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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[837]

Nr. 50.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Das alte Paar.

Zwei Alte sitzen in Einsamkeit
Zusammen in fröhlicher Weihnachtszeit. –
Sie schmücken keinen Tannenbaum,
Kein Kinderjubel füllt den Raum.

5
Sie blicken in den Hof hinaus –

Zwei Bäume stehen vor dem Haus.
Was wohl die Alten bewegen mag?
Sie pflanzten die Bäume am Hochzeitstag.

Vor vielen Jahren ist das gescheh’n. –

10
Um Stamm und Gezweig sich die Flocken dreh’n.

Der Greis zur Greisin leise spricht:
„Freust Du Dich unsrer Bäume nicht?
Als schlaflos war ich in der Nacht,
Hab’ ich davon ein Lied erdacht.

15
Wie alles Dein, was ich fühl’ und denk’ –

Ich geb’ es Dir heut’ zum Christgeschenk!“

 *  *  *
Zwei Bäume standen vereint im Hag
Am leuchtenden, duftenden Maientag.
Sie waren jung und trugen stolz

20
Der Blüthen viel auf grünem Holz.

Da pfiff der Fink den hellen Reim,
Da war der Nachtigall Daheim.
Der Sommer kam, und der Mai verstrich –
Wer waren die Bäume? Du und ich!

25
Zwei Bäume streckten die Wipfel weit

In flammender, glühender Sommerzeit,
Daß nicht zu heiß die Sonne schoß
Die Strahlen auf den Wurzelsproß,
Daß nicht der Regen fiel zu dicht

30
Auf ihn, der trieb empor zum Licht.

So deckten wir unsre Sprößlein zu,
Wir beiden Bäume, ich und Du.

Der Herbst ist kommen, es fällt das Laub;
Die Blumen, sie werden des Frostes Raub.

35
Noch ragt des Baumespaars Geäst,

Denn Wurzel wuchs in Wurzel fest,
Und eins läßt von dem andern nicht,
Ob Zweig an Zweig der Sturm auch bricht.
Sie heben noch zum Himmel sich,

40
Die beiden Bäume, Du und ich.


Wie lang’ die Bäume noch halten Stand,
Steht in des ewigen Vaters Hand.
Ob ich, ob Du zuerst verdorrt –
Wir fügen still uns seinem Wort

45
Und leben fromm der Zuversicht:

Der harte Tod, er trennt uns nicht!
Wir sprossen auf aus des Sarges Truh’
Zu ew’gem Leben, ich und Du!

Und kommt der Winter und heißt’s: „Ade!“ –

50
Wer übrig bleibt, hat das schlimmste Weh;

Dann sei’s der Trost der Herzenswund’:
Bald kommt des Wiedersehens Stund’,
Und nichts mehr giebt's, kein Leiden, kein’s,
für die, die so tiefinnen eins! – –

55
Mach’, Vater, einst dies Hoffen wahr

Dem altgeword’nen Baumespaar!
 Emil Rittershaus.

[838]

Sabinens Freier.

Von W. Heimburg.

 (3. Fortsetzung.)

Ich stieg die Treppe des „Deutschen Hauses“ empor und suchte meine Stube auf; da lag auf dem Sofatisch ein Brief von meinem Reisekameraden. Ich nahm ihn, setzte mich auf das Sofa und riß den Umschlag auf, aber zu lesen begann ich noch nicht. Hinter meiner Stirn trieben sich die Gedanken im bunten Wirbel umher und machten es mir unmöglich, meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden.

Ich sah immer nur den Radowitz vor mir, groß und breit, und neben ihm Tante Klara im schönsten Einverständniß und ich hörte sie dann sagen mit ihrer spitzen Stimme: „Bedenke doch, Viktor, das Kind ist arm, ganz arm, und Oetzen ist doch schließlich ein recht anständiger Unterschlupf! Ach, all das andere Gethue ist ja Nebensache, Sentimentalität!“

„Hol’ Euch ein Donnerwetter!“ fluchte ich, „daraus wird nichts! Ich bin auch noch da!“ Und mit dieser halblauten Verwünschung riß ich den Brief aus dem Umschlag.

„Lieber Brenken,“ las ich, „was machen Sie denn? Betrügen mich und sich um die schönsten Stunden, lassen mich allein die Reise über den Gotthard machen und wollen nachkommen? Familienangelegenheiten? Ich habe Sie meintag nicht von solchen Sachen sprechen hören. Ihre Frau Schwester, die ich in der Behrenstraße traf, behauptet, nichts von solchen Dingen zu wissen; ich schwieg gleich still, weil man ja nicht ahnen kann, was Sie eigentlich vorhaben, und murmelte nur etwas von einem Pferdekauf.

Sie wollen sich doch nicht etwa verloben? Brenken!

Ich bitte Sie, kommen Sie doch recht eilig nach. Ich würde Sie gern in Berlin erwartet haben, aber so reisefertig hat man keine Ruhe mehr, daher gebe ich diese Zeilen bereits in Luzern zur Post. Um Mitternacht heute bin ich in Genua; ich werde am Ufer des Meeres sitzen und sehnsüchtig Ihrer harren. Avanti!

