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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[857]

Nr. 51.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Sabinens Freier.

Von W. Heimburg.

 (4. Fortsetzung.)

Hella ging einige Schritte schweigend neben mir her, dann begann sie: „Was fürchtest Du denn, Onkel? Das alte Kamel, der Radowitz, ist ja gar nicht gefährlich; Du kannst ganz ruhig abreisen, denn den hat Bine längst abfallen lassen – aber gründlich! Zum Totlachen war es. Ich bin nämlich dabei gewesen. Der weiß genau, wie er mit Bine dran ist, und wenn er jetzt noch manchmal ’nen Hasenbraten schickt, so ist das nur so ein Gethue, damit die Leute nicht gleich merken, daß er seinen Korb schon nach Hause getragen hat.“

„So, so! Weiß das Großmama?“

„Nein! Ist auch gar nicht nöthig, daß sie es erfährt. Sie quält Bine so schon genug, und wenn ihr obendrein so eine Spielpuppe für ihre Gedanken fehlen würde, dann wäre sie ganz grimmiger Laune und kein Auskommen mehr mit ihr. Jetzt, seit Du aufgetaucht bist, na da hat sie ja zwei solcher Püppchen.“

„Hella!“

„Na, Onkel, thu’ man nicht so! Oder solltest Du wirklich nichts – – dann erhalte Dir Gott Deine Harmlosigkeit! Ich kann Dir nur sagen, Du wirst jetzt ebenso als Butzemann gebraucht gegen Radowitz, wie der Radowitz als Butzemann Dir gegenüber. Aber sei ruhig, Onkel, Du bist im Vortheil!“

„Hör’ ’mal, Du verrücktes Mädel, was schwatzt Du denn da zusammen?“ schalt ich. „Du machst Dir einen ganzen Roman in Deinem thörichten Kopf zurecht. Geh’ nach Hause, leg’ Dich ins Bett und schlafe, und morgen früh nimm ein Buch vor die Nase und lerne Deine englischen Vokabeln, Du naseweiseste Kreatur, die je bei nachtschlafender Zeit über das Wardelinger Pflaster gegangen ist!“

„Goldonkel,“ lachte sie, „ich kann doch nichts dafür, daß ich nicht auf den Kopf gefallen bin! Wenn Du solche Augen machst gegen die Bine und so ein netter Kerl bist – –“

„Hella!“

Die neuen Hamburger Filteranlagen.
Nach einer Photographie von Strumper u. Co. in Hamburg.

[858] „Nein wirklich, Onkel, sei mir gut; Du hast die meisten Chancen, auf Ehre! Und nun gute Nacht – leb’ wohl, reise glücklich! Der Radowitz ist nur eine Spatzenscheuche – gute Nacht!“

Sie war schon ein Ende fort. „Gute Nacht, Onkel!“ rief sie knixend herüber, „der ist ungefährlich, und andere Leute erst recht – Du lieber Gott! He, ihr Gesellen!“ Dann der bekannte Pfiff.

„Hella,“ rief ich, „so warte doch!“ Aber sie war fortgestürmt, und ich stand allein auf der einsamen dunklen Gasse.

„Andere Leute?“ wiederholte ich, „Also noch einer? Das konnte nur das müßte – der mit dem Ebereschenzweig? Unsinn! Lieber Gott, ein armer, ganz armer Junge und sie!“ Wie kam ich nur auf den? Lächerlich! Da malte mir meine aufgeregte Phantasie etwas vor!

Ueber Hals und Kopf ließ ich von Böhme einpacken und verschmähte sogar den klappernden Gasthofwagen nicht, um nur so rasch als möglich dem Wardelinger Zauber zu entfliehen. Andere Luft, das Wort eines vernünftigen Menschen, der meinen armen Kopf zurechtrücken könnte. Hunderte von Meilen zwischen ihr und mir, die Fremde mit ihren Wundern, andere Umgebung! Hinaus so rasch als möglich!

Ich athmete auf, als ich im Bahnwagen saß und der Zug dahin raste. Silberweiß lag der Mondschein über der Gegend, und hinter dem dunklen Walde verschwanden eben die Kirchthürme von Wardelingen.

Gott sei Dank! Nun mußte ja Frieden und Ruhe wieder über mich kommen! Und ganz mechanisch nahm ich meine Paßkarte aus der Tasche: „Alter: zweiundvierzig Jahre. Stand: Major.“


Ich saß mit Leeden auf der Terrasse des Hotels Viktoria in Sorrent. Wir sprachen kein Wort; er war nie für vieles Reden gewesen und ich – ich sprach eigentlich nur noch mit mir selber. Drunten wogte das Meer in tiefer herrlicher Bläue; die Inseln schwammen in zartgrauem Nebel, und in violettem Duft erhob sich zu dem stahlblauen Himmel der Vesuv, am Saume seines Kleides mit hellschimmernden, von der Abendsonne beleuchteten Punkten wie mit Edelgestein besät – Portici, Torre dell’ Annunziata. Unter den Orangenbäumen unseres Hotelgartens spazierten die unvermeidlichen Engländer, und jungvermählte deutsche Ehepaare saßen in den Lauben umher und sahen und hörten nichts von den Wundern der Natur. Uns alle aber umwogte der berauschende Orangenduft des Südens, dieser Duft, der mich immer traurig machte seit dem Tage, an dem ich die Ehre hatte, als Lenis Brautführer ihren Strauß halten zu dürfen.

Ich hatte Ruhe und Frieden nicht gefunden. Ueberall, überall folgte sie mir, Sabines liebe leichte Mädchengestalt, überall blickten mir diese Augen entgegen, aus den Bildern der Museen, aus den Gesichtern der schönen Italienerinnen. Ich liebte mein Pathenkind, Lenis Kind, und mein Herz und mein Verstand lagen im erbitterten Kampfe miteinander seit jenem Abend, da sie mir mit den Zügen meiner Jugendliebe entgegengetreten war, und ich fühlte mit wahrer Todesangst, daß der Verstand unterlag.

„Toller Kerl! Einfach verrückt!“ murmelte Leeden, als ich aufstand und erklärte, ich wolle noch einen Brief schreiben, ohne daran zu denken, daß ich diese Komödie jeden Tag einmal aufzuführen pflegte und doch niemals einen Brief absandte. Ich ging trotzdem in meine Stube, aber ich machte heute gar nicht einmal den Versuch, zu schreiben; ich hätte den Brief doch wieder zerrissen wie die anderen alle. Mochte immerhin die Tischglocke läuten; ich hatte keinerlei Lust, diese bunt zusammengewürfelte Gesellschaft schwatzen zu hören. Ich hatte Heimweh, krankhaftes Heimweh nach der kleinen häßlichen Stadt im Norden, die jetzt im Novembernebel lag.

Nach Tische kam Leeden. Es war dunkel in meinem Zimmer, nur der große brennende Holzklotz im Kamin verbreitete einen röthlich flackernden Schimmer.

„Aber, Brenken,“ sagte er vorwurfsvoll und sanft, „so kann’s doch nicht weiter gehen!“ Er zündete seine Cigarette an dem Holzfeuer an und setzte sich mir gegenüber an das Fenster.

„Nein, so, kann’s nicht weiter gehen,“ gab ich kleinlaut zu, „ich fühle, ich halte es nicht mehr lange aus.“

„Na, da reden Sie wenigstens ’mal über Ihren Kummer! Lieber Gott, Sie kennen mich nun schon drei Ewigkeiten – was ist’s denn nur eigentlich?“

Es war ja bald gesagt: daß ich die Leni geliebt als junger Kerl, daß ich ihr nachgetrauert bis jetzt und daß mir da auf einmal ihre Tochter, die sie mir selbst ans Herz gelegt, entgegentrat und daß die alte Liebe wieder lebendig geworden ist, so furchtbar lebendig und – na, mit einem Worte – –

Er hatte mich mit keiner Silbe unterbrochen, und als ich endete mit dem Schlußsatze: „Sehen Sie, Leeden, ich weiß nicht, ob es recht ist, die Hand nach diesem Kinde auszustrecken, weiß nicht, ob ich noch fähig bin, ein so junges Ding glücklich zu machen. Denn so hat’s meine Cousine wohl nicht gemeint, als sie mich bat, ihrem Kinde ein Schutz zu sein.“

„Wissen Sie, Brenken,“ sagte er da einfach und zündete eine neue Cigarette an, „ich habe keine Tochter, aber ich habe eine junge Schwester, die ich über alles liebe. Und wenn Sie heute kämen, Brenken, und sagten: ‚Leeden, geben Sie mir die kleine Leonie zur Frau!‘ ich faßte das Mädel an der Hand und brächte sie Ihnen, nota bene, wenn auch sie es wollte. Ich für meinen Theil wüßte keinen, dem ich lieber ein theures Wesen anvertraute als Ihnen.“

„Na, na, Leeden,“ wehrte ich ganz gerührt seinem Lobe. Aber er hatte mir die Hände auf die Schulter gelegt.

„Sie wissen ja, Brenken, Redensarten mache ich nicht, und es ist lächerlich, wenn Sie vom Alter reden oder dergleichen. Ich will Ihnen einen Rath geben: quälen Sie sich nicht länger, schreiben Sie ihr – je eher je besser – warten Sie ihre Antwort in Italien ab, in Rom oder Pisa, und wenn ein Ja kommt, so lassen Sie Venedig im Stich und reisen nach Deutschland zurück. Dieser Liebesdusel, diese Zweifel – das ist ja rein, um den Menschen elend zu machen!“

„Und wenn sie Nein sagt, Leeden?“

„Ach, nur keine Witze! Was wird sie Nein sagen! Ich bitte Sie, Brenken, so einem armen jungen bedrückten Herzen muß es ja sein, als gehe die Sonne überhaupt erst auf, wenn sich eine Hand wie die Ihrige nach ihm ausstreckt! Seien Sie kein Hasenfuß Brenken, schreiben Sie ihr, oder schreiben Sie der famosen Großmama! Weiß Gott, ich bin keiner von denen, die den Leuten zum Heirathen zureden – aber hier, wie Sie mir das alles erzählt haben – schreiben Sie, schreiben Sie, Brenken!“

„Ich will schreiben,“ sagte ich entschlossen.

„Gut! Wir machen nachher noch einen Spaziergang und tragen den Brief zur Post. Fassen Sie sich kurz und thun Sie nicht, als ob man Ihnen eine unverdiente überschwängliche Gnade erweise, wenn man Sie erhört!“

„Wieso denn?“ fragte ich, mit meinen Gedanken schon in Wardelingen, und zündete die Lichter auf dem Kamin an.

„Darin versehen es eben die meisten,“ erklärte er, als ob er täglich solche Erfahrungen machte, „und hinterher wundert sich dann so ein kleines Mädchen, wenn man im Drange des alltäglichen Lebens ’mal vergißt, ihr pflichtschuldigst die Füßchen zu küssen, die herabgestiegen sind, um neben uns zu wandeln. Ich denke, das Geben und Nehmen wäre gegenseitig bei so einer Geschichte. Alle Wetter, ja, das denke ich! Und nun schreiben Sie, Brenken, schreiben Sie!“

Er ging und ich schrieb.

Ich hatte an Bine einen Brief begonnen, aber die Feder stockte auf dem glatten Papier, es war mir nicht möglich, ihn zu vollenden. Es kam mir, trotz Leedens Ermuthigung, wahnsinnig unbescheiden vor, ihr Herz für mich zu fordern.

Als er nach einer geschlagenen Stunde wieder hereintrat, hatte ich an Tante Klara geschrieben, vier Seiten, Gott weiß was alles; von Leni, von Bine, von mir und meiner Sehnsucht, von der alten nie vergessenen Liebe – und da ich es überlas, riß ich das Papier mitten durch und warf es verzweifelt in den Ofen. Was brauchte die alte Frau zu wissen von Lenis und meinem Geschick, von unserem Kämpfen und Entsagen! Nur einer durfte ich davon sprechen, nur ihr.

Leeden sah mich mitleidig ein, als ich mich muthlos wieder an den Tisch setzte und mir die Stirn mit dem Taschentuch abtrocknete. „’s ist eine heikle Sache.“ bemerkte er trocken; „aber immer noch besser, als wenn man unmittelbar solchen Augen gegenüber anfängt, zu stammeln. Ich gehe draußen noch ein paarmal auf und ab – machen Sie es doch ja recht kurz! Nichts klingt schneidiger als so ein paar Sätze im Telegrammstil, ‚Liebe Sabine – ich liebe Dich. Mein Herz, meinen Namen, alles, [859] was ich besitze, lege ich Dir zu Füßen und bitte um Antwort, aber bald!‘ So ungefähr würd’ ich’s machen.“

„Ja, ja, so ungefähr – Sie haben recht, Leeden.“

Er nickte mir mit seinem ernsten treuen Gesichte zu und ging. Und wahrhaftig, ich schrieb so ähnlich – kurz, sachlich, knapp.

„Ich liebe Dich, kleine liebe Sabine! Sage mir, ob Du mich wieder liebst, so sehr, daß Du meine geliebte Frau werden könntest! Mein Lebtag will ich Dir zugethan sein mit treuer inniger Dankbarkeit.“

So ungefähr, ein bißchen mehr vielleicht. Antwort erbat ich nach Pisa, Grand Hotel, wo wir über acht Tage eintreffen würden.

Meine Knie zitterten, als ich, das fertige Schreiben in der Hand, die Stufen zum Garten hinabstieg. Es war mittlerweile ganz dunkel geworden; aber die Luft war südlich mild und voll Orangenduft. Leeden spazierte allein auf und ab, und seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen ersahen den Brief in meiner Hand. Er nahm ihn mir einfach fort und übergab ihn dem Portier, der wie hingezaubert hinter ihm auftauchte. „Gleich zur Post!“

Der Mann verschwand mit Windeseile, mir aber klopfte das Herz bis in die Kehle herauf.

„Jetzt sollten Sie etwas essen,“ sagte Leeden. „Für Menschen, die aus Freiersfüßen gehen, müssen andere ein wenig sorgen, sie verhungern sonst. Kommen Sie, wir stoßen an auf glückliche Erfüllung Ihrer Hoffnungen!“

Er nahm mich am Arm und zog mich in den Speisesaal, suchte ein paar Gerichte für mich aus und bestellte Wein. Wie eine Mutter für ihr krankes Kind sorgte er für mich, und bei Gott, ich hatte es nöthig während der acht Tage, die nun folgten. Diese Stimmungen zu beschreiben – ich werde mich hüten; von Italien sah ich aber eigentlich nichts.

„Verliebte Menschen sollten zu Hause bleiben und ihre vier Wände anseufzen,“ sagte Leeden verzweifelt, wenn er mich ohne Erfolg auf irgend etwas Schönes aufmerksam gemacht hatte, „ich wollte, diese Reise wäre überstanden.“

„Ich auch!“ gab ich ehrlich zu und dachte an die lieben Mädchenaugen und wie sie sehnsüchtig aufgeleuchtet hatten, als Tante Klara von Italien sprach. Was half mir alle Herrlichkeit, wenn dies Leuchten sie nicht verschönerte! Auf Capri entdeckte ich aber doch etwas, das mich fesselte – eine kleine Villa, ganz versteckt hinter hohen Mauern. Palmenüberschattet das Dach, und üppige Rebengewinde schmückten Altan und Thür.

„Was haben Sie denn an dem alten Gerümpel zu sehen?“ fragte Leeden, der endlich ungeduldig wurde, als ich wie angewurzelt verharrte.

„Nichts!“ antwortete ich, und im stillen nahm ich mir vor, dieses Idyll für einige Zeit zu miethen, dann, wann ich wiederkehren würde, nicht allein – –

In Neapel kaufte ich allerlei Plunder zusammen aus Lava, Schildkrot, Korallen, in Rom verstieg ich mich sogar in einen Juwelierladen und erstand um hohen Preis eine Armspange, die einem antikem Modell nachgebildet war. Ich sah das zierliche Handgelenk, das sie umspannen würde. Im übrigen ließ ich mich geduldig in Kirchen und Paläste schleppen und dachte doch nur an den Eisenbahnzug, dessen Postwagen mein Geschick mir entgegentrug in Gestalt eines kleinen beschriebenen Blattes Papier. Er mußte schon abgesendet sein, der Brief, der über mich entschied. Morgen nachmittag wollten wir ja Rom verlassen, am Abend trafen wir in Pisa ein, und übermorgen früh würde ich alles wissen.

„Gehen wir ins Theater heute abend?“ unterbrach Leeden meinen Gedankengang.

„Ja, ist mir recht!“

„Nachher vielleicht in das deutsche Bierlokal am Korso?“

„Ist mir recht!“

„Schön – da werde ich die Karten besorgen.“

„Wie Sie denken!“

„Herr Gott, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie jener!“ murmelte Leeden. „Ein Fähnrich könnt’s nicht toller treiben. Fassen Sie sich doch ein bißchen!“ redete er mir zu. „Entweder kommt ein Ja ober ein Nein – weiter kann nichts geschehen. Das Letztere halte ich übrigens für unmöglich! Es ist ja recht gut, wenn der Mensch bescheiden ist, aber dies ist doch schon mehr Kleinheitswahn. Das Mädel ist wahrscheinlich deckenhoch gesprungen vor Glück, und Sie lassen den Kopf hängen!“

Ich antwortete nicht; was wußte er von dem Toben in mir, was von dem Räthsel eines Frauenherzens, die gute treue einfache Seele! Sie würde Nein sagen, Nein – es war ja nicht anders möglich! Sie kannte mich ja kaum! Ich freilich, ich kannte sie! Ober hatte Leni ihrem Kinde die Liebe für mich in das kleine Herz gepflanzt? O Leni, Leni, wenn es so wäre!

Ich befand mich im Fieber, war völlig elend und dabei von einer nervösen Unruhe, die mich noch mehr folterte als meinen Begleiter. Ach, diese erstickende Luft im Theater, diese Parfüms, die aus Fächern und Roben der Damen wehten, kaum zu ertragen!

„Rigoletto“ wurde gegeben. „Donna é mobile“, „die Frauen sind veränderlich“ – diese Worte verfolgten mich nach Hause, bis in den kurzen Schlummer, den ich endlich gegen Morgen fand.

Dann dehnten sich noch ewig die Stunden bis zur Abreise, und dann – endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Wir flogen durch die Campagna, die Berge hinter uns versanken, zum letzten Male grüßte Sankt Peter, von der Dezembersonne vergoldet. Wie endlos war die Fahrt!

„Na, aber heute können Sie noch keinen Brief vorfinden, Brenken,“ ermahnte der Freund.

„Sicher nicht!“ gab ich zu.

Bei völliger Dunkelheit kamen wir im Pisa an. Der Hotelomnibus nahm uns auf, und wir rasselten über das Pflaster durch einsame, schlecht erleuchtete Straßen. Dann hielten wir vor dem Gasthof.

„Briefe da?“ fragte ich scheinbar nachlässig.

„Si, Signore – zwei Stück!“

Ich streckte die Hand aus und dabei fühlte ich eine Kälte, die mich erzittern ließ. „Aus Wardelingen !“ sagte ich mit eigenthümlich schwerer Zunge.

Leeden faßte mich unter den Arm. „Die lesen wir oben, kommen Sie – wir essen später!“

Er ließ mich in unserem Zimmer allein, und da saß ich nun beim Schein von zwei hohen eben angebrannten Kerzen und starrte die Briefe an. Der eine trug Tante Klaras Handschrift, der andere – es war nicht die ihrige – so flüchtig, so eckig, so – –

„Zuerst Tante Klaras Brief!“ flüsterte ich; ich war plötzlich ganz ruhig geworden. Die Tante schreibt ab! Lieber Gott, es war ja auch ein toller Gedanke von mir! Ja, ja, sie schreibt ab; sie wird den Onkel nicht wollen, die Kleine – diesen alten eingebildeten Menschen!

Das Blatt zitterte so in meiner Hand, daß ich nicht lesen konnte. Ich legte es daher auf den Tisch und beugte mich darüber.

„Mein lieber Viktor, mein Herzensjunge! Ich schreibe Dir nur kurz, wir sind noch alle so fassungslos, so erregt von dem Glück, das Dein Brief in unser armes Haus gebracht hat. Sabine wird Dir morgen antworten; sie hat mich beauftragt, Dir zu sagen, daß sie Dir gern ihr junges Herz zu eigen giebt, daß sie Dich liebt.

