Stirnbande ihres Schleiers. Sie wußte schon, wie es sich mit dem Kranken verhalte. Der Arzt hatte sie unterrichtet. So bat sie denn, ihm ihre Ankunft zu melden, damit er nicht überrascht werde.
„Aber Sie werden doch erst ablegen wollen?“ Schwester Brigitte lächelte ein wenig.
„Die kleine Tasche - ich lege sie indes hierher!“
Sie reichte Georg die Hand und beugte sich zu ihm nieder, einen Gruß in den Worten wie ihn die lange Uebung ihr gegeben. In ihre tiefe Stimme hatte die Natur selbst einen tröstlichen Klang gelegt. Des Kranken langsamer Blick haftete, den neuen Eindruck zu erfassen, auf den fremden Zügen. Von der untergehenden Sonne fielen die tiefgefärbten Strahlen seitwärts nach seinem Lager zu und gossen über Schwester Brigittens Gesicht einen dunkelroten Schein.
Sie sprach nichts weiter, um ihn nicht selbst zum Sprechen anzuregen, aber sie machte sich gleich zu schaffen an seinem Kissen, an dem Tischchen auf dem die Medikamente standen und das Verbandzeug, die Lampe für die Nacht. Seine Blicke folgten ihren Bewegungen durchs Zimmer. Es war eine Zerstreuung, eine Abwechslung. Und dann schloß er müde die Augen.
Die Schwester stand am Fußende des Bettes und betrachtete nachdenklich das Gesicht des Schlummernden. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, und während sie unbeweglich stand, senkte sich ihr Kopf tief herab. Dann hob sie die Arme und kreuzte sie fest über ihrem Busen, fast, als sollte diese Gebärde sie in einem stummen Gebete stützen.
Gegen den verbleichenden Abendhimmel sah Georg ihre Silhouette am Fenster, durch das man ein paar Baumwipfel und in der Ferne das schwache Profil des Hügelzuges erblickte.
Mit der Dämmerung ward es still. Das Landhaus war vom Militär geräumt, der Verkehr auf der Straße hörte auf. Von draußen wo der Kampf des Tages seine blutigen Spuren hinterlassen, sah man hin und herwandernde Lichter durch die Dunkelheit herüberschimmern.
Dann verstummte allmählich auch die geringe Bewegung im Hause. Gegen neun kam der Arzt mit flüchtigem Schritt und
[269][270] nickte Georg zu - „Wie geht's? Wie geht's?“ Dann schienen die langsamen Blicke des jungen Offiziers die Antwort eher in den Zügen des Doktors zu suchen, als daß er sie selbst geben konnte, und leise zuckte er mit den Achseln. Aber der Arzt hatte auch keine Antwort erwartet. Er fühlte nach dem Pulse, betastete die Haut und entblößte endlich die Brust von dem Verbande. „Hier draußen sieht es gar nicht übel aus!“ Und zur Schwester Brigitte gewandt: „So, bitte, wollen Sie mir nun helfen; wir werden ihn aufstützen!“
Mit starken Armen und geübtem Griff nahm Schwester Brigitte Georg um die Schultern und stützte ihn. Sein müder Kopf lehnte an ihrer Brust, und der Arzt tastete und horchte ab.
„Gut - danke!“ Er gab dann noch eine oder die andere Weisung und ging. Die Schwester richtete die Kissen zurecht und die Decke, stellte die Lampe hinter den Schirm auf den entfernteren Tisch und neigte sich zu Georg herab.
„Wünschen Sie noch etwas?“
Er schüttelte leise den Kopf und ein schwaches, dankbares Lächeln glitt über seine Wangen. In seinen Augen lag etwas Gutmütiges, Hilfloses, beinahe Kindliches, das sie rührte.
„Nein - danke, danke!“
Er streckte die Hand ein wenig auf der Decke aus. Sie war schmal und fleischlos, und als Schwester Brigitte sie flüchtig ergriff, lagen die fieberischen Finger regungslos in der ihren.
„Nun werden Sie schlafen. Ich bin immer hier. Gute Nacht denn!“
Später hörte sie in dem großen Nebenzimmer den leisen Schritt der alten Frau.
„Wie geht es?“
„Es scheint, nicht schlechter.“
„Der arme Junge! - Mir schien der Doktor nicht recht zufrieden. Du lieber Gott! Welch bittere Zeit mußten wir noch erleben! Auch Sie müssen die Drangsale schwer tragen. Ich hörte ja - wie lange schon hatten Sie keine Rast! Sind Sie recht müde, mein Kind?“
„Nein,“ sagte Schwester Brigitte, „wir sind nie müde!“
„Frau Stübel kommt nach Mitternacht. Sie wird Sie auf einige Stunden ablösen. Sie wird Ihnen auch das Zimmer zeigen, wo Sie wenigstens die kurze Frist ausruhen können.“
Und dann setzte sich Schwester Brigitte in den großen altväterischen Lehnstuhl am Fenster, und alles schwieg. Sie hörte nur den leisen, unregelmäßigen Atemzug des Kranken oder eine unruhige Bewegung, die er auf den Kissen machte. Sofort stand sie geräuschlos an seiner Seite. Ist er wach? - Hat er Schmerzen - irgend einen Wunsch? Aber seine Augen waren geschlossen, er schien zu schlafen.
Und alles schwieg. Sie hörte nur draußen, im Garten, das leise Rauschen des Nachtwindes in den Baumwipfeln und hin und wieder den abgebrochenen Ruf eines Vögelchens, das irgendwo in den Zweigen nicht zur Ruhe kommen konnte. Es war so still - so still, als könnte man den eigenen Herzschlag vernehmen und die Schwingen der Gedanken, die durch die Seele flattern.
Nach dem unsteten Wanderleben der letzten Wochen umgab die Ruhe des Landhauses Schwester Brigitte doch fast mit einem Gefühle der Rast. Und in der Stille spannen sich ihre Gedanken zu verschlungenen Fäden aus. Eine Reihe grell erleuchteter Bilder, aus dem Lager, vom Marsche, vom Schlachtfeld, aus den Lazaretten, zog an ihr vorüber, wie etwas Ueberstandenes. Und weit hinter dieser Zeit knüpften sich die Fäden an ihre Erinnerung.
Die Gestalt ihres alten Vaters mengte sich darein. Sie sah sein scharfgeschnittenes, aber gutmütiges braunes Soldatengesicht vor sich, mit den hellblauen Augen, die so herzlich und frisch unter den buschigen Brauen hervorblitzten. Sie erinnerte sich der Sommerabende in dem Hausgärtchen der Heimat. Dort stand ein großer Kirschbaum, unter dem sie oft gesessen, der Vater und der Bruder, der jetzt bei seinem Regimente war, drüben an der Grenze. Ein bißchen scheu verweilte sie bei der Vergangenheit, die ja ihr Herz nicht mehr kennen sollte.
Vom Nachthimmel, auf dem langsam ein Stern nach dem andern aufgetaucht war, wandte sie ihren Blick ins Zimmer zurück. Sie nahm ihr Andachtsbuch vom Tische und beugte sich über die vergilbten, abgegriffenen Blätter. -
Als Georg am nächsten Morgen erwachte, wiederholte sich der neue und fremde Eindruck, den er gestern bei der Ankunft der Schwester gehabt. Nur erschien sie ihm größer, bleicher und ernster. Hatte er getränmt, daß sie, an seinem Bette stehend, sich zu ihm herabgebeugt, ihre Hand auf die seine gelegt und lächelnd ihm ins Antlitz geschaut habe?
