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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[277]

Nr. 17.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (3. Fortsetzung.)

Jetzt regt sich die Gestalt neben der Bank und stürzt Ditscha entgegen. „Ditscha, meine Ditscha, welch’ ein Wiedersehen!“ stammelt Hans. Trotz der Kälte glüht er, den Hut hat er zurückgeschoben, und sein Atem keucht.

„Sag’s nur gleich,“ sagt er heiser, „Du willst mich verlassen, Du willst thun, was Dein Vater und der Alte drüben beschlossen – warum solltest Du denn auch nicht folgen? ’s sind ja Deine Vormünder, die Dir das sagen, und ich bin ein armer Kerl, der Dir weiter nichts bieten kann als seine Liebe und seinen ehrlichen Namen. Sag’ mir’s! Aber bei Gott, wenn Du mich verläßt, ich schieße mir eine Kugel vor den Kopf!“

Ditscha ist wie betäubt von dieser Raserei „Du weißt schon?“ stammelt sie.

„Eben unterwegs traf ich den Kerl mit dem Schreiben,“ stößt er hervor. „Was für ein Recht haben die Menschen, uns zu trennen? Was that ich Deinem Vater, daß er so ungerecht gegen mich ist? Aber natürlich, beeinflußt von dem – dem – von Deinem Onkel, und Du auch, sag’s nur gleich, mach’s kurz – –.“

„Ich habe das nicht sagen wollen,“ stottert sie und windet sich in seinen Armen.

Er hält sie um so fester. „Nicht, Ditscha, meine Engelsditscha? O, wenn Du mir treu bleibst, dann – dann müssen ja die Alten schließlich klein beigeben. Du bleibst mir treu, Du hältst aus bei mir, nicht, Ditscha?“ „Ja!“ sagt sie und macht sich endlich los.

„Ditscha,“ flüstert er an ihrem Ohr, „ich hätte mich auch – bei Gott – ich kann nicht leben ohne Dich!“

„O sag’ das nicht!“ spricht sie herzklopfend, „sag’ das nicht – – wenn’s nicht wahr wäre! Belüge mich nicht!“

„Es ist wahr!“ antwortet er laut.

„Es ist wahr?“ wiederholt sie. „Aber Du wirst warten müssen, vielleicht lange Zeit, ehe sich die geringste Besserung zeigt für unsere Aussichten; Du wirst keinen Brief von mir bekommen, Du wirst mich nicht sehen –“

„Oho!“ sagt er drohend.

„Ja – wie denn, Hans? Wo denn?“

„Es muß sich ein Ausweg finden,“ erklärt er.

„Es findet sich keiner,“ betont sie.

„Wir können uns doch treffen, wie jetzt, Ditscha?“

„Nein!“ antwortet sie kurz und wirft den Kopf zurück.

„Du liebst mich nicht, Sophie!“

Sie denkt nach, ob sie ihm das „Nein!“ so schroff hätte sagen können, wenn sie ihn wirklich liebte. „Doch!“ beharrt sie unsicher, „es ist unmöglich, ich darf Dich nicht sehen, Hans.“

Fröhliche Gäste.
Nach dem Gemälde von A. Eckardt.

[278] „Du liebst mich nicht, Ditscha – es ist das beste, wir trennen uns – bekümmere Dich nicht mehr um mich! Es kommt ja in der Welt auf einen mehr oder weniger nicht an, der an solcher Geschichte zu Grunde geht, und Du kannst dann recht ruhig leben, weil Du nicht einen Schritt vom Pfade der sogenannten Wohlerzogenheit abwichest. – – Leb’ wohl – Du bist ein schönes kluges Mädchen, aber ein Herz hast Du nicht!“

Er ruft das letztere schon vom Pferde herunter, reißt das Tier herum und stürmt davon. Er ist ein guter Schauspieler, Hans von Perthien, und Ditscha gegenüber wird ihm die Rolle nicht einmal schwer. Sie ist ein himmlisches Mädel, wenn auch ein Eiszapfen und – alle Wetter, Beetzen doch am Ende auch nicht zu verachten; der tolle Kronen hat seit Jahren nichts verbraucht, und seine Frau ist eine Geborene von Zweifelden, das muß gefleckt haben! Wenn, um Gotteswillen, er, Hans, doch Mittel und Wege fände, diese Geschichte zu erzwingen!

Ditscha geht mit gesenktem Kopfe zurück; auf dem todeseinsamen dunklen Wege begegnet ihr plötzlich eine weibliche Gestalt in Mantel und Spitzentuch, die höflich zur Seite tritt.

„Fürchten sich denn gnä’ Fräulein nicht?“ fragt Grete Busch.

Betroffen schaut Ditscha sie an. – Grete muß Perthien noch gesehen, muß sie beide zusammen gesehen haben, ein Wunder, daß er sie nicht überritt bei seinem tollen Jagen! Hat sie die beiden belauschen wollen?

„Ich fürchte mich nicht, guten Abend,“ sagt Ditscha.

„Gnä’ Fräulein werden nämlich gesucht,“ berichtet Grete Busch weiter und geht neben ihr. „Der gnädige Herr Baron waren selbst vor unserer Thür. Da hab’ ich ihm gesagt, Fräulein Ditscha seien nach dem Erbbegräbnis zu gegangen – er wollte just zum Park hinaus.“

„Hätten Sie ihn doch gelassen, Grete Busch,“ antwortet Ditscha hochmüthig, „ich würde mich gefreut haben, wäre er mir entgegengekommen.“

Grete beißt sich auf die Lippen; sie hat einen Pik auf dieses vornehme Mädchen, das doch ganz gewiß nicht um ein Haar besser ist als sie, die sehr leicht beschwingte kokette Grete Busch, die nächstens einen spanischen Reitschulstallmeister heiratet, wie oll Mutter Busch sich ausdrückt, was annähernd der Wahrheit entspricht, nur mit der Variante, daß der Verlobte bloß Reitknecht ist im Cirkus Bandini und die Manege mit aufharkt zwischen zwei Piecen, und daß er allerdings ernstlich bestrebt ist, eine höhere Carriere einzuschlagen. Grete Busch, die zuweilen bei großen Aufzügen im Cirkus mit figuriert, lernte ihn da kennen, und mit Hilfe ihres kleinen Vermögens, das sie von dem Alten zu erpressen gekommen ist, will das Paar irgendwo ein Reitinstitut gründen. Grete findet diesen Beruf sehr vornehm, und „vormehm werden“ ist von jeher das einzige gewesen, worüber ihr thörichter Kopf ernstlich nachzudenken vermag.

Ditscha ist trotz alledem zu gutmütig, sich von dem Mädchen, mit dem sie als Kind gespielt, kurz zu verabschieden. So gehen sie nebeneinander bis an die Gärtnerwohnung, wo Grete scheinbar demütig „Guten Abend!“ wünscht, um gleich hinterher ein Paar bitterböser Augen zu machen.

Ditscha ahnt gar nicht, was für eine Feindin sie da eben verläßt. Sie kommt müde und verstört ins Haus zurück und weiß nicht, wie sie ihre Gedanken zur Ruhe hringen soll. Nichts ist ihr so schrecklich, als jemand wehe zu thun –. Wenn sie nur das eine wüßte, ob er sie wirklich so liebt!

Gedankenvoll sitzt sie bei Tische, mechanisch ißt sie und antwortet sie.

„Was hast Du in Nässe und Schnee so spät bei der Kapelle umherzulaufen?“ poltert Onkel Jochen.

„Ich war nicht bei der Kapelle, Onkel.“

„Aber der aufgedonnerte Zieraffe vom Gärtner hat mir’s doch gesagt!“

„Dann hat sie sich – dann hat sie Dich belogen, Onkel; ich war draußen auf dem Waldwege an der Birkenbank.“

„Verrückte Einfälle! Bertha, ich sage Dir“ – seine Gedanken sind schon wieder bei der Gärtnerstochter – „sieh Dir das Frauenzimmer an, was ist’s jetzt für ’ne Welt! Die Buschens sind doch brave Leute, und da haben sie nun so einen Kakadu ausgebrütet! Wenn ich Vater Busch wäre, ich nähme die Reitpeitsche und haute sie, bis die Lappen herunterflögen!“

Tante Bertha nickt, sie hat auch schon davon gehört. „Jochen, wir beide verstehen die Welt nicht mehr,“ erklärt sie, „wir kommen zu wenig hinaus. die alte Einfachheit sitzt vielleicht nur noch in unserem Winkel hier.“

„Zum Teufel,“ räsonniert er, „was thun wir noch hier, Berthachen!“ Und er schneuzt sich.

„Der Teufel, ja, Jochen, der Teufel!“ seufzt Tante Anna, „Du hast recht, Jochen, der Teufel hat die Grete Busch beim Kragen!“




Ditscha ist krank. Sie liegt auf ihrem Sofa, hat fieberheiße Wangen und fährt zusammen, sobald die Thür geht. Sie ist mit sich ins reine gekommen, sie hätte Hans nicht fortlassen dürfen, ihn, der sie so gebeten hatte, ihm Halt und Stütze zu sein. Wenn er sich nun totschießt aus Verzweiflung – wie soll sie das ertragen?

Sie hat wunderliche drei Tage verlebt; niemand kümmert sich um sie, oder liegt das an ihr? Sie hat doch sicher geglaubt, der Papa würde ihr ein gutes väterliches Wort schreiben – nichts! Der Papa hat freilich geschrieben, aber an Onkel Jochen, und zwar, daß er der Ansicht sei, Ditscha gegenüber die ganze Sache als eine Bagatelle zu behandeln und gar nicht davon zu reden. Junge Mädchen seien immer sehr geneigt, solche Ereignisse als riesig wichtig zu nehmen, nun gar Ditscha! Onkel Jochen ist völlig damit einverstanden und hat Tante Bertha instruiert und Tante Anna, und letztere hat den Befehl nach oben vermittelt an Tante Klementine und an Hanne. So kommt es, daß Ditschas Liebesangelegenheit wie von der Luft aufgesogen scheint.

Sie grübelt und grübelt und ist elend dabei geworden. Heute abend kommen Pfarrers und Oberförsters; sie kann sich zwar kaum aufrecht halten vor Kopfweh, aber sie beschließt, hinunterzugehen, denn es wäre ja möglich, daß man von ihm spricht. Die Oberförfterin ist die Tante ihrer besten Freundin Liesing, das junge Mädchen war einen Sommer lang im Forsthause und Ditscha hat sich mit der ganzen Wucht ihrer Empfindung auf diese Freundschaft geworfen. Als die kleine blonde Liese wieder zu ihrer Mutter ging, war Ditscha krank vor Kummer. Sie hat immer gehofft, Liesing würde wiederkommen, aber sie kam nicht, sie war im Gesellschaftsstrudel ihres Berliner Kreises untergetaucht, hat immer weniger Zeit gefunden zum Schreiben und nun – nun ist sie verlobt, nun ist’s aus! Sie fragt gar nicht erst die rundliche hübsche Frau: „Frau Oberförsterin, wie geht es Liesing?“ Die Sache ist abgemacht.

Bei Tische kommt die Rede auf die dörfliche Chronique scandaleuse. Buschens Grete wird abfällig beurteilt; die Schulzenfrau hat Zwillinge bekommen. Tante Anna sagt, sie wolle das Wappen an dem Kronenschen Kirchenstuhl frisch vergolden lassen, wozu Jochen von Kronen bemerkt, daß er sich das verbitte. Tante Bertha sefzt: „Wozu denn, Anna? Für Jochen und mich ist’s ja gut genug so!“

Frau Pfarrer, die sehr lebhaft ist und sich brennend für alles interessiert, was in der Stadt vorgeht, fragt die Oberförsterin nach dem Winterball des Bützower Kasinos. Die beiden Damen haben die Gewohnheit, sich mit dem Familiennamen anzureden, dem sie immer ein „chen“ anhängen.

„Ja freilich, Weberchen, war ich da!“

„War’s hübsch?“

„Ein schauderhaftes Gedränge, ganz hübsche Toiletten, aber an Tänzern fehlt es ja immer, und wenn nun gar noch –“

„Ja,“ sagt der Oberförster, „’s ist ein Skandal! Eine ganze Reihe hübscher kleiner Deerns, die alle keinen Tänzer haben – und dann steht da noch so ein blasierter Jüngling in den Thüren herum und sieht sich das erbarmungslos mit an.“

„Also, soweit sind wir nun in Bützow auch schon,“ bemerkt Jochen. „Weiß Gott, Berthachen, so was hätte unser Jung –“ er schluckt die Bemerkung hinunter.

„Ich habe dem Herrchen auch gründlich den Staar gestochen,“ erklärt der Oberförster, „und ihn gefragt, ob er zu enge Stiefeln habe.“

„Wer war’s denn?“

„Na, einer vom Domänenrat Calwerwisch, sein jüngster Stoppelhopfer, ein hübscher schneidiger Bengel, der da mit ein Paar Augen in das Vergnügen hineinguckte, als wollt’ er all die lütten Mädels vergiften.“

[279] „Ach ja,“ seufzt die Pastorin, „o die heutige Jugend! Weber, Du selbst hast Dich gefreut, wenn wir tanzten, weißt noch?“

„Statt dessen wird heute gespielt und getrunken,“ erklärt der Oberförster, „und zum Schluß des Balles saß der tanzfaule Kerl, geladen wie eine Haubitze, in der Gaststube und wußte nicht mehr, was er redete, konnte kaum noch die Zunge heben.“

Ditscha ist es, als stehe ihr das Herz still.

„Na, die beiden andern haben ihn dann mit Hilfe des Hausknechts in die Kutsche geladen, und der alte Calwerwisch mag nicht schlecht geschimpft haben.“

„Wie heißt denn der Gentleman?“ fragt Onkel Jochen laut.

„Ich weiß nicht,“ ist die Antwort. „Timpe war’s nicht und Reeden auch nicht, und drei hat Calwerwisch ja man; der neuste war’s.“

Aus Ditschas Gesicht ist alle Farbe gewichen. Das ist das Resultat ihrer neulichen Unterredung mit Hans, die Verzweiflung treibt ihn zu solchen Ausschreitungen, und wenn er zu Grunde geht, hat sie die Schuld. Sie kommt sich in diesem Augenblick vor wie das pflichtvergessenste Geschöpf in Gottes weiter Welt.

Nach Tische gelingt es ihr, ein paar Minuten auf ihr Zimmer zu entkommen und dort schreibt sie in fliegender Eile einen Brief an ihn, und später als der Onkel das vierte Glas hat und sie entlassen wird, läuft sie in den finstern Park hinaus zum Gärtnerhause. Es ist ungefähr neun Uhr, ein schneidender kalter Wind empfängt sie, aber die Wolken haben sich zerteilt und der angehende Mond hängt hinter dem kahlen Geäst der Bäume wie ein großer düsterroter Ballon. Buschens Hausthüre ist noch unverschlossen. Ditscha tritt rasch ein und klopft an die Stubenthüre.

„Herein!“ ruft eine Stimme.

Als Ditscha über die Schwelle kommt, erblickt sie Grete Busch, die vor der Kommode, zwischen den Fenstern, dem Spiegel gegenübersitzt und sich frisiert. „Ach, gnä’ Fräulein,“ sagt sie und erhebt sich.

„Guten Abend! Ist Dein Karlbruder da?“

„Nein, gnä’ Fräulein, der ist mit den Eltern auf meiner Base Hochzeit in Uechte – soll er was?“ Sie hantiert bei diesen Worten eilig und rasch mit einer heißen Brennscheere, und Ditscha sieht an den umherliegenden Garderobestücken, daß Grete Busch im Begriffe ist, Staatstoilette zu machen. Das Mädchen steht da in gesticktem Frisierjäckchen mit blauen Bandschleifen – so besitzt Ditscha keine – und ebenso gesticktem Unterrock an den Füßen kleine Lackschuhe und seidene Strümpfe.