Wie herrlich führt Gott alles hinaus! Wer hätte das gedacht nach so trüben Zeiten! Ich freilich, ich hab’s kommen sehen. Mein lieber Viktor, der Himmel segne Dich und Deine junge Braut!

Deine getreue Tante und Großmama in spe 
  Klara von Brenken.“ 

Ich legte mich in die Sofaecke zurück, die ganze Stube drehte sich mit mir. Sie liebt mich, sie ist mein! Weiter dachte ich nichts. Dann sprang ich auf, riß dabei die Tischdecke herunter samt den Lichtern, die im Fallen verlöschten, und öffnete das Fenster. Es war mir, als müßte ich ersticken. Von drunten drang das Rauschen des Flusses herauf. Gottlob, daß er so schäumte und brauste, der alte Arno – so hörte doch Leeden, der eben eintrat, das Schluchzen nicht, in dem die Spannung der letzten Tage und jahrelanges Leid sich löste. „Ach Leni, Leni, wie glückselig machst Du mich durch Dein Kind!“

Dann legte sich eine Hand auf meine Schulter. „Brenken!“

Ich packte diese Hand und schüttelte sie wohl eine Minute lang; sprechen konnte ich nicht.

„Ich wünsche Ihnen aufrichtig Glück, lieber Brenken!“

„Danke, danke Ihnen, Leeden, und auch dafür, daß Sie so eine Pferdegeduld mit mir hatten! Es war ein Freundschaftsstück, ich werde es nie vergessen.“

„Ja, ja,“ gab er ehrlich zu. „Und wie pünktlich die Antwort da ist! Hätte es kaum für möglich gehalten. Nun geht's wohl heim mit Windeseile? Was?“

„Morgen, Leeden, morgen!“

[860] „Heute wär’s auch nicht mehr möglich,“ meinte er trocken. „Kommen Sie heraus aus der Dunkelheit, lassen Sie sich ansehen! – Ja, wer hat denn nun recht gehabt, he?“

„Sie natürlich! Sie, mein lieber Leeden!“

„Haben Sie beide Briefe schon gelesen?“ fragte er, das Schreiben und die Leuchter vom Boden aufhebend und die Lichter aufs neue anzündend.

„Herr Gott, nein! Geben Sie doch!“

Ich riß den Umschlag des Briefes auf und sah nach der Unterschrift – Hella! Was hat denn die mitzureden? dachte ich. Da stand in großer eckiger Schrift:

 „Lieber Onkel!
Ich hoffe, ich thue Dir einen Gefallen, wenn ich Dir in aller Kürze Deinen Verlobungstag beschreibe. Sehr herrlich war er nicht aufgegangen, es regnete und ist überhaupt gar nicht hell geworden. Dazu hatte Großmutter Migräne und sah sehr gelb aus wie eine von den Orangen, die Du uns aus Genua geschickt hast. Sie hatte ihren türkischen Shawl um und war geradezu unausstehlich (Du kennst sie ja von früher her!), betrug sich auch sehr unartig gegen die arme Bine. Ich hoffe, Du sorgst dafür, daß das künftig nicht mehr vorkommen kann – auch mir gegenüber muß sie artig sein! Beim Mittagessen bekam Bine Deinen Brief und wurde so blaß wie das Tischtuch und hat gezittert, das arme Thierchen. Dann hat Großmama ihr den Brief weggenommen, und als sie ihn gelesen hatte, rief sie: ,Mein Engel, mein Herzenskind!‘ und fiel Bine um den Hals und küßte sie immerfort, ich konnte es kaum mit ansehen. Dann habe ich natürlich gefragt, was da los sei, und da hat Großmama gesagt, Du hättest Dich mit Bine verlobt, und hat sie wieder geküßt, und die Bine hat eine ganz richtige Ohnmacht bekommen, und wir haben sie in ihr Stübchen gebracht, und Großmutter hat gethan, als wäre Bine von Zucker, so hat sie sie abgeleckt.

Mich hat sie aus der Stube geschickt, weil die Teckel mitgelaufen waren; ich durfte erst vorhin wieder hinein zu Bine und habe ihr Glück gewünscht, und da hat sie mir die Hand gedrückt, Sie soll ganz still liegen, sagt der Doktor, und heute nicht schreiben, denn ihre Nerven sollen sich erst wieder beruhigen. Es scheint eine angreifende Geschichte zu sein, das Verloben!

Sie läßt Dir sagen, sie würde Dir morgen für alles danken; verstehe mich aber nicht falsch, sie meint für Deine Liebe! Sie will Dich natürlich heirathen, sie sagte es zu Großmama – es wird ihr nur so schwer, zu schreiben. Mutter Buschen heult vor Freude. Und gerade in der Dämmerstunde kam das Kamel, der Radowitz, vorgefahren, und da hätte ich mir zu gern den Spaß gemacht, ihm zu erzählen, warum ihn Großmama nicht zu empfangen vermöge. Na, ich kann mir sein Gesicht vorstellen, wenn er es erfahren wird; ungefähr so, wie Busch die Gesichter malt. Du kennst wohl die Sachen von Busch, lieber Onkel?

Ich reite den ,Hans‘ alle Tage und hoffe, wenn ich Euch einmal besuche, wirst Du ein anständiges Pferd für mich haben.
Schönsten Gruß von 
     Deiner Hella.“ 

„Nun, doch nichts Schlimmes?“ fragte Leeden.

„Sabine scheint sich sehr aufgeregt zu haben; sie ist leidend, wie mir die Kleine schreibt,“ antwortete ich beunruhigt.

„Das ist, scheint’s, immer so,“ meinte er, „die heutigen Nerven! Aber kommen Sie, Brenken, ich bin teufelsmäßig hungrig!“

Ich folgte ihm nachdenklich. Meine arme kleine süße Bine!

Und nun goß der alte ehrliche Kamerad die Gläser voll. „Auf Euer Glück!“ sagte er einfach, und wir leerten die Kelche bis auf den letzten Tropfen.

Dann sah ich allein noch lange, lange in die Nacht hinaus, hörte den Fluß rauschen und dachte an das kleine Stübchen im Brenkenhause bis eine bleierne Müdigkeit mich aufs Lager warf. Und ich schlief, bis Leeden mich weckte.

„Schöner Bräutigam, verschläft die Abreise!“

Mit knapper Noth erreichten wir noch den Zug.

*               *
*

Ich bin keiner von den Ungeduldigen, aber diese Reise hätte jedes Lamm zum Tiger gemacht, Schon in Mailand hörten wir von Schneeverwehungen und Lawinen auf der Gotthardbahn. Wir fuhren aber ab und blieben zwei Tage, sage zwei Tage, in Bellinzona liegen. Ich hatte bereits von Pisa aus an Bine telegraphiert, daß ich in kürzester Zeit eintreffen würde, in so kurzer Zeit, als man eben braucht, wenn man ohne Unterbrechung reist. Nun telegraphierte ich, wir würden eine kleine Verspätung haben; man hatte uns nämlich bestimmt versprochen, daß die Bahn in wenigen Stunden wieder fahrbar sein werde. Aber, siehe da – eben wollten wir uns nach dem Bahnhof begeben, da kam die Kunde von einem neuen Schneesturm und wir saßen wieder fest. Auf meine telegraphische Anfrage, wie es Sabine gehe, kam die Nachricht „Gut!“ Sehr kurz, mehr als telegrammmäßig, aber deutlich. Ich lief im Hotelzimmer wie ein gefangener Löwe im Käfig umher und braute mir die schwärzesten Möglichkeiten zusammen. Leeden hatte die Nase in eine Zeitung gesteckt, hob nur manchmal den Kopf und sah mich an, wie man einen Kranken betrachtet. „Einfach verrückt!“ murmelte er.

Ich sah es natürlich in jenen Tagen nicht ein; heute glaube ich, er hatte recht. Oder doch nicht? Ich war nicht einfach verrückt, ich war einfach glücklich und – ungeduldig. Ich hatte ja lange, so furchtbar lange auf mein Glück warten müssen, nun dünkte mich diese kurze Verzögerung unerträglich. Es sollte wohl so sein.

Die Hindernisse waren just in dem Augenblick beseitigt, als ich mich fest entschlossen hatte, über den Brenner zu reisen, und wir kamen endlich vom Fleck. Eine Stunde nach der andern verging, eine Station nach der andern ließen wir hinter uns, deutsche Laute klangen uns wieder ins Ohr, wir sausten die schwindelnden Alpenhänge hinunter und kamen nach Zürich. In Frankfurt verließ mich Leeden; ich glaube, ich war ihm mittlerweile so langweilig geworden, daß er eine Geschichte erfand, die Geschichte von einer Tante, die in der Nähe von Frankfurt leben sollte. Es war das erste Mal, daß ich’s von ihm hörte, aber ich nahm ihm die Tante nicht übel. Ich saß am liebsten allein im Coupé, las Tante Klaras Brief mit immer gleicher Rührung und fühlte dann und wann nach dem Etui in der Tasche meines Pelzes, dem Etui mit dem Armband.

Wir kamen durch Thüringen, wir kamen nach Magdeburg, und dann raste der Zug mit mir durch die liebe verschneite märkische Landschaft. Ich befand mich in einem fieberhaften Zustand. Ich habe nie gern Gedichte gelesen, besonders Liebesgedichte nicht, und als eines der überschwänglichsten hatte ich stets die Uhlandsche „Heimkehr“ angesehen.

„O brich nicht, Steg! du zitterst sehr,
O stürz’ nicht, Fels! du dräuest schwer,
Welt, geh’ nicht unter, Himmel, fall’ nicht ein,
Eh’ ich mag bei der Liebsten sein!“

Ich bat dem Dichter diese Geringschätzung ab, mir war ungefähr so zu Muthe.

Es dunkelte bereits, als ich in Wardelingen anlangte. Ob ich mir eingebildet hatte, sie würde dastehen, mich zu empfangen? Nein, es wäre gegen alles Zartgefühl gewesen, so vor den Leuten auf dem Bahnhof. Oder giebt’s Ahnungen? Es überfiel mich plötzlich eine herzbeklemmende Stimmung.

Natürlich wollte ich vor allem erst in den Gasthof, die Spuren der langen Reise zu verwischen, und dann – –

„Guten Abend, Onkel!“ sagte eine Stimme, und ein schwarzer kleiner Köter, der mir vor den Beinen herumlief, brachte mich in meiner Hast beinah zu Falle.

„Hella, Du? Guten Tag!“

Ich preßte ihr die Hand. „Liebes Kind,“ sagte ich, dem Wagen zuschreitend. „ich will erst in den Gasthof, um ein wenig Toilette zu machen. Um acht Uhr bin ich bei Euch.“

„Onkel!“ rief sie mir nach, „Onkel, ich bin ja – – warte doch!“

„Was willst Du denn, Hella?“

„Ja, wenn Du so läufst,“ stieß sie athemlos hervor. „Ich will Dir nur sagen, die Großmutter läßt Dich bitten, erst morgen zu kommen, Nämlich Bine – weißt Du – Bine ist vorhin wieder ohnmächtig geworden, und der Doktor –“

Ich stand wie leblos.

„Mein Gott, Onkel! Na ja, siehst Du, ich wollte Dir das ganz anders sagen, aber wenn Du so davonrennst! Bine war nämlich den ganzen Tag sehr ruhig und heiter, aber auf einmal, da – sie guckte so starr immerfort auf einen Fleck – da sank sie zurück, und das sah eklig aus – als müsse sie gleich tot sein.“

Ich hatte plötzlich keine Eile mehr und schritt langsam neben ihr durch die Straßen. (Schluß folgt.) 

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[861]

Epheu & Lilie.

Es steht auf hohem Berge
Ein altersgrauer Thurm,
Der einzig noch vor andern
Getrotzt der Zeiten Sturm.

Er hebt das Haupt gen Himmel
So kühn, so unbesiegt,
Um das in festen Ranken
Sich grüner Epheu schmiegt.

So hält in Schicksalswettern,
In Woge, Flamm’ und Schmerz,
Am Recht und an der Wahrheit
Ein starkes Männerherz.

Und drunten in dem Thale
Blüht eine Lilie hold,
Sie trinkt in vollen Zügen
Der Sonne laut’res Gold;

Doch wenn der Tag sich neiget
Und Schatten streut die Nacht,
So ist den Kelch zu schließen
Die reine fromm bedacht.

Ihr Thun will mich gemahnen
An keuschen Weibes Bild,
Das fleckenlos bewahret
Der Tugend blanken Schild.

Otto Braun.
[862]

Verbrecherbanden in Indien.

In Vorderindien leben auf einer Gebietsfläche, die das Deutsche Reich um das Sechsfache übertrifft, rund 280 Millionen Menschen, die in Bezug auf Abstammung, Sprache, Religionsbekenntniß, sittliche Anschauungen und Lebensgewohnheiten viele Verschiedenheiten aufweisen. Von den Eingeborenen sind der „Kaiserin von Indien“ etwa 216 Millionen unmittelbar unterthan; fast 64 Millionen vertheilen sich auf die unter britischem Schutze stehenden Staaten, deren man mehrere hundert zählt. Man kann sich dort in das weiland Heilige Römische Reich Deutscher Nation versetzt glauben, so verschieden sind die indischen Fürsten an Rang, an Umfang und Bedeutung ihrer Länder und an Machtbefugniß, und so verschiedenartig abgestuft ist ihre Lehnsabhängigkeit voneinander und von der indischen Kaiserin. Neben Herrschern, die über Millionen von Unterthanen gebieten, giebt es unseren Reichsfreiherren ähnliche, erbliche und mit Adelstiteln bezeichnete Besitzer von Dörfern; neben mächtigen Fürsten, deren Selbständigkeit nur durch die Anwesenheit eines britischen Residenten in ihrer Hauptstadt beschränkt ist und die in der inneren Verwaltung ihres Landes unbehindert sind, giebt es Fürsten und Barone, denen Volt ihrer Selbstherrlichkeit wenig und oft nur ein Titel und ein mehr oder weniger reichliches Einkommen geblieben ist. Von den Eingeborenen sind die einen Vertreter und Träger hoher, alter Kultur; daneben sind Tausende und Abertausende namentlich in den wüsten Gegenden des mittleren und nordwestlichen Indiens noch fast jeder Einwirkung der Civilisation entrückt; einzelne Volksstämme haben ihre nomadisierende Lebensweise noch nicht aufgegeben und verwenden als Waffen noch Keulen, Bogen und Pfeile. Eine durchgreifende Sicherheitspolizei, welche die Person und das Eigenthum wie in einem europäischen Lande schützte, ist in den Schutzstaaten noch weniger möglich als in den von den Engländern unmittelbar beherrschten Gebieten. Die Zahl aller in Indien lebenden Engländer beträgt nur etwa 150 000, so daß ein Engländer auf etwa 1860 Eingeborene kommt. Besteht die große Mehrzahl der indischen Bewohnerschaft aus dem friedlichen Volke der Hindu, so fehlt es doch nicht an unternehmenden, kriegerischen und raublustigen Stämmen, und unter versprengten Resten von Völkerschaften, deren Abstammung zweifellos festzustellen noch nicht hat gelingen wollen, giebt es Leute, die den Raubmord als ihren Beruf, als göttlichen Auftrag ansehen und von Jugend auf dafür erzogen werden. Was der englische General Hervey, der mehrere Jahrzehnte in Ostindien gelebt und an der Spitze der dortigen Polizei gestanden hat, in seinem neuerdings erschienenen Buche „Some records of crime“ von den indischen Verbrechersekten und -banden erzählt und was wir aus anderen Quellen darüber erfahren, läßt den Schluß zu, daß auf diesem Gebiete den englischen Behörden noch manche schwere Aufgabe zu lösen bleibt.

Die schlimmste Sekte dieser Art sind die Thugs, eine Verbrecherkaste, die einst die Geißel Indiens bilbete, dann für ausgerottet galt, aber, wie sich aus neueren Veröffentlichungen ergiebt, doch noch ihr entsetzliches Dasein in vielfach verrohten Formen weiterfristet. Auf eine eigenthümliche, naiv grausige Legende gründet sie ihr schauerliches Gewerbe. In dem Kampf zwischen Wischnu und Siva, zwischen dem schaffenden und dem zerstörenden Prinzip, so lantet die Lehre der Thugs, erwies sich der erstere so mächtig, daß der Gegner nicht mit ihm Schritt zu halten vermochte. Mehr und mehr wurde die Erde bevölkert, bis schließlich der große Zerstörer Siva auf neue Mittel sinnen mußte, dem täglichen Anwachsen des Menschengeschlechts Einhalt zu thun. So berief denn seine Gemahlin, die schreckliche Bhawani oder Kali, eine Anzahl ihrer treuesten Verehrer unter den Menschen zu sich, unterrichtete sie eigenhändig in der Kunst des Erdrosselns, fertigte ihnen Schlingen aus dem Saum ihres Kleides und sandte sie hinaus in die Welt mit dem Befehl, jeden zu vernichten, den sie in ihre Hände gebe, die Leichen aber ruhig liegen zu lassen, da sie dieselben höchst eigenhändig beiseite schaffen würde. Sie sagte ihnen bei der Ausführung dieses göttlichen Auftrags ihren mächtigen Schutz und unmittelbare Leitung durch Wahrzeichen zu; zur Belohnung aber versprach sie ihnen dereinst die Freuden des Himmels und überließ ihnen hier auf Erden die Schätze der erwürgten Opfer. Jahrhunderte vergingen in dieser Weise; die Thugs dienten der Kali treu und eifrig, befolgten aufs pünktlichste ihre Vorschriften und wurden von ihr durch Beseitigung der Leichen vor jeder Entdeckung und menschlichen Strafe bewahrt. Doch die zunehmende Verderbtheit der Welt ergriff schließlich auch die Thugs, und einen von ihnen trieb ruchlose Neugier an, die Göttin zu belauschen. Er schlich sich zur Stelle des letzten Mords und – fand die schreckliche Kali beschäftigt, den Leichnam zu verzehren. Aber auch sie hatte den Missethäter erblickt, und zur Strafe that sie den Thugs kund und zu wissen, daß sie es hinfüro ihnen selbst überlassen würde, die Leichen zu beseitigen und sich gegen die Gefahr einer Entdeckung zu schützen. Im übrigen aber entzog sie ihren Dienern ihre Huld nicht, beschenkte sie sogar aus besonderer Gnade noch mit einem ihrer Zähne als Grabscheit oder Hacke – seitdem das heilige Symbol dieser Mörderkaste.