Um Schwester Brigittens Augen lag ein bläulicher Schatten, als hätte ihr die erste Nacht im fremden Hause wenig Ruhe gebracht. Sie sah müde aus, und zwischen ihren Brauen zog eine feine Falte in ihre Stirne und gab ihr einen verschlossenen, fast strengen Ausdruck. Ihr sorgliches Wesen war indessen voll Beruhigung für den Kranken, der fieberisch und mit Unbehagen erwacht war. Mehrmals, wenn er den Arm gegen die verwundete Seite preßte und in einem plötzlichen Anfalle des Schmerzes die Augen schloß, war es wie eine Ermutigung, wenn er dann aufblickend zu ihr hinübersah. Denn keiner dieser Augenblicke entging ihr. Und dann lag in der kaum merklichen Gebärde, mit der sie ihm zunickte, ein ungesprochenes, tröstliches Wort.
Die Phantasien des Kranken hefteten sich an ihre Erscheinung. Er hatte sie so oft gesehen, diese stillen Frauengestalten. Sind sie Menschen wie die andern? - Sind es Wesen von Fleisch und Blut, mit Wünschen und Hoffnungen wie die andern? - Sind sie von dieser Welt, oder herabgestiegen aus dem Ewigen? - Und sind sie alle nicht ein Einziges - ein Gedanke, eine Idee, die menschliche Gestalt angenommen? - die Idee des Trostes, der Barmherzigkeit, des gestillten Schmerzes, die fleischgewordene Idee göttlicher Liebe; Abgesandte der Ewigkeit, Himmelsboten und Engel?
Vor seinen fieberheißen Blicken zerflossen die Umrisse ihrer Gestalt zu einer phantastischen Erscheinung. Ihr schwarzes Gewand wurde weiß und breitete sich aus zu einem weiten Mantel, der in reichen Falten von ihren Schultern wallte. Der weiche Schleier floß durchsichtig und glänzend, wie von Sonnenstrahlen gewoben, über ihr Haupt und von ihrem Nacken herab. Ihr schönes bleiches Gesicht war ruhig aufwärts gerichtet, und ihre Augen sahen mit übernatürlichem Glanze in den Himmel hinauf. Und zum Himmel streckte sie den schlanken Arm empor, von mattem Weiß, wie der reinste Alabaster. -
Schwester Brigitte legte leise die Hand auf seine Stirn.
„Sie sehen zu viel Licht,“ sagte sie. Dann ging sie und ließ die grünen Vorhänge an den Fenstern zur Hälfte nieder.
„Wir müssen Medizin nehmen jetzt.“
Georg nickte.
Sie goß das Medikament in den Löffel, trat zu ihm und stützte seinen Nacken mit ihrem Arm. Im unruhigen Bedürfnis, sich zu bewegen, setzte er sich halb auf, und während sie den Löffel an seine trockenen Lippen führte, neigte er den Kopf matt auf die Seite und lehnte ihn an ihre Schulter.
Nun sie ihn langsam wieder auf die Kissen niederließ, fiel ihr Blick auf die Wand gegenüber. Der Lichtstreif aus dem halbgeschlossenen Fenster hatte ihren Schatten hingeworfen. Dort ruhten ihre Köpfe aneinander und lösten sich nun wie aus einer Umarmung.
Als wollte sie eine Unruhe fortwischen, strich Schwester Brigitte mit der Hand über ihre Schläfe. Und vor Georgs leichtem Schlummer verschwanden die irrenden Bilder seiner Seele. -
Der Zufall stellte Schwester Brigitte ein Bild vor Augen, das die Vergangenheit verdeckt hatte, und das in ihrer Erinnerung verblaßt war wie die Empfindung eines fernen Traumes.
Aber als habe der Traum ein Leben für sich gehabt und ein Anrecht an ihr behalten, das stärker als die Kraft ihres Herzens war, zog er noch einmal an ihr vorüber, und das bleiche Bild nahm Leben und Farbe an.
Der kranke Fremdling war dem Freunde, von dem sie ihr Gedächtnis ewig geschieden meinte, so ähnlich, daß jeder Zug ihr mit grausamer Wirklichkeit jenen lebendig wieder vor Augen stellte.
Umsonst lehnte sie sich auf dagegen.
Die Thränen, die sie in der ersten Nacht geweint, waren wie neue Flut, die in das alte Strombett der Erinnerung fließt, daß die Wellen wieder rauschen unter den Zweigen, in deren Schatten wir geruht, am Wiesenrand, wo die Blümlein nicken, und durchs Thal, in dem die Sonne glitzert.
Sie konnte ihren Lauf nicht hemmen, die Stimme nicht zum Schweigen bringen, die in ihr laut geworden, und die alle die entrückten Stunden wieder aufrief und von der Vergangenheit sprach, mit ihrer Lust und ihrem Leid.
In ihrem Andachtsbuche stand der Satz: „Heilig ist die Hingabe Deines Lebens. Und thust Du etwas dawider, sei es auch mit dem flüchtigsten Gedanken Deiner Seele, so ist es Sünde!“
Die Worte schlugen auf ihr Herz wie die Hand des reuigen Beters. - Aber sie konnten ihr doch nicht helfen gegen die Flut [271] der Erinnerung, die den alten Weg gefunden hatte durch Sonne und Schatten ……
Sie war sich in den ersten Tagen beinahe müßig vorgekommen, wenn die alte Frau des Nachmittags darauf bestand, daß sie in den Garten hinabgehe, etwas frische Luft zu schöpfen, um die Zeit, wo die heiße Augustsonne sich tiefer neigte.
Jetzt nahm dies einen Zauber an für sie, und ehe noch der Vorwurf in ihr stark ward, daß ihre Schwäche sündhaft sei, spülten ihn die strömenden Gedanken hinweg, die die stummen Merkzeichen der Erinnerung aufsuchten und sie zusammentrugen, halb willenlos, doch mit Schmerz und liebevollem Eifer die Bilder aneinanderreihend.
An die letzten Gebüsche am Rande des Gartens stieß ein Wiesenplan, auf dem ein kleiner Bube Kühe weidete, und von der Rasenbank unter dem großen Baume, der dort stand, sah man über die Wiese und das kleine Buchenwäldchen, hinter dem in einiger Entfernung ein Kirchturm der Stadt hervorragte. Schwester Brigitte kehrte täglich zu dem stillen Platz zurück. Der kleine Hüterbube blickte manchmal aus der Ferne neugierig zu ihr herüber, oder er bekümmerte sich gar nicht um die fremde Erscheinung, spielte im Gras, rief seinen Tieren zu und stieß hin und wieder einen fröhlichen Jauchzer aus. Eigentlich fühlte er sich ein bißchen verdrängt, denn wenn niemand da war, lungerte er gern auf der Bank, spielte mit seinen Steinchen darauf und hatte im stillen von dem Platze Besitz ergriffen. Die Schwester fand manchmal die Spuren seines Spieles, bunte Steine, Holzstäbchen oder vertrocknete Blumen herum verstreut. Einmal hatte er gerade vor der Bank ein kleines Grabhügelein aufgerichtet, Leberblumen und Berberitzen staken darin und neigten sich welk zu Boden. Sie blickte lange starr auf den kleinen Erdhaufen nieder, bei dem das Kind an den Tod gedacht hatte.