Brenken, der Himmel schütze Sie vor Thorheiten!
Ihr Leeden.“ 

Der ist verrückt! sagte ich, und in meinem Kopf wurde es plötzlich sehr, sehr ruhig. Nach einem Weilchen stand ich auf und machte mich ans Schreiben:

 „Lieber Leeden!
Ich meine, in Genua wird’s schon ein paar Tage allein auszuhalten sein; ich kann hier erst übermorgen abreisen, denn ich – hoffentlich ist es Ihnen nicht unangenehm – gedenke mein Pathenkind, eine junge Nichte von achtzehn Jahren, mitzubringen. Sie wird nicht stören, die Kleine; sie ist allerliebst. Sie muß sofort abreisen – na, das erzähle ich Ihnen, es sind das eben die Familienangelegenheiten. Bestellen Sie ein paar nette Zimmer im Gasthof! Ich telegraphiere, wann Sie uns empfangen können. Immer Ihr Brenken.“ 

Natürlich, sagte ich, während ich die Adresse schrieb, so wird’s gehen. Wofür ist man denn Onkel? Und schließlich kann ich mich doch nicht hierher setzen wie eine Gouvernante, um sie vor dem Radowitz zu schützen. Unterwegs werde ich ihr das in aller Ruhe klar machen; sie darf sich nicht Hals über Kopf in eine Ehe stürzen, nur um der Frau Großmama ein sorgenloses Dasein zu ermöglichen; sie muß dem ehestiftenden Einfluß dieser alten Dame unbedingt entzogen werden, auf längere Zeit und gründlich. Nach der Rückkehr aus Italien werde ich sie zu meiner Schwester bringen, und dort wird’s ja an Gelegenheit, eine Partie zu machen, nicht fehlen, wenn denn durchaus geheirathet werden soll.

Ich wunderte mich, während ich den Ueberzieher anzog, daß mir dieser Gedanke nicht schon früher gekommen war. Nein, mein bester Leeden, sagte ich und klopfte auf den Brief, den ich in meine Brusttasche gesteckt hatte, den Spaß mache ich Dir nicht, mich als Bräutigam vorzustellen! Da hinter den Ohren sitzen bereits einige graue Haare, na – Du sollst in mir den Onkel comme il fault kennenlernen. Etwas pedantisch vielleicht, etwas strenge, besonders gegen etwaige Freier – na – hm!

Ich ging hastig fort; ich wollte auf der Stelle mit Tante Klara sprechen. Ueberdies, es mußte ja schon spät sein, es war bereits ganz dämmerig geworden.

Aber nein, es war erst halb sechs Uhr, und um Sieben sollte ich kommen. Ich schlenderte mit meinem Brief nach der Post, ging dann nach einem kleinen Blumenladen und kaufte einen Kranz für Lenis Grab, und schließlich wanderte ich hinaus auf den Friedhof und legte das Gewinde der Epheublätter auf die Steinplatte, unter der sie schlief. Ja, ja, Leni. ich sorge für sie, dachte ich dabei, ich wache über sie, denn sie ist mein Kind, meine Tochter, sie soll nicht verkauft werden wie Du!

Es war wirklich Ruhe über mich gekommen, als ich das Brenkenhaus betrat. Dieser weiche Taumel, in dem mein Herz seit gestern schwamm, war verschwunden, mich hatte nur die Allgewalt der Erinnerungen gepackt und – diese Aehnlichkeit.

Gott sei Dank, Tante Klara saß allein in der Sofaecke! Weiter niemand da als die beiden Dachshunde auf der Ofenbank. In der Mitte des Zimmers stand schon der Tisch gedeckt auf der nämlichen Stelle wie früher, alles sehr zierlich und nett – eine Schüssel kalten Aufschnitts, grüne Petersilie darum, eine andere mit Salat; Tassen, Schinkenbrötchen – allerliebst! Es war auch ein wenig geheizt, und in der Ofenröhre summte der Messingkessel mit dem Theewasser.

Ich zog einen Stuhl zu Tante Klara hinüber und sagte vergnügt: „Hör’, Tante, ich habe ein Attentat auf Euch vor!“

Sie sah mich wehleidig lächelnd an. „Mein lieber Viktor, was denn?“

„Ich bin nämlich im Begriff, nach Italien zu reisen, Tante, und –“

„Du Glücklicher!“ seufzte sie.

„Und möchte mein Pathchen mitnehmen.“

Tante Klara setzte sich in die Sofaecke zurück, strich über ihr Shawltuch und räusperte sich; aus der Fensternische aber flog ein herzliches lautes Mädchenlachen herüber und Hella erschien hinter den weißen Musselinvorhängen.

„Du, Onkel, das ist eine Kateridee!“ rief sie, „zum Totlachen!“ Und in der That schien sie die Absicht zu haben, das letztere wahr zu machen, denn sie konnte sich kaum beruhigen.