„Ich will noch hin,“ sagt sie, „hatte man bloß keinen Platz mehr in Pachter Jonas’ Kutsche, hätt’ mich alles zerdrückt. – Da wart’ ich nu, bis er das zweite Mal fährt. Ist ja egal, ob ich ’ne Stunde später komme.“

Ditscha kämpft mit sich. Soll sie das Absenden des Briefes bis morgen aufschieben? Aber da ist der Junge sicher müde und verschlafen und bis morgen – wer weiß, was bis morgen geschieht! Sie überwindet sich, sie thut ja nichts Unrechtes.

„Da Du doch einmal nach Uechte kommst – würdest Du mir einen Gefallen thun?“ beginnt sie zögernd.

„Allemal!“ erklärt Grete und bindet einen Schleier über ihren hochgetürmten Lockenbau.

„Gieb Deinem Bruder Karl diesen Brief, er weiß schon –“

„Ich kann ihn doch auch besorgen? Wissen Sie, gnä’ Fräulein, so’n Jung ist manchmal nicht mehr ganz nüchtern und verliert so ’was. Nebenbei sollt’s mich wundern, wenn die Herrn Volontärs nicht auch bei der Hochzeit wären, mein Ohm ist ja Meier auf der Domäne.“

Ditscha giebt ihr den Brief; es ist ihr merkwürdig unheimlich zu Mut dabei und sie hätte ihn am liebsten sofort zurückgenommen, als sie das pfiffige Gesicht sieht, das ganz verklärt ist von einer eigentümlichen Freude. Ditscha hat ’mal ein Bild gesehen, das Bild eines Mädchens mit einem Flämmchen auf dem Haupte, das am Rande eines dunklen Weihers steht und mit dem nämlichen Ausdruck des Gesichtes auf einen Menschen blickt, der mit den Fluten ringt. „Irrlicht!“ stand darunter; zu wunderlich, daß ihr dies heute einfällt!

Draußen fährt jetzt ein Wagen vor und Grete bittet um Entschuldigung, aber sie müsse sich eilen. Sie wirft ganz ungeniert ihr Jäckchen ab und streift ein hellgrünes, mit Spitzen besetztes Kaschmirkleid über, Fächer und Handschuhe liegen auf dem Tische.

Eine herausfordernd elegante Toilette, denkt Ditscha und starrt auf ein Paar Similibrillanten, die in Gretes Ohren funkeln. „Gute Nacht, Grete,“ sagt sie dann kurz, „bestelle es richtig – ich danke Dir auch.“

„Gute Nacht, gnä’ Fräulein –. Gnä’ Fräulein, ach sagen Sie doch nichts an gnä Fräulein Anna von meinem Staat. Sie war gestern abend hier und so böse, ich sei ’was hoffärtig geworden.“ Dabei wieder dieses Lächeln, das ohngefähr bedeutet: „Ich thue nur so, ich weiß schon allein, daß Du nichts verrätst.“

Ditscha verläßt ohne zu antworten das Haus. Jetzt hat sie den Wind im Rücken, der Mond ist voll aufgestiegen und tageshell liegt der Garten.

Ihr ist unbeschreiblich weh und angst zu Mute, geradezu kleinmütig. Wenn er nun nichts wieder von Dir wissen will? fragt sie sich. Er hätte recht! So ein kleinlich engherziges Geschöpf, das sich fürchtet, ein paar gesellschaftliche Schranken zu übersteigen, und einen Menschen zu Grunde gehen läßt deshalb!

Im Turmgeschoß ist noch Licht, Tante Klementine wird da mit Hannes Hilfe den Mond ein wenig aufs Korn genommen haben; im Stockwerk darunter, wo Tante Anna residiert, ist’s ebenfalls erleuchtet. Ditscha schlüpft ins Haus und läuft die Treppe hinan. Es ist eine breite, mit der Raumverschwendung früherer Zeiten angelegte Treppe, die von der rechten Seite des riesigen Flurs nach oben führt. Die ebenfalls altmodische Dimensionen aufweisende Lampe unter der Balkendecke der Halle verbreitet, da nur eine Flamme angezündet ist, ein sehr schwaches Licht.

Auf dem breiten Absatz der Treppe nahe der tiefen Fensternische, in der Ditscha so gern gespielt hat mit ihren Puppen – es ist wie ein winziges Stübchen, zu dem ein paar Stufen führen – bleibt sie stehen und schaut zurück.

Eine Thür ist gegangen, die Wohnstubenthür; Onkel Jochen und Tante Bertha suchen ihr Schlafzimmer auf, das jenseit des Flurs nach dem Gutshofe hinaus liegt. Es ist zehn Uhr vorüber. Ditscha duckt sich unwillkürlich, sie möchte nicht gesehen werden und sinkt plötzlich auf die nächste Stufe nieder und ihre Augen heften sich völlig entsetzt auf die Personen, die da langsam durch die Halle gehen.

Onkel Jochen! Um Gotteswillen – Onkel Jochen? Wie er schwankt! – Tante Bertha stützt ihn – Ditscha erkennt das hochgerötete Antlitz des alten Herrn, aus dem die Augen so seltsam stier blicken, und den stillen bekümmerten Zug der Tante ganz genau.

„Berthachen,“ lallt er, ganz unbeholfene unsichere Tritte machend und seinen Foulard schwenkend, „das ist – das ist ja alles nur dummes Zeug – und wenn ich Dir sage, mir schadet der Grog nicht – so – so schadet er mir nicht –“

„Ja, ja, Alter – aber es war wirklich kein Rum mehr in der Flasche,“ spricht sie sanft, fast zärtlich, und steuert ihn der Schlafstube zu.

„Berthachen – wenn der Achim bei uns geblieben wär’ – er – er hätte mir noch Rum geholt – Du kannst’s glauben – aber weil er nicht da ist – ach du verdammter Bengel – – was braucht’ er – – aufs Eis – zu laufen – Mutter – was braucht’ er – –“

„Jochen, da ist die Stufe – komm nur,“ unterbricht sie ihn.

Er aber bleibt stehen. „Und wenn wir ihn wenigstens gefunden hätten – wenn er da läge in der Ka – Kapelle, dann legte ich mich auch hinein!“ schreit er schluchzend, „aber – so – habe ich keine Lust – hinein – hörst Du? Ich habe keine Lust – ich will nicht – Berthachen – wenn wir ihn nur wenigstens – gefunden –.“

Tante Bertha hat den Wankenden glücklich über die Schwelle geschoben, die Thür schließt sich hinter ihnen, und Ditscha sitzt noch immer zitternd da mit einem nie gekannten Gefühl von Ekel und Mitleid. Als sie hinter sich etwas rascheln hört, fährt sie mit einem schwachen Schrei empor.

„Hanne,“ stottert sie dann, „o Hanne, was war das mit Onkel?“

Die kleine Frau mit dem runden Apfelgesicht und den immer in Thränen schwimmenden Augen schüttelt den Kopf. „O, nichts nich, gnä’ Fröln, ’s ist man bloß seine Art, sich um den Junker to grämen.“

[280] „Mein Gott!“ ruft das blasse Mädchen. „Er betrinkt sich aus Gram?“

„Fröln Ditscha, he ist de Erste nich,“ bemerkt Hanne.

„Ja! ja!“ stammelt sie und legt die Hand an die Stirn, die schwankende Gestalt, die lallende Stimme – wie furchtbar, welches Elend, welch menschenunwürdiger Zustand! – Und er, er hat sich auch betrunken auf dem Bützower Balle, und sie ist schuld daran!

„Se möten nich so dorüm barmen, Fröln Ditscha,“ tröstet Hanne, „he is doch en gooden, en sehr gooden Herrn, is ja auch nich immer so wie hüt abend – blot so um Wihnachten herüm, wenn de ollen Erinnerungens kommen, denn äwernimmt em dat und he will Vergeten drinken ut sin ollen Grog, und Gott wird’s ihm nicht vor ’n volle Sünd anreken – dat is min Meinung. Nu aber gahn Sei slapn, gnä’ Fröln.“

Ditscha geht in ihr Zimmer, das Herz voll Entsetzen und doch völlig bestärkt in ihrem Entschlnß, Hans von Perthien vor Aehnlichem zu bewahren. Sie will alles thun, daß er nicht so wird – sie muß es thun, es ist ihre Pflicht. Er soll gerettet werden!




Am anderen Morgen traut Ditscha ihren Augen kaum, als bei der Frühandacht zwischen Hanne und dem jungen Stubenmädchen – Grete Busch sitzt. Grete Busch mit glattem Scheitel, in einfachem schwarzwollenen Kleide und Kattunschürze. Sie sieht blaß aus, hält die Hände gefaltet im Schoß und den Blick gesenkt.

Tante Anna hat zu ihrer Morgenbesprechung den Spruch gewählt: Erster Brief Petri 3, 3 und 4: „Ihr Schmuck soll nicht aufwendig sein mit Haarflechten und Goldumhängen oder Kleideranlegen, sondern der verborgene Mensch des Herzens unverrückt mit sanftem und stillem Geist, das ist köstlich vor Gott.“ Und hieran knüpft sie eine Betrachtung, die zu einer donnernden Strafpredigt sich steigert, des Inhalts, daß die Leute, die ihres Standes und Herkommens vergessen, absolut nicht für den Eintritt in die Seligkeit geeignet sind, daß einzig und allein Demut not thue, und daß, wenn eine Gärtnerstochter sich gebärden wolle wie eine Baronin, noch niemals etwas Gutes daraus entstanden sei, weder hier zeitlich, noch droben ewiglich.

Grete wird ein klein wenig rot, hebt aber den Blick nicht. Die Dienstleute schauen alle auf sie hin, Tante Bertha hat augenscheinlich gar nicht zugehört und Onkel Jochen nickt fast unmerklich seiner Schwester zu, als wolle er sagen, diesmal hast du ausnahmsweise recht!

Er sieht schrecklich bleich aus, Onkel Jochen, nur die Nase ist gerötet und die Augenränder; er leidet physisch und moralisch unter der Nachwirkung des gestrigen Abends.

Nach der Andacht küßt Grete auffallend unterthänig Tante Annas Hand, knixt noch ein paarmal vor der Herrschaft und geht dann mit den anderen aus dem Zimmer. Ditscha hilft Tante Bertha, wie alle Tage, die Nippsachen vom Staube reinigen und sieht sie währenddem von der Seite an. Tante Bertha ist nicht anders wie sonst, sie putzt und reibt die kleinen Meißener Rokokofigürchen mit so trauriger Miene und so viel Hingebung wie immer, und Ditscha überlegt, ob das Seelengröße oder die Macht der Gewohnheit ist, was sie so ruhig sein läßt.

Bevor sich Ditscha ans Klavier setzt, geht sie noch einmal in ihr Zimmer hinauf und erschrickt nicht wenig, als sich vom Stuhl in der Nähe der Thür eine Gestalt erhebt – Grete Busch.

„Entschuldigen, gnä’ Fräulein, ich komme mit der Antwort von Herrn von Perthien. Ich wußte nicht anders mich ins Schloß zu schmuggeln, als daß ich in die Andacht kam, gnä’ Fräulein Anna hatte mir g’rad’ vor ein paar Tagen gesagt, wenn’s mich einmal drängt, Gottes Wort zu hören, sollte ich nur in die Andacht kommen.“

Ditscha ist dunkelrot geworden vor Empörung über diese leichtsinnige, gottvergessene Rede und das übermütige Kichern des Mädchens.

„Wo ist der Brief?“ fragt sie kurz und tritt auf die andere Seite des Zimmers.

„Ein Brief? Ja, wie soll denn Herr von Perthien bei nachtschlafender Zeit einen Brief schreiben, noch dazu auf dem Tanzboden, wo alle Tische voll von Leuten sitzen und mit Bier begossen sind? Er hat nur so einen Zettel aus dem Notitzbuch gerissen und mit Bleistift darauf gekritzelt – da ist’s!“

Ein winziges Bapier liegt nun in Ditschas Hand, zusammengefaltet wie eine Pulverkapsel aus der Apotheke, unversiegelt und jedenfalls von Grete gelesen.

„Ich danke Dir,“ sagt sie, und aus ihrer Börse ein Geldstück nehmend, will sie es Grete in die Hand drücken.

„Dank’ schön!“ wehrt diese und macht eine Faust, „ich nehme nichts, hab’s aus Gefälligkeit gethan – soll ich auf Antwort warten?“

Ditscha schüttelt den Kopf und dreht ihr den Rücken zu, indem sie sich irgend etwas zu schaffen macht an einem Strauß getrockneter Gräser, den sie im Sommer gepflückt hat und der nun in einer braunen Majolikavase das Wandbort ziert.

„Adieu, gnä’ Fräulein!“

„Adieu!“

Sobald sich die Thür hinter dem Mädchen geschlossen hat, reißt Ditscha das Papier auf. Kaum lesbar steht da:

„Ich danke Dir. Morgen, gegen Abend, an der bewußten Stelle. Ich muß Dich sehen. H. v. P.“ 

Sie fühlt ein starkes Unbehagen, aber sie muß hingehen, sie muß, sie will und darf nicht an sich denken.

Gegen Abend regnet es fürchterlich. Ditscha sitzt am Fenster und späht hinaus, die Wege des Parks gleichen kleinen Flüssen. Im Hause ist es totenstill wie immer, die Uhr des Turmes hat schon ihre fünf schrillen Klänge in die Dunkelheit hinaus gesandt. Ditscha legt den Regenmantel und das Filzhütchen wieder ab – es ist ja doch keine Möglichkeit, daß er dort wartet auf sie, bei dem Wetter! Dann nimmt sie zögernd die Hülle wieder um. Sie darf nicht fehlen; es kann ihr ja auch nicht schaden, wenn sie ein wenig naß wird, sie hat feste Lederstiefelchen. – Und wenn sie jemand trifft auf dem Gang durchs Haus? Er muß sie für verrückt halten, muß sie hindern, in das Wetter hinauszugehen.

Aber sie gelangt ungesehen die Treppe hinunter und huscht an der Dielenuhr vorüber, die, ohne sich zu verwundern, ihren Pendel weiter schwingt. Ach, was hat sie schon alles gesehen, diese Uhr! Gespenstisch einsam ist dieses Haus. – Ditscha hebt den Drücker, öffnet nur ganz wenig den schweren Thürflügel und schlüpft hinaus. Der Regen sprüht ihr ins Gesicht, sie achtet seiner nicht, sie eilt durch die Wege; ihre Füße plätschern im Wasser, sie fürchtet nicht die Nässe. Am Gärtnerhause, am Zaun, der den kleinen Garten umfriedigt, in dem Mutter Busch ihre Geißblattlaube steht, vertritt ihr eine Gestalt den Weg.

„Pst! gnä’ Fräulein!“

Es ist Grete Busch, die ein Tuch übergeworfen hat und hinter ihr hereilt.

„Gnä’ Fräulein, kommen Sie doch – Herr von Perthien ist drinnen.“

„Wo?“ fragt Ditscha, sichtlich betroffen.

„In unserer guten Stube. Sie können sich doch bei dem Wetter nicht hier draußen sprechen, Sie würden ja pitschenaß, gnä’ Fräulein.“

Ditscha steht unschlüssig da.