Und wieder fluteten die Erinnerungen über sie.
Stille Tränen liefen über ihre Wangen. Sie verlangte nicht, sie zu hemmen.
So saß sie oft regungslos da, ein armes einsames Menschenkind, das sich demütig unter seinem Schicksal beugte.
Und so wie die vergangenen Jahre in ihrem Leben gestanden hatten, tauchten sie wieder empor, durch einen Zufall geweckt, als sei ihr geboten, sie nochmals durchzuleben, ihre Kraft daran zu prüfen.
In dem kleinen dreifensterigen Hause, das den Winkel des Marktplatzes abstumpfte, spielte sich ein einfaches Familienleben ab. Das einzige große Ereignis, das bisher darüber hinweggegangen, der Tod der Mutter, lag mehrere Jahre zurück. Damals war der alte Lieutenant, wie man Herrn Krüger von seinem ehemaligen Stande her immer nannte, freilich in rechte Verlegenheit gekommen, denn die zwei Kinder waren bloß halbwüchsig, als der Tod die Hand der Mutter von ihnen wegzog. Aber es kam doch wider Erwarten gut. Käthe war ein verständiges Ding, das sich bald mit aller Würde in die Rolle einer kleinen Hausfrau fand, und Franz wollte schon bald auf eigenen Füßen stehen. Die Base guckte ab und zu in das Hauswesen herein, und so fand man sich allmählich in dem neuen Geleise zurecht, weil es schon nicht anders hatte sein sollen. Mit stiller Dankbarkeit gedachte der alte Mann oft der Toten, als er sah, welchen Segen ihr tüchtiges Wesen zurückgelassen. So konnte er nun ruhig an seinem Tische sitzen und der überwundene Schmerz ließ keine dauernde Sorge als Schatten hinter sich.
Käthes Bruder hatte einen Freund, den Sohn eines alten Kriegskameraden des Vaters, eine Waise, für den Herr Krüger aus treu und praktisch verstandener Freundschaft mit seinen einfachen Kräften sorgte, bis er heranwuchs. Er war mindestens zu allen Mahlzeiten im Hause, und obwohl die beiden Knaben ein paar Jahre älter waren als Käthe, stand sie doch noch zu ihnen und im gemeinsamen Umkreise von Interessen und Spielen. Dies um so mehr, als das einzige Mädchen, mit dem sie Umgang gehabt, Kaufmanns Gusti, drüben von der anderen Seite des Marktes, früh weggekommen war. Die Base erzählte, daß die neue Stiefmutter das Kind nicht leiden mochte, andere sagten, sie solle draußen erzogen werden, weil der Vater ein feines Fräulein aus ihr machen wollte. So schloß sich Käthe an die Knaben an, und da sie sich so nahe gestanden hatten, so weit ihre Erinnerung überhaupt zurückreichte, war auch Hubert nie anderes für sie gewesen als der eigene Bruder. Und der lebhafte gutmütige Junge mit dem blonden Krauskopf war von jeher ihr getreuer Kamerad. Die beiden behandelten sie im allgemeinen mit einem gewissen ritterlichen Respekt, wie ihn glückliche Anlage manchmal in kindlichen Herzen echter sein läßt als in erwachsenen. Aber hin und wieder, an den Sonntagnachmittagen, wenn Franz einmal mehr Freunde aus der Schule bei sich hatte und dann die beliebten Räuber- oder Kriegsspiele getrieben wurden und die eifernde Männlichkeit ein bißchen rauh und übermütig werden wollte, sprang doch der Abstand hervor zwischen dem einzelnen schwarzhaarigen Mägdlein in seinem unbewußt weiblichen Gefühle und der polternden Knabenrotte. Da konnte es denn auch zu Streit und Kränkungen kommen. Bei solchen Anlässen nun stand Hubert stets auf Käthes Seite. Es durfte ihr keiner ein Härchen krümmen, und wer ihr zu nahe getreten war oder gar einmal ein paar Thränen abgezwungen hatte, verfiel sicherlich seiner Vergeltung in Form einiger derben Püffe. So sammelte sich in dem kleinen Mädchenherzen ein Vorrat fester Dankbarkeit und Freundschaft.
Die Jahre flossen vorüber in ihrer Einfachheit. Und die Gestalt des Jugendfreundes rückte für Käthe in ein anderes Licht. Ihre jugendliche Phantasie verwob ihn in die Dichtungen, die sie kennenlernte. Und war es früher meist er gewesen, den sie in den Edelknappen und Rittern, in den mutigen Jägern und unglücklichen Prinzen der Märchen wiedererkannte, so konnte es später leicht geschehen, daß Siegfried oder Parcival ihm ähnlich sahen; und in Thekla von Gumperts Erzählungen konnte er ebenso plötzlich den Kopf durch die Fabel stecken wie in der Maßliebchenkette und in Ivanhoe, die nach und nach der kleine Weihnachtstisch brachte unter dem duftenden Tannenbaum.
Schließlich aber, jenseit der Grenze, wo sie den Kinderschuhen entwachsen war, blieb doch nichts von all dem Fremden an ihm haften. Dann war er nichts mehr als er selbst, und ihr Herz stand ihm immer gleich nahe, in dem Wohlgefühl vertrauter und sicherer Freundschaft, die das Wort entbehren kann.
Sie duzten einander wie früher. Er kam wie früher und suchte sie auf, in der Küche, in der Kammer, im Garten. Er durfte sie necken, bei den schwarzen Zöpfen nehmen, oder auch am Kopfe, wenn er, wie so oft als Kind, ihren Blick in eine bestimmte Richtung leiten wollte. Sie küßten sich auch, wie sie es als Kinder gethan, so, wenn sie gerade nebeneinander waren und der harmlose Wunsch es wollte, wenn er ihr für etwas zu danken hatte, oder wenn sie von ihm eine Aufmerksamkeit erwiesen bekommen. Im ganzen war er der Verpflichtete. Ihre frühe Selbständigkeit hatte ihr bald die Rolle des Hausmütterchens zugeteilt. Als die beiden Burschen dann zu großen jungen Leuten herangewachsen waren, gab es für die drei Männer im Hause mancherlei zu bedenken und zu besorgen, was sie mit fraulichem Wesen that, mit ihrem gleichmäßigen ruhigen Ernst und geräuschlosen Schaffen.
Vor der Berufswahl.
Der Seemannsberuf.
Die urgermanische Sehnsucht in die weite Welt, der Drang nach Abenteuern in fernen Weltteilen steckt unserer deutschen Jugend auch heute so fest noch im Blute, daß ein großer Teil derselben aus dem Binnenlande unternehmend nach der Wasserkante blickt, um von dort aus das Glück zu versuchen. Mit diesen mehr oder weniger dunklen Trieben ins Unbekannte soll man bei einer Berufswahl nun wohl nicht ernstlich rechnen; es giebt aber andere Umstände, die eine nähere Betrachtung des Seefahrerberufs wohl angemessen erscheinen lassen. Es ist dies das in letzter Zeit
immer mehr hervortretende Anwachsen unserer Kriegs- und Handelsmarine, das mit dem Ausbau unserer kolonialen und sonstigen überseeischen Beziehungen Hand in Hand geht. Nimmt man hierzu noch den immer lebhafter werdenden Wettbewerb der verfügbaren Kräfte im Erwerbsleben überhaupt, der die jungen Leute dazu drängt,
[273] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [274] das Gute und Aussichtsvolle zu nehmen, wo es sich nur immer bietet, so müssen auch wir Deutschen im Binnenlande dem Seemannsstand schon mehr Aufmerksamkeit schenken als früher, wo man dieses Feld getrost den Bewohnern der Küstenländer allein überlassen konnte.