Ich warf ihr einen wenig freundlichen Blick zu und wandte mich all die Tante. Aber diese flötete: „Ach, Viktor, dazu – nimm es mir nicht übel – Du bist zwar schon Stabsoffizier, aber dazu – dazu bist Du doch noch zu jung.“

Ich wollte auffahren, da trat sie herein, ein Körbchen mit Obst tragend, und in diesem Augenblick überkam mich ein unglaublich niederschmetterndes Gefühl, und das, was ich eben gewollt und so natürlich gefunden hatte, erschien mir selbst geradezu unmöglich. Nein, nein, schrie es in mir, sie ist weder Nichte noch Pathenkind, sie ist Leni, Leni, die Liebe meiner Jugend, der Traum meines Lebens – Leni, wie rette ich Dich, wie helfe ich Dir?

Bine hatte indes ihres Amtes als Wirthin gewaltet, so zierlich, so reizend, so ganz, wie ich es schon kannte von früher. Sie goß mir Thee ein, schnitt mir Brot und fragte, ob ich es hier nicht schon ganz gemüthlich fände. Und das liebe vertraute Gesicht lächelte mir zu und die rothen Lippen baten um Entschuldigung, daß nur ein so einfaches Essen aufgetragen sei. Dann blickten die klaren Augen die alte Dame an und senkten sich gleich darauf wie beschämt.

„Hör’ ’mal, Bine,“ begann das enfant terrible in meine Verwirrung hinein, „Onkel Viktor will Dich mitnehmen nach Italien.“

Sie lachte herzlich und unbefangen wie über einen köstlichen Spaß. Ich bückte mich nach meiner Serviette.

„Möchtest Du nicht, Binchen?“ fragte sehr langsam Tante Klara. Und ohne die Antwort abzuwarten, begann sie von dem Wunderlande zu sprechen und entwarf wahrhaft glühende Schilderungen, so daß selbst Hella ihre Teckel zu füttern vergaß, die, rechts und links von ihr sitzend, jeden Bissen zählten, der an ihnen vorüberging, und mit offenem Munde lauschte. Ich aber besann mich vergeblich, ob Tante Klara jemals dort gewesen sei; als ich sie endlich danach fragte, antwortete sie kurz: „Ja natürlich, wir waren doch auf der Hochzeitsreise da.“

Ich starrte sie an; so weit ich mich erinnerte, war diese [839] Reise nicht weiter gegangen als von Magdeburg, wo sie getraut worden war, bis nach Uelzen, wo ihr Mann damals stand. Ich schwieg aber; Tante Klara glaubte vielleicht, diese Reise wirklich gemacht zu haben. Warum ihre schönen Träume stören in Gegenwart der Enkelinnen!

Und die älteste Enkelin saß da und ihre lieben Augen blickten träumerisch in den dunklen Winkel des Zimmers, als sähe sie dort das wogende blaue Meer und die grüne Orangenwildniß, hinter der sich die kleine weiße Villa versteckte, in welcher die Großmama die süßeste Zeit ihres Lebens verträumt haben wollte.

„Und abends ruderte er mich beim Mondenschein aufs Meer hinaus, während aus dem Vesuv die rothen Flammen sprühten,“ schloß die Tante mit einem Seufzer, „es war wundervoll!“

Bines Gesicht war ganz rosig angehaucht, „Wie schön muß es gewesen sein, Großmama! Warum hat Mama nicht auch ihre Hochzeitsreise nach Italien gemacht?“ fragte sie leise.

Die alte Dame antwortete nicht, und Hella fiel ein, für ihren Theil müsse sie danken. Die Italiener seien geborene Thierquäler, und wenn sie auf Reisen gehe, so sei es nach Afrika – zu irgend einem Beduinenstamme, wo die Männer die Pferde so liebten wie ihre Frauen oder noch mehr. „Uebrigens habe ich gedacht,“ setzte sie hinzu, „es gebe Hasenbraten, Bine? Der alte ‚Knopp‘, der Radowitz, hat doch einen Lampe geschickt heute früh?“

„Hella!“ tadelte Tante Klara mit einem Blick zum Himmel empor.

„Na, er ist ja ganz ulkig, der Radowitz,“ plapperte sie weiter. „Wo ein anderer einen Blumenstrauß schickt, da schickt er einen Braten, und das ist ganz gescheit und den Umständen angemessen, nicht wahr, ihr Teckel? Onkel, hast Du Großmama auseinandergesetzt, daß die Hunde hier bleiben müssen, schon wegen der wilden Karnickel im Garten?“

„Ich bespreche nachher mit Deiner Großmama alles Nöthige – Du erlaubst doch, Tante? Vielleicht bald, wenn es Dir paßt?“

„Bine, räume den Tisch ab!“ befahl die alte Dame. „Hella!“ rief sie dann erregt „ich verbitte mir, daß die Hunde von unseren Tellern fressen!“

„Na, so appetitlich wie der Radowitz sind sie auch noch!“ antwortete das unartige Kind.

Es war wirklich unhöflich von mir, aber ich lachte laut auf.

„Du bist ihren Ungezogenheiten gegenüber ebenso nachsichtig wie ihr Vater,“ erklärte die Tante ärgerlich, mit einem Seitenblick auf Sabine, die eben der Thür zuschritt. „Schäme Dich, Hella, geh’ hinaus mit den Hunden – sofort!“

„Sehr gern, Großmama! Kommt – die Katz’ ist da!“ Mit einem wahren Höllenlärm verschwand das kecke Mädel und ihr bellendes Gefolge.