„Kommen Sie doch nur, gnä’ Fräulein, es sieht Sie ja niemand! Vater ist im Gewächshaus und Mutter liegt im Bette, sie hat sich gestern abend erkältet.“ Und Grete schiebt ihren Arm unter den Ditschas. „Hier herüber, gnä’ Fräulein, da ist g’rad’ die Pfütze vor der Thür – etwas mehr rechts – so – so –“

Und Ditscha geht durch das Vorgärtchen und tritt in das Haus. Als sich die Thüre hinter ihr schließt, deren Schelle Grete sorglich festhält, macht sie jäh eine Bewegung zur Umkehr. Die ganze Wucht dieses Schrittes, der finstere Schatten kommenden Unglücks überfällt sie so machtvoll und deutlich, als enthülle ihr der Blitz eine dunkle Gegend, als sei sie hellseherisch geworden. Aber im nämlichen Augenblick fühlt sie sich festgehalten und umschlungen.

„Ditscha, mein Leben, meine Retterin, mein Glück!“

Sie stößt ihn zurück und sieht sich um, Grete ist verschwunden. Mit zwei Sprüngen ist Ditscha an der Hausthür, um davonzulaufen – da steht er neben ihr.

„Geh’ nur,“ sagt er traurig, „ich halte Dich nicht – ich wußte ja, wie es kommen wird.“

Sie legt einen Augenblick die Hand an die Stirn, dann wendet sie sich um und reicht ihm die Hand. „Verzeih’,“ bittet sie leise.

(Fortsetzung folgt.)


[281]

Das Vermieten der tiroler „Schwabenkinder“ in Ravensburg.
Nach dem Leben gezeichnet von E. Klein.

[282]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Tiroler „Schwabenkinder“.

Von Arthur Achleitner. Mit Abbildungen von E. Klein.


Was die „Sachsengängerei“ von erwachsenen ländlichen Arbeitern aus dem Osten im deutschen Norden ist, das ist im Süden die Entsendung von halbwüchsigen Kindern aus Tirol und Vorarlberg nach den deutschen Uferstaaten am Bodensee. „Schwabenkinder“ werden die Kinder armer Leute im Vintschgau, Oberinnthal und den Seitenthälern Paznaun und Stanzerthal genannt, welche alljährlich im Frühling ins sogenannte Schwabenland wandern, um sich dort als Viehhirten, als Kindser (d. h. zur Beaufsichtigung ganz kleiner Bauernkinder) und als Arbeiter für kleinere Feldarbeit zu verdingen. Die „Gartenlaube“ hat vor Jahren die Uebelstände geschildert, welche diesem Brauche damals noch anhafteten, als noch „Werber“ diese Kinder aus den Heimatsthälern fortlockten und der Marsch über die noch verschneite Höhe des Arlbergpasses sie der Unbill von Föhn und Frühlingsstürmen aussetzte. Die jungen Saison-Auswanderer erhielten in früheren Zeiten dort, wo sie in Stelle traten, Kost und Kleider, und in besonders günstigen Fällen brachten sie im Spätherbst wohl auch einige Thaler in die tirolische Heimat zurück. Besorgte Eltern, denen die Kinder an der Suppenschüssel eine zu große Last gewesen waren, begleiteten die Schwabenkinder wohl bis an den Bodensee; meist aber verbot die heimische Armut selbst die Reisespesen dieses Geleits, und die Kinderzüge wurden dann von den „Werbern“ oder nur von den älteren der Schar ins Schwabenland geführt.

Der Brauch der Kinderentsendung aus Westtirol ins südliche Deutschland ist im Laufe der Zeit so allgemein geworden, daß die Behörden der Angelegenheit ihre Aufmerksamkeit widmen mußten. Zu verbieten war indes die Kinderverleihung nicht; denn in den meisten Fällen zwangen geradezu die ärmlichen Verhältnisse der Heimat zu diesem Mittel der Entlastung und des Nebenerwerbs. Der Name „Schwabenkind“ ist in Tirol gleichbedeutend mit bitterer Armut geworden, und wenn ein Beamter oder Geistlicher dort sagt, es war ein „Schwabenkind“, so ist damit eine freudlose, an Entbehrungen aller Art reiche Jugendzeit zur Genüge gekennzeichnet. Mehr gezwungen als freiwillig bestimmte dann der Landesschulrat von Tirol im Verordnungswege, daß die armen Kinder der Thäler Vintschgau, Paznaun und Stanz offiziell vom 19. März bis 1. November vom Schulbesuch befreit werden unter der Bedingung, daß diese Schwabenkinder nach vollendetem vierzehnten Lebensjahr noch zwei Jahre die Feiertagsschule besuchen, welche in Tirol an allen Sonntagen von Allerheiligen bis Georgi abgehalten wird. Mit dieser Verordnung ist in Tirol der uralte Brauch der Kinderentsendung gewissermaßen behördlich sanktioniert worden, aber „drüben im Schwabenland“ blieben die Kinder schutzlos und in manchen Fällen der Willkür schwäbischer Bauern überantwortet. Seit einigen Jahren ist aber auch hierin ein Wandel zum Besseren geschaffen worden durch Gründung eines Vereines, welcher sich des geistigen und leiblichen Wohles dieser jugendlichen Arbeiter annimmt. Kaplan V. Schöpf in Schnann rief diesen Verein ins Leben und der tirolische Landtag beschloß sofort, ihn durch einen ansehnlichen Jahresbeitrag zu unterstützen, und der Bischof von Brixen nahm ihn unter sein Protektorat, wodurch dem Verein manche Zuwendung zu teil ward.

Eine gründliche Regelung hat durch diesen Verein die ganze Reiseveranstaltung der Schwabenkinder erfahren. Durch das Entstehen der Arlbergbahn wurde die Möglichkeit gegeben, diese Ausfahrt weit bequemer denn früher zu gestalten. In der Gegenwart sammeln sich die Kinder aus den genannten Thälern im Marktflecken Landeck, wo sie vom „Vereinskaplan“, einem dafür bestellten Geistlichen, und einem Lehrer in Empfang genommen, gestärkt und dann auf die Eisenbahn gebracht werden. Das Bergblut der jungen Tiroler verleugnet sich auch bei dieser Abschiedsscene nicht; die Buben, die kurz vorher noch Thränen am Mutterhalse vergossen, jodeln und juchzen, als gingen sie wunder was für einem Freudenleben entgegen. Das ist ein Hüteschwenken und Jubilieren und Liedersingen aus junger Brust, daß der Belauscher solcher origineller Scenen leicht auf den Gedanken kommen könnte, es handle sich um eine Art Abreise in die – Ferienkolonie nach städtischen Begriffen. Wenn freilich Eltern ihre Kinder bis zum Eisenbahnzug begleiten und das Abfahrtssignal ertönt, dann giebt es neue Thränen, und manches tiefer veranlagte Kind fährt angstvoll der Schwabenwelt entgegen. Fröhliche Jauchzer aber übertönen die Seufzer, mag sich das kleine Mädchen dort in der Ecke und hier der pausbäckige Knirps nur ausweinen – jenseit des Arlberges lachen auch sie und strampeln mit den Füßen vor Freude, daß ihrer in Bregenz ein reichliches Abendessen harrt.

So laut es hergeht in den Eisenbahnwagen, in welchen oft an 70 und noch mehr Kinder untergebracht sind, so still wird es, wenn der Zug in den 10 Kilometer langen Arlbergtunnel einfährt. Die Neulinge kreischen im ersten Schrecken über den plötzlichen Eintritt dunkler Nacht auf und rücken ängstlich zusammen. Kaum aber umfängt helles Tageslicht wieder den rollenden Zug, da jubeln sie wieder, die kleinen Reisenden, und drücken die Näschen platt an den Wagenfenstern.

Ob diese Wanderkinder des Gefühles der zeitlichen Exilierung aus Armut sich bewußt sind? Ein Gewährsmann, der Gelegenheit hatte, mit vielen dieser Kinder in nähere Berührung zu treten, versichert, daß dieses Bewußtsein nur in seltenen Fällen vorhanden ist. Die meisten Kinder sind arm geboren und in Armut auferzogen; sie wissen es nicht anders, als daß sie wie die anderen Kinder auch zum Entbehren auf der Welt sind. War der Vater ein Schwabenkind, so muß es das Bübchen auch werden. Und wenn die erste Trennung kommt, so sagen die Eltern: „Was hat ein armer, ja selbst auch ein mittlerer Bauer bei uns denn Gutes? Er muß arbeiten, sich schinden und rackern von früh bis spät, und hat nichts als das bißchen schlechte Essen. Im Schwabenlande bekommt Ihr Kinder viel besser zu essen und habt nicht so viel und so streng zu arbeiten als bei uns manches Bauernkind.“ Es kommt übrigens vor, daß der Wandertrieb auch Kinder wohlhabender Eltern erfaßt, die dann ihre Angehörigen bestürmen, mit den ärmeren Spielkameraden ins Schwabenland ziehen zu dürfen. Meist sind aber diese Kinder wohlhabender Eltern bloß reiselustig, und wenn es in der Fremde an die Arbeit gehen soll, hat die Lust ein Ende. Wenn die Neugierde befriedigt und die erste Expedition glücklich verwunden ist, geht ein „besseres“, d. h. nicht armes Kind sicher nicht wieder als „Schwabenkind“ aus der Heimat.

In Bregenz hat der erste Teil der gemeinsamen Fahrt sein Ende. Hungrig, wie die Kinder sind, werden sie zunächst in einer Restauration untergebracht. Für die Atzung und ein Gläschen Wein an die Kleinen sorgt meist die Bregenzer Privatwohlthätigkeit, und falls die Spenden in einem Jahre nicht zur Deckung der Kosten ausreichen sollten, kommt die Vereinskasse dafür auf. Nach Beendigung des schlichten Mahles wird die Fahrt nach Ravensburg fortgesetzt.

Am Tage nach der Ankunft der tiroler Kinder wird auf einer der Hauptstraßen der Stadt gewissermaßen Truppenschau abgehalten. Die Kinder sind wie die Orgelpfeifen aufgestellt, haben ihren Schnerfer (Rucksack) auf dem Rücken oder ein Bündel in der Hand und stützen sich aus den kleinen Bergstecken, der an ihre alpine Heimat erinnert. Zu diesem „Kindermarkt“ finden sich nun die Bauern in großer Anzahl ein und beginnen unter Besichtigung der Kinder und Einschätzung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit den Handel. Es beginnt ein lebhaftes Feilschen um den Sommerlohn und die älteren Kinder mit ihren schwäbischen Erfahrungen aus früheren Jahren nehmen sich tapfer der kleineren Kinder an, was mitunter einen gewaltigen Spektakel hervorruft, denn die tiroler Buben zeigen „Schneid’“! Pfarrer R. Schranz in Ischgl (Paznaun) weiß über einen Fall zu erzählen, der sich vor einigen Jahren in Ravensburg zu allgemeiner Heiterkeit abspielte. Unter den Schwabenkindern befand sich ein dreizehnjähriger tiroler Bub’, der im Jahre vorher von seinem schwäbischen Dienstgeber wegen schlechter Kost und übler Behandlung in Unfrieden geschieden und deshalb bei der neuen Verdingung nicht gesonnen war, bei demselben Bauer nochmals Dienst zu nehmen. Der Bub’ wollte aber auch seine Landsgenossen vor Ausbeutung durch jenen Bauer schützen, und um diesen „Schinder“ kenntlich zu machen, ersann er ein köstliches Mittel. „Nehmt vom Ringbauern keinen Dienst!“ lautete die Losung, und damit auch das kleinste Kind diesen [283] verfemten Bauer erkennen könnte, versprach der Bub’, dem Bauer mit Kreide einen Ring auf den Rücken zu zeichnen. Von Mund zu Mund wisperten sich die tiroler Kinder diese Losung zu und behielten sie prächtig im Gedächtnis. Als nun der Bauer auf dem „Kindermarkt“ erschien, suchte er sofort nach seinem vorjährigen jugendlichen Arbeiter und fand ihn rasch heraus. Sein Angebot, wieder in Dienst zu gehen, lehnte der kleine Tiroler rundweg ab, und bevor der Bauer seine Rede noch geendet, hatte er von dem listigen Buben schon den Ring am Rücken aufgekreidet, ohne das Geringste bemerkt zu haben. Ueber die Weigerung des Buben geärgert, redete der Bauer den nächsten Buben an. Dieser ging um den verdutzten Schwaben herum, sah den Ring und lehnte ganz entschieden Angebot und Dienst ab. Des Bauern „Höllsakra!“ änderte an der Weigerung nichts. Von Kind zu Kind ging nun der Bauer und nicht ein einziges nahm sein Angebot an; die kleinsten Bübchen, neunjährige Knirpse, drei Käse hoch, besahen sich den gekennzeichneten Bauernrücken und erklärten dann mit Bestimmtheit: „I geah nitta!“ So mußte der boycottierte Bauer wirklich unverrichteter Dinge, ohne gemietetes Schwabenkind, grimmig geärgert nach Hause wandern.

Einschiffung in Bregenz.

Nach tiroler Auffassung – ich schöpfe aus tirolischer Quelle – haben es im großen und ganzen die Kinder bei den Schwaben und Alemannen verhältnismäßig gut bei meist freundlicher Behandlung, reichlicher Kost und angemessener Arbeit. Ausnahmen kommen freilich auch vor; allein es sind auch die tirolischen Kinder nicht gleich gut geartet und Wildlinge thun nirgends gut.

Der Schwabenkinderverein hat indes in seiner neuesten Generalversammlung den Beschluß gefaßt, die Lohnfrage durch einen Mandatar zu regeln, um Uebervorteilungen zu verhindern. Es gelten danach für die Verdingung der tiroler Kinder für 1895 nur jene Abmachungen, die durch den Vereinsdelegierten anerkannt und vereinbart werden. Leider gehört nur die Hälfte aller Schwabenkinder, bezw. deren Eltern, dem segensreichen Verein an, und wie Pfarrer Schranz schreibt, werden wohl Jahre vergehen müssen, bis der Verein in jenen Kreisen, die es angeht, die gegen ihn bestehenden Vorurteile überwunden haben wird. Wenn die unzähligen Freunde der tiroler Bergwelt jährlich nur je zehn Pfennig spenden würden, wie segensreich könnte dieser Schwabenkinderverein für seine Schützlinge wirken!

Am Tage Simon und Juda, den alle Schwabenkinder besser als den Kalendertermin, 28. Oktober, kennen, versammeln sich dann die Vereinskinder in Friedrichshafen, wo sie vom Vereinsdelegierten abgeholt und mit ihren Barschätzen, die in Beträgen von 20 bis 50 Mark bestehen, zu Schiff nach Bregenz und dann weiter mit der Bahn nach Landeck geleitet werden. Im letzten Jahre waren es gegen 300 kleinere und größere Burschen, die, von zwei Geistlichen aus St. Anton und Landeck und einem Lehrer aus Zams abgeholt, am 29. Oktober in Friedrichshafen das letzte Kursschiff zur Fahrt nach Bregenz bestiegen. Ein dankenswertes Entgegenkommen bekundet diesen armen tiroler Kindern gegenüber die Generaldirektion der k. k. Staatsbahnen in Wien, indem die ihr unterstehende Arlbergbahn jedes Vereinskind zum Ausnahmspreise von einem Gulden für die Hin- und Rückfahrt zu befördern hat. Nichtvereinskinder müssen die übliche Taxe zahlen. Hübsch ist auch, daß der Bregenzer Bankier den kleinen Kapitalisten die paar Mark um vollen Kurs in österreichische Valuta umwechselt, weshalb der Bregenzer Geldmann in hohem Ansehen bei den tirolischen Knirpsen steht.