Da die Kali das Vergießen von Blut verabscheut, so vermeiden die Thugs bei ihren Mordanfällen den Gebrauch schneidender und stechender Waffen, ja sie unterlassen es sogar, sich zu rasieren, weil einmal ein Tropfen Blut dabei fließen könnte, aber sie erdrosseln und vergiften ohne Gewissensbisse. Sie betrachten die Gemordeten lediglich als Opfer, die sie der Göttin gebracht, der Mord ist ihr Beruf, so gut wie die Bestellung des Ackers der des Bauern. Und es ist nur folgerichtig, wenn die Höhe der erwarteten Beute gar nicht einmal so sehr den Ausschlag giebt. Ein Thug hat einmal vor Gericht den Ausspruch gethan: „Wir betrachten 8 Annas (etwa = 1 Mark) als eine recht gute Bezahlung für den Mord eines Menschen, und wir töten oft einen, wenn wir vermuthen, daß er zwei Pais (= 2 Pfennig) im Besitz haben könnte.“ Sie unternehmen ihre Züge, die sie durch ganz Indien führen, selten einzeln, meist in Gruppen zu zehn bis dreißig Mann. Unter der Maske von Geschäftsleuten oder Wallfahrern nähern sie sich auf Landstraßen und Bahnhöfen oder in den Bazaren und Herbergen solchen Leuten, von denen sie wissen oder vermuthen, daß sie Geld oder Geldeswerth bei sich tragen. Gern gesellen sie sich zu den fremden Kaufleuten, die aus den nordwestlichen Nachbarländern Waren nach Indien gebracht haben und nun mit vollem Beutel in ihre Heimath zurückkehren. Sie suchen sich das Vertrauen der Leute zu erwerben, spielen die gefälligen Reisegefährten, ziehen oft längere Zeit mit ihnen und nehmen dann eine günstige Gelegenheit wahr, ihren Streich auszuführen. Während der Mittagsruhe oder im Nachtquartier erdrosseln sie ihre Opfer mittels eines Tuches oder einer Schlinge – ein Verfahren, in dem sie geübt sind – berauben sie ihrer Werthsachen und beeilen sich dann, eine andere, entlegene Gegend aufzusuchen. Noch häufiger wenden sie in neuerer Zeit Gift an, und zwar mit Vorliebe den Stechapfelsamen. Sie mischen dieses Gift in unauffälliger Weise den verschiedenartigen Speisen bei, welche von den Reisenden unterwegs meist selbst bereitet werden, oder sie haben vergiftetes Zuckerwerk bei sich, das sie als Beitrag zu den gemeinsamen Mahlzeiten oder als Geschenk anbieten. Sie führen sich auch als fromme Pilger oder Bettler in Wohnhäuser ein, besonders wenn von den Bewohnern nur Frauen und Kinder anwesend sind, und bitten um Gastfreundschaft oder um die Erlaubniß, sich eine Weile ausruhen zu dürfen. Da findet sich dann leicht die Möglichkeit, ihr Gift wirken zu lassen, und häufig gewinnen sie reiche Beute, da in Indien selbst minder wohlhabende Frauen gewohnt sind, Kostbarkeiten wie Goldschmuck, Goldmünzen, Perlen oder Edelsteine an sich zu tragen und selten abzulegen. Hierbei ist indessen zu bemerken, daß dem strengen Thug eigentlich die Frauen heilig und unverletzlich sind, und tatsächlich ist dieser Grundsatz auch in vielen Theilen Indiens nach den älteren Nachrichten niemals übertreten worden. Viele der gefangenen Mordbrüder erklärten vor den englischen Richtern, daß sie nie Hand an eine Frau legen würden, „nie, und wenn sie eine Lakh, und wenn sie zwei Lakh[1] Rupien bei sich hätte“. Manche Reisegesellschaft ist durch die Anwesenheit einer Frau gerettet worden. Diese Schranke aber scheint, wie so manche andere, von dem Epigonengeschlechte unter den Thugs nicht mehr geachtet zu werden, wie auch das Gift in den älteren Berichten eine untergeordnete [863] Rolle spielt. Die heutigen Thugs geben sich auch für Heirathsvermittler aus, leiten Zusammenkünfte heirathslustiger Personen ein, vergiften sie beim Verlobungsfest und berauben sie dann ihres Schmuckes, ihres Geldes und ihrer Festkleider. Einer dieser als Heirathsvermittler auftretenden Thugs fiel erst in die Hände der englischen Gerichte, nachdem er neunzehn Giftmorde verübt hatte. Werden die Thugs im Besitz von Gift betroffen, so behaupten sie, daß sie es in kleinen Gaben zur Heilung von allerlei Krankheiten selbst zu sich nehmen, und thun dies vor den Augen der Zweifler auch wirklich.

Welch fürchterliche Gesellen diese Mörder aus religiösem Wahn sind, mag man daraus ermessen, daß man für die Zeit vor ihrer ersten planmäßigen Verfolgung – sie fiel in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts – jährlich nach niedriger Schätzung 15 000 Opfer herausrechnete! Und mit welch abgefeimter Schlauheit die Mitglieder der Kaste sich oft hinter der Maske des ehrsamen Biedermanns zu verstecken wußten, das beweist ein Fall, welchen der Hauptmann Sleeman, der eben mit jener Verfolgung betraute englische Offizier, aufdeckte. In der Stadt Hingoli lebte ein gewisser Huri Singh, seines Zeichens ein Leinenhändler, ein wohlhabender, angesehener Mann, der durch Ehrlichkeit und Wohlbetragen sich die Achtung und Freundschaft nicht nur seiner eingeborenen Bekannten, sondern auch aller daselbst stationierten englischen Offiziere und Beamten erworben hatte. Als nun Hauptmann Sleeman nach Einleitung der umfassenden Maßregeln zur Unterdrückung der Thugs einige seiner bewährtesten Angeber nach dem Dekkan schickte, erkannte einer derselben in eben diesem Huri Singh einen der berühmten Dschemadars oder Hauptleute der Räuber, und die nachfolgende Untersuchung ergab, daß der angebliche Leinenhändler bis zum Tage seiner Gefangennahme insgeheim seinem wirklichen Mordgewerbe nachgegangen war, daß er unter dem Vorwande, neue Vorräthe Leinen von Bombay zu holen, jahraus jahrein von Hingoli aus Raubzüge unternommen und im Bunde mit den Banden von Hindustan sämtliche Straßen des Dekkan unsicher gemacht hatte. Einmal hatte er sich sogar von dem betreffenden Distriktsoffizier einen Paß ausstellen lassen zur Einführung einer gewissen Ladung Zeug, mit welcher, wie er in Erfahrung gebracht hatte, ein Kaufmann aus Bombay nach Hingoli unterwegs war, war dann dem Betreffenden entgegengezogen, hatte ihn und alle seine Leute ermordet, die Waren unter dem Paß nach Hingoli gebracht und dort offen zum Verkauf ausgelegt. Und die Geschichte wäre nie bekannt geworden, hätte nicht der Mörder nach seiner Gefangennahme sie als einen höchst gelungenen Scherz mit Stolz selbst erzählt. Ja, mitten im Bazar des Kantonnements und keine hundert Schritt von der Hauptwache entfernt, waren Dutzende von Reisenden unter den Händen dieses Mannes und seiner Genossen gefallen; die Leichen lagen kaum fünfhundert Schritt außerhalb der Postenketten verscharrt, und doch ahnte kein Mensch im ganzen Orte den wahren Charakter des friedfertigen und ehrbaren Huri Singh.

Weniger unheimlich, aber nicht weniger gefährlich sind andere Banden, welche auf ihren Raubzügen unbedenklich Blut vergießen. Auch bei diesen bilden gewisse Volksstämme, die hauptsächlich im mittleren Indien ansässig sind, den Kern und weihen ihre heranwachsenden Kinder in ihre verbrecherischen Ueberlieferungen und Erfahrungen ein. Es giebt dort in den Schutzstaaten wohlhabende Ortschaften, welche fast ausschließlich von Räubern bewohnt werden. An Ort und Stelle und in der Nähe lassen sich diese nichts zu Schulden kommen; sie ziehen als angebliche Wallfahrer, Händler oder Vogelsteller, welche für die Lieferanten der großen Putzgeschäfte Vögel fangen, in entferntere Gebiete und rauben dort. Der Reisende, der ein solches Räuberdorf antrifft, sieht vor den durch Buschwerk verdeckten Häusern Kinder spielen und Weiber unter harmlosem Gesang über die Straße gehen. Aber die Harmlosigkeit ist Schein. Die Weiber und selbst die in noch zartem Alter stehenden Kinder suchen den Fremden unmerklich daraufhin abzuschätzen, ob er etwa ein Beamter sei, der hier eine Untersuchung wegen Räubereien anstellen könnte. Der Inhalt des nur den Eingeweihten verständlichen Gesanges und sogar die Art des Tones, in welchem gesungen wird, belehrt und warnt die männlichen Bewohner. Die Ortschaften liegen am Rande ungeheurer Waldungen, und der Zutritt zu den Häusern ist nur durch labyrinthisch angelegte enge Gänge von hohen und dichten Hecken möglich. Bis ein unkundiger Besucher den Eingang des Hauses findet, ist der Hausbewohner, der ein Zusammentreffen mit dem Besucher vermeiden will, längst geflüchtet und im Waldesdickicht verschwunden.

Die Anführer der Räuberbanden haben in verschiedenen Theilen des Landes Mitwisser und Helfershelfer unter denjenigen Eingeborenen, welche in den Bazaren der Kaufleute, auf den Amtsstuben der britischeu Regierung und bei den Postämtern bedienstet sind. So erfahren sie, wenn Sendungen an Geld und Banknoten, an Gold- und Silberbarren, an Perlen, Edelsteinen und anderen kostbaren Waren, an Opium zur Post gegeben, in Karawanen mitgeführt oder sonst versendet werden. Scheint ihnen ein Ueberfall möglich und lohnend, so rüsten sie eine Anzahl von Räubern aus, die der gleichfalls erkundeten Anzahl der die Werthsendung deckenden Begleitmannschaft etwa um das Dreifache überlegen ist. Billig kommt eine solche Ausrüstung nicht zu stehen, da die Räuber gut beritten sein, oft wochenlang sich gedulden und während dieser Zeit zunächst aus eigener Tasche leben müssen, Sie legen sich an einer sorgfältig ausgewählten Stelle in den Hinterhalt, überfallen und töten oder verjagen die Begleitmannschaft und bringen dann den Raub in Sicherheit. Fürchten sie sofortige Verfolgung, so vergraben sie den Raub und ziehen als anscheinend friedliche Wanderer weiter. Erfahren sie, daß die Verfolger auf unrichtiger Fährte sind oder daß die Verfolgung ganz ruht, so kehren sie um, graben den Raub aus und theilen ihn. In einigen Fällen haben sie sogar Militärkassen der Engländer erbeutet, indem sie sich bei Nacht an die aufgestellten Wachtposten heranschlichen und sie durch einen sicheren Stoß töteten, ehe die Getroffenen auch nur einen Laut von sich geben konnten. Auch die auf den Flüssen des Landes verkehrenden Transportschiffe sind vor ihnen nicht sicher. Ferner überfallen sie einsam gelegene Gehöfte, und endlich beschäftigen sie sich mit Kinderraub; heranwachsende Knaben und Mädchen werden von ihnen entführt und in entfernten Orten verkauft, die Knaben, um als Diener, die Mädchen, um als Tänzerinnen erzogen zu werden.

Das Räuberhandwerk ernährt seinen Mann. Die Städte, welche sich die erwähnten Werthe zusenden, gehören zu den ersten Handelsplätzen der Erde, die Absender und Empfänger zu den reichsten Kaufleuten. In den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts ergab ein mehrjähriger Durchschnitt, daß jährlich 2200 Raubanfälle in Indien zur Anzeige kamen, daß von den die Werthsendungen begleitenden Mannschaften 70 getötet und 400 verwundet wurden, daß anderthalb Millionen Mark Werth in die Hände der Räuber fielen, daß nur der elfte Theil dieser Summe ihnen wieder abgenommen werden konnte, und, was das Wunderbarste ist, daß bei den Ueberfällen auch nicht ein einziger Räuber getötet wurde. Verhaftet wurden 10 000 Räuber, und ein Drittel wurde zu Gefängniß, zu Deportation nach den Andamaneninseln oder zum Tode verurtheilt.

Der Verhütung der Verbrechen wie der Entdeckung und Bestrafung der Thäter stellen sich große Schwierigkeiten in den Weg. Die Banden von Räubern und Mördern halten fest zusammen und finden überdies wegen der Furcht, die sie einflößen, bei der eingeborenen Bevölkerung wenig Widerstand, wohl aber vielfach Schonung und Förderung. Nur mit Mühe haben die Engländer erreicht, daß die Kalitempel nicht mehr, wie früher, als Zufluchtsstätten angesehen werden dürfen, die dem Mörder, namentlich dem Giftmörder, welcher sich dort unter den Schutz der zerstörenden Gottheit stellt, Straflosigkeit sichern. Nur mit Mühe sind die Eingeborenen bei ihrer Gleichgültigkeit gegen ein Menschenleben dahin zu bringen, daß sie den Behörden überhaupt Anzeige erstatten, wenn unter verdächtigen Umständen eine Leiche aufgefunden wird. Untersuchungen und Nachforschungen stoßen in den Schutzstaaten oft auf das stille Widerstreben der einheimischen Beamten, ja es ist vorgekommen, daß Kleinfürsten mit den Räubern unter einer Decke steckten und einen Theil des Raubes selbst an sich nahmen. Seitdem man abgeurtheilte Verbrecher zu Spionen der englischen Polizei verwendet, sind die Mordanfälle etwas seltener geworden, aber noch im Jahre 1888 kamen allein in der Präsidentschaft Bombay 360 Fälle nur von Giftmorden zur Kenntniß der englischen Behörden. Dr. E. S.     


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Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Vom Hamburger Wasser.

Von Gustav Kopal.0 Mit Abbildungen nach Photographien von Strumper u. Co. in Hamburg.

Wasser ist das Beste“, singt Pindar. Mit diesem Spruche waren die Hamburger immer durchaus einverstanden, und sie hatten auch guten Grund hierzu. Das länderumfassende Weltmeer besitzt für sie einige schätzbare und einträgliche Eigenschaften. Mit Stolz blicken sie auf ihre majestätische Elbe, mit Entzücken auf die prächtige Alster und auf das liebliche Kind des Sachsenwaldes, die Bille. Die Nixen dieser Gewässer sind zugleich praktisch nützlich veranlagt, denn ihre Arme, welche die Stadt umschlingen und durchziehen (in diesem Falle nennt man sie „Fleete“), dienen dem nordischen Venedig zur bequemen und billigen Warenbeförderung in ganz vortrefflicher Weise. Daneben widmen sie sich sowohl häuslichen und gewerblichen Zwecken wie auch dem Ruder- und Segelsport, leisten mithin alles nur Nixenmögliche aufs zuvorkommendste.

Da nun ein reiches Maß liebender Fürsorge leicht den Menschen verzieht, so hat sich der Normalhamburger nach und nach daran gewöhnt, fast unglaublich viel Wasser zu verbrauchen, bedeutend mehr als irgend eine andere städtische oder ländliche Bevölkerung im gesamten Deutschen Reiche. Ausdrücklich betont sei, daß die jetzt folgenden Zahlen amtlich festgestellt und über allen Zweifel erhaben sind: der Wasserverbrauch auf den Kopf und Tag bezifferte sich 1890/1891 in Berlin auf durchschnittlich 68, in Breslau auf 76, in Dresden auf 81, in Düsseldorf auf 82, in Leipzig auf 97, in Elberfeld auf 98, in Köln auf 169, in Hamburg auf 220 Liter. Hamburgs „Stadtwasserkunst“ lieferte 1891 durchschnittlich 129.000 Kubikmeter Wasser im Tag auf rund 584.000 Seelen der städtischen Bevölkerung, von dem noch beträchtlich höheren Wasserverbrauch im Cholerajahre 1892 ganz abgesehen. Wohlgemerkt, im Durchschnitt! Der Meistverbrauch an heißen Sommertagen stieg gar auf 250 bis 267 Liter für den Kopf.

Das Reinwasserbecken in Rothenburgsort während des Baus.

Daß ein solches Anwachsen des Verbrauchs überhaupt stattfinden konnte, ermöglichte erst die in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts eingeführte Wasserversorgung durch die „Stadtwasserkunst“ in Rothenburgsort. Sie galt, weil die erste und damals einzige Anlage in so großem Maßstabe auf dem europäischen Festland, für ein Wunder der Neuzeit und wurde als solches von den um ihretwillen selbst aus weiter Ferne herbeigekommenen Technikern angestaunt. Ungeheure Pumpwerke, wirklich genial angelegt, trieben das vorher in drei Ablagerungsbecken einigermaßen geklärte Elbwasser in das sich über die ganze Stadt erstreckende Röhrennetz, und zwar in solcher Fülle, daß allerwärts bis zur Dachkammer hinauf Ueberfluß herrschte und die Hamburger Hausfrauen in ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Scheuern und Reinmachen, fortan wahrhaft schwelgen konnten.

Die im allgemeinen ziemlich sparsamen Väter der Stadt hatten übrigens bei der recht kostspieligen Anlage weniger eine Galanterie gegenüber dem schönen Geschlechte im Auge; vielmehr nöthigten sehr zwingende Gründe zu der Neuerung. Als am 5. Mai 1842 einige mit Sprit gefüllte Speicher brannten und der Sprit in das Fleetwasser floß, mit dem die Feuerspritzen sich versorgten, ergab sich als traurige Folge, daß am 8. Mai 1842 19.995 Hamburger obdachlos und 4219 Gebäude nebst Inhalt im Werthe von rund 50 Millionen Reichsmark vernichtet waren. Die 1845 fertiggestellten Hydranten der neuangelegten Stadtwasserkunst, die sogenannten „Nothpfosten“, in allen Straßen reichlich angebracht, ermöglichten es fernerhin, jedes brennende Gebäude sofort mit einem Wasserschwall förmlich zu überschütten und dadurch die Gefahr einer Wiederkehr solch furchtbaren Unglücks schon im Keime zu ersticken.

Die hamburgische Bevölkerung war mit der neuartigen Wasserversorgung, die schon 1849 auch für den Hausbedarf eingeführt werden konnte, sehr zufrieden, denn das weiche Elbwasser galt für vorzüglich und selbst die Schiffe fremder Nationen hatten es seit den ältesten Zeiten mit Vorliebe als Vorrath für lange Reisen benutzt. Jedenfalls war es entschieden seinen Mitbewerbern in Hamburg, dem aus Pumpen und Quellen stammenden recht zweifelhaften Grundwasser und dem damals noch durch einige kleine Leitungen dargebotenen sumpfigen Alsterwasser, vorzuziehen. Auch waren schon in den fünfziger Jahren in fast allen Haushaltungen der bessergestellten Familien Stein- und Schwammfilter zu finden, die namentlich wenn infolge der nicht seltenen Frühjahrshochwasser nebst Ueberschwemmungen in Böhmen das Elbwasser tagelang merklich getrübt erschien, sich als sehr nützlich erwiesen. Mit einem Worte, die Hamburger waren zufrieden mit ihrem Elbwasser und glaubten gar nicht, daß es etwas Besseres geben könnte.

Auf den Gesundheitszustand der Hansestadt übte die Stadtwasserkunst bald einen sehr günstigen Einfluß aus. Der alte Erfahrungssatz, daß gute Wasserwerke die Reinlichkeit fördern und daher die Quelle körperlichen Gedeihens und erhöhter Arbeitskraft der Bevölkerung sind, bewährte sich auch hier. Es mag manchen befremdend anmuthen, wenn der Hamburger von dem günstigen Gesundheitszustand seiner Stadt spricht in der 1892 die Cholera so viele Opfer forderte. Für den Hygieiniker kommt aber nicht solch ein unerhörter (und, nebenbei bemerkt, auch heutzutage noch nicht genügend aufgeklärter) Einzelfall in Betracht; er urtheilt auf Grund der Sterblichkeitsziffer zu gewöhnlichen Zeiten. Während in einigen Großstädten die Zahl der wöchentlichen Sterbefälle bei je 1000 Einwohnern auf das Jahr berechnet zwischen 26 und 39 schwankt, hatte Hamburg 1893 nur Zahlen von 16 bis 17, einmal 19,2 aufzuweisen.

Daher stieß denn auch die in den siebziger Jahren vom Hamburger Medizinalkollegium auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen gemachte Wahrnehmung, daß das „rohe“ Elbwasser als Getränk nicht mehr unbedenklich sei, zunächst auf fast allgemeines Kopfschütteln. Nach und nach bildete sich indessen eine Partei, die für die Filtration eintrat. Diese Filtration war sehr gut durchführbar, das lehrte das Beispiel des benachbarten Altona, das schon seit 1859 sein bei Blankenese geschöpftes Elbwasser in eine silberklare Flüssigkeit verwandelte.

Ferner machte Hamburg ähnliche Wahrnehmungen, wie schon so manche andere Städte, die Wasser aus Flüssen und Landseen unfiltriert in ihre Röhren leiten: mancherlei Bewohner des feuchten Elementes, in erster Linie der geschmeidige Aal, machen die Wanderung ihrer Umgebung mit und verstopfen nachher die Hausleitungen in störendster Weise, zum Schaden des Geldbeutels und des Appetits der hiervon betroffenen Einwohner. Die trüben [865] Erfahrungen, die neuerdings namentlich die Berliner in dieser Beziehung machen mußten, haben bekanntlich den dortigen Witzblättern viel Stoff zu Scherzen geliefert. In gleicher Art wurde damals in Hamburg der „Wasserleitungsaal“ zum schätzbaren Dauerthema für Lokalhumoristen und Coupletdichter.

Der Verruf, in den diese Einzelart der sonst in Hamburg so geschätzten Fischgattung gerieth, die bei der Bereitung des köstlichen Nationalgerichts „Aalsuppe“ die Hauptrolle spielt, trug wesentlich dazu bei, daß endlich im Jahre 1873 die Verbesserung der Trinkwasserversorgung durch centrale Sandfiltration ernstlich ins Auge gefaßt wurde und den Gegenstand von Verhandlungen zwischen der Volksvertretung Hamburgs, der „Bürgerschaft“, und dem Senate bildete.