„Meine liebe Tante Klara,“ begann ich, als endlich auch Sabine sich leise mit den letzten Tellern entfernt hatte, „nun noch einiges über Deine Lage!“ Und ich machte ihr einige Vorschläge zu deren Verbesserung.

„Unmöglich, Viktor, das darf ich nicht annehmen!“ wehrte sie ab.

„Tante, Du hast um meine Hilfe gebeten und mußt sie Dir gefallen lassen, also erlaube, daß ich bestimme!“

Sie seufzte, und als ich endlich durch verschiedene Kunstgriffe ihr und den Mädchen ein einigermaßen erträgliches Dasein zu schaffen geglaubt hatte, seufzte sie abermals und brach dann in Thränen aus.

„Du bist ein guter Mensch, Viktor“ schluchzte sie, „was hast Du für ein goldenes Herz, wie glücklich hättest Du eine Familie gemacht! Ich werde es Dir ewig danken!“

„Nun aber verlange ich eine Gegenleistung, Tante.“

„Herr Gott Viktor, um alles in der Welt! Nein, wie Du so dasitzest und den Schnurrbart drehst – Du siehst aus wie ein Sekondelieutenant! Verlange nur das nicht, daß das Kind mit Dir nach Italien reisen soll, ich kann das nicht erlauben –“

„Beruhige Dich,“ sagte ich kühl, „Hella hatte recht – es war eine Kateridee!“

Sie sah mich an wie enttäuscht.

„Ich verlange nur von Dir, Tante, daß Du Herrn von Radowitz nicht etwa auch solche Komplimente sagst wie eben mir; er möchte es am Ende glauben und – ich würde ehrlich betrübt sein, wolltest Du eine Sache unterstützen, die den Keim des Verderbens bereits in sich trägt, Ich möchte das Kind nicht auch so unglücklich sehen wie einst – Du verstehst mich wohl?“

Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, und fing von neuem an zu schluchzen. „Die Verhältnisse, Viktor, die 0 unglückseligen Verhältnisse! Wir können Dir doch nicht ewig zur Last sein, wenn ich auch vor der Hand, so während des Trauerjahres, Deine Güte annehme; aber dann –“

„Gut, so versprich mir wenigstens, während dieses Trauerjahres keinerlei Versuche zu machen, Sabine Bayer in eine Baronin Radowitz zu verwandeln!“

„Ach, Viktor, mein theurer alter Junge, wie gern! Hier meine Hand! Ach Gott, sie ist ja auch so jung, so reizend, so viel zu schade für – für – verlaß Dich auf mich, ich wache über sie, ich –“

„Gut, Tante! Und nun – Ihr werdet müde sein, ich will Euch verlassen, ich habe auch noch meine Rechnung im Gasthof zu bezahlen, denn ich reise heute nacht mit dem Zwölfuhrzuge.“

„Schon? O Gott, und ich glaubte, Dich einige Tage hier zu haben; Du hättest so schön hier wohnen können, Viktor. Wir würden alles gethan haben, Dir das Leben im Hause gemüthlich zu machen.“

„Schade, Tante,“ sagte ich kühl, „ich habe eine Verabredung.“

„Viktor, vielleicht besuchst Du uns zu Weihnachten?“

„Das wird nicht möglich sein, Tante; ich habe zwei Monate Urlaub – bedenke, ich komme erst kurz vor dem Feste zurück!“

„Nein, nein, mein Junge, ich nehme den Korb nicht an. Vielleicht zu meinem Geburtstag im April?“

„Wollen sehen, Tante. Leb’ wohl! Wo sind die Mädchen? – Na, laß nur ich werde schon rufen draußen!“ Diesmal, obgleich widerstrebend, küßte ich ihr die Hand, und sie drückte das Taschentuch vor die Augen.

Auf dem großen Hausflur draußen brannte wie zu jenen Zeiten, als Tante Klara noch mit Leni hier wohnte, eine kleine Oellampe auf einem Eckbrettchen und erhellte kaum nothdürftig den großen Raum. Niemand hier. In der Mitte des Vorsaals schützte ein altersbraunes Geländer von drei Seiten die Treppenanlage; linker Hand die letzte Thür war die zu Lenis Stube. Ich schritt hinüber und pochte an. Als sie noch hier wohnte. hatte ich es nie gewagt, ob ich gleich mit Herzklopfen das braune Getäfel der Thür anzuschauen pflegte. Heute war ich der Onkel, der Pathe, der kam, dem Kinde – ihrem Kinde – den der Mutter gelobten Schutz angedeihen zu lassen. Als nun aber eine klare Stimme „herein!“ rief, da überfiel mich das alte Herzklopfen, nur stärker und kopfverwirrender noch als damals.