Soweit nur die Handelsmarine in Betracht kommt, könnte man das, allgemein genommen, auch jetzt noch. Die Leute in den Hafenstädten sind mit den Verhältnissen der Seefahrt völlig verwachsen, sie wissen auch, daß der Seemannsberuf sich nur für sie eignet, solange sie im Vollbesitz ihrer Gesundheit und Manneskraft sind. Werden sie erst einmal Halb- oder Ganzinvaliden, so müssen sie sehen, mit Hilfe des Ersparten am Lande einen anderen Beruf zu ergreifen, denn zum Rentner bringen es doch nur sehr wenige Glückliche, denen es gelungen ist, als Schiffsführer ein bescheidenes Vermögen zu sammeln. Diese Fälle sind aber zu selten, um hiermit irgendwie rechnen zu können, weit häufiger kommt es vor, daß irgend ein Unfall, eine Krankheit den Seemann zu weiterem Schiffsdienst untauglich macht, oder daß ein Schiffsführer, der sein Fahrzeug auf der See verliert, für immer brotlos wird. Mag er auch völlig schuldlos sein am Verlust des Schiffes, so betrachtet man ihn immerhin als „Pechvogel“, und bei dem Andrang von Kandidaten stellt der Reeder lieber einen anderen an. Da bleibt dann dem in doppelter Beziehung Schiffbrüchigen nur übrig, zu sehen, wie er auf dem Lande fortkommt, naturgemäß in den Hafenstädten, in den der Schiffahrt verwandten Gewerben, in welchen der dort Heimische mit seinen Beziehungen zu entsprechenden Kreisen am ehesten auf Erfolg hoffen darf. Diese Beziehungen und Protektionen stehen dem Hafenstädter auch viel leichter zu Gebote für das Vorwärtskommen als Offizier (Steuermann) und Kapitän der Handelsmarine als dem in Seemannskreisen gewissermaßen nur als Eindringling angesehenen Binnenländer, dem das Seeleben – schon als Schiffsjungen oft – bedeutend schwerer gemacht wird als dem „vollberechtigten“ Plattdeutschen.
In der Kriegsmarine liegen die Sachen ganz anders. Ihre ununterbrochene Vermehrung, die ja noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht hat, erfordert von Jahr zu Jahr mehr Kräfte, intelligente und thatkräftige junge Leute, denen bei guter Schulbildung oder tüchtiger Fachbildung als Maschinenbauer, Schlosser und dergleichen eine hoffnungsvolle Zukunft blüht. Bei wirklicher Tüchtigkeit kommen sie schnell vorwärts und in späteren Jahren in Beamtenstellen die ihnen mehr bieten als die meisten Erwerbszweige in anderen abhängigen Verhältnissen.
Die Einführung in die Marinelaufbahn (vom eigentlichen Seeoffizier sprechen wir später) kann in verschiedener Weise geschehen. Da haben wir zuerst die Schiffsjungenabteilung der Kriegsmarine. Aufgenommen werden nach Verhältnis der vorhandenen Vakanzen Knaben mit guter Elementarschulbildung im Alter von – nach den neuesten Bestimmungen – 16 Jahren. Sie müssen kräftig von Wuchs, von guter Gesundheit sein, mit fehlerfreiem Gehör und Gesicht (auch nicht farbenblind) und guten Sprachorganen. Wurden sie bei der Untersuchung (aus irgend einem Bezirkskommando) für tauglich befunden, so werden sie notiert und bei nächster Gelegenheit mit den nötigen Papieren, als Schulzeugnis, Geburtsschein und väterlicher Erlaubnis, nach Kiel geschickt, wo sie bisher drei, seit Einführung des neuen Dienstreglements in diesem Jahr aber nur zwei Jahre als Schiffsjunge zu lernen haben. Den ersten, etwa sechs Monate dauernden Unterricht erhalten sie in der Kaserne, dann auf einer etwa ebensolangen Sommerfahrt in unseren Küstengewässern. Darauf geht es auf eine längere Reise auf einem großen Schulschiff, das gewöhnlich mit 400 bis 500 Schiffsjungen bemannt ist, in die Oceane hinaus. Bei der Rückkehr ist der nun zum Matrosen oder Obermatrosen Ernannte verpflichtet, weitere sieben statt der bisherigen neun Jahre in der Kriegsmarine zu dienen. Drei Jahre entsprechen seiner Militärdienstpflicht, die weiteren vier Jahre gelten als Gegenleistung an den Staat für die empfangene Ausbildung. Nach diesen sieben Jahren erhält er mit dem Civilversorgungsschein die Berechtigung, als Beamter angestellt zu werden, und je nach seiner Befähigung und den erworbenen Kenntnissen in irgend einem Specialfache, zum Beispiel als Zahlmeister, im Feuerwerks- oder Werftdienst, sucht er nun ein Amt, kann daran denken, eine Familie zu gründen, und sich ein sorgenfreies Alter schaffen.
Da die eigentlichen Kriegsschiffe (mit Ausnahme weniger Schulschiffe, die nur Segel führen) mit einer immer größer werdenden Anzahl von Maschinen ausgerüstet sind, wächst auch das hierzu notwendige technische Personal und damit die Aussichten für die schon bezeichneten Handwerker, die am vorteilhaftesten bei einem tüchtigen Maschinenschlosser lernen und bei erreichtem militärpflichtigen Alter freiwillig in die Marine eintreten und nach erlangter Anstellungsberechtigung ebenfalls den Weg offen haben zu Stellen im Aufsichts- und Verwaltungspersonal der Werften der Marine.
Wir wollen hierbei gleich bemerken, daß die Soldverhältnisse in der Marine auch vom Matrosen an bis zum „Deckoffizier“ (der im Rang etwa den Oberfeuerwerkern der Artillerie, den Zeugfeldwebeln, Wallmeistern etc. gleichsteht) sich bedeutend günstiger stellen als in der Landarmee. Wenn vom hohen Solde auch vielfache Abzüge für Kleider und Menage gemacht werden, kann der Chargierte der Marine doch bei einiger Sparsamkeit mit seinen Effekten, die sämtlich Eigentum des Betreffenden sind, einen Ueberschuß ansammeln. Auch giebt es noch für vielerlei Posten Nebeneinnahmen, die bei längeren Reisen zu ganz erklecklichen Beträgen anwachsen.