[284]

Die Gebärdensprache der Süditaliener.

Von Woldemar Kaden. Mit Illustrationen von P. Scoppetta.


 „Lauter Bewegung ist er, er spricht mit tausend Gebärden,
 Drückt mit Zeichen so klar wie mit der Zunge sich aus.
 Staunend sehn Nordländer ihn an: ein anderes Wesen,
 Regsam wie ein Polyp, scheint die lebend’ge Figur.“
 Wilhelm Waiblinger. „Bilder aus Neapel und Sizilien“.


Am 9. Juni 1815, nach der Niederlage Murats, hatte Ferdinand, seiner großen Bourbonennase wegen familiär der Nasone genannt, endlich den Mut, sich seinem „getreuesten“ napolitanischen Volke zum erstenmal wieder in seiner neuvergoldeten Herrlichkeit als König beider Sizilien auf dem Balkon des hauptstädtischen Schlosses zu zeigen.

Das Volk, eine gährende Hefenmasse lazzaronesker Elemente, hatte ihn herausgeschrieen. es meinte, für seine Treue zu einer Belohnung berechtigt zu sein, und verlangte von seinem guten „Vater“ stürmisch die schon vor Eintreffen des Königs nur mühselig verhinderte endliche Plünderung der Muratschen Hinterlassenschaft. Gieriges Brüllen, heischendes Toben schlug an die Ohren der lächelnden Majestät, die sich endlich erweichen ließ, vorzutreten, eine Rede zu halten, eine Rede ohne Worte, aber eindringlicher, wirkungsvoller als die donnerndste Philippika eines Demosthenes.

Ferdinand, der an gewöhnlichen Leben wie im Ministerrate nur den dicksten Dialekt der niedern Volksquartiere sprach, war auch in der Gebärdensprache der Söhne Masaniellos zu Hause.

Aller Augen hingen an seinen – Fingern.

In der theatralischen Weise eines Königs der Bretter streckte er die Rechte aus, zog sie scharf zurück und legte den Zeigefinger senkrecht über die Mitte des geschlossenen Mundes ... Nun bog er den Arm, die Hand mit den wie eine geschlossene Tulpe vereinigten Fingern, einen finsterfragenden Ausdruck im Gesicht, gegen die Menge schüttelnd (vergl. Fig. 3 auf unserer Bildertafel).

„Murats Habe!“ brüllte es hier und da.

Rasch lösten sich die Finger und fuhren wie beim Harfenspiel (angedeutet in der Figur über dem Knaben mit der Gans) seitwärts, wie klimpernd, eine halbe Kreislinie beschreibend nach rechts unten durch die Luft, bis sie wieder eine scheinbar etwas festhaltende Faust bildeten.

Dann kam der effektvolle Schluß. Hochauf richtete sich der königliche Redner, bog die Hand mit geschlossenen Fingern, den Rücken nach oben, unter das Kinn (wie das Mädchen auf dem Mittelbilde), unter dem er mehrmals heftig vor- und rückwärts strich, dazu den Kopf mit kurzem Augenschließen energisch zurückwerfend ....

Lauter zustimmender Jubel des Volks, tausendstimmige „Evviva Nasone!“ – „Hoch, hoch, der Nasone“ – folgten der aus nur vier Sätzen bestehenden Rede des teuern Vaters, der in uralter, antiker Sprache sich mit seinen Kindern verständigt hatte.

Mit Genugthuung entließ er die Versammlung, indem er die geöffnete Hand (auf der „Schneide“) mehrmals von unten nach oben in die Ferne hinein bewegte (siehe die linke Hand der Minerva auf dem obern antiken Vasenbilde, sowie die des Zeitungsjungen rechts oben in der Ecke), und grüßte die abrückende Menge mit dem graziösen napolitanischen Handgruße der drei wie winkend bewegten mittleren Finger der sanftgebogenen Rechten.

Wie aber hätte die Rede gelautet, in Worte übersetzt?

Das Zeichen des Schweigens zuerst – „So, Kinder, nun seid erst ’mal ein bißchen still! – Jetzt nehmt Eure fünf Sinne zusammen wie ich meine fünf Finger und überlegt, was Ihr wollt! – Mausen wollt Ihr? Krummfingern wollt Ihr? – Als Antwort nehmt das Zeichen der allerschärfsten Verneinung: daraus wird absolut nichts! So, und nun schiebt Euch einmal langsam beiseite und bleibt mir gewogen!“

Das ist ein historisches Anekdötchen aus dem großen völkerpsychologischen Buche der Gebärdensprache, das Tausende von interessanten Blättern hat, aber noch lange nicht fertig geschrieben ist.

Die Gebärdensprache ist uralt, so alt wie die Welt; die Gebärdensprache geht über die ganze Welt, sie ist international.

Was sind Gebärden? Professor Erdmann versteht unter Gebärden die Bewegungen, die zwar willkürlich gemacht und unterlassen werden können, die aber durch ihre Allgemeinverständlichkeit beweisen, daß sie nicht ganz beliebig gewählte Zeichen sind wie etwa die Buchstaben in der Fingersprache. Diese Verständlichkeit der Gebärden, die bei einigen darin liegt, daß sie Anfänge zum Handeln sind (das bloße Heben des Stockes versteht auch das Tier als Anfang des Schlagens), gründet sich bei andern auf ihre Symbolik, das heißt darauf, daß die Gebärden bildlich andeuten, was ausgedrückt werden soll. Wird einer ganz und gar vom Leid übernommen, so reckt er wie hilfesuchend die Hände über den Kopf, gleich einem Ertrinkenden.

Zu ihren Werkzeugen haben die Gebärden die Bewegungsorgane, ihrem Spiel (Gesten, Gestikulieren) dienen vor allem die Hände (ausnahmsweise die Füße), denen sich die beweglichen Teile des Gesichts, wie die Angabe von Nuancen in der Musikschrift, gesellen; dessen Gebärden nennen wir Mienen.

Unsre gewöhnliche Sprache, d. h. die gegliederte, aus kurzen bedeutungsvollen Lauten bestehende Menschensprache, ist das Mittel der Verständigung mit Andern, im weitesten Sinne Mitteilung von Gedanken durch sinnliche Mittel: hier nun setzt die auch der eigentlichen Sprache oft zur Seite gehende Gebärdensprache ein, mit anderen Worten: der Ausdruck von Gedanken und Empfindungen durch Gesten und Mienen.

Wie H. Schaaffhausen in seinen Anthropologischen Studien ausführt, unterstützen rohe Völker ihre Wortsprache durch Gebärden, teils wegen der Unvollkommenheit dieser Wortsprache, teils aus natürlicher Lebhaftigkeit, teils aus Bequemlichkeit. Das lebhafte Gebärdenspiel der Napolitaner hängt sicher mit ihrer Neigung zum „süßen Nichtsthun“ zusammen. Frau Ida Pfeiffer erzählt, daß die Puri in Brasilien für heute, morgen und gestern nur ein Wort haben, das Tag bedeutet, sie zeigen aber dabei aufwärts, vorwärts und hinter sich. Schon Greenhill gab an, daß östlich von Kap Palmas in Afrika ein Volk lebe, dessen Sprache im Dunkeln nicht zu verstehen sei, weil sie, um verstanden zu werden, der Gebärden bedürfen. Dasselbe versichert Burton von einem Stamme nordamerikanischer Indianer, die kaum miteinander im Dunkeln reden könnten, um einem Fremden aber verständlich zu sein, an das Lagerfeuer gehen müßten. Zweifellos mußte auch der Mensch der Vorzeit seine Sprache durch Gebärden verbessern.

Mag bei gebildeten Völkern der Anstand gebieten, die lebhaften Gebärden zu unterdrücken, dem gemeinen Manne der sogenannten klassischen Länder gelingt das nicht: diese Gebärden sind dem Menschen so natürlich und bequem.

Und – unterhaltend! Stundenlang, wenn man sonst nichts Besseres zu thun hat, kann man diesen schlanken zierlichen biegsamen Marionetten, den Händen, zusehen. Was können diese zwei mit ihrem Zehnfingerpersonal nicht alles ausdrücken: ganze Geschichten können sie erzählen, Liebeserklärungen machen, Heiraten stiften, werben und abweisen, geloben und lügen, schwören, küssen und kosen. Mit den Händen wird gedroht, geschmeichelt, beleidigt; sie bitten, bewundern grüßen, verhexen und bannen bösesten Zauber, zeigen und zählen. Ohne Erröten drücken sie Scham und Reue aus, werden zu Befehlshabern, zu Tröstern, Propheten, zu Spöttern, zu graziösen und verschwiegenen Kupplern; bitterer Hohn, tödliche Beleidigung kann von ihnen ausgehen. Die Hände schreien, die Hände schweigen, sprechen ihr Ja und Amen deutlicher als der Pfarrer auf der Kanzel.

O, über diese Knechte der Gebärde! Die Hände sind Dämonen, sie sind Engel, die einzelnen Finger kleine Zauberkünstler, boshafte Alräunchen und Hexenmeisterlein, wie das schon W. Grimm so reizend ausgeführt hat, da er die Finger als belebte Wesen, als zwergenhafte Geisterchen anspricht, wie die Volks- und Kinderphantasie es schon immer empfunden:

„Das ist die Scheunenmaus,
Das ist der Stehlkern,
Das ist der Paßauf etc.“

Oder:

„Das ist der Daumen,
Der schüttelt die Pflaumen etc.“

[285]

Gebärdensprache der Süditaliener.

Und im Alemannischen:

„De ist in Bach g’heit,
De het en uße g’reicht,
De hät en is Bett gleggt,
De hät ne warm zudeckt,
Und de chliene Schölm do
Hät ne wieder ufgweckt.“

Auch bei den Griechen, wo die Gebärdensprache die höchste Ausbildung erfuhr, hatten die Finger die Bedeutung von Dämonen, von mythischen Wesen, die besondere Namen (der Heizer, der Schmied, der Ambos u. a.) führten. Sie galten auch geheimer Natur- und Heilkräfte kundig und standen im Rufe der Zauberei. Jeder Finger war einer anderen Gottheit heilig, wie ähnlich im alten deutschen Recht, wo jeder Finger eine besondere Beziehung zur Gottheit und zu dem von ihr ausgehenden Gesetz hatte.

Wie bei den Griechen waren selbstverständlich auch bei den Römern die Finger voller Bedeutung. Ganz koboldhaft, durch Zucken und Jucken, können sie Geheimnisse andeuten und verraten. Manus loquax, die geschwätzige Hand, nennt sie Petronius, Cassiodor redet von linguosi digiti, von schwatzhaften Fingern. Der Zeigefinger (von zeihen, anklagen) ist der Bogenspanner, aber auch der Dieb. Der Gold- oder Ringfinger ist der Herzfinger, auch Arztfinger – digitus medicus, denn besondere Heilkraft steht ihm zu. Der kleine Finger, Myops, der Kurzsichtige, bei den Griechen, war dem Merkur heilig er hatte die Gabe der Weissagung; die Franzosen nennen ihn auriculaire, was wohl so viel wie Ohrenbläserlein bedeuten soll, im Sinne unserer Redensart „Mein kleiner Finger hat’s mir gesagt.“

Nun stelle man sich vor, welch ein muntres Leben in diese Kobolde fährt, wenn sie zur Vorstellung zugelassen werden, wenn [286] sie Rollen übernehmen, Monologe und Dialoge halten oder den Sang der mündlichen Rede wie ein Instrument, eine Zither oder Harfe begleiten müssen!

Dann waren sie Künstler.

Die höchste Ausbildung in ihrer Kunst erfuhren sie bei den griechischen und römischen Schauspielern, ganz besonders bei jenen, deren Gesicht durch die Maske verdeckt war, so daß sie, unter Verzicht auf das Mienenspiel, einzig auf die Gebärdensprache der Hände und Gliedmaßen angewiesen waren.

Jede veränderte Haltung der Hände und Arme, jede Bewegung der einzelnen Finger drückte einen anderen Sinn aus, der nie mißzuverstehen war. Das war höchste Kunst und jeder Schauspieler suchte sie zu erweitern, auszubilden, zu verfeinern, zu raffinieren: wer etwa einen Zitherspieler darzustellen hatte und hätte dabei die saitenrührende Bewegung der Hände angewendet, würde als ganz ordinärer Pfuscher angesehen worden sein.

Diese Kunst drang damals ins Volk, hat sich im Volke Italiens fortgeerbt, ist aber am lebendigsten geblieben, gleich tausend andern antiken Reminiscenzen, im Süden: beim napolitanischen und sizilianischen Volke, bei denen man sie sozusagen noch an dem Quellbache studieren kann.

Der Archäolog, der die herrlichen figurierten Vasen der süditalienischen Museen studiert, auf denen Gestalten in mancherlei sprechenwollenden Gebärden dargestellt sind, findet eine Erklärung dieser stummen Sprache in den Gebärden des gestikulierenden Volkes am parthenopeischen Molo, wo ein Kerl in Lumpen einem Parterre von Lumpen mit höchstem Pathos des Worts und der Gebärde das Ariostsche Epos vorträgt ....

„und der Vorzeit gedenk’ ich, da unter glücklichem Himmel
Einst vom Achill und Ulyß Griechen der Sänger erzählt.“

Hier mag der Archäologe forschen ...

„Wohl in Lumpen und Schmutz gewahrst du griechische Bildung,
Geistreich lächelt der Kopf unter der Mütze dich an.“

In einem sehr gelehrten, freilich auch sehr trockenen Werke „La mimica degli antichi“ („Die Mimik der Alten“) vom napolitanischen, sein Volk gründlich kennenden Kanonikus Andrea de Jorio (Neapel 1832) wird der Zusammenhang der napolitanischen Mimik mit der altgriechischen nachzuweisen gesucht. Der Gegenstand hat, wie es scheint, seinen Mann höchlichst interessiert, er ist aber nicht der erste, der darüber schrieb: schon 1616 erschien von dem Rechtsgelehrten Giov. Bonifacio das Werk „L’arte de’ cenni“, dessen deutsche Ausgabe den Titel führt „Die Kunst der Zeichen, allwo durch sichtbare Sprache von der stummen Beredsamkeit gehandelt wird oder von dem wohlverständlichen Schweigen. Eine neue Materie, insbesondere für die Fürsten, die ihrer Würde wegen sich mehr durch Zeicheu weder denn durch Worte verständlich machen.“ Noch mancher Band wäre anzuführen, welcher beweist, wie das Thema schon viele „Perückenhäupter, arme schwitzende Menschenhäupter“ beschäftigt hat, aber hier könnten nur Momentphotographieapparate helfen: die Gebärdensprache beschreiben, heißt Blitze und Funken fangen und zergliedern wollen.

So mag es kommen, daß Nordländer dem sprechenden Napolitaner gegenüber nicht bloß staunen über den „regsamen Polypen“, sondern daß ihnen diese „haspendzappelnden“ Gebärden, aus denen sie nicht klug werden, geradezu unheimlich erscheinen. So sagt der alte gute Bogumil Goltz, kleinstädterischen Angedenkens, unberührt von klassischen Reminiscenzen: „Die geistige Unthätigkeit macht dem napolitanischeu Volke die körperliche Agitation zum Bedürfnis, denn irgendwo will das Leben doch hinaus, irgendwie will es sich doch äußern, so fährt es denn in die Arme und Beine, aber die Schlaffheit und Stupidität der meisten steht mit ihrer krampfhaft leidenschaftlichen Beweglichkeit in desto unheimlicherem Kontrast.“ Lassen wir das Leben selbst ihm entgegnen.