„Wahrhaftig, Du bist ein ganz thörichter Kerl!“ raunte eine Stimme in mir. „Lauf’ davon oder – nimm Dich zusammen! Achtung, Brenken, reiß Dich los!“

„Ach, Onkel Viktor, willst Du schon gehen – abreisen?“ Sie hatte die Thür aufgemacht und stand vor mir. „Komm’ doch herein,“ bat sie und zog mich über die Schwelle mit dem süßen Vertrauen eines Kindes, das einem erwachsenen Menschen seine Herrlichkeiten zeigen will. „Sieh eben bin ich fertig geworden mit Einräumen, nur noch ein paar Bilder habe ich aufzuhängen. Onkel!“ bat sie, „es ist eigentlich ganz schrecklich unbescheiden – schlag’ mir den Nagel ein für Mamas Bild, hier hast Du Hammer und Nägel – bitte, bitte!“

Sie hatte mir beides in die Hand gegeben. „Wo soll es denn hängen?“ murmelte ich und riß meine Augen von ihr los.

„Hier, Onkel, in der Fensternische über dem Nähtischchen – ich leuchte Dir!“

Ich setzte den Nagel in der angegebenen Höhe an die Wand, hob den Hammer und – schlug mich unbarmherzig auf die Finger; natürlich, mir flimmerte es ja in allen Farben vor den Augen – ich sah eben nichts, nichts als sie.

„Onkel, um Gotteswillen!“ rief sie, und im Nu stand die Lampe auf dem Tisch und sie hatte meine Hand ergriffen. Ich fühlte, wie die ihrige zittert. „Mein Gott, wie kindisch, das von Dir zu verlangen!“ schalt sie sich. Nun tauchte sie ein Taschentuch in kühles Wasser und wand es um die schmerzenden Finger, und ich fühlte doch kaum das Brennen der kleinen Verletzung. Dann lief sie hinaus – sie hatte etwas von Arnika gesprochen – und ich saß auf dem altmodischen kleinen Diwan, auf dem Leni einst gesessen hatte, und starrte zu dem uralten Bett hinüber und zu der Kommode, dem Spiegel, an dem eine [840] kleine Schleife befestigt war, wie man sie beim Kotillon bekommt, roth und blau – die Regimentsfarben!

Wieder packten sie mich, die alten Schmerzen, und dazu gesellte sich ein neues berauschendes Hoffen.

Ich sprang empor. „Brenken, der Himmel schütze Sie vor Thorheiten!“ Die Worte, die ich vorhin gelesen hatte, tönten mir ins Ohr. Festen Schrittes verließ ich die Stube und nahm mir in der Nähe des Lämpchens Hut und Ueberzieher. Drunten im Hausflur traf ich Bine, sie kam aus dem Zimmer der alten Mutter Buschen, mit einem Fläschchen in der Hand.

„Es hat so lange gedauert!“ sagte sie, „aber oll Mutter Buschen ist schon ein bißchen umständlich, sie hat Tropfen für Tropfen aus einer der großen Flaschen gegossen in der noch die Arnikablüthen umherschwimmen. Du willst fort? Bitte, Onkel, nimm es mit, Dein Diener kann Dir ja leicht den Finger verbinden!“

„Leb’ wohl, Leni,“ sagte ich, das Fläschchen mechanisch in die Tasche meines Ueberziehers steckend, „leb’ wohl, und auf Wiedersehen!“

„Leb’ wohl, lieber Onkel!“ Ihre schlanken Arme hoben sich und legten sich um meinen Hals, und in dem dürftigen Schein des Lichtes sah ich ihr Gesicht vor mir, dicht vor mir die lieben, von schwarzen Wimpern umrahmten Augen, diese rothen, kindlich schön geformten Lippen. – Ach, sie wußte nicht, was sie heraufbeschwor in diesem Augenblick! „Grüße Italien, Onkel, und hab’ Dank für alle Deine Güte, Du lieber, lieber –“

Das „Onkel“ erstickte in dem Kuß, den meine Lippen leidenschaftlich auf die ihrigen preßten, Ich ließ sie hastig, fast erschreckt frei; einen Augenblick sah ich noch ihr rosiges halb verlegenes, halb staunendes Gesicht, dann stürmte ich hinaus.

Gottlob, herbe kalte Luft für meine heiße Stirn, Luft für meine gepreßte Brust – ich konnte frei athmen. Ich schritt in der dem Gasthof entgegengesetzten Richtung davon und nach einer Stunde eiligen Gehens fand ich mich doch wieder vor dem alten Hause. Nirgends mehr Licht, obgleich es kaum neun Uhr war; aber ihr Zimmer lag ja nach dem Garten zu, und – –

„Guten Abend, Onkel! Freut mich, daß ich Dir noch Lebewohl sagen kann,“ tönte eine frische Stimme an mein Ohr.

Unangenehm überrascht fuhr ich herum – natürlich Hella, im Gefolge von „Donnerwetter“ und „Parapluie“.

„Um alles in der Welt, wie kommst Du denn heute abend noch auf die Gasse?“

„Ich war beim Wachtmeister, wegen des Ausreitens,“ sagte sie.