Sand- und Kieswäsche.

Nun wurden aber auch viele andere Besserungsvorschläge laut. Man wollte Wasser aus den holsteinischen Seen oder gar aus dem Harze nach der Stadt leiten, was sich nach langer Prüfung als technisch kaum ausführbar und in gesundheitlicher Beziehung als sehr unsicher erwies. Ferner empfahl man wegen der sehr hohen Kosten der „centralen“ Filtration, also der Reinigung des gesamten Wasservorraths an der Schöpfstelle, an deren Statt die „periphere“, d..h. die Einschaltung der Filter an den Entnahmestellen in den Wohnungen. Jedoch wurde schließlich überzeugend nachgewiesen, daß in der Praxis solche Kleinfilter kein einwandfreies Wasser liefern würden. Gegenüber der von den hervorragendsten Sachkennern eifrig befürworteten Sandfiltration riethen einflußreiche Männer zu einer angeblich vortheilhafteren Schwammfiltration. Heftige Kämpfe wegen aller dieser streitigen Fragen entbrannten in der Presse und von der Rednerbühne herab.

Da nun Moltkes Wahlspruch „Erst wägen, dann wagen“ so recht nach dem Herzen der bedächtigen Niedersachsen ist, verging noch manches Jahr, ehe man sich nach reiflicher Prüfung aller Vorschläge im Grundsatze für die centrale Sandfiltration entschied. Das war im Sommer 1888. Der Kostenpunkt belief sich nach dem damaligen Anschlage auf 7.200.000 Mark, und über die Deckung dieses Anlagekapitals durch ein neues Wasserversorgungsregulativ entspannen sich wiederum lange Redeschlachten. Erst am 9. Juli 1890 erfolgte die Einigung zwischen Senat und Bürgerschaft. Mit der Anlage der centralen Filtrationswerke auf den Wärdern „Billwärder Insel“ und „Kaltenhofe“ wurde begonnen und als Frist für die Vollendung das Ende des Jahres 1893 in Aussicht genommen.

Sandfilterbecken auf der Kaltenhofe während des Baus.

Da ward durch ein ungeahntes schreckliches Ereigniß eine jähe Beschleunigung der Arbeit veranlaßt: im Sommer 1892 warf die Cholera 16.950 Menschen auf das Krankenlager und schuf 8600 neue Gräber. Mit fieberhaftem Eifer, bei Tag und bei Nacht wurde nunmehr gearbeitet, unter rücksichtsloser Aufbietung weiterer Geldopfer von mehr als 21/2 Millionen Mark.

Auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen Koch und Pettenkofer einzugehen, ist hier selbstverständlich nicht der Ort. Aber welche Ansicht auch die richtige sein möge, nach beider Lehre war die Filtration wünschenswerth, und demgemäß wurde alles drangesetzt, um noch vor Eintritt des mit neuer Gefahr drohenden Sommers 1893 die Filtrationswerke zu vollenden. Gleichzeitig wurde für allgemeine gründliche und regelmäßig wiederkehrende Reinigung aller „Wasserkasten“, nämlich der Vorrathsbehälter in den Häusern, gesorgt, und fortan genoß jeder vorsichtige Mensch in Hamburg Elbwasser nur, wenn es abgekocht war; den ärmeren Klassen der Bevölkerung wurde es in dieser Form überall unentgeltlich geboten.

Erleichtert athmete man auf, als Ende Mai 1893 genügend Filterbecken hergestellt waren, um der gesamten Stadt das erste einwandfreie Leitungswasser zu liefern, und fort und fort pilgerten die Hamburger Bürgervereine und andere größere Gesellschaften nach der Kaltenhofe, um das bedeutende Werk zu beschauen, das bald auch aus aller Herren Ländern Besuch erhielt, da zu jetzigen schweren Bakterienzeiten die Anlage allgemeine Aufmerksamkeit erregen mußte.

Ihr Grundgedanke ist einfach und läßt sich leicht erklären, so eigenartig und nur dem Sachkenner verständlich auch die technischen Einzelheiten sein mögen. Zunächst sei erwähnt, daß die neue Schöpfstelle auf der Billwärder Insel 2400 Meter stromaufwärts von der bisherigen angelegt worden ist, um sie vor der Einwirkung der mit der Fluth elbaufwärts treibenden [866] Verunreinigungen zu schützen, die unterhalb Hamburgs mit den städtischen Abwässern der Elbe zugeführt werden.

Im Schöpfkanal, der 2,40 Meter Durchmesser hat, hält eine siebartige Vorrichtung etwaige gröbere Verunreinigungen des übrigens an dieser Stelle sehr klaren und frischen Stromwassers zurück. Das Schöpfwerk am Ende des Schöpfkanals füllt mit seinen von Dampfkraft getriebenen 5 Pumpen das Wasser in vier große Ablagerungsbecken. Jede Pumpe bewältigt bei normaler Tourenzahl (45 in der Minute) 1900 Kubikmeter in der Stunde, so daß 4 Maschinen bereits den auf 180.000 Kubikmeter festgesetzten höchsten Tagesverbrauch in 23 Stunden decken können. Es ist somit nicht nur an jedem Tage Gelegenheit, alle Maschinen in Ruhe nachzusehen, sondern auch immer eine Maschine im Rückhalt.

Jedes der vier mit festen Boden- und Böschungsflächen versehenen Ablagerungsbecken von rund 40.000 Quadratmetern Fläche und 3 Metern Tiefe faßt 120.000 Kubikmeter Wasser. Da indessen das Becken nur bis auf 1 Meter über der Sohle ablaufen kann, so gelangen nur 80.000 Kubikmeter seines Inhalts zur nutzbaren Verwendung. Die verbleibenden 40.000 Kubikmeter, in denen sich die im Rohwasser enthaltenen Senkstoffe ablagern, werden nicht auf die Filter geleitet, sondern von Zeit zu Zeit wieder abgelassen, gleichzeitig wird das leergelaufene Becken gereinigt.

Das abgeklärte Wasser wird von den Ablagerungsbecken durch einen unterirdischen kreisrunden Kanal von 2,60 Meter Durchmesser auf die Filter geleitet, deren jetzt bereits 18 mit je 7650 Quadratmetern Fläche fertiggestellt sind. Ein solches Filterbecken während des Baues wird durch die untere Abbildung S. 865 veranschaulicht. In die Bodenflächen und in die geböschten Seitenflächen ist zunächst Marschkleie und darüber eine Schicht plastischen Thones gestampft; auf dieser Unterlage ruht ein Cementmauerwerk aus harten Ziegeln. In die so befestigten, gegen Eindringen des Grund- und Drängwassers völlig sichergestellten Bassins wird das Filtermaterial eingebracht. Dies besteht zu unterst aus einer Lage von Feldsteinen und Kies von im ganzen 60 Centimetern Höhe. Auf dem Kies, dessen Korngröße in drei Abstufungen nach oben abnimmt, lagert der Filtersand in einer Höhe von einem Meter.

Sämtliches Material wird vor Einbringung in die Filterbecken aufs sorgfältigste mit filtriertem Wasser völlig rein gewaschen, und zwar in der mechanischen Sand- und Kieswäscherei, welche die obere Abbildung S. 865 darstellt. Der vorher gesiebte Sand wird in mächtigen sich drehenden Trommeln bewegt und während der Umdrehung durch feine Wasserstrahlen so lange gewaschen, bis alle Unreinigkeiten und alle zu feinen Theile entfernt sind. Der Kies und die Feldsteine werden ebenso behandelt; diese verursachen natürlich hierbei in den Eisentrommeln ein ohrenzerreißendes Getöse.

Von den 18 Filtern sind stets mehrere außer Betrieb, um einer Reinigung unterzogen zu werden. Hat die auf der Sandoberfläche sich bildende Schlammschicht eine solche Dichtigkeit erlangt, daß der Filter nicht mehr genügend Wasser liefert, so wird dieser Schlamm durch Abschaufeln entfernt und der ihm beigemengte Sand durch Waschen zu erneutem Gebrauche tauglich gemacht. Die Betriebsperioden der Filter sind bisher sehr verschieden gewesen; die kürzeste betrug 4, die längste 30 Tage. – Das Wasser wird regelmäßig bakteriologisch untersucht.

Jeder Filter liefert bei einer Filtriergeschwindigkeit von 62,5 Millimetern in der Stunde (1,5 Kubikmeter Wasser auf den Quadratmeter Filterfläche in 24 Stunden) täglich rund 11.500 Kubikmeter reines Wasser. Die Filtriergeschwindigkeit läßt sich nach Bedarf verändern. – Daß der Frost für den Betrieb offener Filter in diesen von den weichen Seewinden oft wieder erwärmten Landstrichen keine Störung bringt, zeigt das 34 Jahre alte Filterwerk der Stadt Altona. Auf den Hamburger Filterbecken befindet sich stets eine gleichmäßige Wassermenge von 1,1 Meter Höhe, und das Eis wird selbst in den strengsten Wintern nur 30–35 Centimeter dick. Zur Eiszeit ist das Stromwasser reiner als in den wärmeren Monaten.

Nach der Filtration läuft das nunmehr krystallklare Wasser aus den Filtern in unterirdischen Kanälen nach den Pumpwerken auf Rothenburgsort. Ein Theil des Wassers wird daselbst in einem überwölbten Reinwasserbecken aufgespeichert. Die Einrichtung dieses Beckens ist aus unserer Abbildung S. 864 (nach einer während des Baues aufgenommenen Photographie) ersichtlich. Dies gewölbte Sammelbecken dient übrigens nur dem Ausgleich, denn die Filter arbeiten zwar ununterbrochen Tag und Nacht gleichmäßig fort, aber der Verbrauch ist selbstverständlich zu den verschiedenen Tageszeiten verschieden, in der Nacht nur gering, und daher bietet jener Vorrath eine Gewähr für gleichmäßige Versorgung. Große Pumpwerke in Rothenburgsort drücken das Wasser endlich in die nach der Stadt führenden eisernen Rohre.

Unsere Hauptabbildung S. 857 gewährt eine von der Plattform des 73 Meter hohen Rothenburgsorter „Wasserthurms“ aufgenommene Uebersicht der gesamten Anlage. Man erkennt daraus, daß jedes Filterbecken zwei zierliche Brunnenhäuschen besitzt, etwa 8 Meter hoch, in denen durch Ventile und Schieber Zufluß und Abfluß des Wassers geregelt wird. In ziemlich weiter Ferne, welche die Ablagerungsbecken trotz ihrer Größe verschwimmen läßt, ist das Maschinenhaus an der Schöpfstelle eben noch erkennbar.

Die Reinigung des Röhrennetzes von Thierchen und Pflänzchen hat sich, wie man auf Grund der in anderen Städten gemachten Erfahrungen vorhersehen konnte, in der Hauptsache durch das filtrierte Wasser selbst in verhältnißmäßig kurzer Zeit vollzogen; sie ist durch kräftige Spülungen und Auskratzen der Rohre unterstützt worden. Ob der letzte Aal den letzten Krebs gefressen oder umgekehrt, blieb dunkel, doch das war Sache dieser Herrschaften, die sie unter sich ausmachen mußten.

Alles in allem: Hamburg, das an der Aufrichtung zuverlässiger Schutzwehren gegen eine Wiederkehr der schrecklichen Seuche mit Eifer und unter Aufbietung schwerer Kosten arbeitet, besitzt nunmehr in seiner Centralfiltration ein Werk, das allen nur irgendwie zu stellenden Anforderungen entspricht und das von den berufensten Richtern als mustergültig bezeichnet wird. Dem obersten technischen Leiter des Hamburgischen Staatsbauwesens, Oberingenieur Franz Andreas Meyer, der die Anlage geplant, gefördert und schließlich durch rastlose aufopfernde Thätigkeit der eigenen Person wie seiner Untergebenen in fast unglaublich kurzer Zeit vollendet hat, gebührt der wärmste Dank seiner Mitbürger.


Etwas von der Mode.

Glaube nicht, liebe Leserin, daß die „Gartenlaube“ jetzt auch ihre Spezialkorrespondentin nach Paris entsendet habe, um nach gewissenhaftem Studium der dortigen „Ateliers“ dem staunenden deutschen Gemüth zu verkünden, welche „Schöpfungen“ von „ombrierten“ Seidenstoffen mit dreifacher „changeant“-Wirkung, goldgestickten Tuchkleidern, edelsteinbesäten Ballroben, nie dagewesenen Hutformen und kostbarsten Pelzbesätzen in dieser Saison für unerläßlich gelten – lauter Dinge, die für eine deutsche Frau mit 300 Mark jährlichem Toilettengeld ebenso belehrend als nützlich zu lesen sind; wobei natürlich die Sage von der bereits unter dem Namen des Glockenrocks am hellen Tag wandelnden Krinoline nicht vergessen wird, so wenig wie die tröstliche Kunde, daß die Aermel diesen Herbst wieder um zwei Meter in der Weite zugenommen haben, so daß sie jetzt einer stattlichen Landsknechtspluderhose wirklich immer ähnlicher werden.

Nichts von alledem! Die Veranlassung zu diesen Zeilen ist der Brief einer Leserin, welche aus sorgenvollem Hausfrauenherzen sich darüber beklagt, daß durch den unerhörtesten Modewechsel die Kleider und Mäntel des vorigen Jahres nicht mehr zu tragen seien. Wenn man den betreffenden Stoff zufällig noch auftreibe, könnten die Stücke allenfalls durch kostspielige Aenderung noch gerettet werden, sonst seien sie werthlos, wenn man nicht den Muth habe – und die wenigstens hätten ihn – durch veraltete Toilette aufzufallen. Hier drohe geradezu eine wirthschaftliche Kalamität für Familien mit kleinem Einkommen, die unter dem Zwang der Mode zu unverhältnißmäßigen Ausgaben genöthigt würden. Wie also hier abhelfen? Das sei die große Frage.

Ein gutes englisches Sprichwort sagt: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.“ Fassen wir also den ersteren und schauen wir uns nach dem letzteren um!

Der „launischen Göttin Mode“ selbst Vernunft predigen zu wollen, wird niemand im Ernst einfallen, sie ist, wie der Schnupfen, unheilbar, aber vorübergehend. Diesen „Vorübergang“ zu beschleunigen, ist schon eher möglich. Wenn eine große Anzahl von Frauen die ärgsten Ausgeburten der Schneiderphantasien einfach ablehnt, wie es im vorigen Jahr den versuchsweise eingeführten Empirekostümen mit kurzer Taille und engem Röckchen erging, so verschwinden sie bald wieder von der Bildfläche. Und wo steht denn geschrieben, daß wir die abscheulichen, ungraziösen, unpraktischen Ballonärmel in ganzer Größe wider unsern besseren Geschmack tragen müssen? Die einfache Weisung an die Schneiderin: „Machen Sie mir keine solchen Ungethüme, ich trage sie nicht!“ würde doch genügen, [867] auch den neu angefertigten einen bescheideneren Umfang zu sichern, wie sie thatsächlich von einer Menge modern gekleideter Damen getragen werden, welche, dank der heutigen großen Freiheit, sich nach eigenem Geschmack zu kleiden, die Mode mehr markieren als eigentlich mitmachen. Mit solchen gemäßigten Bauschärmeln aber schlüpft man ganz leicht in ein vor- und vorvorjähriges Jackett hinein. Denn der vollständige Façonwechsel vollzieht sich – und hier ist unsere gute Hausmutter im Irrthum – frühestens alle drei Jahre. So lange ist es bereits, daß wir hohe Aermel tragen, so lange sind auch Kutscherkragen und Capes im Schwange, welche die Schultern so schön verbreitern und die Figur so vortheilhaft verkürzen. Wer sich diese also damals anschaffte, kann noch heute mit Hochgefühl darin wandeln, selbst einem ehrwürdigen Paletot von fünf Jahren verleiht ein neu aufgesetzter Faltenkragen den Schein der Modernität. Und wie leicht und gefällig vermögen heute geschickte Hände ein ganz altmodisches Kleid mit glatter Taille und engen Aermeln durch eine aufgesetzte Draperie von Puffen und Volants in abstechender Farbe oder von Spitzen zum eleganten umzuwandeln!

Hier thut sich nun mit einem Male der gesuchte Weg ganz von selber auf. Diese Veränderungen sind nicht kostspielig, wenn die eigenen Hände der Frauen und Mädchen sie machen. Und im heutigen Zeitalter der Nähmaschine kann jeder Hausvater mit kleinem Einkommen verlangen, daß Frau und Töchter dieselbe zur Schneiderei benutzen, zu der einzigen Hausindustrie, die heute mehr lohnt als jemals, während durch das Wegfallen vieler anderer eine Menge freier Zeit besonders für die Haustöchter entstanden ist. Allzu viel wird diese Zeit auf der Straße mit dem Weg zu Besuchen und kleinen Besorgungen zugebracht; unsere in der Familie lebenden Mädchen sollten gleich ihren dem Studium und dem praktischen Erwerb nachgehenden Mitschwestern zu täglicher, ausgiebiger Arbeit im Haus und für die Ihrigen verpflichtet sein. Malen, Sticken, Holzbrennen und dergleichen Tändeleien thun es nicht: Erwerb oder Ersparniß durch produktive Thätigkeit heißt heute die Losung für die Frauenwelt des Mittelstandes. Und: „Geschicklichkeit ist keine Hexerei“ gilt ganz besonders für die heute überall zu lernende häusliche Schneiderkunst, die im töchterreichen Hause eine so große Ersparniß zu erzielen vermag!

Es steht also, trotzdem die Mode seit den letzten Jahrzehnten viel rascher wechselt als früher, nicht gar so schlimm mit ihrem unerbittlichen Zwange. Wenn man sich wie die erfahrenen Pariserinnen der Mittelklasse auf wenige gut gemachte Kleider beschränkt, die immer zwei Jahre unverändert zu tragen sind, ferner zu jedem neuen Kleid zwei Meter Stoff als Vorrath für Veränderungen kauft und bei der Wahl von Mänteln und Hüten die excentrischen Formen, die oft sehr kurzlebig sind, vermeidet, so ist es auch heute möglich, mit bescheidenen Mitteln hübsch und geschmackvoll gekleidet zu sein, ohne jemals ein noch ziemlich neues Stück als unbrauchbar beiseite legen zu müssen. Sind aber an einem älteren die Hüften nicht ganz so glatt, die Aermel nicht ganz so bauschig, die Rockfalten nicht ganz so glockenförmig, wie das moderne Ideal der in Dreiecken übereinander gipfelnden Persönlichkeit es verlangt – dann, liebe Leserin, tröste dich mit einem vorzüglichen Spruch, den meine gute Mutter anzuwenden pflegte, so oft unsere jugendliche Eitelkeit das Fertigtragen eines älteren Gewandstückes für unmöglich erklärte.

„Da sehen die Leute nur, daß Ihr auch schon vor drei Jahren ein gutes Kleid gehabt habt!“ sprach sie gemüthsruhig, und dabei hatte es sein Bewenden. Sollte es ganz unmöglich sein, modernen Töchtern etwas Aehnliches zur Antwort zu geben? R. Artaria.     


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Zur Geschichte des Zündhölzchens.

Von C. Falkenhorst.

Wollte man die Zündhölzchen, die täglich verbraucht werden, zusammenzählen, man würde ungeheuere Summen, sicher mehr als eine Milliarde erhalten. Um den Riesenbedarf an den kleinen Hölzchen, die so rasch in Feuer und Flammen aufgehen, zu decken, sind zahlreiche Fabriken diesseit und jenseit des Oceans mit Dampfbetrieb und rasselnden Maschinen thätig, und wir sind so verwöhnt, daß wir in den feuerbergenden Hölzchen nichts besonderes erblicken, uns ärgern, wenn einmal eins von ihnen versagt, ein Köpfchen zischend abspringt oder das Holz nach dem Erlöschen der Flamme fortglimmt.