Der frisch zugereiste Freund ruft mich eben ans Fenster.

„Sieh! sieh da, auf dem steilen Dache da drüben ein Verrückter Sieh nur, wie er mit den Händen in seinem Gesicht herumfuchtelt, die Luft durchfingert, mit den Fingern ficht!!“

„Das ist eine alte Komödie, Freund. Fast jeden Tag wird sie an derselben Stelle aufgeführt. Ein Liebesduett! Wir sehen nur den glühenden Leander, Hero wohnt ein paar Dächer weiter unten jenseit der Straße, was sie eben spricht, sehen wir im Spiegel der Gebärden des Liebhabers. Paß auf!

Er schließt beide ausgestreckte Zeigefinger zusammen, bewegt die auf die Schneide gestellte Rechte steuerruderähnlich vor sich hin ... deutet kurz und entschieden mit dem Zeigefinger gegen den Mittelpunkt der Erde ... schlägt, den Kopf fragend vorgeneigt, mit demselben Zeigefinger, malend einen Brückenbogen durch die Luft ... schlägt zwei Brückenbogen ... jetzt beugen sich die Kniee und die Hände kreuzen sich krampfhaft, zugleich eine Augenverdrehung gen Himmel ...“

„Ja aber was heißt das alles?“

O, der ist noch lange nicht fertig, schau, der Zeichentelegraph spricht weiter. Bisher hat er gesagt: Schatz, können wir denn nicht einmal zusammen sein, Promenadenwege wandeln? Vielleicht morgen? ....! Dann übermorgen? ....! Nun faßt ihn die Verzweiflung. Er stellt die fünf Finger der Rechten wie eine Glocke oder wie einen Weiberrock auf die Fläche der Linken und zeigt wieder auf den Boden, schmiegt nun die linke Wange bei geneigtem Kopfe mit geschlossenen Augen in die linke hohle Hand, zeigt auf die eigene Brust und dann auf die Geliebte, hebt die weitgeöffnete rechte Hand bei straffem Arm gegen die Ferne, stößt mit dem Zeigefinger in senkrechter Haltung mehrmals gegen den Boden und verschwindet.

Die Finger als Weiberrock auf der Linken und all das folgende bedeuten: die Mutter ... ist sie zu Hause? Was macht sie? Schläft sie? Ja? So komm’ ich auf einen Sprung unter deinen Balkon ... erwarte mich! ... jetzt, jetzt, ich komme sofort!“

„Wie aber können jene Bogen in die Luft morgen und übermorgen bedeuten?“

„Sie können je nach dem Inhalte des Gespräches auch Wochen, Monate, Jahre bezeichnen, ja, eine halbe Ewigkeit kann man durch sie ausdrücken, wenn man rasch hintereinander in die Luft schlägt und mit der Hand auf der Schneide zuletzt das Zeicheu des Und-so-weiter macht. Die ursprüngliche Bedeutung des Halbkreises ist der Lauf der Sonne vom Aufgang zum Niedergang.“

„Wie aber fängt man so eine Liebe über die Dächer weg an?“

„Hast Du Lust dazu? Waibliuger erlebte es und dichtete es:

Dort ans Fenster führt mir der Schalk ein liebliches Mädchen,
Erst nur Blicke, doch bald folgt der verstohlene Gruß.
Und man redet mit Zeichen, man redet mit Augen und Händen;
Andere Sprache vergönnt lauschende Nachbarschaft nicht.
Kannst du lesen, mein holdestes Kind? so frag’ ich mit Zeichen,
‚Ja,‘ ist die Antwort, im Nu liegt auch ein Briefchen bereit.“

Mit dem Kleingewehrfeuer der Blicke fängt man auch hier an; um aber die Einleitungsphrase „Wie schön bist Du!“ durch Gebärden auszusprechen, öffnet man Daumen und Zeigefinger der Rechten ziemlich weit, nimmt in diese Spanne seine eigenen beiden Wangen und fährt leicht und rund mehrmals an ihnen herab (s. Fig. 7), dazu süße Augen ... Die Napolitanerin kennt das nur zu gut: „Dein Gesichtchen ist so glatt und rund wie ein Ei, also schön, ich möchte es liebkosen.“ Drückte man Daumen und Zeigefinger bei ganz der gleichen Gebärde zu tief in die Wangen hinein, so würde es Magerkeit bedeuten: „Du bist mir zu mager“, und zur Antwort würde dem Ungeschickten das reizende Händchen in der Formation von Fig. 11 oder auch beide, wie es der Junge im Mittelbilde thut, entgegengestreckt werden und dies bedeutet nichts Angenehmes, vor allen Dingen ist es eine Verwünschung. „Daß Du platzen möchtest!“

Die Gebärde ist in Deutschland nicht unbekannt, dort bezeichnet man sie unschuldigerweise als „Jemaud einen Esel bohren“ und haben der ausgestreckte Zeige- und kleine Finger die Bedeutung von Eselsohren. In Italien heißt die Hand in dieser Fingerstellung „mano cornuta“, die „gehörnte“, und ist sie in das öffentliche und Privatleben derart verflochten, daß der Napolitaner ohne mano cornuta nicht leben möchte, nicht leben könnte, denn durch sie und nur durch sie wendet er das Unheil ab, das ihm von „allen Enden her bereitet“ wird durch den bösen Blick – „Malocchio“, auch „Jettatura“ genannt –, welchen nur die gehörnte Hand, die so leicht an Stelle des nicht immer bereiten Hornes tritt, besiegt.

Das Kapitel „Horn“, die Rolle, die alles Hornähnliche, wie Korallenästchen, Krebsnasen, Hahnensporen, Pferdezähne, Schweinshaüer, Schweineklauen, Hufeisen, Halbmöndchen, die bezeichnete Gebärde in sich schließend, als Amulett in Italien spielt, ist ja hundertfach behandelt worden – hier beschäftigt uns nur die Gebärde.

Und die hat vieles zu bedeuten: die Drohung, jemand die Augen auszustechen, wobei die Bewegung, so der Bedrohte fern ist, gegen die eigenen Augen ausgeführt wird; eine verächtliche, unwerte Sache („kein Horn wert“); eine Verwünschung; Stolz und [287] Ueberhebung („komm nur her, ich will Dir die Hörner schon brechen!“); Härte im physischen und moralischen Sinn; Abwehr (Amulett) gegen alles Böse, wobei die Hand vorgestreckt wird, gegen das Unheil im allgemeinen, gegen die Jettatura, den vermutlichen Jettatore und endlich gegen die Person, die man vor der bösen Wirkung des bösen Blicks beschützen möchte!

Genau die gleichen Bedeutungen hatte diese Gebärde bei den Griechen und Römern, wie zahlreiche Wandgemälde bezeugen.

In die Klasse der Verachtung ausdrückenden Gebärden, die aber gleichzeitig als Amulett dienen, gehört die „mano in fica“, d. i. die Hand zu einer Faust geballt, die Spitze des Daumens hervorragend zwischen Zeige- und Mittelfinger. Jetzt eine der häufigsten Gebärden im Verkehr des Volkes, die soviel wie ein Herausstecken der Zunge mit der Hand bedeutet, hatte sie im Altertum den Charakter tödlicher Beleidigung. So verhöhnte der Kaiser Caligula auf schwerste Weise den Tribunen seiner Leibwache, Cassius Chärea, indem er ihm die Hand zum Küssen in dieser Weise darbot. Dieser erbat sich später dafür die Ehre, den ersten Streich auf des Kaisers Haupt zu führen.

Auch diese Gebärde findet sich auf antiken Bilderwerken.

Gleichwertig, d. h. in Bezeigung von Verachtung, sind Daumen und Zeigefinger zum Kreis zusammengebogen. Beide Finger ganz zum Kreise geschlossen, wie Fig. 1 zeigt, haben vielfältige Bedeutung. Ursprünglich wies die Gebärde auf das Halten der Wage der Gerechtigkeit hin. Realistischer ist die Symbolik, wenn sie ausdrückt: „Ich werde Dich packen wie einen Floh“ – das ist auf unserem Mittelbild der Fall, wo der erste der beiden mit dem jungen Weib in Streit begriffenen Männer deren verächtliche Gebärde so beantwortet. Eine letzte Bedeutung ist Exaktheit, genau abgewogen, „stimmt“.

Wir haben im Deutschen die Redensart „Einen über die Achsel ansehen“ – sie ist der Gebärdensprache entnommen und bedeutet „ihn verachten“. Sie war auch bei den Römern schon im Schwange, wie ihnen auch die verachtende Gebärde des Deutens mit dem bloßen Daumen auf einen zu Bezeichnenden bekannt war, einen Gestus, den Quintilian in seinem Werk über die Beredsamkeit den öffentlichen Rednern als gemein untersagte.

Hat man seiner Verachtung gründlich genug gethan, so wendet man dem Gegner und dem Ort den Rücken und schlägt zum Zeichen, daß alles aus ist, ein großes Kreuz gegen die nächste Wand oder noch wirksamer, indem man sich bückt, auf den Fußboden. „Hier ist Dein Leichenstein, Du bist tot für mich!“

Will ich ihm sagen: Was Du mir angethan, werde ich mir, unsrer deutschen Redensart gemäß, „hinter die Ohren“ schreiben, so mache ich die Gebärde der letzten Figur, rechts unten auf unserer Tafel, wobei die eine Hand wie ein Schirm über den aufgerichteten Zeigefinger der andern gebreitet wird. Das heißt: hier unten regnet’s nicht, was hier geschrieben steht, wäscht kein Regen weg, also das Gegenstück zu unserm „in den Rauchfang schreiben“.

Die Gebärden des Spottes sind zahllos. Die kindliche des Zungenausstreckens ist uralt und geht über die ganze Welt, sie wird am Nordpol wie am Aequator geübt, und im Propheten Jesaias kann man lesen: „Ueber wen wollt ihr nun das Maul aufsperren und die Zunge herausrecken?“ Ebenso verbreitet ist: die geöffnete Hand mit dem Daumen an die Nase gesetzt und in fächernden Schwingungen bewegt; an die dem andern durch eine traurige Ueberraschung schon länger gewordene Nase will man noch „un palmo di naso“ hinzufügen. Fig. 6 will noch etwas mehr besagen. Der Daumen ans Ohr oder an die Schläfe gesetzt, die andern Finger aufgerichtet, will andeuten: „Du bist ein Esel“; beide Hände in dieser Weise gebraucht: „Du bist ein großer Esel“; beide Hände ebenso, aber schlapp nach vorn überhängend: „Du bist ein Quadrat- oder Erzesel“. Der Esel aber im Super-Superlativ ist der Esel auf dem Piedestal der rechten Hand, wie ihn der Bursche links im Mittelbilde ausstellt.

Denn alle Gebärden haben auch ihre grammaakalischen Steigerungem Positiv, Komparativ, Superlativ. Ich will den Teil einer Sache und lege den rechten Zeigefinger wie ein schneidendes Messer horizontal über den linken. Ich will mehr und stelle die Rechte auf die Schneide in das linke Armgelenk hinein. Ich will alles und fahre mit dieser Hand bis über die Schulterhöhe. Bei „wenig“ und „weniger“ fährt man zurück bis auf die Handwurzel und schneidet nun mit dem Zeigefinger kleine Portiönchen vom Daumen oder vom andern Zeigefinger ab, und das gilt ebensowohl für einen Salami wie für Talent, Liebe und Aehnliches. Nur für Flüssigkeiten giebt es ein andres Maß: der geradeausgestreckte Zeigefinger besagt einen Finger hoch Wein, und so fügt man, die Hand wie auf der Schneide, einen Finger nach dem andern zu und der einen Hand die andre. Die Gruppe der drei Alten rechts unten stellt die beim niedern und hauptsächlich beim Bettlervolk am meisten geübten Gebärden dar. Der Hemdärmelige öffnet weit wie einen Geierschnabel Daumen und Zeigefinger der Rechten und fackelt damit vor dem geöffneten Munde hin und her, was er meist mit den Worten: „fa acqua ’n pipp’“, ich rauche Wasser auf der Pfeife, oder „pass’ ’a vacc’“, die Kuh geht vorüber (ich habe kein Geld, die Milch zu kaufen) begleitet und sagen will: ich bin ein grundarmer Teufel. Sein Nachbar deutet durch seine nach dem Munde geführte Hand, die aussieht, als ob sie einen Bissen hielte, seinen Hunger an. Führte er sie mit demselben Fingerschlusse hoch über den Kopf gehalten gegen den Mund, so würde er sein Maccaroniverlangen andeuten. Der Dritte im Bunde der Heischenden formt seine Hand zu einer Flasche: er will trinken.

Der Lastträger, der dir, ohne Schweiß, die Köfferchen getragen, macht alle drei Bewegungen und fährt, um zu zeigen, daß er der großen Anstrengung wegen einen guten Lohn verdient, mit dem Nagel des Daumens über die Stirn, die rinnenden Schweißtropfen abzuleiten (Fig. 4).

Leichter verdient sein Geld jener Bankdirektor, über den sich die beiden Facchini links unten unterhalten. Die rechte Hand des Einen sagt „Stehlen“, die Linke deutet voll Verachtung nach ihm, das Gegenüber sagt: „Aber fein hat er’s angefangen.“ Die bessere Gesellschaft warnt vor ihm durch die Geste von Fig. 8: „Macht die Augen auf! Hütet Euch! Er ist sehr listig!“ Aehnliches bedeutet Fig. 5: „Er betrügt, aber mein Schlund (durch den Halskragen angedeutet) ist zu eng, solche Bissen durchzulassen.“ „Seine Wege sind wie die der Meerkrabbe“, deren Gestalt und Bewegung durch Fig. 2 versinnlicht wird, „krumm und kreuz und quer und unberechenbar“, „aber endlich kommt der Tag, wo er die Sonne als Schachbrett, d. h. durch Gefängnisgitter sehen wird“ – das deutet Fig. 9 an, die im Deutschen etwa „durch die Finger sehen“, also fast das Gegenteil, besagen würde.

Höchsten Zorn gegen sich und andere (aber auch Bedrohung: „so werde ich Dein Herz zerfleischen“) drückt das ohnmächtige Zerbeißen der Finger aus (Fig. 10).

Eine schier endlose Reihe von Gebärden zieht an meinem Auge vorüber, ich muß mit dieser Auswahl mich begnügen, denn von den beiden Alten rechts oben warnt mich der eine mit den flach ausgestreckten, langsam sich auf- und niederbewegenden Händen. „Nur langsam voran, langsam –“ und gebietet der andre mir, mit seiner flach ausgestreckten Hand eine Mauerfläche versinnbildlichend, ein wohlgemeintes „Halt!“, worin er von dem kleinen Gänsejungen, links unten, einer in Pompeji gefundenen Brunnenfigur, unterstützt wird.