Das spätere Fortkommen in der Kriegsmarine kann aber auch eingeleitet werden durch den Dienst in der Handelsflotte, und zwar in folgender Weise. Der Knabe, von dem natürlich wieder vorausgesetzt werden muß, daß er körperlich und geistig zum Seemann geeignet ist, wird, mit den schon bezeichneten Papieren versehen, in eine Hafenstadt, zum Beispiel nach Hamburg, in das Seemannshaus gebracht. In diesen Anstalten – die Hamburger ist auf einer wallähnlichen Anhöhe unmittelbar am Elbstrom gelegen und bietet dank der Unterstützung von seiten der Seehandel treibenden Kreise Hamburgs dem am Lande weilenden Seemann gegen billiges Kostgeld gute und bequeme Unterkunft – wird auch in jeder Weise für die Knaben gesorgt, die sich dem Seemannsberuf widmen wollen. Im Seemannshause befindet sich nämlich auch die Musterungsbehörde, vor welcher die Heuerverträge (Dienstverträge) mit den Mannschaften abgeschlossen werden. Der die Engagements vermittelnde Agent (Heuerbaas) geht auch den Angehörigen der zukünftigen Seeleute mit sachverständigem Rate zur Hand, indem er letztere den empfehlenswertesten Schiffen zuweist und den Angehörigen gleichzeitig die nötigen Auskünfte über die Ausrüstung der Schiffsjungen giebt. Im Seemannshause stehen die Knaben bis zu ihrer Einschiffung unter einer zweckdienlichen Aufsicht; hier befinden sich das Seemannsspital, die Navigationsschule und andere seemännische Institute.
Am besten geht der Knabe sofort als Decksjunge zur See. Als solcher erhält er etwa 15 Mark monatliche Heuer (Gehalt) und lernt den Schiffsdienst gründlich. Nicht so empfehlenswert ist die Verheuerung als Kajütsjunge (Steward), weil er hier – besonders auf größeren Schiffen – vorzugsweise zur Bedienung des Kapitäns verwandt wird, also mehr Kellner als Seemann ist. Ueberdies ist hier die Heuer niedriger als beim Decksjungen.
Beim Verheuern hat auch der Schiffsjunge die Wahl, ob er es erst einmal mit einer kürzeren Reise von drei bis vier Monaten versuchen will oder ob er eine solche auf Jahre hinaus – nach Indien, China etc. – vorzieht. Empfehlenswert bleibt wohl das erstere, denn vom Lande aus sieht sich für den Unerfahrenen der Schiffsdienst doch immer weit harmloser und gemütlicher an, als er sich in der Wirklichkeit darstellt. Die erhoffte Romantik des Seefahrens schrumpft sehr zusammen bei der oft recht schweren und unsauberen Arbeit, den vom Schiffsdienst unzertrennlichen Entbehrungen an Nachtruhe bei einer wenn auch kräftigen, aber sehr einförmigen Kost und einer oft recht unsanften Behandlung von seiten der Vorgesetzten. Jedenfalls ist es besser, bei zu arger Enttäuschung nach einer kürzeren Seereise – deren Beendigung auch das Engagement aufhebt – den „verfehlten Beruf“ mit einem zusagenderen zu vertauschen. Der Schiffsjunge auf den Handelsschiffen hat, wie schon erwähnt, seine Ausrüstung selbst zu beschaffen. Da nun von einer eigentlichen Uniform hier nicht die Rede ist, so kann manches an Jacken und Hosen, die für derbe Arbeit sich eignen, und an wollenen langen Strümpfen und Unterkleidern von Hause aus mitgebracht werden. Im anderen Fall stellt sich die im Hafenort für eine dreijährige Reise zu beschaffende Ausrüstung, an der auch Bettzeug und Eßgeschirr nicht fehlen darf, auf 200 bis 300 Mark.
Nach zweijähriger Fahrzeit avanciert der Schiffsjunge zum Leichtmatrosen mit einer Heuer von 30 bis 40 Mark. Nach wieder zwei Jahren wird er Vollmatrose. Seiner gesellschaftlichen Stellung nach steht er nun jedem ausgelernten Handwerksgesellen [275] gleich. Wie bei diesem richtet sich seine Bezahlung nach Angebot und Nachfrage und ist auch in den verschiedenen Hafenstädten verschieden. In nordamerikanischen Häfen betragen die Heuern (immer bei vollständiger Beköstigung) bis zu 45 Dollar den Monat, in Deutschland dagegen nur 50 bis 60 Mark. Gelernte Schiffsköche, Schiffszimmerleute und Segelmacher erhalten 6 bis 10 Mark mehr.
Nach zweijähriger Fahrzeit als Vollmatrose hat der Seemann die Berechtigung, auf seine Kosten die Navigationsschule zu besuchen, sich auf das Steuermannsexamen vorzubereiten. Später macht er die Schifferprüfung für kleine Fahrt, dann für große (überoceanische) Fahrt. Hierzu gehören außer den nautisch-mathematischen und geographischen Kenntnissen auch solche in der Heilkunde, Gesetzeskunde und fremden Sprachen, vor allem Englisch. Der Steuermann erhält etwa 70 bis 90 Mark Heuer den Monat, der Kapitän 1200 bis 1800 Mark jährlich nebst einem nach den in Betracht kommenden Umständen verschieden bemessenen Anteil am Gewinn aus den erzielten Frachten etc. Neben diesen Bezügen an Geld wird allen Seeleuten eine dem Range angemessene Kost geliefert, zu der bei den Offizieren auch Wein und allerlei Delikatessen gehören.
Soll nun die Seefahrt in der Handelsflotte nur zum Uebergang in die Kriegsmarine führen, so ist es von Vorteil, zuvor die Steuermannsprüfung abzulegen, da diese – die nicht zu großen Geldmittel hierzu vorausgesetzt – sich bei einer Fahrzeit vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahre erreichen läßt und zum einjährigen Dienst in der Marine berechtigt, also das spätere Avancement wesentlich fördert. Zu aktiven Seeoffizieren der Kriegsflotte können diese Einjährigen jedoch nicht aufrücken.
Ratsam ist weiter, als Matrose stets auf Segelschiffen zu fahren, da die seemännische Ausbildung auf den Dampfern nur eine sehr unvollkommene ist, was den Segelmatrosen auch dazu veranlaßt, den Kameraden vom „Steamer“ verächtlich als „Dampferknecht“ zu bezeichnen. Etwas anderes ist es hingegen für die jungen Leute, die auf Handels- und Postdampfern im Maschinendienst arbeiten und später zur Kriegsmarine übergehen. Sie sind dann für ihr Fach schon gut eingeübt und erzielen hierdurch Vorteile für die Zukunft.