„So?“

„Ja! Du hast mir doch zehn Mark geschenkt, Onkel, und die Gärtnerfrau borgt mir den ‚Hans‘ für fünfzig Pfennig die Stunde.“

„Aha!“

„Du gehst wirklich heute nacht, Onkel?“

„Ja, um zwölf Uhr.“

„Und vorläufig allein!“ kicherte sie. „Nein, Onkel, bist Du ein drolliger kleiner Mensch, daß Du so gar nichts merkst!“

Was wollte sie denn? Aergerlich wandte ich mich um; sollte diese kleine Kröte die Manöver der Frau Großmama richtig durchschaut haben? „Ich merke nie etwas, Hella,“ sagte ich trocken. „Aber nun gute Nacht! Schlafe schön!“

„Na, warte doch ’mal, Onkel, ich muß mich doch bei Dir revanchieren, Du hast mir ja die Teckel gerettet! Darf ich?“ Sie nahm meinen Arm und pfiff den Hunden. „Ich werde Dich nach Hause begleiten, Onkelchen, komm’, und unterwegs erzähle ich Dir etwas und zuletzt gebe ich Dir noch einen guten Rath, mein lieber kleiner Onkel. Also hör’ zu!“

(Fortsetzung folgt.)

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der Struwwelpeter bei Kaiser Wilhelm I.

Die Leser der „Gartenlaube“ müssen sich noch einmal vom Struwwelpeter erzählen lassen; ich kann aber tröstend versichern, daß dieses zweite Mal das letzte Mal sein wird. In der ersten Nummer der „Gartenlaube“ dieses Jahres habe ich von der Entstehung und den weiteren Lebensschicksalen meines unverbesserlichen Wildlings berichtet und dabei die Bemerkung eingeflochten, daß ich wohl gerne von einer Begegnung mit unserem Kaiser Wilhelm I. Mittheilung machen möchte, daß ich aber vorderhand der Meinung sei, daß damit noch etwas gewartet werden sollte. Diese Bedenken sind nunmehr beseitigt, und so will ich eine kleine Geschichte mittheilen, die nicht ohne Anmuth ist und die zugleich die wohlthuende Absicht erfüllen mag, dem Andenken eines großen und edelherzigen Monarchen, unseres verstorbenen Kaisers Wilhelm I., einige bescheidene Dankworte zu widmen und den Beweis zu liefern, daß dieser heldenhafte und rastlos thätige Fürst auch für die kleinen Bedürfnisse und Freuden des Lebens ein warmes Herz im Busen trug. Zugleich kann ich meinem verstorbenen Freunde, dem Präsidenten von Madai, ein Wort dankbaren Andenkens nachrufen.

In den ersten Wochen des Monats Oktober 1877 war die Einwohnerschaft meiner Vaterstadt Frankfurt a. M. in ungewöhnlicher Aufregung, man errichtete Reihen von Masten, schmückte sie mit Kränzen und grünen Gehängen, Fahnen flatterten, zur Illumination wurden Vorkehrungen getroffen; am Bahnhof und auch noch anderwärts wurden hohe Ehrenpforten eiligst aufgebaut; alle Arten von Ausschüssen waren zusammengetreten, hatten Geld zusammengebracht, und nun verhandelten sie über den Festverlauf. Der Empfang, der Fackelzug, die Kinderzüge, der Fahnenschmuck, „zoologisches“ Frühstück, Umfahrt, Kaiserdiner, Zapfenstreich und anderes mehr, das waren die Gegenstände der Gespräche und der Inhalt der Lokalnotizen der Tagesblätter.

Kaiser Wilhelm hatte der Stadt seinen Besuch auf den 18. und 19. Oktober angesagt, Ich selbst war persönlich nur wenig von der Erregung berührt, da ich eine halbe Stunde von der Stadt entfernt in unserem Krankenhause still meines Amtes waltete. Seit dem Jahre 1848 hatte ich mich der aktiven Theilnahme an unserer kleinen Lokalpolitik sorglich enthalten und hatte die Ansicht ausgesprochen, daß es auch verdienstlich sei, hier in Frankfurt, wo die Mehrheit mitregierte, die Minderheit, welche sich regieren ließ, zu vermehren. Ich und unsere Anstalt, wir befanden uns ganz wohl in solcher Lage.

Da erschien der Pförtner unseres Hauses und übergab mir einen Brief, dessen Empfang ich auf einer Liste von fünf bis sechs Namen bescheinigen mußte; ich that es und schrieb an einem Bericht für den Magistrat weiter; dann aber erbrach ich das Schreiben und las: „Seine Majestät der Kaiser und König laden Euer Hochwohlgeboren auf Freitag den 19. Oktober nachmittags 5 Uhr zum Diner im Kaiserlichen Oberpostamtsgebäude ein. Anzug: kleine Uniform; für die Herren, die keine Uniform tragen, schwarzer Frack und weiße Halsbinde. Auf Allerhöchsten Befehl: von Lucadou, Generalmajor und Kommandant in Frankfurt a. M.“

Das war eine Ueberraschung und eine Genugthuung zugleich. Für die vorgeschriebene Kleidung war bald gesorgt. Der alte Frack wurde aus dem Schranke geholt; zwar meinte meine sorgliche Frau, es sei ganz unthunlich, daß ich in dem alten Kleidungsstück dort erscheinen könne; ich aber entgegnete: „Warum denn nicht? Das ehrwürdige Gewand ist, seit ich es besitze, schon zweimal aus der Mode gekommen und dann doch wieder modern geworden; der alte treue Gesell soll mich bekleidend begleiten.“ Als ich dann später nach dem Festmahl heimkam, war ihre erste Frage: „Wie war es?“ – worauf ich scherzend erwiderte: „Sehr schön! Als ich eintrat, kam der Kaiser auf mich zu und sagte: ‚Hoffmann, was haben Sie für einen wunderschönen Frack an!‘ und ich werde im Leben keinen andern mehr tragen.“ Jetzt hängt der alte Gesell wieder im Schranke und wartet geduldig, ob er noch ein viertes Mal wieder zur Mode werde.