Wir müssen eigentlich unter die Wilden gehen, um die Zündhölzchen bewundern zu lernen. Da hält der weiße Reisende im „dunkelsten“ Afrika, umringt von schwarzen Naturkindern, die zum ersten Male in eines Kulturmenschen Angesicht schauen. Ohne arge Absicht zieht er eine Schwedenschachtel hervor, um seine Cigarre anzustecken; eine leise Handbewegung und die Flamme lodert; aber siehe da – die schwarze Zuschauermenge prallt voll Entsetzen zurück und flieht mit dem Rufe: „Zauber, Zauber!“

Und diese Neger sind eigentlich keine Wilden; auch sie sind Herren des Feuers, an dem sie sich wärmen und mit dessen Hilfe sie Metalle gewinnen, Eisen erzeugen und schmieden; aber sie erzeugen das Feuer noch in der früheren umständlichen Weise, indem sie entweder Stahl gegen Feuerstein schlagen oder gar in der mühseligen Art grauer Vorzeit dürre Hölzer aneinander reiben. Da perlt mancher Schweißtropfen zur Erde nieder, bevor die ersehnte Flamme erscheint, und obendrein gelingt es nicht immer. Der Weiße aber erzeugt das Feuer spielend, im Augenblick.

Bei den lebhaften Erörterungen über die Erfindung des Zündhölzchens, welche vor kurzem durch die Zeitungen gingen, wird es den Lesern willkommen sein, die Geschichte des wunderbaren Feuerspenders im Zusammenhang kennenzulernen.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts entdeckten die Chemiker eine Anzahl von Körpern, die sich unter verschiedenen Umständen viel leichter als dürres Holz oder Schwamm entzündeten, und da die Naturforscher der Neuzeit zumeist praktische Leute waren, so verfielen sie auf den Gedanken, diese Stoffe zur leichteren Gewinnung des Feuers zu verwerthen. Sie hatten z. B. gefunden, daß das chlorsaure Kali, das heute so oft zu Gurgelungen bei Halsleiden benutzt wird, sich zersetzt und brennbare Stoffe entzündet, sobald es mit konzentrierter Schwefelsäure in Berührung kommt.

Auf diese Wahrnehmungen gründete man die ersten brauchbaren Zündhölzchen. Ein Stückchen Holz wurde an der Spitze mit einem Ueberzug von Schwefel versehen und darüber eine Masse aus Gummi und chlorsaurem Kali gebracht. Tauchte man nun das „Köpfchen“ des Holzes in konzentrierte Schwefelsäure, so verpuffte das chlorsaure Kali, entzündete den leicht brennbaren Schwefel, und dieser theilte dem Holze die Flamme mit. Das waren die sogenannten Tauch- oder Tunkzündhölzchen, die bereits im Jahre 1812 hergestellt wurden und sich einer großen Beliebtheit erfreuten. Die Schwefelsäure hielt man in Fläschchen bereit, von deren Stöpseln Asbestfäden in das Innere hinabhingen, welche auf diese Weise mit der Säure getränkt wurden. Wollte man nun Feuer haben, so zog man den Asbestfaden heraus und drückte an ihn das Köpfchen des Zündhölzchens, worauf die Entzündung stattfand. Es leben noch viele alte Leute unter uns, die sich in ihrer Jugend der Tunkhölzer in der oben beschriebenen oder einer anderen Ausstattung bedient haben. So wurde das chlorsaure Kali zum Feuerspender der Menschheit.

Inzwischen entdeckte man an diesem Salze noch andere sehr wichtige Eigenschaften. Mischte man es mit verschiedenen Stoffen, wie z. B. mit Schwefelantimon, so entstand daraus ein Gemenge, das bei Stoß oder kräftiger Reibung unter Flammenentwicklung explodierte. Der Württemberger Joh. Friedr. Kammerer soll der erste gewesen sein, der 1832 auf den Gedanken kam, dieses Gemenge zur Herstellung von Zündhölzchen zu verwenden. Er versah das eine Ende des Hölzchens mit einem Schwefelüberzug, bereitete eine klebrige Masse aus 50 Theilen Gummiarabikum, 10 Theilen chlorsaurem Kali und 20 Theilen Schwefelantimon, tauchte das Schwefelende der Hölzer in diese Mischung und ließ das Ganze trocknen. Das Entzünden dieser neuen Feuerzeuge war noch etwas umständlich; man nahm ein Blatt Sand- oder Glaspapier, faltete es zwischen den Fingern zusammen, steckte das Hölzchen dazwischen und rieb es hin und her, indem man das Papier mit den Fingern zusammendrückte. Die Erfindung war noch nicht vollkommen; die Köpfchen versagten recht oft oder sprangen ab, da die Explosion zu heftig war. Immerhin aber war den Zündwarenfabrikanten, deren Zahl schon damals beträchtlich war, der richtige Weg gezeigt, und im allgemeinen gilt Kammerer als der Begründer der Zündhölzchenindustrie.

Außer dem chlorsauren Kali war aber noch ein anderer Körper berufen, den Menschen die Kunst des Feuererzeugens zu erleichtern; es war dies der Phosphor. Der reine Phosphor ist ein weißer Körper, der sich an der Luft bereits entzündet, wenn

[868] er auf nur 50° C. erwärmt wird. Diese Wärme wird nun mit Leichtigkeit schon bei einer gelinden Reibung an einer rauhen Fläche erzeugt, und man war bald darauf gekommen, den leicht entzündbaren Körper zur Herstellung von Feuerzeugen zu benutzen. In der That wurden derartige Versuche schon in den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts angestellt, aber die ersten Phosphorfeuerzeuge waren höchst unvollkommen und gefährlich; man sollte reinen Phosphor unter Wasser in Fläschchen aufbewahren, dann stückchenweise hervorholen und schließlich durch Verreibung auf Leder entzünden.

Als nun Kammerer von der ersten Mischung, die er zur Herstellung der Köpfchen für seine Zündhölzchen erdacht hatte, nicht befriedigt wurde, stellte er eine neue her, in welcher neben chlorsaurem Kali noch Phosphor enthalten war. Die Zündhölzchen versagten jetzt nicht mehr; denn der Phosphor entzündete sich selbst bei gelinder Reibung und zersetzte das chlorsaure Kali, welches dabei den nöthigen Sauerstoff lieferte, um den Schwefel zu entzünden und eine lebhafte Verbrennung möglich zu machen. Die Idee fand Anklang, und in Wien entstanden unter Leitung von Stephan Römer und J. Preshel die ersten größeren Fabriken, welche Phosphorhölzchen lieferten.

Aber auch diesen Hölzchen hafteten schwere Mängel an. Die Mischung von Phosphor und chlorsaurem Kali explodiert mit solcher Gewalt, daß man mit ihr Bomben füllen könnte, und so kam es, daß bei der Fabrikation viele schwere Unfälle sich ereigneten und das Verfahren in vielen Ländern verboten wurde. Die neuen Zündhölzchen waren wilde Gesellen, die erst gezähmt werden mußten, und diese Zähmung gelang schließlich den Wiener Fabrikanten, indem sie das chlorsaure Kali in der Köpfchenmasse durch Stoffe ersetzten, die langsamer Sauerstoff abgaben, durch Mennige, Bleisuperoxyd oder guten Braunstein. Damit war die erste Stufe der Vollendung in der Herstellung der Zündhölzchen erreicht; die Welt erhielt Phosphorhölzchen, wie sie noch heute gemacht werden, und sie verdankt dieselben vor allem den deutschen und österreichischen Erfindern Kammerer, Preshel und Römer.

Aber die Menschen sind nun einmal anspruchsvoll, und so hatten sie auch an den ersten brauchbaren Zündhölzchen vieles auszusetzen. Der Gestank, den der Schwefel beim Verbrennen erzeugt, störte sie, und dem wurde auch insofern Rechnung getragen, als man für feinere Ware den Schwefel durch Paraffin ersetzte, in welches die Hölzchen getaucht wurden, bevor man das Köpfchen anbrachte. Viel wichtiger war aber ein anderer Einwand: der weiße Phosphor ist ein heftiges Gift, eine geringe Anzahl von Köpfchen genügt, um einen Menschen ums Leben zu bringen, und in der That griffen Gift- und Selbstmörder vielfach zu den leicht zugänglichen Hölzchen. Unter den Phosphordämpfen, die sich während der Verarbeitung entwickelten, hatten auch die Arbeiter schwer zu leiden, indem bei ihnen die Knochen des Ober- und Unterkiefers abstarben, die „Phosphornekrose“ der Knochen entstand. „Gifthöhlen“ nannte man die Zündholzfabriken, und am schlimmsten sah es dort aus, wo der kleine Mann die Herstellung der Hölzchen als eine Art Hausindustrie betrieb.

Wie betrübend diese Thatsachen auch waren, so konnten doch die Fabrikanten auf die Verwendung des Phosphors nicht verzichten, und die Welt hatte sich derart an die Zündhölzchen gewöhnt, daß ein Verbot der Anfertigung geradezu undenkbar war. Die Regierungen waren darum bestrebt, die Uebelstände wenigstens zu mildern, und erließen Verordnungen, durch welche die Phosphorvergiftung in den Fabriken verhütet werden sollte. Es sollte für Reinlichkeit, für gründliche Lüftung der Arbeitsräume Sorge getragen werden, die Verwendung des Phosphors wurde beschränkt; so dürfen z. B in Deutschland in der Zündholzmasse nur 8% weißen Phosphors enthalten sein. Völlig konnte dadurch dem Uebelstande nicht abgeholfen werden, und noch im Jahre 1891 haben sich die Schweizer Fabrikinspektoren ohne Ausnahme dahin ausgesprochen, daß selbst die genauesten Vorschriften über den Bau und den Betrieb der Zündwarenfabriken nicht genügen, um Erkrankungen an Nekrose zu verhüten, und daß dies nur durch eine gänzliche Beseitigung des weißen Phosphors zu erreichen wäre.

So forderte wie die meisten Errungenschaften der Kultur auch das Zündhölzchen alljährlich seine Opfer, obwohl wir zur Ehre der deutschen Industrie hervorheben müssen, daß sie alles dransetzt, um die Arbeiter vor den mit der Fabrikation verbundenen Gefahren zu schützen. Die Phosphorvergiftungen sind in unseren Fabriken gottlob selten geworden, denn nach amtlichen Berichten ergaben sich für ganz Deutschland im Jahre 1887 nur 8 und im Jahre 1888 nur 3 Nekrosefälle, während im Jahre 1886 gar keine derartige Erkrankung vorgekommen war.

Im Jahre 1845 hat Lorinser in Wien zum ersten Male auf die bis dahin unbekannte Phosphorvergiftung aufmerksam gemacht. Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß zu derselben Zeit und in derselben Stadt der schon genannte Römer eine Entdeckung machte, welche berufen war, später eine Umwälzung in der Zündhölzchenfabrikation zu bewirken und den gefährlichen weißen Phosphor entbehrlich zu machen. Indem Römer den Phosphor längere Zeit auf 240° bis 250° C. erhitzte, erhielt er eine neue Form desselben, eine rothbraune, völlig unkrystallinische Masse, die sich an der Luft nicht verändert, erst bei 250° C. entzündet und völlig ungiftig ist. Das ist der „amorphe“ oder „rothe Phosphor“.

Römer und Preshel stellten sogleich Versuche an, ob man durch den neuen Körper nicht den weißen Phosphor in den Zündhölzern ersetzen könnte. Sie fanden nun, daß ein Gemenge von chlorsaurem Kali, Schwefelantimon und amorphem Phosphor durch Reibung an einer rauhen Fläche sich wohl entzünde. Aber der Erfolg glich demjenigen, den Kammerer bei seinen ersten Zündhölzchen erlebt hatte, die Masse explodierte mit solcher Heftigkeit, daß das Köpfchen mit lautem Knall zersprang und brennende Massen umherflogen. Die Zähmung dieser Mischung wollte nicht gelingen.

Etwas später, gegen das Jahr 1850, trat der deutsche Chemiker Böttger mit einer sehr wichtigen Neuerung auf, welche den Beginn einer neuen Aera in der Zündholzfabrikation bedeutete. Er setzte die Köpfchenmasse aus chlorsaurem Kali und Schwefelantimon zusammen, indem er Gummi als Bindemittel benutzte, und stellte eine besondere Reibfläche her, die aus einem Anstrich bestand, der amorphen Phosphor enthielt. Strich man nun das Köpfchen über diese Masse, so entzündete sich infolge der Reibung hier und dort ein winziges Theilchen des amorphen Phosphors, dieses Fünkchen setzte wieder ein Theilchen des Zündholzköpfchens in Brand und löste die Explosion der ganzen Mischung von chlorsaurem Kali und Schwefelantimon aus.

Das waren also „schwedische“ Sicherheitszündhölzchen, die in Deutschland schon in den fünfziger Jahren in mehreren Fabriken nach der Böttgerschen Anweisung hergestellt wurden, aber damals gegen die Phosphorhölzer nicht aufkommen konnten. Man hatte sich an die letzteren gewöhnt, sie ließen sich so bequem anzünden; wenn die Reibfläche verloren ging, so genügte ein Strich an der Wand oder der Hose, um Feuer zu erlangen. Bei den neuen Hölzchen mußte man stets die Reibfläche mit amorphem Phosphor mit sich führen; war diese abgenutzt, so waren die Zündhölzchen unbrauchbar; denn sie versagten, wenn man sie an einer beliebigen rauhen Fläche rieb.

Allein im Anfang der sechziger Jahre wurde der hohe Werth der deutschen Erfindung anderswo erkannt. Der schwedische Ingenieur Lundström gründete die berühmte Fabrik in Jönköping. Die Masse der Zündköpfchen und der Streichfläche blieb die alte, aber die Schweden ersannen eine praktische Verpackung, lieferten die Hölzchen in den kleinen bequemen Schiebeschachteln, und so fiel das Haupthinderniß einer weiteren Verbreitung weg. Die „schwedischen Zündhölzchen“, wie sie jetzt allgemein genannt werden, entzünden sich nicht so leicht von selbst wie die alten Phosphorhölzer, sie sind darum feuersicherer und die Kinder können mit ihnen nicht so leicht Brände stiften; ferner sind sie giftfrei. Vor allem aber sind diese Sicherheitshölzchen als eine wahre Wohlthat für die Arbeiter in Zündwarenfabriken zu betrachten; denn der rothe Phosphor ruft keine Phosphornekrose hervor.

Kein Wunder also, daß die „Schweden“ einen förmlichen Siegeszug durch die Welt antraten, in Europa, Amerika eine Heimstätte fanden und selbst nach Asien und Australien, ja in den „dunklen“ afrikanischen Welttheil vordrangen. Während ihrer Blüthezeit stellte die Jönköpinger Fabrik jährlich Zündhölzchen im Werthe von 4 Millionen Mark her; bald sind ihr freilich in den verschiedensten Gegenden Nebenbuhlerinnen erwachsen, und namentlich in Deutschland besitzen wir eine Anzahl von Werkstätten, aus denen vorzügliche Böttgersche Sicherheitshölzer in schwedischer Ausstattung hervorgehen. Sie haben sich derart eingebürgert,

[869]

Gutenberg auf dem Reichstag zu Mainz.
Scene aus Rudolf von Gottschalls neuem Schauspiel „Gutenberg“.
Nach der Aufführung im Leipziger Stadttheater gezeichnet von O. Gerlach.

[870] daß sie den alten Phosphorhölzchen die Lebensbedingungen schwer machen und einige Staaten sich überhaupt mit der Absicht tragen, die Verwendung des giftigen weißen Phosphors zur Herstellung von Zündhölzchen gänzlich zu verbieten.

Damit hat jedoch das Zündhölzchen die höchste Stufe seiner Vollkommenheit sicher noch nicht erreicht. Es steht ihm noch eine dritte glorreichere Entwicklungsepoche bevor. Es ist doch ein Mangel, daß das Sicherheitshölzchen sich nur an der präparierten Reibfläche der Schachtel entzündet. Immerfort strebt man einem höheren Ziel entgegen, nämlich dem, giftfreie Zündhölzchen zu schaffen, die sich ebenso leicht wie die Phosphorhölzchen an jeder rauhen Fläche entflammen lassen. Zweifellos wird dies auch gelingen. Betrachten wir nur die Köpfchen der „Schweden“! Wenn man behauptet, daß sie sich nur an der dunklen Fläche der Schachtel entzünden, so ist das streng genommen eine Uebertreibung. Die ersten Zündhölzchen Kammerers bestanden ja auch aus einem Gemenge von chlorsaurem Kali und Schwefelantimon und wurden, wenn auch mit Schwierigkeit, an rauhen Reibflächen angebrannt. Wir können auch die Köpfchen der „Schweden“ auf einer nicht zu harten Papierunterlage, z. B. auf dem Umschlag eines Schreibheftes, anbrennen, wenn wir mit einigem Nachdruck und einer gewissen Schnelligkeit darüber streichen. Die Chemie kennt aber noch eine Reihe anderer Körper, die sich durch Reibung leichter als dieses Gemenge entzünden, so z. B. das unterschwefligsaure Bleioxyd oder pikrinsaures Kali. Von Natur sind dies wilde Gesellen, die so rasch explodieren und verbrennen, daß die entstandene Flamme keine Zeit hat, das Hölzchen selbst zu entzünden; aber es wird dem Menschen wohl noch glücken, die Unbändigen zu zähmen, wie das bei so vielen anderen Explosionskörpern der Fall war. Dem Scharfsinn der Erfinder ist somit auf dem Gebiete der Zündwarenfabrikation noch immer ein dankbares Feld vorbehalten.

Wir haben bis jetzt nur die chemische Seite der Zündhölzchenfrage betrachtet; nicht minder wichtig ist aber die Entwicklung der Technik in der Herstellung der winzigen Feuergeber. Die Zeiten sind dahin, wo der kleine Mann mit wenigen Apparaten Zündhölzchen zu Hause oder in einer einfachen Werkstätte mit Gewinn herstellen konnte. Heutzutage haben die Maschinen auch auf diesem Felde den Sieg über die Handarbeit davongetragen und sie sind auch allein imstande, die ungezählten Milliarden der Hölzer zu liefern, die wir alljährlich verbrennen.

Man muß hinauswandern in waldreiche Gebiete, um diesen Zweig der menschlichen Thätigkeit in seiner vollen Leistungsfähigkeit kennenzulernen, um mit Staunen wahrzunehmen, wieviel Scharfsinn nöthig war, um uns das Zündhölzchen in glatter, tadelloser Gestalt für so billiges Geld liefern zu können. In Deutschland blüht die Zündwarenindustrie vor allem in den Waldgegenden Bayerns und im Harz, wo auch – in Garmisch und in Clausthal – besondere Fachzeitschriften für die Zündwarenindustrie erscheinen.

Das beste und schönste Holz für unsere Ware liefert die Espe; aber sie könnte allein den Bedarf nicht decken, und so wird auch Fichten- und Tannenholz vielfach zur Bereitung von Zündhölzchen verwendet. In den ersten Zeiten, als das Zündhölzchen sich Geltung errang, hobelten fleißige Männer aus Holzscheiten den feinen „Holzdraht“, wie die runden Hölzchen heißen. Gegenwärtig sind die Holzdrahtmaschinen so vervollkommnet, daß eine einzige bis 6 Millionen Hölzer während eines zehnstündigen Arbeitstages zu liefern vermag. Der gehobelte Holzdraht eignet sich aber wenig zu Zündhölzchen, deren Köpfchen keinen Phosphor enthalten, und man hat darum zur Herstellung der schwedischen Hölzer ein neues Verfahren ersonnen, wobei man die Hölzchen durch Schälen gewinnt.

Da liegen vor uns die geraden Stämme der Waldbäume, sehen wir zu, wie sie in Millionen Hölzchen zersplittert werden! Zunächst wird das Stammholz entrindet und dann mittels der Kreissäge in Klötze von etwa 40 cm Länge zerlegt. Nun wandern die Klötze in einen Apparat, in dem sie ausgekocht oder „gedämpft“ werden. Mit mächtigen Zangen wird darauf das Holz aus dem Brühbottich herausgeholt und im heißen Zustande in eine Schälmaschine eingespannt. Hier wird es um seine Achse gedreht und trifft auf ein scharfes Messer, das ein zusammenhängendes Holzband von der Dicke eines Streichhölzchens von ihm abschält; gleichzeitig wird dieses Band in etwa 5 cm breite, also der Länge eines Zündhölzchens entsprechende Streifen zerschnitten. Diese Maschinen vermögen während eines Arbeitstages 4000 Quadratmeter Holzspan zu liefern, aus dem 15 Millionen Hölzchen bereitet werden können; dabei beträgt ihr Kraftbedarf nur 2 Pferdestärken und an Bedienung erfordern sie nur einen Mann.