Trotz der seit Jahren ungünstigen Verhältnisse im Welthandel ist auch unsere Handelsflotte im steten Aufsteigen begriffen. Sie beziffert sich in runden Zahlen auf etwa 3000 Segelschiffe und 1000 Dampfer mit einer Gesamtmannschaft von etwa 45000 Köpfen. Am stärksten ist an diesen Ziffern Hamburg (dem Verkehr nach der vierte Hafen der Erde) beteiligt, das bei einer Vermehrung von zwölf Dampfern im letzten Jahre jetzt mit 640 Schiffen, die einen Gehalt von etwa 700 000 Tonnen haben, die See befährt. An Gelegenheit zur Unterbringung frischer Kräfte fehlt es also auch hier nicht, um so weniger als ein großer Teil der „befahrenen Leute“ später in die Kriegsmarine oder unter fremde Flaggen geht, z. B. zur englischen oder amerikanischen, wo die Gehaltsverhältnisse günstiger liegen und deutsche Seeleute wegen ihrer Diensttüchtigkeit und Nüchternheit sehr beliebt sind. So liederlicher Schiffsdienst, wie ihn die berüchtigte „Crathie“ bei dem unglücklichen Zusammenstoß mit der „Elbe“ bewies, ist bei einer deutschen Mannschaft und auf deutschem Schiffe nicht denkbar. Wir wollen hierbei bemerken, daß die Gefahren des Seelebens – mögen sie auch vielfältig genug sein – doch gemeinhin überschätzt werden. Der Fall der „Elbe“ ist eine beklagenswerte Ausnahme, gleichzustellen mit den Katastrophen, wie sie ja auch zuweilen im Eisenbahnverkehr vorkommen. Der bis ins Ungeheuerliche wachsende Verkehr vermehrt in der Gegenwart allerdings die Gefahren, auf dem Lande sowohl als auf der See, Verbesserung der Schiffe und Rettungsmittel sorgen aber dafür, daß die persönliche Sicherheit der Seeleute auch immer mehr zunimmt, so daß sie oftmals Schiffbruch leiden können, ohne das Leben dabei einbüßen zu müssen. Freilich darf man hierin nicht allen Erzählungen der alten „Fahrensleute“ glauben. Sie haben meistens eine ebenso lebhafte Phantasie wie gewisse Jäger. Immerhin muß vorausgesetzt werden, daß der zur See gehende Knabe die ihm bevorstehenden Gefahren keineswegs fürchtet und daß er selbst Lust und Liebe zu dem schweren Berufe hat. Ihn nur zur See zu schicken aus Erziehungsgründen, weil er am Lande vielleicht dumme Streiche gemacht hat, ist meist vollständig verfehlt, unter gewissen Umständen sogar eine Grausamkeit, die von sehr üblen Folgen begleitet sein kann. Der Knabe, dem es von Natur aus nicht gegeben ist, den Beschwerden und Gefahren des Seelebens zu trotzen, wird sich mit der zu Tage tretenden Zaghaftigkeit die Verachtung und eine Behandlungsweise von seiten der nicht allzu sanft veranlagten Seeleute zuziehen, welcher die Eltern auch einen mißratenen Jungen jedenfalls nicht ausgesetzt sehen wollen, so lange sie noch einen Funken von Liebe für ihn haben. Das Seeleben eines solchen von der Familie Ausgestoßenen führt selten zur Besserung, viel eher aber dazu, daß er in irgend einem fremden Hafen vom Schiffe desertiert und dann so oder so in der Fremde vollends untergeht.
Zum Schluß wollen wir noch einen Blick auf die Offizierscarriere in der Kriegsmarine werfen. Bei der stetigen Vermehrung der Flotte liegen die Avancementsaussichten auch hier verhältnismäßig günstiger als bei der Landarmee. Auch ist der Andrang von jungen Leuten hier nicht sehr groß, da die Anforderungen an dieselben in jeder Hinsicht ziemlich hoch gespannt sind. In der „kaiserlichen Verordnung über die Ergänzung des Seeoffizierkorps“ heißt es unter anderem: Der Äusbildungsgang vom Kadetten zum Seeoffizier vollzieht sich teils auf der Marineschule, teils an Bord von Kadetten- und Seekadetten-Schulschiffen. Die Einstellung als Kadett erfolgt einmal im Jahre, in der Regel im April. Der für den Eintritt als Kadett erforderliche wissenschaftliche Bildungsgrad, einschließlich Französisch und Englisch, ist nachzuweisen: entweder durch Vorlegung eines vollgültigen Abiturientenzeugnisses eines deutschen Gymnasiums oder Realgymnasiums (bei einem Alter bis zu 19 Jahren), oder durch Beibringung des Zeugnisses der Reife für die Prima einer solchen Lehranstalt und gleichzeitiges Ablegen der Kadetten-Eintrittsprüfung, oder durch Vorlage eines Zeugnisses über die bestandene Portepeefähnrichsprüfung der Armee (in beiden letzteren Fällen bis zu einem Alter von 18 Jahren).
Gleichzeitig mit der Anmeldung zur Einstellung als Kadett haben sich die Angehörigen zur Hergabe der für die Laufbahn erforderlichen Geldmittel zu verpflichten. Dieselben betragen für das erste Jahr 1770 Mark, das zweite Jahr 1220 Mark, das dritte Jahr 1620 Mark, mithin bis zur Beförderung zum Offizier etwa 4600 Mark. Nach erfolgter Beförderung zum Offizier ist für mindestens 10 Jahre eine jährliche Zulage von 600 Mark erforderlich, so daß für die Carriere im ganzen etwa 11000 Mark aufgewendet werden müssen, wofür der junge Mann freilich in allen Chargen finanziell besser gestellt wird als der Kamerad in der Landarmee – durch Tafelgelder, Kriegszulage bei Seefahrten und höhere Pensionsberechnung. Und schließlich hat er auch die Aussicht, einstmals die Admiralsflagge zu führen. Max Lay.
Blätter und Blüten.
Bismarcks Geburtstagsfeier in Friedrichsruh. (Zu dem Bilde S. 272 und 273.) Als eine großartige Kundgebung des deutschen Einheitsgedankens ist die Feier von Bismarcks achtzigstem Geburtstag allüberall im Reiche wie im Ausland erlebt worden. Am umfassendsten und begeisterungsvollsten gelangte aber wohl der patriotische Charakter der Feier und ihr Zusammenhang mit Vergangenheit und Zukunft unserer nationalen Entwicklung am Geburtstage selber vor dem Gefeierten und durch ihn selber zum Ausdruck. Da richtete erst das Erscheinen der Rektoren sämtlicher Universitäten des Deutschen Reiches und ihre Begrüßung das Auge der Erinnerung zurück auf die Zeit, in welcher die deutschen Universitäten unter schwerer Bedrängnis das Ideal des deutschen Staates hegten und pflegten, dem dann Bismarcks thatenkühne Staatskunst unter gewaltigen Kämpfen Gestalt und Körper verliehen hat. Und der Sprecher dieser erlesenen Vertreterschaft deutschen Geisteslebens und deutscher Kultur, der Rektor der Universität Berlin, Professor Pfleiderer, knüpfte an diesen Rückblick das Gelöbnis für die Zukunft, die deutschen Universitäten würden auch fernerhin es als ihre hohe Aufgabe betrachten, den idealen Gedanken unserer nationalen Einheit rein und unentweiht durch den Kampf der Meinungen und der Interessen in den Herzen der deutschen Jugend zu erhalten. Der feierlichen Anrede entsprach dann die frohe Zuversicht, mit welcher Fürst Bismarck in seiner Erwiderung seine Hoffnung auf eine gedeihliche Weiterentwicklung des Reichs auf der gegebenen festen Grundlage äußerte. Gleichsam als eine Gewährleistung dieser Zuversicht aber erschien nunmehr die deutsche akademische Jugend selber, die „Hoffnung unserer Zukunft“, auf dem Plane.