Am nächsten Tage, am 18. Oktober, wehten von unserem Gebäude und von meinem Balkon die deutschen Fahnen, das Wetter war klar und etwas kühl, der Barometer stand hoch und die nächste Zukunft war gesichert. Den Tag über war ich in der Anstalt beschäftigt und konnte erst gegen Abend um halb sechs Uhr nach der Stadt gehen, Alle Straßen und Plätze, durch die der Einzug seinen Weg nehmen mußte, waren aufs reichste geschmückt, vom Bahnhof bis zum Postgebäude auf der Zeil überall Fahnen, Masten mit grünen Gewinden, und ebenso die

[841]

Das Weihnachtslied.
Nach einer Originalzeichnung von O. Gräf.

[842] Häuser verziert, allerorts arbeitete man noch eifrig an der Gasbeleuchtung. Wir gelangten durch das mehr und mehr anwachsende Gedränge glücklich zu dem befreundeten Hause auf der Zeil, wo wir den Einzug bequem überblicken konnten. Die Straßen, die Plätze waren dichtgedrängt voll Menschen, es war wohl ganz Frankfurt auf den Beinen, und aus der Nachbarschaft mochten mehr als 100000 Schaulustige hereingeströmt sein. Alles war in Erwartung, da – kurz nach acht Uhr, als sich schon volle Dunkelheit vom Himmel heruntergesenkt hatte, erklangen alle Glocken der Stadt mit weithintönendem Schall. Es war ein feierlicher Willkommgruß von mächtigem gewaltigen Eindruck. Jubelrufe kamen aus der Ferne, sie wuchsen an, sie kamen näher, sie brausten rings um uns empor, und nun fuhren etwa zehn Wagen an uns vorbei die große breite Straße hinauf. Meist schrien die Leute dem ersten Wagen zu, aber der Kaiser saß im zweiten mit einem Herrn in Civilanzug; in den andern befanden sich meist Herren in glänzenden Uniformen. Endloses Hochrufen begleitete die Wagen bis zu ihrem Ziele, das Volk schrie aus voller Brust und aus vollem Herzen; der Kaiser war eingekehrt.

Am 19. Oktober, einem Dienstag, fuhr ich dann gegen fünf Uhr abends in der vorgeschriebenen Kleidung zum Kaiseressen nach der Post. Die Straße war wieder voll Menschen, so daß die Schutzleute nur mit Mühe den Raum in der Mitte für die Wagen frei halten konnten. Schon an der Liebfrauenstraße stockte die lange Reihe, und nur langsam ging es vorwärts zur Anfahrt. Dort aber war alles gleichfalls mit Blumen geschmückt und Treppen und Vorraum mit Teppichen belegt; man hatte das alte Gebäude so jung zu machen versucht, als es eben möglich war. Kaiserliche Lakaien nahmen uns die Ueberröcke ab, und ich kam mir mit einem Male sehr vornehm vor. Im ersten Zimmer war ein Hofbeamter in Uniform und an Orden reich, bei dem ich mich namentlich anmeldete. „Wollen Sie hier in diesem Zimmer bleiben! Sie werden hier speisen, man bringt die Tafeln herein.“

„Gut! Besten Dank!“

Ich traf viele Bekannte aus der Stadt, Juristen, Aerzte, Kaufleute und mancherlei Rentiers; es mögen etwa 30 bis 40 Personen gewesen sein, und dann die Spitzen der Verwaltungsbeamten, der Gerichte und des Militärs.