Die schmalen Holzbänder wandern nun in eine „Abschlagemaschine“, welche der gewöhnlichen Häckselmaschine ähnlich ist. Durch einen einfachen Mechanismus werden 50 bis 70 übereinander gelegte Holzbänder langsam vorwärts gerückt und kommen unter ein scharfes Messer, das sie in Hölzchen von der gewünschten Dicke zerlegt. Die abgetrennten Hölzchen fallen auf ein Band ohne Ende und werden von diesem in die Trockenräume befördert. Es giebt Abschlagemaschinen, die, von einem Mann und einem Jungen bedient, bis zu 28 Millionen Hölzchen im Tage liefern.

Wir möchten gleich an dieser Stelle bemerken, daß auch die Schachteln zu schwedischen Zündhölzchen mit Hilfe verschiedener Maschinen angefertigt werden. Eine Beschreibung derselben würde uns zu sehr in das Technische führen, nur über ihre Leistungsfähigkeit werden einige Mittheilungen willkommen sein.

Die erste Maschine ist eine Schälmaschine und liefert täglich 3000 Quadratmeter Schachtelspan, woraus man 200000 Schachteln machen kann. Die zweite Maschine theilt den Schachtelspan auf genaue Schachtelbreite und liefert 300 000 bis 400 000 Holzstückchen, aus welchen Schachteln geklebt werden können. Auch diese Klebearbeit besorgt eine Maschine. Die Außenschachtel oder die „Hülse“ wird bekanntlich durch blaues Papier zusammengehalten. Dieses Papier wird in endlosen Streifen von 56 mm Breite von einer seitwärts stehenden Rolle der Maschine zugeführt, und diese besorgt das Abschneiden, Kleben, Biegen etc. selbstthätig, bedarf zu ihrer Bedienung nur eines Mädchens und liefert im Tag 36 000 Hülsen. Eine andere Maschine fertigt die Schieber oder Einschiebsel für die Schwedenschachteln und liefert in ähnlicher Weise 25000 Schieber in 10 Stunden. Nun müssen noch die Schachteln auf beiden Schmalseiten mit der Anstrichmasse versehen werden. Auch dafür giebt es eine Maschine, die täglich 120000 bis 150000 Schachteln mit dem Anstrich versieht, und zwar sauberer und genauer, als dies die Menschenhand vermöchte. Endlich ist noch eine Maschine für das Aufkleben des Firmaschildchens da, welche im Tag 40 000 bis 50 000 Schachteln etikettiert und dabei mit dem Kleister sparsamer umgeht als ein Arbeiter.

Und nun bedenke man noch, daß diese Maschinen heutzutage in Tausenden von Exemplaren in der Welt verbreitet sind, dann wird man sich einen Begriff machen können von der Bedeutung, welche die Zündhölzchenindustrie in unserer Zeit erlangt hat.

Doch kehren wir zu unseren Hölzchen zurück, die wir im Trockenraume gelassen haben, und die nunmehr mit dem feuerbergenden Köpfchen versehen werden sollen! Bevor dies geschieht, müssen die Spitzen der Hölzchen mit leicht entzündbaren Stoffen, wie Schwefel, Paraffin oder Stearin getränkt werden. Zu diesem Zwecke werden sie in die betreffenden erwärmten Stoffe getaucht oder „getunkt“. Schon im Anbeginn der Geschichte des Zündhölzchens sah man ein, daß man nicht vorwärts kommen würde, wenn man die Hölzchen einzeln mit der Hand eintauchen wollte, und erfand den Tunkrahmen. Es sind dies dünne Brettchen, die mit einer Reihe gleichlaufender Einschnitte versehen sind. In diese Rinnen legte man die Hölzchen, und da die Rinnen seicht waren, so ragte der Holzdraht über sie hervor. Die gefüllten Brettchen schichtete man auf einem Gestell übereinander und preßte sie zusammen, so daß ihr Inhalt fest eingeklemmt wurde. Aus solchem Rahmen starrten mehrere Hunderte oder Tausende von Hölzchen nebeneinander hervor, die dann alle zusammen in die Tunkmasse gebracht werden konnten.

Früher wurde das Einlegen der Hölzchen in die Rahmen von Arbeiterinnen besorgt, welche darin eine so große Fertigkeit erlangten, daß sie an einem Arbeitstage bis 200000 Hölzchen in die Rahmen faßten. Aber auch für diese mühselige Arbeit hat man später Maschinen ersonnen, mit deren Hilfe heute eine Arbeiterin während eines Arbeitstages etwa anderthalb Millionen Hölzchen in den Rahmen zu bringen vermag.

Dagegen ist es bis jetzt nicht gelungen, die wichtige Arbeit des Eintunkens in die Zündmasse durch Maschinen besorgen zu lassen; hier muß noch immer die menschliche Hand eingreifen.

Sind nun die Hölzchen mit den Köpfchen versehen, so wandern sie wieder in Trockenräume, in welchen sie verbleiben, bis sie [871] alle Feuchtigkeit verloren haben; dann müssen sie aus dem Rahmen befreit, „abgelegt“, und in Schachteln verpackt werden. Dieser Theil der Arbeit, der mit Brandgefahr verbunden ist, mußte bis vor nicht langer Zeit gleichfalls durch die menschliche Hand besorgt werden; jetzt hat man Auslegemaschinen ersonnen, welche die Hölzer den geöffneten Rahmen entnehmen und geordnet in größere Kasten fallen lassen, aus welchen sie dann in kleinere Schachteln umgepackt werden. Eine solche Auslegemaschine neuester Bauart vermag bis zu drei Millionen Hölzchen an einem Tage den Tunkrahmen zu entnehmen, und dabei arbeitet sie, wie die Erfahrung gelehrt hat, bei weitem feuersicherer als der Mensch.

In allerjüngster Zeit hat der Schwede Lundgrenn, der schon durch seine Maschinen zur Herstellung der Schwedenschachteln berühmt geworden war, noch eine Maschine erfunden, welche die leeren Schwedenschachteln mit Hölzchen füllt und die Schachteln geschlossen abliefert. Man braucht weiter nichts zu thun, als nur die Behälter der Maschine mit Zündhölzchen und Schachteln zu füllen, und empfängt von ihr in 10 Stunden 25.000 wohlgefüllte Schachteln!

Wir sehen, das kleine Zündhölzchen, das rasch vergängliche, hat eine ruhmreiche Geschichte; es ist eine bewundernswerthe Leistung des Menschengeschlechts; in ihm steckt eine ungeheure Summe scharfsinniger Geistesarbeit. Der Neger hat recht, wenn er beim Anblick des seltsamen Dinges, das Licht und Feuer sprüht, ausruft, es sei ein Zauber; denn das kleine Hölzchen übertrifft sicher die wunderbaren Künste der alten Magier.


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Geburtstag.

Humoreske von Charlotte Niese.

Heute ist der Geburtstag nicht mehr das schönste Fest, das man feiern kann; ehemals aber, als wir noch Kinder waren, gab es nichts Besseres, als den Tag festlich zu begehen, an dem wir das Licht der Welt erblickt hatten. Wir durften eine Kindergesellschaft haben, die um vier Uhr nachmittags mit Chokolade und Kuchen begann und um Acht mit Butterbrot und Glühwein endete. Glühwein! Noch heute werden wir Geschwister begeistert, wenn wir an den Glühwein denken, den unsere Mutter mit unübertrefflicher Kunst bereitete. Er bestand aus viel Wasser, etwas Rothwein, Nelken und Zucker und wurde aufgekocht. Wir hatten einmal einen Gast aus der Großstadt, der uns erzählte, daß er schon Champagner getrunken hätte. Auf diese Heldenthat bildete er sich etwas ein. Wir aber fragten ihn, ob er schon jemals Mamas Glühwein gekostet hätte. Er mußte die Frage verneinen, und darauf erklärten wir, daß er überhaupt von Wein gar nichts verstände, wenn er unseren Glühwein nicht kennte.

Ja, solch ein Geburtstag mit Chokolade und Glühwein war herrlich; aber man hatte an diesem Tage doch auch seine Aufregungen. Nämlich die, daß man nicht ganz genau wußte, was die Eingeladenen einem schenken und ob sie auch etwas schenken würden. Man that natürlich, als wäre einem die Gabe ganz einerlei, als freute man sich nur über die Anwesenheit des geliebten Freundes; im stillen aber rechnete man doch schon aus, ob man wohl ebensoviel Geschenke bekäme, wie man Spielgenossen eingeladen hatte.

Und was war es wohl, das sie, sauber in Papier gewickelt, auf den Geburtstagstisch legten? Man sah natürlich nicht gleich nach, man spielte den Unbefangenen und sprach vielleicht sogar vom Wetter, wie die Großen immer thaten – dann aber riß man doch mit eiligen Händen eine Papierhülle nach der anderen ab, während der Geber dicht dabei stand und meistens erzählte, wie viel das Geschenk gekostet habe. Es waren keine Unsummen, die ausgegeben wurden – manche brachten auch eine Gabe, die schon durch die halbe Stadt als Geschenk gewandert war, und die meisten schenkten eine Papeterie.

Das war ein großer buntbedruckter Umschlag, in dem sich drei bis vier mit Vergißmeinnicht und Rosen geschmückte Briefbogen, ebensoviele Kouverts und einige Gummi-Oblaten befanden. Es war ein hübsches Geschenk, wie Herr Metzger uns versicherte. Der handelte nämlich mit Papeterien und anderen schönen Dingen, und er verstand es ausgezeichnet, uns die Nützlichkeit dieser Sachen eindringlich darzustellen. Deshalb freuten wir uns auch immer, wenn wir eine Papeterie bekamen; als ich aber einmal an meinem Geburtstage zehn erhielt, da weinte ich doch ein wenig, und es bedurfte des Zuredens meiner gesamten Familie, um mir wieder die schöne Fassung zu geben, die ein Geburtstagskind nöthig hat. Aber seit dem Tage ärgerte ich mich doch, daß mein Geburtstag gerade in die Zeit fiel, wo Herr Metzger Ausverkauf zu halten pflegte, und im folgenden Jahre machte ich wochenlang vorher in meinem Freundeskreise bekannt, daß ich noch immer mehr als genug Papeterien hätte.

Ebenso ernsthaft, wie wir die Frage der Geschenke für uns selbst auffaßten, beschäftigten wir uns auch mit dieser Angelegenheit, wenn wir einen Freundesgeburtstag mitfeiern sollten. Sobald die Einladung erfolgt war, quälten wir uns mit dem Gedanken, was wir schenken könnten. Meistens hatten wir kein Geld, um eine Anschaffung zu machen, und so galt es also zunächst, die nöthigen Schillinge herbeizuschaffen. Wir hatten gottlob einen guten Großvater und an ihn wandten wir uns meistens in unsern Sorgen. Zwar mochte er nicht um Geld gebeten werden und behauptete auch, wir feierten jede Woche einen anderen Geburtstag; aber nachdem er tüchtig gewettert hatte, steckte er doch die Hand in die Tasche und fragte verdrießlich, wie viel wir haben wollten. Und da er häufig kein Kleingeld hatte und wir uns mit der größten Bereitwilligkeit anboten, in den nächsten Laden zu laufen, um wechseln zu lassen, so schenkte er uns für diese Mühe auch manchmal noch eine Kleinigkeit obendrein.

Eines Tages war ich ganz besonders vergnügt. Großvater hatte mir auf mein stürmisches Verlangen einige Schillinge für ein zu kaufendes Geburtstagsgeschenk gegeben und Herr Metzger mir einen Federkasten so billig verkauft, daß ich noch etwas Geld übrig hatte.

„An dem Kasten hab’ ich Schaden!“ sagte Herr Metzger, indem er das betreffende Stück vorsichtig einwickelte. „Der kostet mich selbst eine Kourantmark; aber weil Du es bist, bekommst Du ihn fast geschenkt. Nun wickle ihn nur nicht wieder aus!“

Mit dieser Ermahnung entließ er mich und ich lief nach Hause, um sofort meinen billigen Schatz wieder auszuwickeln. Denn wozu macht man Geburtstagsgeschenke, wenn man sie nicht einmal gründlich besehen darf? Der Geburtstag meines Freundes war überhaupt erst morgen – ich hatte also genügend Zeit, meine Gabe zu mustern und das Geburtstagskind durch einige geheimnißvolle Andeutungen sehr neugierig zu machen.

Der Kasten war wirklich hübsch, blank und zierlich. Auf dem Deckel stand „Souvenir“, ein Wort, das mir dunkel war und das ich deshalb sehr schön fand. Als ich aber diesen Deckeln öffnen wollte, fand es sich, daß das nicht ging. Ich mochte zerren und reißen, schieben und drücken, alles half nichts, und betrübt starrte ich auf den mir von Herrn Metzger so billig überlassenen Gegenstand. Da kam der Propst des Weges gegangen. Ich saß nämlich vor der Thür unseres Hauses und begrüßte alle Vorübergehenden, natürlich auch den Propst, einen ganz besonderen Freund der Familie. Er war ein großer Herr mit freundlichem Gesicht, der immer sehr gut gegen uns war.

„Was hast du denn da?“ fragte er, und ich zeigte ihm meinen Federkasten, den er alsbald in die Hand nahm, um an dem Deckel zu zerren. Seinen kräftigen Fingern gelang, was ich nicht erreicht hatte: der Deckel flog ab; aber der ganze Kasten ging aus dem Leim.

Ich schrie vor Entsetzen und auch der Propst erschrak. Aber das wollte er natürlich nicht merken lassen und lachte gezwungen. „Nun, nun, nicht so hitzig! Wie kannst Du so schreien, nur weil der dumme Kasten entzwei geht! Das schickt sich nicht!“

Ich war gewohnt, ausgescholten zu werden, wenn Erwachsene in meiner Gegenwart etwas verkehrt angriffen; aber ich mußte doch meinem Herzen Luft machen. „Den Kasten sollte Heinz Behrens haben,“ wimmerte ich. „Ich habe es ihm heute schon gesagt und morgen soll er ihn kriegen!“

„Heinz Behrens? Wird der nicht morgen zehn Jahre alt?“ fragte der Propst, der das Alter seiner sämtlichen Gemeindekinder, [872] der alten und der jungen, im Kopfe hatte und der es ihnen oft aufs unbarmherzigste sagte. Aber ich hörte nicht auf seine Frage.

„Was soll ich ihm nun schenken?“ stöhnte ich. „Ich besaß noch sechs Bankschillinge, aber ich habe mir gerade Chokolade gekauft!“

„Wie kannst Du nur so naschhaft sein!“ schalt der Propst, der verdrießlich geworden war. „Sieh’ ’mal, wenn Du das Geld noch hättest, dann würde ich Dir auch etwas dazu geben und Du könntest einen neuen Kasten kaufen!“

„Dieser war ja neu!“ erklärte ich, und der alte Herr betrachtete ihn nachdenklich. Dann seufzte er erleichtert.

„Ich will ihn Dir wieder zusammenkleben und Du holst ihn morgen früh bei mir ab. Mein Leim ist gut und er wird dann wie neu!“

Mit diesem Versprechen ging er davon und steckte die Trümmer des neuen Federkastens in die Tasche. Ich bedachte mich einen Augenblick, ob ich weinen sollte oder nicht; da aber gerade unsere große Hauskatze mit einem Hunde angebunden hatte und ihn ohrfeigte, so vergaß ich über diesem Anblick allen Kummer dieser argen Welt.

Aber den Federkasten vergaß ich deswegen doch nicht und der folgende Morgen sah mich in sehr früher Stunde in der Propstei. Dort wurde noch die große Diele gescheuert und das Mädchen erklärte, der Herr Propst sei noch nicht zu sprechen. Als ich dann nach einigen Stunden wieder vorsprach, hieß es, ich dürfe den Herrn nicht stören, er sei bei seiner Predigt. Ich war in großer Betrübniß, denn nun hatte die Uhr schon Neun geschlagen; ich mußte bald in die Lernstunde und hatte später wenig Zeit, herumzulaufen und ein Geschenk zu kaufen, selbst wenn ich mir das Geld dazu erjammert hätte. Nachdenklich ging ich über den Kirchhof, an den das Haus des Propstes grenzte, und als ich mich hier auf den grünen Erdwall setzte, der den Friedhof von der Straße trennte, liefen einige Thränen ganz von selbst über meine Wangen.

„Was weinst Du?“ fragte eine Stimme neben mir.

Der Sprecher, ein kleiner dicker Mann mit rothem Gesicht, stand plötzlich bei mir, und ich sah ihn ganz erschreckt an, weil ich ihn gar nicht bemerkt hatte.

„Was weinst Du?“ fragte er noch einmal und ich schluchzte tief und lange. „Heinz Behrens Geburtstag ist, und da –“ ich konnte nicht weiter vor Schmerz. Der Fremde zog ein rothes Taschentuch hervor. „Na, wisch’ Dich ’mal ab! Ist das denn schlimm, wenn Heinz Behrens’ Geburtstag ist?“

„Ich wollte ihm ja etwas schenken!“ erklärte ich und dann breitete ich das Taschentuch ats und betrachtete es unter Thränen und doch mit Entzücken. Es war auch ein wunderbares Taschentuch. Zwei Schiffe waren darauf abgebildet, die beide in Flammen standen, und in der Luft flogen Menschen herum.

Der Mann sah mir wohlgefällig zu. „Nicht wahr? Is ein feines Tuch und ganzen rein, weil ich eigentlich niemalen ein Taschentuch brauch’. Kannst Dich gern die Nase in putzen!“

„Weinst Du denn nie?“ fragte ich, seine Erlaubniß mit Freuden benutzend. Er lachte ein wenig.

„Nee – dieses thue ich nicht mehr!“ Manchmal sprach er nämlich richtig und manchmal verkehrt hochdeutsch.

„Ein fein Bild, nich?“ fuhr er fort und setzte sich neben mich. „Das is ‚Krischan[2] der Achte‘, der in Luft fliegt, und das is ‚Gefion‘. Weißt, was ‚Gefion‘ war? Das war auch ein Schiff und die Leute, die hier oben fliegen, sind tot. Na, und nu verzähl’ mich ’mal, warum Du weintest!“

„Ich habe ja kein Geburtstagsgeschenk!“ rief ich kläglich.

„Nun, freut Heinz Behrens sich nicht, wenn Du ohne Geschenk kommst?“

„Wie sollte er das thun? Das thut niemand. Er steht schon auf der Straße, ganz weit von seinem Hause entfernt, und wenn einer kommt, der bei ihm eingeladen ist, dann schreit er ganz laut: ‚Nu man rut mit de Geschenkens!‘“

Ich weinte schon wieder. Der Gedanke, vor versammeltem Volke mit leeren Händen zu kommen, erschien mir unerträglich. Dann erzählte ich die Geschichte vom Federkasten und der fremde Mann hörte mir theilnehmend zu.

„I, so kuck ’mal an! Der Propst hat Dein Kasten entzwei gemach und mach ihn nich wieder heil! Da soll doch ein Donner einslagen!“

„Er macht seine Predigt!“ entschuldigte ich; der andere zuckte die Achseln. „Da hat er nich viel Arbeit von. Lauter Bibelsprüchens und Gesangbuchversens. Das kann unsereiner auch! Sag’ ihn das man von mich, wenn ihm wieder siehst!“

„Wie heißt Du denn?“ fragte ich. Mein neuer Freund schob an seiner blanken Wachstuchmütze.

„Wie? Du kennst mir nich und ich bin doch Kaptein gewesen? Kaptein von die Brigg ‚Helene‘ aus Glückstadt. Abers ich mochte nich mehr – da is mich zu viel Verdruß bei die Segelei heutzutage – da wollt’ ich mir lieber ein büschen ausruhen!“

Es schlug vom Thurm halb Zehn und ich fuhr in die Höhe. „Ich muß in die Stunde und habe kein Geschenk für Heinz!“ rief ich kummervoll, aber der Kapitän legte seine braune Hand auf meinen Arm.

„Komm’ Du heut’ zu mich! Auf’n Norderende, Nümmer dreiunddreißig. Da kannst mir besuchen um den Glockenslag Drei, und wenn ich Dich denn nich ein Geschenk geb’, was Du mit Fug und Rech verschenken und vergeben kannst, denn will ich nich Friedrich Franz Weber heißen. Komm’ man und denn laß das Weinen!“

Punkt drei Uhr stand ich vor einer kleinen, sehr grellgrün bemalten Hausthür, die zur Hälfte offen stand. Es war noch eine von jenen Thüren, die aus einer oberen und einer unteren Hälfte bestanden. Da konnte man, wenn man den unteren Flügel schloß, bequem aus der Hausthür sehen, ohne daß sie doch geöffnet war, und konnte sich außerdem behaglich auf sie stützen. Kapitän Weber sah auf diese Weise aus der Thür. Er war in Hemdärmeln und trug eine rothkarrierte Zipfelmütze. Als er mich erblickte, öffnete er die untere Thür.