Die Abrollungen von zwei antiken griechischen Vasenbildern auf unserer Bildertafel sollen gleich dieser Figur das schon oben besprochene Alter dieser Gebärdensprache des Südländers veranschaulichen. Das obere Vasenbild zeigt Minerva im Kriegsrat, inmitten zweier verschiedenen Parteien. Derjenigen zu ihrer Rechten deutet ihre erhobene linke Hand die Notwendigkeit an, rasch nach links zur Hilfe zu eilen. Sie stößt auf Widerspruch, denn die Hand des sitzenden Alten, vor der weiblichen Person, empfiehlt ruhige Ueberlegung: „Nur langsam.“ So sagt auch die erhobene Linke des hinter ihm stehenden Weibes: „Halt! Warte! Mir steigen Zweifel auf.“ Das Gegenteil sagt die Gruppe zur Linken der Göttin; sie stimmt dieser bei. Des sitzenden Alten Hand sagt: „Was wollt Ihr? Alles schon erwogen.“ Vorwurfsvoll lebhaft schreitet der andere vor, er ahmt fast die Bewegung der Minerva nach, doch sagt seine Gebärde: „Schweigt und macht Euch sofort auf!“

Auf dem untern Bild ist die männliche Gestalt mit dem Thyrsusstab Bacchus – trotz seiner Passivität. Die Handlung ist ein Privatzank zwischen zwei Frauen. Die zur Linken erhebt den Zeigefinger der Rechten zu einem eifersüchtig tadelnden „Du!“ Daß es tadelnd geschieht, erhellt aus der Gebärde der Gegnerin, die beide Arme ausstreckt als Zeichen der Abwehr und der Verneinung, ebenso den Oberleib in demselben Sinne zurückwirft. Die linke Hand der Klägerin deutet an, daß es sich um eine Liebe handelt. Der Gegenstand dieser Liebe ist der Flötist. Bacchus, der Gott der Lebenslust, soll entscheiden. So lassen sich auf Grund der noch heute üblichen Gebärden die antiken Bildwerke enträtseln, ohne den Aufwand an Scharfsinn, den auf dem kleinen Relief der rätsellösende Oedipus vor der Sphinx mit seinem gegen die Stirn gehobenen Zeigefinger andeutet.




[288]

Schwester Brigitte.

Novelle von Otto von Leitgeb.
(1. Fortsetzung.)


Der schmale längliche Garten zog sich hinter dem kleinen Hause des alten Lieutenants hin bis unter die hohe, fensterlose Hintermauer der alten Gebäude auf der andern Seite. Wenn die Hausthüre offen stand, sah man vom Markte aus auf den Kiesweg, der zwischen den Johannisbeerstauden hinführte, bis zu dem großen uralten Kirschbaum hinaus. Unter dem stand eine Bank und ein verwitterter Tisch, in den Boden festgerammt. Der kleine Platz bildete den Mittelpunkt des Gärtchens, und außer dem Hauptwege ging sonst nur noch rechts und links je ein schmaler Steg zwischen den Gemüsebeeten vom Hause weg bis ans Ende. Des weiteren befanden sich nur wenige alte Obstbäume, ein paar blühende Büsche, ein paar Beete mit Levkojen, Rosmarin und hochstengeligen Lilien, und hier und da ein bescheidenes Rosenstöckchen im Garten. Den übrigen Raum widmete der Vater seinen Gemüsen, damit das Haus für seine eigene Küche aufkomme. Das war ein Gebiet für seine und Käthes emsige Arbeit. Als Kind hatte sie in einem Winkel ein eigenes Gärtchen gehabt, und es war eines ihrer Lieblingsspiele gewesen, daß die beiden Knaben bei ihr in Tagelohn traten und fleißig arbeiten mußten. Am Staket, gegen die Straße, standen einige Sträucher, die den Staub und fremde Blicke abhalten sollten, und in der Ecke vorn, wo sich das Gärtchen ans Haus schloß, gab es den einzigen Luxus der ganzen Anlage, eine kleine, aus schmalen Fichtenlatten zusammengenagelte Laube, ganz von Geißblatt überwuchert, wo der Vater an Sommerabenden seine Pfeife rauchte, seine Zeitung las, auf den Markt hinaus sah, oder auch wohl mit einem vorübergehenden Nachbar plauderte.

Indessen hatte sich mit vorrückender Zeit der kleine Kreis im Hause noch vermindert. Bruder Franz fand auswärts eine Stelle, und Hubert trat beim Forstamte in Dienst, weshalb auch er nicht mehr so regelmäßig kam wie früher. War er aber frei, so verbrachte er seine Zeit doch hier; am Tische war sein Platz immer gedeckt, und weil gerade er von den beiden zurückgeblieben war, wurde er noch mehr wie ein Kind vom Hause. –

An dem alten Kirschbaume war ein Ast verdorrt, und das tote Holz zwischen dem kräftigen Blätterwerk beleidigte Käthes Augen schon lange, bis sich Hubert eines Tages erbot, hinaufzusteigen und den Knüppel herunterzuhauen. Er nahm eine Axt mit. Käthe hatte ihre Handarbeit auf den Tisch gelegt und sah ihm lachend zu, wie er sich vorerst mit einigem Abmühen an dem dicken Stamme bis zu den untersten Aesten emporarbeiten mußte, weil er eine Leiter verschmäht hatte. Die Sommersonne blitzte in den Zweigen, und eine geschwätzige Spatzenschar schwirrte aus dem Wipfel davon, als das Rumoren unten begann. Und dann hackte Hubert darauf los, daß die Späne flogen. Aber ein Unglück stand bevor. Von kräftigem Schwung geführt fuhr die Axt nieder, unwillkürlich ließ die getroffene Linke den Ast fahren, Hubert schwankte und faßte in die knackenden Zweige, es rauschte in dem alten Baum, und mit dröhnendem Aufschlag stürzte Hubert zu Boden.

Käthe lief in namenlosem Entsetzen herzu und beugte sich über ihn. Als sie das Blut sah, schrie sie laut auf und kalter Schweiß trat auf ihr bleiches Gesicht. Hubert lächelte und sagte: „Es ist ja nichts – erschrick nur nicht!“

Mühsam raffte er seine schmerzenden Glieber auf, mußte sich aber kräftig auf den Tisch stützen, um in einer Anwandlung plötzlicher Schwäche nicht umzusinken. Er war an der Kante des Tisches schwer aufgefallen, und aus einer Schramme unter dem Haar lief das Blut über seine Stirne.

„Hübsch muß ich aussehen!“ sagte er. „Geh, Käthe, bring’ mir etwas Wasser und ein Tuch!“

Sie war schon fortgeeilt ins Haus.

Und dann kam der alte Lieutenant, so rasch er eilen konnte. Erschrocken war er zwar auch sehr, aber merken ließ er nichts davon, und zu allererst mußte ein Verweis kommen.

„Natürlich, mein Junge, nur immer recht verständig! – Das will ein Forstmann werden! – Dazu nimmt man eine Säge und nicht ein Beil. – Leg Dich nun hin. Käthe wird auch ein Kissen bringen. – Zeig’ ’mal die Hand her! – Recht hübsch! – Und da hat er sich richtig den Kopf aufgeschlagen. – Na, sei froh, daß er so hart ist! – Es ist nur eine tüchtige Schramme. Ihr Lotterbuben, Ihr!“

Hubert kannte den alten Herrn zu wohl, um nicht zu merken, daß durch sein Schelten die Bewegung zitterte. Aber er hielt sich ganz still, schloß die Augen und lehnte den schmerzenden Kopf zurück.

Käthe kam mit einem Waschbecken, mit Tüchern und einem Kissen. Er mußte sich nun doch hinlegen. Sie wusch ihm Hand und Kopf und legte einen Verband an, so gut es ging. Viel Aufhebens machte man nicht über derlei Geschehnisse in Krügers Haus, und die jungen Leute hatten gelernt, kein ratloses Lärmen zu machen, wo man einfach zugreifen soll. Aber in ihrem Herzen bebte eine große Angst, und wie ihre Hände zitterten, konnte sie nicht verbergen.

„Ganz dumm war ich – der Vater hat recht!“ sagte Hubert und drückte sich das kalte Tuch fester an die heiße Stirn.

„Sei nur ruhig jetzt,“ mahnte Käthe. „Jetzt mußt Du einmal still halten. Er ist nach dem Doktor gegangen. Indessen mache ich Dir Umschläge. Hast Du Kopfschmerzen?“

„Nein – aber so ein Lazarett lasse ich mir gerne gefallen, und Schwester Käthe als Pflegerin!“

„Sei nur recht ruhig,“ sagte sie.

Der Vorwurf nagte an ihr, daß sie mit schuld sei an dem Unfall, und während sie neben seinem Kopfe auf der Bank saß und vor sich hinsah, wie sich die Strahlen der Nachmittagssonne über das Gärtchen neigten, brannte es ihr unter den Wimpern.

Der alte Doktor hatte sich rasch eingefunden. Er untersuchte die Wunden und schüttelte den Kopf.

„Das an der Hand – ist gar nichts. Verharscht in ein paar Tagen. Oben hätte es schlimmer sein können. Aber zum Glück hat er einen harten Schädel. Daß Sie mir aber hübsch ruhig bleiben! – Bravo! Käthe macht das prächtig. Lassen Sie ihn aber gar nichts sprechen. Und wenn’s ihm gefällt, kann er ja da heraußen bleiben, es ist ganz hübsch kühl und schattig – wenn’s ihm nicht zu hart wird! Abends dann früh zu Bett, und morgen werden wir weiter sehen.“

Während Käthe nun da auf der Bank saß und sich bemühte, Hubert zuweilen etwas Vergnügliches zum Trost zu sagen, rauchte der alte Lieutenant seine Pfeife und ging auf dem Seitenwege auf und ab. Sie sah seine hagere, etwas gebückte Gestalt ab ünd zu zwischen den Büschen erscheinen und erkannte aus den rascheren Schritten und aus den tieferen und eiligeren Zügen, womit er den Rauch von sich paffte, daß er sich noch nicht beruhigt hatte.

Wenn sie auf Huberts Stirn den Umschlag wechselte, mußte ihre Hand einen Augenblick auf seinem dichten Kraushaar liegen. Und hinter ihm sitzend betrachtete sie sein Gesicht. Ihr war mit einem Male, als hätte sie den Jugendfreund noch niemals so recht angesehen, seit er herangewachsen war zu einem jungen Manne. Ueber den schmalen Lippen streckte sich ein kleines Schnurrbärtchen, und etwas von männlicher Reife lag auf seinen leicht gebräunten Wangen.

Die Sonne sank hinter den Häusern; unbemerkt verging die Zeit.

Einmal blieb ihre Hand ruhig auf seinem Scheitel liegen, als ob das dichte weiche Haar ihre Finger festhielte.

„Käthe, was für eine gute kühle Hand Du hast!“ sagte Hubert, und sie zog betroffen wie von einer unbewußten Bewegung, den Arm zurück.

Der Vater kam.

„Nun steh’ ’mal auf, mein Junge; wir wollen sehen, wie es geht! Nun? – Da sieh, Käthe! Wie ein verwundeter Soldat sieht er aus.“

Hubert lächelte.

„Morgen wird alles wieder gut sein. Jetzt solltest Du nach Haus, und da legst Du Dich dann gleich hin.“

„Ich bin ja aber ganz wohl.“

„Thut nichts, Du wirst dann noch wohler sein. Ein andermal mach’ es klüger! Jetzt mußt Du wie ein Blessierter über den Markt marschieren. Ich werde Dich begleiten.“

Hubert scherzte noch in seinem Dank an Käthe, und dann blieb sie allein zurück.

[289]


 Wiegenlied.

In der Wiege von süßem Traum
Schlummert mein Liebling umfangen,
Lächelt leise und atmet kaum,
Rosig schimmern die Wangen –
Gott, der über den Sternen wacht,
Höre mein Bitten und Flehen:
Lasse mein Kind bei Tag und Nacht
Gnädig in Deinem Schutze stehen!

Bis den sicheren Grund es fand,
Laß mich es stützen und halten
Und mich lehren die kleine Hand
Zum Gebete sich falten;
Blumen, die unverwelklich blüh’n,
Laß für mein Kind mich sie pflücken,
Ihm mit der Myrte verheißendem Grün
Noch die bräutlichen Locken schmücken.

Und wenn einst meine Frist verstrich,
Lasse mein Kind mich umschweben.
Daß es in seiner Nähe mich
Fühle sein ganzes Leben;
Bleibt ihm die Prüfung nicht erspart,
Führst Du’s auf dornigen Wegen,
Sei zum Troste ihm stets bewahrt
Mutterliebe und Gottessegen!
 Albert Traeger.

[290] Sie saß noch eine ganze Weile, während der Abend hereinbrach und die Dämmerung unter den Bäumen und aus den Büschen wuchs. In den Zweigen über ihr huschten unruhig ein paar Vöglein und suchten eine Ruhestätte. Sie hörte auf dem holperigen Pflaster des Marktes langsame Ackerfuhrwerke vom Tagewerk heim- und vorüberziehen. Am Himmel verblaßte das Abendrot und über die Giebeldächer senkte sich leise die Dunkelheit in den kleinen Garten hernieder. Sie unterschied die Beete und Sträucher nicht mehr, nur die hohen Lilien leuchteten noch mit ihren blendend weißen Blüten auf, wie Sterne in der Finsternis. Und aus den alabasternen Kelchen stieg eine Welle von schwerem Wohlgeruch empor in den weichen Sommerabend und flutete wie ein Dunstschleier durch die Luft. So sandten die Blumenkelche gleich Räucherschalen ihren duftenden Hauch der geschiedenen Sonne nach. Die Nacht verwischte die einengende nächste Umgebung. Und so schien es auch Käthe, als blickte sie ins Unendliche und Grenzenlose, auf dem der Gedanke schwimmt wie der Blumenduft im lauen Sommerabend, wie sie dasaß im tiefen Schatten unter dem alten Baume und ziellos sinnend in die Dunkelheit sah.

Hubert wohnte in der nächsten Nähe. Vom Fenster ihres Zimmers, an das der kleine Erker stieß, konnte Käthe den Dachfirst sehen. Das Haus lag in einer der benachbarten Gassen, wo eine ganze Reihe alter, schiefwinkeliger Wohnhäuser stand, die ihre hohen Dächer aneinander lehnten und sich zusammenzudrücken schienen, als ob sie scheu auswichen vor dem neuen Baugeiste, der hier und da in dem Städtchen mit dem Alten aufräumen wollte.

Auch an jenem Abend stand Käthe am Fenster, ehe sie sich zur Ruhe begab. Ganz verlassen und still lag der Markt da, und der Mond konnte ungestört herumleuchten über das holperige Pflaster und in den offenen Hausflur. Kein Laut regte sich außer dem schwachen Plätschern des Brunnens. Um den sandsteinernen Flußgott oben, der nicht müde wurde, seinen Krug auszugießen, flimmerte das Mondlicht, und wie Silberstaub blitzten die Tropfen, in die der dünne Wasserstrahl zerstob, sobald er auf der leeren Platte unten aufiel.

Ebenso fließen die Empfindungen hin und die Menschenträume. Sie fallen in unseren Herzen auf und sprühen in kleinen Tropfen empor. Sie sind ein kalter, feindlicher Regenschauer, wenn es dunkel ist in uns, aber sie leuchten und schimmern wie Perlen, wenn ein Licht ausströmt von unseren Herzen, und dann spannt sich eine farbenprächtige Iris über unseren Weg und wir wandeln in ihrem Glanze.

Am nächsten Tage war Hubert wohlauf, bis auf die Hand. Er kam wie gewöhnlich vorüber auf seinem Wege ins Amt. Sie begegneten sich im Flur. Er hielt sie ein wenig fest und tröstete sie scherzend über den gestrigen Schrecken. Wie von der Neckerei geweckt, zog eine dunkle Röte auf ihren Wangen auf, und da der Vater eben aus dem Garten hereintrat, drehte sie sich beschämt auf den Hacken um und schlüpfte in die Küche.

Und in dem keuschen Mädchenherzen war eine stille, tiefe Neigung sich ihrer bewußt geworden; eine scheue Knospe war aufgegangen, wie des Maien Blumenflor.