Zu Tausenden hatten sie sich zusammengethan. Alle deutschen Universitäten und Hochschulen, alle Arten studentischer Verbindung und Vereinigung hatten ihre Vertreter gesandt; was den Korpsstudenten von dem Burschenschafter, was diesen von dem Nichtfarbenstudenten scheidet, war vergessen, zurückgetreten vor diesem Unternehmen der nationalen [276] Gemeinsamkeit. Von Hamburg kommend, wo sie sich gesammelt hatten, trafen sie mittags um 1 Uhr, gerade als die Professoren empfangen wurden, in Friedrichsruh ein, und nun begann unter den festlichen Klängen der Musik der Aufzug vor der Terrasse des Herrenhauses, voran die Chargierten in Wichs, das gold- und silbergestickte Cerevis oder das federumwallte Barett auf dem Haupte, den blinkenden Schläger in der Hand, über der Brust die bunten Schärpen in den Farben ihrer Verbindung. Die Banner sämtlicher Universitäten flatterten im Sonnenlicht in einer besonderen Aufstellung. An die Verdienste der Burschenschaft um die Pflege des vaterländischen Gedankens in trüber Zeit erinnerte es, als ein Burschenschafter, der Bonner Alemanne Bruch, das Wort ergriff, um namens dieser glänzenden Vertretung von Deutschlands akademischer Jugend dem Fürsten Bismarck, als er nun mit seinen anderen Gästen und den Familienangehörigen auf der Terrasse erschien, den Glückwunsch darzubringen. Und jetzt kam direkt von den Lippen der Jugend der Schwur, festzuhalten an dem Reich, das unter so schweren Kämpfen errungen wurde. Diesem Schwure entsprechend klang die bedeutungsvolle Erwiderung des Fürsten in der Mahnung aus. Ohne Kampf kein Leben... Nur muß man in allen Kämpfen einen Sammelpunkt haben. Der Sammelpunkt ist für uns das Reich!
Aus der Fülle farbenprächtiger, von Begeisterung und frischester Lebenslust durchglühter Scenen, welche sich später aus dem Verkehr zwischen Bismarck und seinen jugendlichen Gästen ergaben, hat der Zeichner unsres Bildes eine festgehalten. Beim Klange der alten Studentenlieder, beim Anblick der fröhlichen Zecher ringsum überkam den greisen Jubilar, der einst selber in froher Jugendzeit bei Klang und Sang und vollen Bechern von ganzem Herzen Student gewesen ist, die alte Lebensfreudigkeit, die, seit es für ihn so einsam in Friedrichsruh wurde, dort nur noch ein seltener Gast ist. Nach dem Gesange des Schmiedenschen Festlieds hatte er sich von seinem Stande herunterbegeben, die Chargierten begrüßt und, die Reihen abschreitend, einzelne mit freundlichen Fragen und Bemerkungen bedacht. Dann kehrte er auf die Terrasse zurück und hier wurde ihm das erste Glas mit dem Ehrentrunke gereicht, den eines der Fässer spendete, die als Geburtstagsgeschenke in Friedrichsruh so zahlreich eingetroffen waren. Er hob es grüßend gegen die jubelnde Versammlung, dann leerte er es auf einen Zug mit einem Hoch auf die deutsche Studentenschaft. Sie hat es in der That au diesem Tage vortrefflich verstanden, durch ihre Einmütigkeit ein Bild deutscher Einheit dem Mann vorzuführen, dem es gelungen ist, unter möglichster Schonung der Sonderinteressen der einzelnen deutschen Stämme, ein einiges Deutsches Reich neuzubegründen.
Der Anfang eines Romans. (Zu dem Bilde S. 265) Bücher haben nicht nur ihre Schicksale, sie gestalten auch Schicksale. An Homers Heldenliedern entzündete sich der Thatendrang Alexanders des Großen: von kleinen Büchlein ging der Anstoß zu so mancher Bewegung aus, die auf das Kulturleben ganzer Völker und Zeiten umgestaltend gewirkt hat. Schlummernde Neigungen und Leidenschaften bringt der Eindruck einer Dichtung dem Lesenden zum Bewußtsein, aus Romanen und Dramen wachsen der Jugend Ideale und Idole für das eigene Wollen und Streben entgegen. Eine der schönsten Episoden in Dantes „Göttlicher Komödie“ erzählt uns, wie sich über der Lektüre des „Romans von Lancelot“ die Herzen des edlen Paolo Malatesta und der unglücklichen Francesca von Rimini fanden – „in jener Stunde lasen sie nicht weiter“, und moderne Dichter haben wieder den Eindruck dieser Erzählung des Dante auf moderne Menschen zum Motiv neuer Liebesromane gemacht. So werden alte Romane zum Vermittler für die Liebesneigung junger Herzen und regen zu neuen Romanen an – erdichteten und erlebten. Ja, die Dichter sind treue Helfer in allen Herzensnöten und ein Geständnis, das direkt nicht von den Lippen will, läßt sich leicht in Dichterworte kleiden, die gar mächtig wirken, wenn man sie vorliest am rechten Ort und zur rechten Zeit.
So hat auch der Held des Romans gedacht, dessen reizvollen Anfang unser Bild uns belauschen läßt. In einem Buche hat er ein Kapitel gefunden, das mit hinreißender Kraft die Gefühle schildert, die sein Herz so machtvoll bewegen, seit er die Eine kennt, die ihm heute Erlaubnis gewährt hat, sie auf einem Spaziergang in den nahen Wald zu begleiten. Er hat das Buch mit auf den Weg genommen und draußen in lauschiger Einsamkeit, da fand er auch den rechten Ort und die rechte Zeit. Voll Eifer liest er ihr vor, was in fremden Worten sein eignes Empfinden bekennt, und mit frohem Lächeln hört sie zwischen den fremden Worten sein eigenes Herz reden. Aus dem Anfang des erdichten Romans erblüht den glücklichen Beiden der Anfang eines neuen, ihres eigenen Romans, den das Leben dichtet. Möchte das Ende desselben dem schönen Anfang gleichen! Pr.
Eine nordamerikanische Schenkstube. (Zu dem Bilde S. 269.) Es ist wenig mehr als ein Jahrzehnt her, daß in Berlin und anderen großen Städten Deutschlands die sogenannten „Stehbierhallen“ aufkamen. Die Idee dazu brachte irgend ein findiger Geschäftsmann von „drüben“, aus Amerika oder aus England, dem klassischen Lande dieser Schankbüffette, die man im Englischen „bars“ nennt. Jedenfalls dauerte es nicht lange, und die Stehbierhallen waren Kneipen wie andere Kneipen auch. Daß man in ihnen Bier für zehn Pfennig und desgleichen für zehn Pfennig appetitlich zubereitete Frühstücksbrötchen bekam, die man sich direkt vom Büffetttisch holte, war nichts eigentlich Neues: der Arbeiter und der Droschkenkutscher bekam in den „Destillen“ sein Glas Bier, seine Stulle, seine Wurst, seinen Klops, Hering oder Käse längst „for’n Groschen“. Die Stehbierhalle war nichts weiter als die „Destille“ für die wohlhabenderen Gesellschaftsschichten, für Bürger und Studenten. Im übrigen ging’s in ihnen zu wie sonst in deutschen Kneipen. Deutschem Gemüte gemäß ist es ja, beim Biere behäbig zu sitzen, dabei zu politisieren, Skat zu spielen, gemächlich seinen Frühstücks- oder Abendimbiß herunterzugabeln.