„Nu komm’ man ein! Gut, daß Du gekommen bist. Der alte Kaptein ist auch keiner von den Leuten, die zuerst ’was versprechen und dann gar nichts halten. Wenn ich Ja sage, denn meine ich auch Ja!“

Er lobte sich noch eine Weile und ich blickte mich inzwischen um. Auf der kleinen, mit rothen Ziegelsteinen belegten Diele sah es auch bunt genug aus. An der Wand prangten nicht allein Bilder von Schiffen verschiedener Art – von der Decke hing ein großer, ausgestopfter Fisch herunter, der das Maul weit geöffnet hatte und sehr durchdringend roch. Dazu lagen auf einem Wandbrett eine Reihe von schönen rosarothen und weißen Muscheln, die auf beiden Seiten von ausgestopften Vögeln bewacht wurden.

„Magst es leiden?“ fragte der Kapitän und ich nickte, während ich doch etwas zweifelhaft den großen Fach betrachtete.

„Nu, was möchtest Du dann wohl haben?“ fragte Friedrich Franz Weber, behaglich seine Zipfelmütze von einem Ohr auf das andere rückend, und ich sah mich noch einmal um.

„Den Fisch will ich nicht!“ erklärte ich dann nach einigem Besinnen. „Ich glaube, Heinz würde sich auch nicht darüber freuen!“

„Weshalb nicht?“ erkundigte sich der Kapitän lächelnd.

„Nun – er ist so groß und dann riecht er auch. Beinahe so wie Herrn Metzgers Eau de Cologne, das ich voriges Jahr zum Geburtstag bekam!“

„Den Fisch hättst auch nich gekriegt!“ erklärte der neue Freund. „Das ist ein Haifisch, der mir beinahe ’mal den Kopp abgebissen hätte. Aber ich war klüger als er! Nun komm’ man in Stube!“

Nach hinten lag ein kleines Zimmer, das wie eine Kajüte ausgestattet war. Alles sah sehr blank und sauber aus und auf dem Tische lagen verschiedene Kästchen aus Strohgeflecht oder Sandelholz. Von ihnen durfte ich mir eins aussuchen und dann entfernte ich mich unter vielen Dankesbetheuerungen und dem Versprechen, den Kapitän bald wieder zu besuchen.

Auf diese Weise bestand ich mit Ehren an Heinz Behrens’ Geburtstag und konnte meine Chokolade mit dem erhebenden Bewußtsein trinken, etwas geschenkt zu haben, von dem niemand den Preis sagen konnte, wie dies sonst bei den von Herrn Metzger gekauften Sachen immer der Fall war.

Am andern Tage begegnete mir der Propst.

„Nun,“ so redete er mich an, „weshalb hast Du Deinen Kasten nicht geholt? Er ist seit gestern fertig!“

„Dein Mädchen sagte, Du machtest Deine Predigt und ich dürfte Dich nicht stören!“

Er lachte. „So schlimm war’s nicht!“ Ich aber fuhr eifrig fort: „Herr Kapitän sagt auch, an Deiner Predigt könne nicht [873] viel Arbeit sein, weil Du mir Bibelsprüche aufsagest – und den Kasten verwahre mir nur, bis ein neuer Geburtstag kommt!“

„Wer ist der Herr Kapitän?“ fragte der gute Propst der etwas roth geworden war.

„Ach, kennst Du den nicht? Er heißt Friedrich Franz Weber und hat einen ausgestopften Haifisch von der Decke hängen!“

„Es scheint kein besonders netter Mann zu sein!“ sagte der Propst ernsthaft. „Du mußt wirklich nicht mit jedem anbinden – ich werde einmal mit Deinem Vater sprechen!“

Er ging und ich begab mich nach Hause, ohne daß die Drohung des alten Herrn meine natürliche Heiterkeit beeinträchtigt hätte. Er hatte nämlich noch nie uns bei Papa verklagt und würde mir sicherlich bald einmal Aepfel schenken, was er immer that, wenn er mich je etwas rauh angefahren hatte.

„Ich weiß ’was Neues!“ sagte Jürgen, dem ich an der Thür unseres Hauses begegnete. „Etwas ganz Neues!“

„Was ist’s?“ erkundigte ich mich neugierig.

„Hierher ist ein Mann gezogen, der hat einen großen großen Haifisch im Zimmer! Ob er lebendig ist, weiß ich nicht – ich glaube es aber!“

„Er ist tot!“ sagte ich triumphierend, denn es begegnete mir nicht häufig, mehr zu wissen als die Brüder. „Er ist tot, und ich habe ihn selbst gesehen!“

„So?“ Mein Bruder sah mich zweifelnd an. „Du hast ihn gesehen und hast mir kein Wort davon gesagt? Weißt Du denn auch, was der Haifisch gethan hat?“

Ich mußte beschämt den Kopf schütteln.

„Er hat – ja, denke Dir nur! – er hat dieses Mannes Frau aufgefressen! In einem einzigen Happen. Schwabb! hat er gemacht – und da war die Frau weg! Und dann klappte er das Maul zu und schwamm weiter!“

„Aber nun hat er doch das Maul offen!“ bemerkte ich, athemlos vor köstlicher Erregung.

Brieftaubendienst auf hoher See.
Nach einer Originalzeichnung von Willy Stöwer.


„Nun ja, später ist ihm natürlich übel geworden. Eine ganze Frau liegt schwer im Magen, besonders wenn sie noch Kleider und seidene Mantillen oder so etwas an hat!“

„Vielleicht einen Pelzmantel oder einen Muff!“ schaltete ich ein, und Iürgen sah mich ärgerlich an. Er mochte nicht unterbrochen werden, wenn er im Erzählen war.

„Mit einem Muff ist sie wohl nicht im Wasser gewesen, wo es doch gewiß warm war. Die Haifische sind ja nur dort, wo –“

„Gott-o-Gott, Kinners, wenn Ihr noch mehr von so’n schreckliches Zeug snackt, denn beswiemel[3] ich und Ihr müßt mich Wasser und Hoffmannstropfen holen!“

Das war Line, die also sprach, unser Kindermädchen, das heutzutage gewiß Kinderfräulein genannt werden würde, weil sie so hübsch war, wie die Großen wenigstens sagten; wir selbst sahen nichts Besonderes an ihren dunklen Augen und ihren rothen Wangen. Sie saß mit unserem Jüngsten vor der Thür und hatte unseren Worten mit großer Aufmerksamkeit zugehört. Manchmal war sie sehr nett und dann mochten wir sie leiden; manchmal aber „predigte“ sie, wie wir es nannten, und dann mochten wir sie nicht leiden. Nun fing sie wieder an.

„Gott-o-Gott, wenn Ihr man bloß still sein wolltet von so ’was Gräsiges! Wovor giebt es überhaupt Kinners, wenn sie nich artig sein wollen! Als ich noch klein war – o was bin ich da artig gewesen!“

Wir hörten ihr ungerührt zu; denn wenn Line anfing, ihren Redestrom über uns zu ergießen, dann sagte sie eigentlich immer dasselbe und ihre Gedanken zeichneten sich nicht durch Neuheit aus.

„Nu bleibt man bei mich und verzählt mich ein büschen!“ setzte sie hinzu, als Jürgen und ich Anstalt machten, uns zu entfernen. „Sitzt die Frau da noch in Haifisch und hängt von Boden herab? O du mein Heiland, wie einmal schrecklich! Und den Mann, was sag’ den Mann dazu? Is das nich so’n hübschen kleinen dicken Mann, der hier mammichmal spazieren geht? Ja, was nich allens passieren thut! Und Geld soll er auch haben, ein ganzen Berg Geld! Nich?“

Ob Kapitän Weber Geld hatte, wußten wir nicht; der Gedanke beschäftigte uns auch weniger als der, daß seine Frau noch in dem Haifisch sitzen könnte. Wir geriethen hierüber sogar in eine fieberhafte Erregung, und Linens Zureden, bei ihr zu bleiben, half nichts. Der nächste Augenblick sah uns schon auf dem Wege zum Norderende, und bald klopften wir an des Kapitäns Thür. Sie war dieses Mal verschlossen; er öffnete aber gleich und begrüßte uns freundlich.

„Nun, meine Kinder, womit kann ich dienen?“

Wir aber sagten kein Wort und starrten unverwandt den großen Fisch an.

„Nun?“ sagte er noch einmal und ich faßte mir ein Herz.

„Sitzt sie noch drin?“ fragte ich halb verschämt. Der Kapitän sah mich verwundert an.

„Ich meine Deine Frau!“ fuhr ich hastig fort. „Der Fisch hat sie ja aufgefressen!“

[874] Herr Weber räusperte sich ein wenig und schob seine Zipfelmütze auf dem Kopf hin unb her.

„O, was die Leute doch snacken! Und denn schicken sie so’n unschuldiges Kind zu mich, daß es mir ausfragen soll! Als wenn ich daüber sprechen möchte, was doch nicht angenehm is, an zu denken!“

„Hatte sie alles Zeug an oder badete sie gerade?“ fragte nun auch Jürgen, und der Kapitän räusperte sich wieder.

„Du mußt nicht so viel fragen, mein Kind!“ bemerkte er dann auf hochdeutsch und in einem so ernsten Tone, daß wir uns unwillkürlich schämten. Aber er war gleich wieder freundlich. „Nu kommt man ein in die Stube und ich schenk’ Euch auch ’was!“

Mit einer Muschel, die sehr schön „kochte“, zogen wir dann wieder ab und warfen beim Gehen noch einen langen Blick auf den Haifisch. Es war doch schade, daß Friedrich Franz Weber nicht darüber sprechen wollte, wie seine Gemahlin aufgegessen worden und ob sie dem Raubfisch gut bekommen war. Im übrigen hatte er es eigentlich auch nicht nöthig; denn wenn er selbst auch nicht darüber sprach, so sprachen andere Leute desto mehr. Bald wußte jedes Schulkind ja fast jedes Wickelkind, daß Friedrich Franz Weber seine Frau auf eine sehr ungewöhnliche Weise verloren hatte und daß er eigentlich bloß durch diese tote Frau auf die Insel gehörte. Er war nämlich aus Mecklenburg und nur Frau Webers Wiege hatte in unserer Heimath gestanden. In welchem Dorfe oder ob in der Stadt – darüber gingen die Meinungen auseinander, und eigentlich war dies auch einerlei. Sie lebte ja nicht mehr und die ganze Landschaft konnte sich gewissermaßen freuen, daß sie einmal in ihr geweilt hatte. Denn das passiert nicht jeder Gegend, daß ihre Einwohner vom Haifisch aufgefressen werden.

(Schluß folgt.)     



Blätter und Blüthen.

Ein zeitgemäßes Wort über den Eintritt in Diakonissenanstalten hat auf der letzten Generalversammlung des Allgemeinen deutschen Frauenvereins im Oktober d. J. Frau Mathilde Weber aus Tübingen, die verständige und gemäßigte Verfasserin des Buches „Aerztinnen“, gesprochen. Sie ging von dem bekannten Uebelstand aus, daß der Zugang zu den verschiedenen geistlichen und weltlichen Pflegeanstalten ein viel zu geringer ist gegenüber dem stets wachsenden Bedürfniß nach Pflegerinnen einerseits und der Thatsache anderseits, daß oft um eine Stelle zur Stütze der Hausfrau sich 60 bis 80 Mädchen melden. Den Grund einer so auffallenden Erscheinung findet die gerade auf diesem Gebiet vielerfahrene Rednerin nicht in einer Abneigung des weiblichen Geschlechts gegen aufopfernde Pflege und Hilfe überhaupt – tausend Beispiele des täglichen Lebens widerlegen eine solche Vermuthung – sondern in gewissen schwierigen Punkten, welche (auch unserer Erfahrung nach) oft genug mündlich besprochen werden, aber nirgends noch mit so viel Freimuth und so ganz ohne verletzende Spitze dargelegt wurden.

Indem wir mehrere dieser Punkte (die Bezugnahme auf zu strenge religiöse Uebungen z. B.) als vielleicht örtlicher Natur und nicht überall zutreffend übergehen, glauben wir zwei andere hervorheben zu sollen, welche der größeren Betheiligung am Diakonissenberuf in der That hinderlich sind, nämlich erstens die sehr großen Anforderungen an die Arbeitskraft der Schwestern, die oft genug von Tagesanbruch bis abends 9 Uhr in Anspruch genommen werden und häufig dann noch eine Nachtwache übernehmen müssen.

Frau Weber berichtet aus eigener Erfahrung, daß die übermüdeten Diakonissen oft nothgedrungen die einzige Stunde Mittagsruhe statt zu einem Spaziergang oder geistiger Erholung nur zum Schlafen benutzen. Auch sind Ruhetage selten, vielfach keine Erholungsstätten vorhanden, Urlaub aber wird meist nur alle zwei Jahre gewährt. Das sind Uebelstände, welche sich besonders in der Stadt bei hohem Krankenstand durch Epidemien etc. bemerklich machen, wo die gesteigerte Nachfrage die Kräfte der armen Schwestern auf harte Proben stellt.

Aber hierfür schlug die Rednerin ein Auskunftsmittel vor, welches sich in England vortrefflich bewährt und auch bei uns ganz leicht einzuführen wäre: die Einrichtung der „Reserve“- oder „Aushilfsschwestern“, wodurch gebildete Mädchen herbeigezogen werden, die nicht ihre ganze Zeit und Kraft der Sache widmen wollen oder können und doch in Tagen des großen Bedarfs wesentlich zur Erleichterung der überbürdeten Anstaltsschwestern beitragen würden. Sie machen, wie diese, eine ganze Lehrzeit in dem Mutter- oder Krankenhause durch, werden als Schwestern eingesegnet und erhalten ein Schwesterkleid. Dann kehren sie ins Elternhaus zu ihren Familienpflichten heim, und nur wenn vom Mutterhaus der Ruf ergeht: jetzt drohe Ueberbürdung, so haben sie sich an ihren Posteu zu begeben und die angewiesene Pflege nach der Vorschrift zu besorgen. Diese Veranstaltung ist wie geschaffen für die vielen älteren Mädchen, welche den dringenden Wunsch hegen, sich der Allgemeinheit nützlich zu machen und doch aus Rücksicht auf alte Eltern und ihre Pflichten gegen dieselben sich nicht dauernd von ihnen entfernen mögen.

Die zweite Schwierigkeit ist die Bestimmung der Regel, daß alle Pflegeschwestern sich auch den groben Arbeiten des Bodenscheuerns und Waschens zu unterziehen haben. Das ist eine harte Aufgabe für Mädchen, die in der ersten Jugend nicht an derartige Arbeiten gewöhnt wurden. Es werden sich also heute nur Ausnahmsnaturen einem so opfervollen Beruf zuwenden, der allerdings einen reichen Lohn in sich trägt.

Aber die Gesellschaft, die Krankenhäuser und ihr ärztliches Personal haben das dringende Bedürfniß nach geschickten wissenschaftlich gebildeten Pflegerinnen, welche in schweren Fällen zur unentbehrlichsten Hilfe des behandelnden Arztes werden. Da ist denn in der That nicht abzusehen, warum die Hand, welche schwierige Verbände anlegt, das Thermometer handhabt und für den Arzt Beobachtungen ausschreibt, auch wieder, zumal in der Winterkälte, mit Putzbürste und Scheuerlappen umgehen oder die Hauswäsche reinigen muß, während doch bezahlte Hilfe dafür leicht und billig zu haben ist. Von allen, welche die hier berührten Verhältnisse kennen, wird einstimmig dieser Grund als Hinderniß des Eintrittes für viele gebildete Mädchen angegeben. Und eine große Anzahl solcher, welche trotzdem durch religiöse Begeisterung dem Berufe zugeführt wurden, mußte ihn wieder lassen, weil sie über jenen ungewohnten groben Arbeiten erkrankten.

Der Gedanke einer solchen vollkommenen Dienstbarkeit um der Liebe des Nächsten willen ist gewiß ein idealer, ebenso die völlige Unentgeltlichkeit der geleisteten Dienste. Aber die letztere ist durch das selbstverständliche Lebensbedürfniß der Mutterhäuser doch bereits eingeschränkt: jede nur einigermaßen bemittelte Familie schickt nach dem Ende der Pflege mit größtem Dank eine Summe Geldes dahin. Ebenso könnte es mit dem ersteren Gebot gehen, und darauf hinzuwirken, wäre eine segensreiche Thätigkeit für menschenfreundliche Geistliche, Stadtvorsteher und Krankenhausdirektoren. Wir geben gerne die von einer vortrefflichen Frau ausgesprochene Anregung weiter, überzeugt, dadurch zur Förderung einer sehr wichtigen Sache beizutragen. Bn.     

Gutenberg auf dem Reichstag zu Mainz. (Zu dem Bilde S. 869.) Als Rudolf von Gottschall am 30. September dieses Jahres seinen siebzigsten Geburtstag feierte, da hat er selbst der Welt eine Geburtstagsgabe beschert, wie sie würdiger aus eines Dichters Hand nicht fließen konnte. Es war dies ein großes fünfaktiges Drama, dessen Held der Erfinder der Buchdruckerkunst ist und das nach diesem den Titel „Gutenberg“ führt; am Abend des Geburtstages ward es zum ersten Mal mit großem Erfolg im Leipziger Stadttheater aufgeführt. Mit großer Kunst hat Gottschall aus Geschichte und Sage die Werksteine sich geholt, aus denen ein eindrucksvoller dramatischer Bau sich errichten ließ. Da fehlt nicht des Erfinders Geldnoth, die ihn zwingt, mit dem reichen Faust einen verhängnißvollen Pakt zu schließen; dieser Faust aber ist nicht ein gewöhnlicher spekulativer Geldmann, er trägt vielmehr die Züge des Fausts der Volkssage, des Goldsuchers und Mädchenberückers. Adolf von Nassau, der vom Kaiser begünstigte Bewerber um den erzbischöflichen Stuhl zu Mainz, läßt zum Schlusse heimlich die verrathene Stadt überfallen, die flüchtenden Buchdruckergesellen tragen die neue Kunst hinaus in alle Winde: Gutenberg selbst aber findet nicht eine Zuflucht und einen friedlichen Lebensabend am Hofe des Nassauers zu Eltville, wie die Geschichte berichtet, sondern geht unter in der Katastrophe der Stadt, deren Freiheiten er muthvoll vertheidigt hat.

In diesem Kampf um die Freiheiten der Stadt spielt auch die Scene eine wichtige Rolle, welche unser Zeichner herausgegriffen hat. Kaiser Friedrich III. ist nach Mainz gekommen, dort einen Reichstag zu halten; denn ihm liegt daran, daß eine reiche Türkensteuer zum Kampf gegen den Erbfeind aller Christenheit beschlossen werde. Im Saale steht der Thronhimmel des Kaisers, zu seiner Linken die Bank der Ritter, zur Rechten die der städtischen Abgeordneten. Da wollen denn auch die Mainzer ihre Klagen wider Adolf von Nassau vor das Reichsoberhaupt bringen und zum Beweis der ihnen drohenden Vergewaltigungen einen Brief ihres Gegners verlesen. Indessen die Partei des Nassauers, allen voran der „schwarze Herzog“, Graf Ludwig von Veldenz, übertobt und überschreit den Bürgermeister, der zu lesen beginnen will. In kluger Voraussicht dieser Wendung hat nun Gutenberg mit seiner Kunst den Brief vertausendfacht, und als der Lärm kein Ende nehmen will, da streut er mit seinen Gehilfen die Flugblätter, auf denen der Brief gedruckt steht, von einer Galerie hinunter in den Saal. Dieser Eingriff in die geheiligte Ordnung des Reichstags bringt Gutenberg vor den Kaiser. Wir sehen ihn dastehen in edler Haltung, mit schlichten und doch kräftigen Worten sich vertheidigend vor Friedrich III, der mit dem Kurfürsten von der Pfalz und einem Bischof die Mitte einnimmt zwischen den erregten Gruppen der Ritter und städtischen Abgeordneten.