Sie trug ihren süßen Traum verborgen in sich. Es war ihr, als müßte sie ihn schützen vor aller Augen; auch vor ihm, dem ihr Herz entgegenschlug. Und sehnte sie sich nach dem Augenblicke, wo er unter die Thüre trat, so trieb es sie manchmal dennoch fort aus seiner Nähe. Eine Umwandlung ging vor in ihr. Die kindliche Unbefangenheit war gewichen, die Morgenröte, die über ihrem Leben gelegen, zerflossen vor einem neuen, hellen Tage. Ein Rätsel lag in ihr. Und alles um sie wurde größer und weiter. Anders verstand sie nun den blauen Sonnenhimmel, die stillen, lauen Abende, die silbernen Mondscheinnächte. Das Gärtchen wurde etwas anderes; der alte Markt mit seinen grauen Häusern und den grünen Läden ein neues Bild. Etwas Großes, Freies, Göttliches dehnte ihre Brust aus, ein Gesang ohne Worte, eine Sehnsucht ohne Namen.

Der Glanz ihres Herzens leuchtete in ihren Blicken. Ihre schlanke Gestalt streckte sich, und ihre Stirn trug sie höher als früher, als wollte sie ein göttliches Fingerzeichen weisen. In ihrer Brust klang beständig ein verhaltener Jubel und eine Art von Verklärung kam in ihr Wesen – das höchste Geschenk der Gottheit, das sie nur den Auserwählten gewährt: die Liebe zu kennen als wunschloses Gebet, als Erwartung ohne Gestalt, als Sehnsucht ohne Ziel, die Liebe in ihrer himmlischen, selbstlosen Zaubermacht, wo sie noch nicht fragt um Gegenliebe.

So kam sie einmal in den Garten hinaus, gegen den alten Kirschbaum, wo Hubert saß, und er sah ihr mit einer Art Verwunderung entgegen.

„Je, Käthe, was bist Du nun eigentlich schon für ein großes Mädchen! Freilich, am letzten Geburtstag warst Du ja neunzehn. Ein respektables Alter,“ setzte er neckend hinzu.

Sie lachte. „Ja, zeig’ nur rechten Respekt!“

„Natürlich! – Aber sag’ mal, scheint’s Dir nicht zuweilen einförmig hier?“

„Wie meinst Du das?“

„Nur so! – Du hast ja noch nichts gesehen als unsern schönen Markt und die alten Häuser; Franz ist auch fort. der Vater ist alt.“ Seine Mundwinkel zuckten mutwillig, und er setzte hinzu: „Ihr werdet ja nicht immer so einsam bleiben wollen –“

Aber Käthe entging geschickt seiner anzüglichen Rede, kramte in ihrem Arbeitskorb und holte ein paar Küchentücher heraus, die sie einsäumen wollte.


3.

Als der Sommer zu Ende ging, kam Kaufmanns Gusti heim aus einem Institute, wo sie ein paar Jahre unterrichtet worden war. Ihr erster Besuch galt der alten Freundin drüben in dem Häuschen an der Ecke, und dann kam sie fast jeden Tag. Sie war viel gebildeter als Käthe, sie hatte mehr gelesen und gesehen und nahm manchmal einen Ton der Ueberlegenheit, der Weltkenntnis an. Auch lauter, gesprächiger und lustiger war sie als Käthe und schüttete über die Freundin, nachdem die richtige Anknüpfung nach den Jahren der Trennung sich wiedergefunden hatte, wahre Sturzwellen von Erzählungen des Erlebten und Erschauten aus.

Kam Hubert dazu, so entspannen sich zwischen ihr und ihm oft lustige Neckereien, wovon er gar kein Ende finden konnte, als ob seiner mutwilligen und fröhlichen Natur bisher die Gelegenheit dazu nicht ausgiebig genug geboten worden wäre. Lächelnd saß dann Käthe mit ihrer Arbeit dabei.

Jähes Unwetter blies die letzten schönen Spätsommertage davon. Der Herbst riß die Blätter von den Bäumen, zerzauste im Garten die Büsche und entblätterte die letzten Rosen. Auf den Feldern draußen sammelten sich schreiende Krähen zu Scharen und stelzten über die Aecker. Zerrissene Regenwolken flogen über die Häuser weg und gossen Tag um Tag ihren Inhalt herab, daß am Markte schon große Tümpel standen und die alten Häuser mit den graugesprenkelten Fassaden und den moosigen Schindeldächern völlig verwaschen dreinschauten. Neben Käthes Fenster platschte aus dem aufgesperrten Drachenmaul der Dachrinne unablässig ein dicker Wasserstrahl herab und das blecherne Ungetüm schien eine schadenfrohe Grimasse zu schneiden vor Freude über das Gepolter. Die Abende wurden lang, und da man noch nicht heizen wollte, saß man frierend in den Zimmern.

Noch vor dem Allerseelentage wirbelten die ersten Flocken nieder und die alten Leute, die überall ein bißchen das Privilegium haben, für Wetterpropheten zu gelten, sagten einen strengen Winter an.

„Das wird hübsch für mich,“ meinte Hubert. „Ich habe nun ein paar Monate Dienst im Forst draußen. Geh, Käthe! Könntest mir wieder einmal ein Paar dicke Fäustlinge stricken, und wenn ich sie früher als erst um Weihnachten bekomme, will ich Dein mildthätiges Herz preisen!“

Sie machte sich im Verborgenen gleich daran, schaffte sich eine dicke warme Wolle an und arbeitete des Abends, wenn sie allein in ihrem Zimmer saß. An dem ablaufenden Faden zwischen ihren Fingern hingen tausend Gedanken. Wenn sie die fortschreitende Arbeit prüfend betrachtete, dachte sie an seine Hand, und der Handschuh weckte eine ganze Reihe von Bildern vor ihr: den einsamen Wald mit den weichen Schneelasten auf den gebogenen Tannenzweigen, die Triften, ganz verhüllt in der weißen Flaumdecke. Ausgestapfte Fußpfade gehen über den Schnee, über den ab und zu verdorrte Farne hängen, und die wenigen braunen Halme, die so lang gewesen, daß sie noch herausragen können. Wildspuren kreuzen den Weg. Wie verlassen muß es dann draußen sein, beinahe unheimlich!

Auch der Garten lag ganz vereinsamt, verweht und begraben im Schnee. Die Thüre, die hinausführte, blieb geschlossen, und der halbdunkle Flur bekam ein kaltes, ungemütliches Aussehen. [291] Dann spann sich das ganze stille Leben des Hauses in der Wohnstube drunten ab, wo der alte schwere Ofen aus grünen Kacheln in der Ecke stand, mit der Ofenbank, wie zu Großväterzeiteu. Dort war es hübsch behaglich. Am Fenster, von wo man auf den winterlichen Markt hinaussah, stand Käthes Nähtisch, nahe beim Ofen Vaters großer Lehnstuhl mit dem grauen Leinenpolster, an der Wand ein altes ledernes Sofa, in der Mitte des Zimmers der kleine runde Tisch und ein paar Stühle.

Auch Hubert verbrachte seine Abende meist hier. Sie plauderten dann oder es wurde etwas vorgelesen. Nicht selten erzählte der Vater von den fernen Jahren seines Soldatenlebens, Episoden aus dem Kriege, vom Schlachtfeld. Er konnte sich ganz erwärmen dabei und seine Pfeife vergessen, so daß Hubert eine frische Kohle darauf legen mußte, denn eine türkische Pfeife, sagte der alte Herr oft, dürfe man nur auf solche Art in Brand setzen. Im Ofen summten die Kloben, oder die Aepfel, die Käthe auf die Platte gethan hatte, zischten vor Hitze und einer oder der andere, der es schon gar nicht mehr aushalten konnte, platzte schnaufend auseinander. Das Licht der Lampe floß gedämpft unter dem Schirm aus grünem Glanzpapier hervor und die ausgeschnittenen Rosen und Nelken von Papier waren fast so schön gefärbt wie ihre lebenden Schwestern in der Sommerszeit.

Manchmal blieb Hubert tagelang aus, wenn er auf der entfernten Försterei war. Dann wanderte Käthe in Gedanken stets mit ihm und diese Wanderungen, ihr unberührtes Eigenstes, waren mehr als ihr halbes Leben. Einmal, eines Nachmittags, als sie in der Wohnstube saß und dem Vater im Lehnstuhl die Pfeife langsam zwischen die Kniee hinabgeglitteu war, weil der alte Mann einen Augenblick eingenickt war, blieb ihr Blick länger als sonst auf ihm haften. Es war ganz still drinnen, nur das schwere langsame Ticken der alten Wanduhr tönte und das schlürfende Surren, das sie immer ausftieß, wenn der Pendel nach rechts schwang. Da fiel Käthe mit einem Male das Wort ein, das Hubert damals scherzend gesagt: „Wollt Ihr denn immer so einsam bleiben?“ Eine jähe Röte sprang auf ihre Schläfen und sie erhob sich so ungestüm vom Stuhle, daß der alte Mann darüber erwachte.

Doch Kaufmanns Gusti brachte ein ganz ungewohntes Leben in den kleinen Kreis. Anfangs machte es Käthe beinahe ein bißchen verlegen, die Freundin abends in ihrer einfachen Wohnstube zu sehen, weil sie es zu Hause so viel besser hatte. Aber Gustis Art half ihr bald darüber hinaus. Manchmal jedoch glaubte Käthe aus irgend einem Worte doch etwas wie Hochmut oder Stolz herauszuhören. Aber der Vater, dessen scharfem Auge es nicht entging, verwies es ihr, und dann bat sie Gusti im stillen ihr Unrecht ab. Der Vater und Hubert schienen den heiteren Gast gern zu sehen. Sie wußte immer etwas Neues zu erzählen, sie erspähte die kleinen Gewohnheiten des Alten, ja, sie kam bisweilen Käthe in irgend einem Dienst zuvor. Sie hatte eine einschmeichelnde Art, Hubert von seiner Jägerei erzählen zu machen, vom Jagdleben und vom Wald, den er sehr liebte.

„Die Gusti ist ein kluges Mädchen,“ sagte er einmal, als von ihr die Rede war und der Vater meinte, was die Mädchen heutzutage nicht alles lernen müssen – wie die Jungen! Käthe fühlte die Lücken in ihrem armen Wissen, als ob sie Risse und Löcher an dem Kleide entdeckte, das sie trug, und im geheimen las sie sich neue Kenntnisse zusammen aus den Schulbüchern, die der Bruder zurückgelassen und aus einem alten Konversationslexikon, das im Hause als ein Schatz betrachtet wurde. Denn manchmal kam etwas zur Sprache, wovon sie nichts wußte und wozu sie ehrlich schweigen mußte. Dann war sie froh, ihre Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu lenken, damit keine Seele ahnen konnte, was für eine Art von Unruhe ihr förmlich das Herz schneller pochen machte. Freilich war sie sich eigentlich nicht recht im klaren über den Wert dessen, was Gusti aus der Schule mitgebracht hatte. Das lebhafte junge Mädchen warf in ihrer beweglichen Art, zu fragen und zu antworten, die Gegenstände oft mutwillig durcheinander. Aber dennoch schien sie einen gewissen Eindruck damit zu erreichen, der sie ein ganz klein wenig selbstgefällig machte. Auch nannten sie die beiden Männer „Fräulein Gusti“.

Den Schnee von den Füßen stampfend, trat Hubert eines Nachmittags in den Flur, so recht mit warmem Behagen die Wohligkeit des Heims empfindend, das ja von Jugend auf so gut wie sein eigenes war. Er warf draußen den Mantel ab und trat ins Zimmer. Käthe war allein. Ueber ein Buch gebeugt, saß sie beim Tische, und der Schein der Lampe fiel auf ihr Haar und ihre Wangen, die ganz erhitzt waren, so sehr hatte sie sich vertieft gehabt in die Verschwörung Catilinas und andere römische Historien. Sie legte das Buch rasch fort.

„Was hast Du denn da?“ fragte Hubert, der hinter ihren Stuhl getreten war.

„Ach – nichts! man muß nur manchmal wieder etwas lesen. Man vergißt gar so bald, was man einmal gewußt hat.“

Hubert hatte den Arm um ihren Nacken gelegt, beugte sich zu ihr herab und küßte sie auf die Wange.

„Grüß Dich Gott, Käthe!“

Sie hatte sich im Stuhle zurückgelehnt und es kam über sie wie eine Art Lähmung. Er hatte sie so lange nicht mehr geküßt, und was ihr früher einfach und natürlich erschienen, hatte nun für ihr Herz einen so anderen Sinn. Fast bestürzt erhob sie sich, damit er nur ihre Bewegung nicht merke.

„Mach’ Dir’s bequem, Hubert! Das muß ja ein anstrengender Weg gewesen sein, heute! Ich muß in die Küche. Wir wußten nicht, daß Du kommst.“

Indessen streckte er sich behaglich in der Sofaecke. Herrlich war’s in der warmen Wohnstube. Dann nahm er Vaters Zeitung, schob Käthes Buch und Arbeit zur Seite und las, was man aus der Welt erzählte. Mitten im Lesen kam ihm die Empfindung seines tüchtigen Appetits. Einmal stand er auf und sah nach, ob keine Aepfel auf der Platte lägen, aber sie waren noch nicht da.

Gusti Meier trieb auch Musik. Wenn Käthe hinüberkam, spielte sie ihr öfter etwas vor, oder sie sang. Denn sie hatte keine üble Stimme.

„Sag’ mal, Käthe, ist das wahr, daß Hubert so nett singen kann? Der Lehrer meinte neulich, wie gerne er ihn Sonntags auf dem Chor haben möchte, er sei aber gar nicht zu bekommen.“

„Ja, ja! Er hat eine gute Stimme und wohl auch Begabung dazu. Nun muß er aber ganz heraus sein.“

„Wie schade! – Glaubst Du nicht, daß wir ihn überreden könnten?“

„Ich weiß nicht,“ sagte Käthe.

„Nun ja,“ fuhr Gusti fort. „In der Kirche, Sonntags, das ist schon etwas anderes. Es wird ihm gerade nicht passen. Aber hier – der Vater hätte sicher nichts dagegen. Denk’ Dir, wie hübsch! Wir könnten ’was einstudieren, und dann geben wir einmal ein förmliches Konzert – freilich! Paß auf, ich werd’ ihn schon bekommen!“

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.



Eine Geschmacksfrage. Nach den Formen vergangener Jahrzehnte greift die Mode heute unbedenklich zurück, und niemand wundert sich darüber, in einem und demselben Kreis Direktoireklappen, Bauschärmel von 1830, Paletots mit Faltenschößen, wie man sie im Jahr Achtundvierzig trug, und die viereckigen Ausschnitte der fünfziger Jahre zu sehen. Warum auch nicht? Was gut steht, ist lebensberechtigt, und manche altmodische Form entfaltet heute ganz ungeahnte Vorzüge an ihren jungen Trägerinnen. Mit den Farben jedoch ist es eine andere Sache, da hat das wahllose Zurückgreifen auf gut Glück seine großen Bedenken. Freilich: mit der Farbenskala von 1830 bis 1850 wäre auch unseren jungen Balldamen wenig gedient, sie würden vermutlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wollte man ihnen zumuten, mit dem armseligen Vergißmeinnichtblau, dem blassen und dem harten Rosa auszukommen, welche im Verein mit einem sehr effektvollen Giftgrün und scharfen Schwefelgelb das ganze Farbenbouquet eines Honoratiorenballs von 1854 ausmachten. Man kann es sich heute wirklich kaum mehr vorstellen, daß die Menschen je solche Farben trugen! .. Zunächst wurden sie allerdings noch schlimmer bedacht, denn nach 1856 tauchten die den Fortschritten der Chemie entsprossenen Anilinfarben auf, Rot, Blau, Violett von einer solchen ungebrochenen Leuchtkraft, daß sie alles ringsum „totschlugen“: Zimmereinrichtung und Tapeten, ja, sogar das eigene Gesicht ihrer Trägerin. Ein berühmter Portraitmaler sagte damals, als man ihm die unzweifelhaft „herrliche Farbe“ eines solchen knallvioletten Kleides pries: „Ja, die Farbe ist wunderschön, ’s ist nur schade, daß oberhalb des Stoffes noch ein Gesicht kommt!“

Sie standen in der That fürchterlich schlecht, diese von der Mode mit so viel Hallo in die Welt gesetzten Leuchtfarben, und es gehörte der ganze harmlose Ungeschmack der Krinolinezeit dazu, um die roterübenfarbigen [292] Solferinoblusen und die ultramarinblauen Seidenkleider mit dem Bewußtsein höchster Besonderheit zu tragen.