Wie ganz anders die amerikanische Bar. Da ist der Gast wirklich genötigt, seine Erfrischung stehend einzunehmen. In der Art des englischen Geschäftslebens, der Einteilung des Arbeitstages liegt ihre Notwendigkeit begründet. Der Angestellte, der Kaufmann und sonstige Geschäftstreibende tritt morgens seinen Dienst an und bis zum „dinner“ das er um sechs Uhr einnimmt, geht er seinem Berufe nach. Unterwegs, während er irgend einen Geschäftsgang macht, tritt er in eine solche „Bar“ ein und nimmt so im Vorübergehen sein „lunch“ ein, da es eine richtige Frühstückspause für ihn kaum giebt. So prägt sich das „time is money“, das als Wahl- und Wahrspruch des Amerikanertums gilt, auch in dem Wesen einer „Bar“ aus. Schweigend, allenfalls mit einem stummen Kopfnicken, das einen Gruß bedeuten soll, jedenfalls aber mit allen Zeichen der Geschäftseile, betritt der Besucher die Bar. Die Hände in den Hosentaschen, den Hut auf dem Kopfe, tritt er an den Schanktisch. Der Büffetier errät schon aus der Ellbogenbewegung, was der Gast wünscht, aus welchem Hahn das Bier gezapft oder ob ein Whisky gereicht werden soll. In manchen Bars giebt’s ein sogenanntes „free lunch“: belegte Brötchen, Käse, kaltes Fleisch, Shrimps (Crevetten) etc. stehen auf dem Büffett umher zur beliebigen Verfügung der Barbesucher, die für diesen Imbiß nichts zu bezahlen haben. Desto teurer sind dafür die „drinks“. Ein kleines Gläschen Bier bezahlt man mit zehn Cents, vierzig Pfennig nach unserem Gelde, ein Glas Whisky oft mit einer Mark. Während der Yankee so seinen Durst stehend stillt und dazu ein paar Gratisbrötchen hastig verzehrt, sieht er noch schnell und ebenfalls stehend die neuesten Börsenkurse ein, dann greift er wieder in die Hosentasche, holt ein paar Geldstücke heraus, die er mit gleichgültiger Handbewegung dem Büffetier, dem „Barkeeper“ zuwirft, und hinaus ist er, schweigend, wie er gekommen. Daß es in einer solchen amerikanischen Bar bunt genug zugeht, sieht der Leser auf unserem Bilde, auf dem ein Nigger lebhaft mit den charakteristischen
Yankeeköpfen hinter ihm kontrastiert. N.
Nährwert der Eier. Ueber den Wert der Eier als menschliches Nahrungsmittel hört man im Leben oft Urteile, die durchaus nicht richtig sind. Weit verbreitet ist die Ansicht, Eier seien nahrhafter als Fleisch. Dem gegenüber muß folgendes erklärt werden: Ein Hühnerei hat etwa 50 g Inhalt: dieser ist aber stark wasserhaltig, und ein Ei liefert in Dotter und Eiweiß zusammen an Nährstoffen 7 g Eiweiß und 4 g Fett. Somit sind im Ei etwa 14% Eiweiß und 8% Fett enthalten. Nun haben vielfache Untersuchungen ergeben, daß das Fleisch eines mittelfetten Ochsen etwa 21% Eiweiß und 5% Fett enthält. Das Ei ist also durchaus nicht nahrhafter als Rindfleisch. Vergleichen wir es mit fettem Schweinefleisch, so finden wir, daß es auch diesem nachsteht: denn das Fleisch vom fetten Schwein besitzt denselben Eiweißgehalt von etwa 14%, aber dabei den weit höheren Fettgehalt von etwa 30% bis 40%.
Oft wird auch gestritten, was nahrhafter sei, das Gelbe oder das Weiße vom Ei. Im Dotter sind 3 g Eiweiß und 4 g Fett enthalten, im Eierweiß dagegen nur 4 g Eiweiß und kein Fett. Der Dotter ist also dem Eierweiß überlegen, denn er enthält Fett und fast dieselbe Menge Eiweiß, obwohl er im Durchschnitt nur 20 g wiegt, während das Eierweiß 30 g schwer ist.
Ein ganz vollkommenes Nahrungsmittel sind aber die Eier überhaupt nicht, denn es fehlen in ihnen die zu unserer Ernährung unenthbehrlichen Kohlenhydrate, wie Stärke, Zucker u. dergl. Der Nährwert der Eier wird schließlich durch die Zubereitung beeinflußt. Am besten werden rohe Eier ausgenutzt, namentlich wenn sie in Suppen oder Thee gemischt werden. Hartgesottene Eier sind dagegen schwer zu verdauen, namentlich, wenn sie in größeren Stücken verzehrt werden. Wir ersehen daraus, daß das ja sehr schmackhafte Ei dem Fleische doch keineswegs überlegen ist und daß man gewöhnlich, wenn Eier als Ersatz für Fleisch dienen sollen, ihre Menge zu gering bemißt. *
Zum Sammeln. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wie das Waldhorn in die Hände des jugendlichen Gänsehüters gekommen ist, darüber läßt uns der Künstler im Zweifel. Aber ganz sicher ist, daß jener es mit Ernst und Eifer handhabt, und ebenso ernst nehmen die Zuhörer seine Kunstleistung. Sie kommen in Scharen herbei und horchen aufmerksam den glücklicherweise fern von menschlichen Ohren in die geduldige Gottesluft hineingellenden Klängen. Denn die Gesetze der Harmonie sind auf diesem freien Wiesenhügel unbekannt und der Künstler sowie sein Publikum sind der Ansicht, daß „erlaubt ist, was gefällt“. Da noch außerdem aus den gepreßten Halb- und Dreiviertelstönen die Hoffnung auf den abendlichen Heimzug herausklingt, so schnattert das Auditorium ungeteilten Beifall, und der junge Virtuose nimmt ihn mit ebensoviel Selbstbewußtsein entgegen wie die berühmtesten musikalischen Wunderkinder das Händeklatschen eines begeisterten Konzertpublikums. Ihm genügt das seinige, und wer von beiden es, besser hat, das lehrt ein einziger Blick auf die barfüßige Freiheit und vollkommene Zufriedenheit des strammen Buben, welchen der Künstler so lebenswahr und erfreulich auf die Wiese zwischen seine Schnattergänse hingestellt hat, daß man ihn mit Vergnügen betrachtet.
Bn.
Inhalt: Ein Künstlerkleeblatt. Bildnisse. S. 261. – Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (2. Fortsetzung). S. 262. – Der Anfang eines Romans. Bild. S. 265. – Ein Künstlerkleeblatt. S. 266. Mit Bildnissen S. 261. – Schwester Brigitte. Novelle von Otto von Leitgeb. S. 268. – Nordamerikanische Schenkstube. Bild. S. 269. – Vor der Berufswahl. Warnungen und Ratschläge für unsere Großen. Der Seemannsberuf. Von Max Lay. S. 271. – Bismarcks Geburtstagsfeier in Friedrichsruh: die Huldigung der deutschen Studentenschaft. Bild. S. 272 und 273. – Blätter und Blüten: Bismarcks Geburtstagsfeier in Friedrichsruh. S. 275. (Zu dem Bilde S. 272 und 273.) – Der Anfang eines Romans. S. 276. (Zu dem Bilde S. 265.) – Eine nordamerikanische Schenkstube. S. 276. (Zu dem Bilde S. 269.) – Nährwert der Eier. S. 276. – Zum Sammeln! S. 276. (Zu unserer Kunstbeilage.)