 „Dem Unrecht Krieg!
Das ist die stumme, doch beredte Sprache,
Die ich die toten Zeichen sprechen lehre;
Ich hoff’ zu Gott und allen guten Sternen,
Daß diese Sprache nimmer sie verlernen“ –

so schließt er seine Rede, und der Kaiser ist auch derart eingenommen von ihr und von der „neuen unerhörten“ Kunst, daß er Gutenberg mit einer kurzen Haft entschlüpfen läßt.

[875] Brieftaubendienst auf hoher See. (Zu dem Bilde S. 873.) Ueberblicken wir die Entwicklung des Brieftaubenwesens in Deutschland seit dem Kriege von 1870, so können wir uns überzeugen, daß man es hier nicht mehr lediglich mit einer Sache des Sports, wie uns die Brieftaubenliebhaberei aus Belgien her überkommen war, sondern vielmehr mit einem ernsten Streben zu thun hat. Wir können in dieser Beziehung auf die ausführlichere Darstellung in Nr. 11 des Jahrgangs 1890 verweisen. Der praktische Werth der Brieftaube ist, wenigstens soweit es sich um ihre Verwendung im Kriege handelt, ziemlich allgemein zugegeben, und wenn sie schon für den Landkrieg von Bedeutung ist, so gilt dies noch mehr für den Dienst auf hoher See. Denn hier steht ihr nicht die Konkurrenz des Telegraphen und all der übrigen Beförderungsmittel von Kriegsnachrichten, wie des Reiters, des Radfahrers, des Kriegshundes, des Luftballons u. a., zur Seite, hier ist sie es allein, welche wichtige Nachrichten schleunig vermitteln kann.

So sehen wir denn, daß auch die Kriegsmarine des Deutschen Reichs bereits mit Brieftauben ausgestattet ist. Und wenngleich sich die Sache zunächst noch in Versuchen bewegt, so ist doch der Erfolg bereits durch die That erwiesen. Als Kaiser Wilhelm II. seine ersten Reisen zur See unternahm, stellte der Verband der deutschen Brieftaubenzüchtervereine für das Schiff des Kaisers Brieftauben in ausreichender Anzahl und sorgfältiger Auswahl zur Verfügung. Diese Tauben kamen auch fast sämtlich gut an und vermittelten die Nachrichten nach dem Lande hin so rasch und sicher, wie es in keiner andern Weise zu ermöglichen gewesen wäre. Natürlich wird man für den Dienst auf hoher See stets besonders kräftige, kerngesunde Thiere auswählen müssen, und zwar aus Schlägen, die von ihnen bald und ohne große Gefahren erreicht werden können. Seitens der deutschen Marine sind darum auch vornehmlich Tauben aus Städten in der Nähe der Nord- und Ostseeküste bezogen worden.

Unser Bild zeigt uns den Aufflug einer Anzahl Brieftauben von Bord einer deutschen Korvette, welche mit anderen Kriegsschiffen zusammen in See manövriert. Ein Matrose hat unter Aufsicht von Offizieren den Käfig geöffnet, die gefiederten Boten schwingen sich in die Höhe, suchen sich ihre Richtung, um dann pfeilgeschwind davonzustürmen. Ein anderer Mann hat die Zeit des Aufflugs genau notiert, damit man nachher die Fluggeschwindigkeit der einzelnen Thiere feststellen kann. Dr. Karl Ruß.     

Das Raimundtheater in Wien.

Ein Reisetag im Innern von Afrika. Aus dem Nachruf, den Paul Reichard in Nr. 43 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ dem Gedächtniß Emin Paschas gewidmet hat, ist unseren Lesern bekannt, daß Emin bei seiner letzten Expedition bis tief ins Innere von Afrika, bis über den Albertsee hinaus, von Dr. Stuhlmann begleitet wurde. Dieser hat nun seine Erlebnisse auf dem denkwürdigen Zuge in einem interessanten Werke geschildert, das den Titel führt: „Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika“ (Berlin, Dietrich Reimer) und das uns ein lebendiges Bild entrollt von den Schwierigkeiten und Entbehrungen, welche der Dunkle Erdtheil dem Reisenden auferlegt. Doch nicht stets drohen Noth und Gefahr, es giebt auch Reisetage, die glücklich verlaufen, Normalreisetage, wenn man sie so nennen darf, die, noch immer beschwerlich genug, doch den phantastischen Reiz von Land und Leuten voll zur Geltung kommen lassen. Einen solchen Reisetag schildert Stuhlmann mit hübschen Farben. Noch ist es Nacht; außer den Wachtposten liegt im Lager alles noch im Schlummer. Da kräht der Hahn, den einer der Träger an einem Bein auf seinem Bündel festgebunden hat, zum ersten Male; durch dieses Signal und die wachsende Kälte des nahenden Morgens geweckt, erheben sich einige schlaftrunkene Gestalten und eilen ans Feuer, das unter ihren Händen bald wieder lustig emporlodert. Und nun erhellt sich auch der Himmel im Osten und plötzlich erklingen langgezogene Trompetentöne: der Hornist bläst die deutsche Infanteriereveille. Alles wird lebendig; die Europäer kommen aus ihren Zelten, die sofort zusammengerollt werden, sie geben die nöthigen Befehle und verzehren dabei im Stehen ihr einfaches Frühstück – Kaffee und einen teigigen Fladen aus Hirsebrei. Inzwischen haben sich die Träger an ihren Lasten aufgestellt, ein schriller Pfiff hat die Soldaten in voller Ausrüstung herbeigerufen. Jetzt ertönt das Zeichen zum Aufbruch, der Leiter der Expedition setzt sich mit der Flagge und einer Abtheilung Soldaten an die Spitze des Zuges, ihm folgen die Träger der Munition und des Gepäcks der Europäer, dann eine zweite Abtheilung Soldaten, die große Masse der Träger und am Schluß wieder Truppen unter dem Befehl eines Offiziers. Im Gänsemarsch wird auf den schmalen Pfaden der größte Theil des für diesen Tag beabsichtigten Weges zurückgelegt, bis in der Karawane durch Ermüdung einzelner Leute Lücken entstehen. Sofort läßt der Anführer den Befehl zum Halten geben, allgemeine Rast beginnt. Die Leute, die sämtlich in der Frühe nüchtern aufgebrochen sind, verzehren, was sie vom vorigen Tag sich aufgehoben haben: etwas Mehlbrei oder gekochte Bohnen, vielleicht auch ein geröstetes Huhn. Dann geht der Marsch weiter, in der alten Ordnung, bis das Ziel erreicht ist, wo der Befehlshaber selbst einen geeigneten Lagerplatz auswählt, womöglich nicht zu nahe an den Dörfern der Eingeborenen.

Nun werden die Lasten aufgestapelt, und zwar so, daß sie nicht unmittelbar den rothen Boden berühren und damit den Termiten eine willkommene Beute werden; rasch sind auch die Zelte der Europäer zusammengesetzt. Soldaten und Träger gehen daran, für ihre Bedürfnisse zu sorgen, sie nehmen Urlaub, um in den benachbarten Dörfern für ihre Tauschwaren Lebensmittel einzukaufen, während die Weiber mit Thontöpfen auf dem Kopfe zum nahen Wasserloch wandern und sich dann an die Bereitung des Essens machen, das meist aus Mehlbrei besteht. Die Europäer haben begonnen, ihre Notizen über den Marsch und die wissenschaftlichen Beobachtungen über Kompaßrichtung, Barometerstand etc. ins Reine zu übertragen; ein Jäger und ein Pflanzensammler sind ausgeschickt worden, um seltene Exemplare der Thier- und Pflanzenwelt für die Sammlungen herbeizubringen. Währenddessen ist das Mahl der Europäer fertig geworden: Ziegenbraten, Suppe, einige Kartoffeln und gekochte Bohnen; Brot giebt es nicht. Eben haben sich die Offiziere zu Tisch gesetzt, da erscheint der Häuptling des nächsten Dorfes mit einem Gastgeschenk, bestehend aus Ziegen, Hühnern und Mehl. Er erhält ein ansehnliches Gegengeschenk und verspricht, für den nächsten Tag zuverlässige Führer zu schicken. Unter all diesen verschiedenen Vorgängen ist es sechs Uhr abends geworden. Das deutsche Signal zum „Sammeln“ wird gegeben und die Soldaten eilen zum Appell herbei. Wenn nicht schon vorher mit ihnen exerciert worden ist, so müssen sie jetzt einige Griffe machen und erhalten dann die Befehle für die Nachtwache und den nächsten Tag. Das Dunkel der Nacht bricht herein; beim Schein einer Stearinkerze sitzen die Europäer im Zelte zusammen, gemüthlich plaudernd, oder sie gehen im Lager umher, um den fröhlichen Tänzen zuzusehen und den Gesängen der Leute zu lauschen. Punkt neun Uhr wird der Zapfenstreich geblasen; prächtig klingen die Töne hinaus in die Stille der klaren Tropennacht. Alles geht zur Ruhe, der Lärm verstummt. Bald hört man nur noch das Schnarchen der Schläfer, das Auf- und Abgehen der Posten und das ferne Gekläff eines Dorfhundes oder das Geheul einer Hyäne. So endet ein Reisetag im Innern von Afrika.

Das Raimundtheater in Wien. (Zu den Bildern S. 875 u. 876.) Es ist unverkennbar: Wien macht gewaltige Anstrengungen, seinen alten Ruf als Theaterstadt sich zu bewahren. Wenige Jahre sind vergangen, seit das Deutsche Volkstheater erstand, und schon wieder hat ein neuer Musentempel seine Pforten aufgethan, das „Raimundtheater“.

Was der Name Raimund in der Geschichte der österreichischen Volkspoesie bedeutet, das ist in der „Gartenlaube“ aus Anlaß von Raimunds hundertjährigem Geburtstage im Jahre 1890 gewürdigt worden. Damals haben wir unseren Lesern auch ein Bild des Dichters vorgeführt (Nr. 28). Wie nun die Anregung zu dem Bau des Raimundtheaters hervorgegangen ist aus der Feierstimmung jenes Gedenktages, so ist auch der Name, der heute von der Stirne des neuen Schauspielhauses herableuchtet, ein Programm. Das Raimundtheater will das Volksstück in seinen besten Vertretern pflegen, in erster Linie natürlich das im eigentlichen Sinne Wienerische Volksstück; es will diesen Schöpfungen zu so vollkommener Darstellung verhelfen, wie sie das Burgtheater den Meisterwerken der [876] klassischen Dichtung angedeihen läßt, es will sein ein „Burgtheater für das Volk“. Dieses volksthümliche Gepräge drückt sich auch in dem Platze aus, auf dem es steht – nicht im Herzen der Stadt; nicht in den Vierteln der Reichen und Vornehmen ist es gelegen, sondern draußen in der Wallgasse, unfern der alten „Linie“, in einer gewerbfleißigen und industriereichen Gegend, und zwar zufällig in demselben Bezirk Mariahilf, in dem einst Raimund geboren wurde. Um billiges Geld kann dort auch der bescheidene Bürgersmann sich und seiner Familie öfter einen edlen dramatischen Genuß verschaffen, und es ist zu hoffen, daß mit der erleichterten Gelegenheit zu solchem Genusse auch der Sinn dafür wieder wachse.

Adam Müller-Guttenbrunn,
der Direktor des Raimundtheaters.
Nach einer Photographie von Joh. E. Hahn in Wien.

In etwa sieben Monaten ist der stattliche Bau nach den Plänen des Architekten Franz Roth vollendet worden, gewiß eine hervorragende Leistung, wenn man bedenkt, welch ein umständliches Ding solch ein Theater ist. Das Gebäude, dessen einfache, aber äußerst gefällige Fassade in italienischem Renaissancestil gehalten ist, besteht aus dem erhöhten Bühnenhaus und dem von einem Gange umschlossenen Zuschauerraum. Der letztere faßt in seinem Parterre und auf seinen zwei Galerien im ganzen etwa 1800 Personen und wird gerühmt um seiner vorzüglichen Akustik willen, die er wesentlich der Muschelform seines Plafonds verdanken soll. Innen und außen ziert reicher plastischer und malerischer Schmuck das Haus. Der Maler Julius Schmid hat einen prächtigen Vorhang geschaffen, darauf Raimund erscheint, umgeben von Gestalten seiner Phantasie. Von dem Bildhauer Johannes Benk stammt die schöne Bronzegruppe der „entfesselten Phantasie“, welche den Giebel krönt, sowie die überlebensgroße Büste Raimunds, die von der Brüstung der im Halbrund vorspringenden Loggia hinabschaut auf die Vorüberwandelnden, und Rudolf Weyr hat u. a. sinnige Geniengestalten für die Bogenzwickel beigesteuert.

So ist es ein schmuckes, anmuthiges Heim der dramatischen Muse, das am 28. November mit Raimunds „Gefesselter Phantasie“ seiner Bestimmung übergeben wurde. Der Leiter der neuen Bühne, der Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn, geboren am 22. Oktober 1852, hat unter Altmeister Laubes Führung seine dramatische Schulung durchgemacht, eine Anzahl wirksamer Stücke, auch theoretische Schriften über das Theater verfaßt, wie er ja auch als Novellist hervorgetreten ist. Es wird ihm viel Vertrauen entgegengebracht, daß er die richtigen Wege finden werde, das junge Unternehmen zu einem gedeihlichen Ziele zu führen. Und das möge ihm gelingen, zum Heile der guten Sache, der zu dienen das Raimundtheater ins Leben gerufen wurde!

Die Verbreitung der Rechtskenntniß. Es ist ein alter bekannter Satz, daß die Unkenntniß des Rechtes schadet, d. h. daß es vor dem Richter nicht die Entschuldigung giebt: „Ich habe nicht gewußt, daß ich dies oder jenes nicht darf!“ Je verwickelter aber die Rechtsverhältnisse, je größer die Zahl der gesetzlichen Bestimmungen wird, desto schwieriger ist es, den Anforderungen zu genügen, welche in Bezug auf die Rechtskunde jetzt gestellt werden.

Eine kleine Schrift von Carl Seefeld „Zur Verbreitung der Rechtskenntniß“ in den „Deutschen Zeit- und Streitfragen“ (Hamburg, Verlagsanstalt und Druckerei A. G., vormals J. F. Richter) geht von der Ansicht aus, daß im Grunde die Rechtskenntniß gleich Null ist, und zwar auch in den Kreisen, die sich zu den gebildeten zählen. Gegen diesen bedenklichen Zustand der allgemeinen Rechtsunwissenheit, wie ihn der Verfasser nennt, schlägt er einige Mittel der Abhilfe vor, welche jedenfalls Beachtung verdienen.

Zunächst sollte niemand unterlassen, sich bezüglich der Gesetzgebung möglichst auf dem laufenden zu erhalten und eine der von den Staatsverwaltungen veranstalteten billigen Gesetzessammlungen zu beziehen, wodurch er nicht nur einige Fertigkeit im Lesen und Verstehen der Gesetze, sondern auch die nöthige Uebersicht über die Entwicklung der einheimischen Gesetzgebung sich anzueignen in der Lage wäre. Ferner ist häufige Anwesenheit bei den Verhandlungen der Gerichte, nachdem auch beim Civilprozeß die Oeffentlichkeit eingeführt ist, zu empfehlen. Den meisten wird dazu freilich die Zeit fehlen und es verlangt schon ein gewisses Maß von Fachkenntniß, um diesen Verhandlungen zu folgen. Die Heranziehung der Laien zur Rechtsprechung wird zwar auch dazu dienen, die Rechtskenntnisse derselben zu vermehren; im Grunde aber setzt sie dieselben schon voraus und ist so nur eine weitere dringliche Mahnung, sie sich anzueignen. Wichtiger sind die beiden letzten Vorschläge des Verfassers.

Die so segensreich wirkende Vereinsthätigkeit der Gegenwart soll sich auch auf dies Gebiet erstrecken, vor allem aber sollen die Schulen dasselbe mehr als bisher ins Auge fassen. Nicht auf die Hochschulen soll der Rechtsunterricht beschränkt bleiben, sondern ein gewisses, dem Zweck und den Verhältnissen entsprechendes Maß von Rechtskenntnissen soll auch in den Schulen erster und zweiter Ordnung gelehrt und somit jedem Staatsbürger zugänglich gemacht werden. Dabei muß natürlich die Rücksicht auf den praktischen Nutzen der beizubringenden Rechtskenntnisse vorherrschen. In Handels- und Gewerbeschulen wird man z. B. das Hauptgewicht auf Lehren aus dem Gebiete des Handelsrechtes legen, in ländlichen Fortbildungsschulen auf die wesentlichen Punkte des Sachenrechts in Bezug auf Grundstücke und auf Kenntniß des Grundbuchwesens. Auch muß der Vortrag durchweg der geistigen Bildungshöhe der Schüler angepaßt werden.

In der That verdienen die Anregungen des Verfassers allgemeine Beachtung, denn ein ordentlicher Unterricht über das geltende Recht wird nicht nur den einzelnen vor manchem unbeabsichtigten Verstoß bewahren, sondern auch dazu beitragen, die Achtung vor Recht und Gesetz in allen Kreisen zu vermehren. †     



Inhalt: Sabinens Freier. Von W. Heimburg (4. Fortsetzung). S. 857. – Epheu und Lilie. Gedicht von Otto Braun. Mit Bild. S. 861. – Verbrecherbanden in Indien. S. 862. – Vom Hamburger Wasser. Von Gustav Kopal. S. 864. Mit Abbildungen S. 857, 864 und 865. – Etwas von der Mode. Von R. Artaria. S. 866. – Zur Geschichte des Zündhölzchens. Von C. Falkenhorst. S. 867. – Gutenberg auf dem Reichstag zu Mainz. Bild. S. 869. – Geburtstag. Von Charlotte Riese. S. 871. – Brieftaubendienst auf hoher See. Bild. S. 873. – Blätter und Blüthen: Ein zeitgemäßes Wort über den Eintritt in Diakonissenanstalten. S. 874. – Gutenberg auf dem Reichstag zu Mainz. S. 874. (Zu dem Bilde S. 869.) – Brieftaubendienst auf hoher See. S. 875. (Zu dem Bilde S. 873.) – Ein Reisetag im Innern von Afrika. S. 875. – Das Raimundtheater in Wien. S. 875. (Zu den Bildern S. 875 und 876.) – Die Verbreitung der Rechtskenntniß. S. 876.




In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Die Geschichte der Deutschen Weihnacht.
Von Alexander Tille.
Preis geheftet 4 Mark.0 In Leinwand gebunden 5 Mark.

Anderthalb Jahrtausend alt ist die Feier des fünfundzwanzigsten Dezembers. Aber nicht immer war sie wie heute. Wie das Christenthum sie nach Deutschland brachte und in hartem Kampfe gegen deutsches Volksthum zum Siege über die altheimischen Winteranfangsfeste führte; wie durch Hinüberwandern alten deutschen Brauches und Glaubens auf die große Kirchenfeier die deutsche Weihnacht sich bildete; wie die Weltanschauungskämpfe der Jahrhunderte ihr wechselvolle Züge aufprägten, und wie zuletzt das deutsche Weihnachtsfest von heute entstand mit dem blühenden Lichterbaum in seiner Mitte und dem Kinderjubel um ihn, mit seinen Tischen voll Weihnachtsgaben und der Weihnachtsstimmung, die auch der Fremde nie vergißt, der sie einmal mit durchlebt hat; – das und noch mehr erzählt das neue Weihnachtsbuch.

Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das vierte Quartal der „Gartenlaube“ 1893; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen. Wir sind in der Lage, unseren Abonnenten eine abermalige Vermehrung des Illustrations- und Lesestoffs der „Gartenlaube“, bestehend in besonderen Beilagen mit tagesgeschichtlichen, haus- und landwirthschaftlichen Notizen anzuzeigen. Damit wird für die Wochenausgabe, deren Preis seither niedriger als der Preis der Halbbeft- und Heftausgabe war, eine kleine Erhöhung von 15 Pfg. pro Quartal verbunden sein, während der Preis der Halbheft- und Heftausgabe derselbe bleibt wie bisher. Es werden sonach künftig alle Ausgaben der „Gartenlaube“ denselben Preis baben.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf. bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. 1 Lakh = 100 000, 1 Lakh Rupien = rund 190 000 Mark.
  2. Christian.
  3. ohnmächtig werden.