Dann kam mit den siebziger Jahren der große Umschwung, die „Wiederbelebung der Renaissance“ mit ihren tiefen Purpurtönen, mit dem tausendfach gebrochenen Olivengrün und dem wundervollen Altgold, es kam die Kenntnis der japanischen Farbenharmonien, und nun entstanden unter Mitwirkung der großen Künstler Zusammenstimmungen von Tönen, wie sie reizvoller nicht gedacht werden können. Man legte Gewerbemuseen an mit den schönsten abend- und morgenländischen Vorbildern, um die neue Wissenschaft der Farbenwirkung zum Gemeingut zu machen, die Musterzeichner sollten sich dort immer wieder Anregung zu neuen Gedanken holen – ein Rückfall in rohe Geschmacklosigkeit schien hiermit für immer unmöglich gemacht, und in den letzten 2 Jahrzehnten hatte die Frauenwelt Farben zur Verfügung wie in keinem früheren Zeitalter. Und heute? .… Seit vorigem Herbst hängen wieder als Neuestes und Feinstes in den Fenstern der Modemagazine die alten schreienden Farben, Solferinorot, Magentarot, Knallblau und -violett, entsetzliche Gespenster, vor deren Anblick einem völlig grausen kann! Und wer sich heute da hineinkleidet, der hat nicht die Entschuldigung der Unwissenheit wie die Krinolinedamen von 1860. Welche Nuancenfülle bieten zudem nicht heutzutage gerade die Anilinfarben unserer fortgeschrittenen chemischen Industrie dem wählenden Geschmack! Man fragt sich bei solchem Anblick: Soll denn wirklich alle Geschmacksverfeinerung der letzten 20 Jahre umsonst gewesen sein, soll in Ewigkeit das schönste Alte dem elendesten Neuen weichen müssen, einzig weil dieses eben neu ist und die Mode es so will?

Nun, ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Allerdings hängen auch in diesem Frühjahr die grellsten roten und blaue Stoffe aus, aber andere in gebrochenen Farben daneben, und trotz des Anpreisens der Verkäufer sieht man die ersteren nur vereinzelt in Gesellschaft und auf der Straße erscheinen. Offenbar giebt es in Deutschland noch recht, recht viele Mädchen und Frauen von selbständigem Geschmack, die ihr Kleid nach dem Gesicht wählen und, wenigstens eine Zeit lang, dem häßlichen Neuen zu widerstehen vermögen. Ihre Zahl zu vermehren, ist der Zweck dieser Zeilen. Noch eine Saison Enthaltsamkeit, und die Gefahr ist vorüber, die schreienden Farben gehören zu den „Abgelehnten“ und verschwinden wieder, wie vor einigen Jahren erst das Empirekleid und dann der neu versuchte Reifrock in der Stille verschwunden sind.

Mag nach der Zeit der „verschossenen“ Farben wieder eine farbenfreudig kräftige kommen – wohl und gut! Aber die erste Frage bei der Entscheidung darüber muß bleiben: Was steht und was steht nicht? Und die deutsche Frauenwelt besitzt jetzt ästhetische Bildung genug, um hierauf die Antwort selbst zu finden! Bn.     

Von den bösen Mäusen. Seit Professor Löffler in der künstlichen Verbreitung des Mäusetyphus ein Mittel gefunden hat, die gefräßigen Gäste des Feldes in Massen zu vertilgen, ist vielerorts die Plage, unter der vorher die Landleute geseufzt hatten, verschwunden oder doch erleichtert. Welch großes Verdienst der Greifswalder Professor sich mit seiner Entdeckung erworben hat, das wurde uns neuerdings wieder nahegelegt durch eine Schilderung aus Nordfriesland, in der besonders auseinandergesetzt wurde, wie grimmig die kleinen Feinde vor einem Jahr dort in den Bohnenäckern hausten. Infolge der großen Verluste ist man damals dort auf das Auskunftsmittel verfallen, den Mäusen ihre widerrechtlich angeeignete Beute wieder abzunehmen.

Schon während oder wenigstens gleich nach der Räumung des Ackers, so erzählt unser Gewährsmann, gingen nämlich die Arbeiter auf das Bohnengraben aus. Spaten und Sack sind die beiden dabei notwendigen Dinge; ersterer bildet die Wünschelrute, um die verborgenen Schätze zu heben, letzterer den Behälter, der die gehobenen aufnimmt. Die Mäuse schwelgen keineswegs bloß im Genuß des Augenblicks. In kluger Voraussicht legen sie in der Erde Vorratskammern für den Winter an. Sie gehen dabei manchmal mit einer Schlauheit zu Werke, die der Mensch bewundern muß. Wiederholt entdeckten kundige Arbeiter mit scharfem Auge die unterirdischen Speicher an ganz abgelegenen und daher unverdächtigen Stellen. Die kleinen Tierpfade führten aus dem Bohnenfeld hinweg, unten durch einen mit Wasser gefüllten Graben auf den zweiten oder dritten Acker. In der Regel freilich bauen sie die Höhlen an Ort und Stelle, am liebsten da, wo das Erdreich einige Festigkeit besitzt, wie an Gräben, Wegen und Fußsteigen. Immer bewiesen sie großen Fleiß und eine unermüdliche Ausdauer.

Wie viele Hin- und Rückwege mögen notwendig gewesen sein, um eine Vorratskammer mittlerer Größe anzufüllen! Eine solche birgt etwa 2 bis 3 Liter Bohnen. Manche enthält auch einen halben Scheffel (ein schleswig-holsteinischer Scheffel hat reichlich 17 Liter). Man hat sogar in einer einzigen Kammer einen vollen Scheffel gefunden. Und diese Kammern bestehen nicht bloß hin und wieder. Die Mäuse wohnen meist familienweise beisammen. In einer solchen Kolonie, die eine Fläche von 2 bis 3 Quadratmetern und noch mehr umfaßt, gähnt ein Eingang neben dem andern, kaum spannenweit auseinander. Eine Mäusekolonie reiht sich an die andere und jede enthält einen oder mehrere Speicher! Die Arbeiter und deren Kinder bringen daher reiche Funde nach Haus, stets mehrere Scheffel täglich. Die ausgegrabene Frucht bildete im ersten Teil der Sammelzeit eine Ware von vorzüglicher Güte, denn mit peinlichster Sorgfalt geordnet liegen die Bohnen schichtweise in der Kammer neben- und übereinander, und es sind nicht die schlechtesten, Auswahl war ja genug vorhanden. Die zunehmende Bodenfeuchtigkeit wirkte hernach schädigend ein, so daß die gefundenen Hülsenfrüchte für längere Aufbewahrung untauglich wurden.

Es ist zu hoffen, daß der Fortschritt der Wissenschaft in Zukunft eine derartige „Mäuseplage“ nicht mehr aufkommen lasse. Das Jahr 1894 hat indes die Schäden seines jüngsten Vorgängers reichlich gedeckt und den Landwirt wiederum mit Vertrauen zu seiner Scholle erfüllt. Möge er dieses festhalten im Kampfe mit den widerstreitenden Interessen des Tags: Selbstvertrauen ziert den Mann und segnet das Werk!

Die Accumulatoren-Straßenbahn zu Hagen i. W. In dem Aufsatz „Der Accumulator“ in Nr. 6 des lauf. Jahrgangs der „Gartenlaube“ ist bereits erwähnt worden, daß man sich in Berlin mit Versuchen behufs Erprobung des Accumulatoren-Betriebes für Straßenbahnen ernstlich befaßt. Diese Versuche haben in diesen Tagen ihren vorläufigen Abschluß erhalten. Vorher aber schon ist zu Hagen i. W. die erste Accumulatoren-Straßenbahn Deutschlands dem Betrieb übergeben worden. Dank den energischen Bemühungen der Accumulatorenfabrik, Akt.-Ges., zu Hagen ist es bei der Ausführung dieser Bahn fast vollständig gelungen, die vielen den amerikanischen Einrichtungen ähnlicher Art anhaftenden Mängel mit Geschick zu vermeiden. Der durch die Gesellschaft vorzugsweise und eigens für Zugbeförderungszwecke erbaute Accumulator ist der Kupfer-Zink-Accumulator nach dem System Waddel-Entz, dessen Gewicht sich zum Gewichte des Blei-Accumulators wie 0,55:1 verhält. Die Konstruktion des Accumulators ist folgende. In einem Stahlblechgefäße sind 6 positive und 7 negative Elektroden angeordnet. Die positiven Elektroden bestehen aus Kupferdrahtspiralen, auf welche durch eine besondere Fabrikationsmethode Kupferoxyd in einem Kupferdrahtgespinst eingebracht ist. Jede Platte erhält eine Baumwollenumhüllung. Die negativen Elektroden bestehen aus Stahlblech. Das Elektrolyt ist Zink-Alkali-Lauge. Die Wagen sind in normaler Größe für 12 Sitz- und 11 Stehplätze eingerichtet, die Motoren für 15 Pferdestärken normaler Leistung gebaut. Jeder Wagen enthält 2 Batterieträger zu je 44 Elementen, welche von der Stirnseite unter die Wagensitze eingeschoben werden. Die verschiedenen Geschwindigkeiten werden durch besondere Schaltungen ohne Energieverlust reguliert. Die zunächst betriebene Strecke war 3,13 km lang, die neue Strecke Hagen-Eckesey mit 2,84 km gelangte zum 1. April in Betrieb. Die schärfste Krümmung beträgt 15 m Radius, die größte Steigung 1:25, die maximale Geschwindigkeit 12 km in der Stunde. Eine einzelne Ladung reicht für mehr als 30 km. Die Wagen fahren zur Auswechslung der entladenen Accumulatoren gegen geladene vor eine Schiebebühne und werden dort binnen 5 Minuten durch Handkurbeln mit neuen Accumulatoren im Umtausch gegen die alten versehen. Zur Bedienung genügt ein Mann. In Hagen findet die Ladung in der Kraftanlage des Werkes statt; wäre solche zu anderen Zwecken nicht vorhanden, so würde eine Dynamomaschine von 20 Pferdekräften mit Kesseln und entsprechender Reserve genügen. P. Kurgaß.     


KLEINER BRIEFKASTEN.


(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

H. H. u. C. M. W. Sch., Schönau, Kr. Schlochau. Die uns übersandten 4 Mark 50 Pf. als Beitrag für die Hinterbliebenen der auf der „Elbe“ Verunglückten haben wir der Sammelstelle des Leipziger Tageblattes übergeben.

Skatclub, Café Schelling-München. Ein Null ouvert forcé auch „Revolution“ genannt, ist eine übliche Spielweise, wonach auch die Gegner ihre Karten zwar nicht vertauschen, aber aufdecken und sich untereinander über die Spielführung beraten können. In Mitteldeutschland, der Heimat des Skatspiels, ist sie nur an wenigen Orten vor vielen Jahren aufgetaucht, aber längst wieder der verdienten Vergessenheit anheimgefallen.


Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg. (3. Fortsetzung). S. 277. – Fröhliche Gäste. Bild. S. 277. – Tiroler „Schwabenkinder“. Von Arthur Achleitner. S. 282. Mit Abbildungen S. 281 und 283. – Die Gebärdensprache der Süditaliener. Von Woldemar Kaden. S. 284. Mit Illustrationen S. 285. – Schwester Brigitte. Novelle von Otto von Leitgeb (1. Fortsetzung). S. 288. – Wiegenlied. Gedicht von Albert Träger. Mit Bild. S. 289. – Blätter und Blüten: Eine Geschmacksfrage. S. 291. – Von den bösen Mäusen. S. 292. – Die Accumulatoren-Straßenbahn zu Hagen i. W. S. 292. – Kleiner Briefkasten. S. 292. – Zur Wiederaufrichtung des Denkmals für Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland. Quittung. S. 292.



Zur Wiederaufrichtung des Denkmals für Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland.

Der poetische Aufruf der „Gartenlaube“ zu Beisteuern für die Wiederaufrichtung des durch eine Sturmflut im Monat Februar 1894 umgestürzten Hoffmann von Fallersleben-Denkmals auf Helgoland hat erfreulichen Erfolg gehabt. Wir verzeichnen nachstehend mit unserm Dank die seit der Veröffentlichung des Aufrufs in Nr. 26 des Jahrgangs 1894 der „Gartenlaube“ eingegangenen Beiträge:

Von Herm. Benster in Stadtsulza Mk. 3; Anton Triacca in Mayen Mk. 10; Joh. Junker in Crefeld Mk. 10; Eduard Bringmann in Elberfeld Mk. 20; Buchhändler H. Forck in Biebrich a. Rh. Mk. 3; Freiherrn v. Lipperheide in Berlin Mk. 50; Julius Reusch auf Gut Idylle bei Kruft Mk. 100; v. Winckel in München Mk. 10; C. O. in Grottau in Böhmen Mk. 2; C. Breithaupt in Berlin Mk. 10; G. v. Mewissen in Köln Mk. 50; F. W. R. in Neuwied Mk. 3; H. Wessel in Hannover Mk. 5; Ludwig Inhorn in Osnabrück Mk. 2.50; Carl Wessel daselbst Mk. 2.50; dem Kriegerverein in Herrstein Mk. 3; Geh. Kommerzienrat Barr in Bochum Mk. 30; Kommerzienrat G. Selve in Altena Mk. 100; dem kgl. Bibliothekar Dr. Carl Theodor Gaedertz in Berlin Mk. 3; Wilh. Braun in Hersfeld gesammelt bei einer Taufe Mk. 9; Lehrer F. Mehlhorn in Leutzsch für den Gemeinnützigen Verein daselbst Mk. 5; Georg Grosser in Ohlau Mk. 20; R. S. in T. Mk. 5; Rentner Wilh. Grevel in Düsseldorf Mk. 10; Emil Schött in Rheydt Mk. 20; Dr. Schwetzschke in Berlin Mk. 5; Redakteur Dr. Max Oberbreyer in Leipzig, eingesandt von Helgoland Mk. 3; Ferd. Ressel in Rückersdorf bei Friedland Mk. 4.91 (mehrere Deutsch-Nationale an der Reichenberger Handelsschule); Willy Brandes in Hannover Mk. 5; Dr. Gensel in Leipzig Mk. 10; Geh. Finanzrat H. O. Hoffmann in Koburg Mk. 15; E. Heusinger in Braunschweig Mk. 3; Hupfeld-Stegemöller in Kassel gesammelt Mk. 29; Reinertrag aus einer von dem Helgoländer Dilettantenverein veranstalteten Theatervorstellung Mk. 101.75. Summa: Mk. 662.66.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.