Zuerst begrüßte mich mein alter treuer Freund, der Polizeipräsident von Madai, der früher in gleicher Stellung sich hier in Frankfurt in den ersten schwierigen Zeiten der verlorenen Selbständigkeit die allgemeinste Anerkennung zu gewinnen verstanden hatte und der mir in jahrelangem amtlichen Verkehr eine nie gestörte Zuneigung bewiesen hatte. Er empfing mich hocherfreut und herzlich. Ferner begegnete ich dem Leibarzte des Kaisers, dem Dr. von Lauer, den ich vor einigen Jahren in Ems kennengelernt hatte. Es war dies ein reichbegabter und vielseitig gebildeter Mann; ich bin nie einem zweiten begegnet, der eine solche Masse von Anekdoten und Citaten aus allen Sprachen, Büchern, Völkern und Ländern in seinem Kopfe vorräthig hatte; man hörte von ihm Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, alte und neue Litteratur, und dies alles dicht beieinander und durcheinander. Hier hatte ich nun gleich Gelegenheit, durch eine Schwäche meiner Hirnfunktion in eine unangenehme Verlegenheit zu gerathen und zugleich zu erproben, daß man durch Unverfrorenheit auch da sich heraushelfen kann. Ich litt von je an einem etwas unzuverlässigen Gedächtniß, namentlich war ich jetzt in Bezug auf die Namen meiner Bekannten oft ganz rathlos. Als ich nun mit dem kaiserlichen Leibarzte sprach, brachte dieser plötzlich ein Citat aus Pindar an. Neben uns stand aber in demselben Augenblick der verdienstvolle Direktor unseres Gymnasiums, Professor Tycho Mommsen, Herausgeber und Uebersetzer des Pindar. Als dieser nun seinen griechischen Pflegling von dem Herrn in glänzender, mit reichstem Ordenschmucke überdeckter Uniform angeführt hörte, trat er gleich zu mir und bat mich, ihn vorzustellen. Ich that es bereitwillig also: „Excellenz der Herr Generalstabsarzt und Leibarzt Sr. Majestät, Dr. von Lauer! Und unser verdienstvoller Direktor des Gymnasiums, Herr Professor Dr. – –“ Ja! Wie heißt er? Totale Lücke! – Ich fasse mich kurz und sage schließlich murmelnd: „Herr Professor Dr. Br–br–br–“ und entferne mich so schnell als möglich. Mommsen und Lauer waren gleich tief in Pindarsche Siegeshymnen versunken; ich aber eilte zu einem nahestehenden Bekannten und ließ mir den Namen des Direktors ins Gedächtniß zurückrufen. Dann kehrte ich rasch zu den beiden „Griechen“ zurück und frug Lauer: „Ich habe Ihnen wohl den Namen des Herrn Direktors nicht deutlich genug ausgesprochen?“ Lauer erwiderte: „Ja, ich habe ihn gar nicht verstanden,“ worauf ich das Fehlende mit den Worten ergänzte. „Es ist der berühmte Bruder des berühmteren Bruders, der Gymnasialdirektor Mommsen.“ So war der Fehler leidlich verbessert, und ich überließ die beiden der Antike. Später, als wir bei Tisch zusammensaßen, gab ich ein reuevolles Bekenntniß meiner Schwäche und erhielt bereitwillig Absolution; es wurden ähnliche Verstöße von einer und der anderen Seite vorgebracht. Das alles gehört nun eigentlich nicht zu meiner Geschichte, aber wenn man in der Vergangenheit spazieren geht, so liebt man auch mitunter kleine Nebenwege, auf den Hauptweg kommen wir doch wieder.

In dem zweiten Saale waren die höheren Staats- und Stadtbeamten und die Frankfurter Finanzgrößen versammelt. Nachdem unsere lebhafte, doch gemäßigt laute Unterhaltung einige Zeit gedauert hatte, erschien der königliche Hofmarschall in unserem Raum, stieß dreimal seinen mit silbernem Knopfe verzierten Stab auf den Boden und verkündigte: „Seine Majestät will die anwesenden Gäste begrüßen.“ Kaiser Wilhelm trat ein und machte in Begleitung unseres Oberbürgermeisters Dr. von Mumm bei den im Kreise stehenden Herren die Runde. Er richtete an die meisten ein paar freundliche Worte; so sagte er zu mit: „Es ist freilich besser, wenn die Aerzte im allgemeinen nicht allzu viel zu thun haben.“ Ich erwiderte, daß die mir anvertrauten Kranken von keinen epidemischen Einflüssen abhingen und die Zahl derselben an der Anstalt meist ungefähr die gleiche bliebe. Damit war die Ceremonie abgethan. Soviel war mir klar, daß es doch eine schwere Aufgabe sein müsse, so alle paar Tage einer Anzahl von Leuten irgend etwas sagen zu müssen, zu denen man eigentlich wenig oder gar keine direkte Beziehung hat. Ich dachte an den reichen Mann, der wohl gern Almosen giebt, dem aber zuletzt doch das Kleingeld ausgegangen ist und der deshalb leicht in Verlegenheit kommt.

Als diese Begrüßung zu Ende war, öffnete sich eine Seitenthür und Lakaien trugen die kleinen gedeckten Tische herein, an denen je etwa zehn Personen Platz fanden. Das Essen war gut, ich habe nie ein so weiches Filet gegessen, was den zahnarmen Doktor und andere wohl auch nur erfreuen konnte. Auch die Weine waren vorzüglich, Madeira, feiner Bordeaux, Rauenthaler und Schaumwein. Es wurde rasch aufgetragen und die ganze Prozedur war in dreiviertel Stunden zu Ende. Die Unterhaltung war recht belebt und unbehindert. Mit uns am Tische waren unter anderen Dr. von Lauer, Mommsen und Herr von Wilmowsky, der dem Kaiser nahestehende Chef des Civilkabinetts, der in liebenswürdigster Weise gewissermaßen die Honneurs des kleinen Kreises machte und mit dem sich ein leicht fließendes Gespräch unterhalten ließ ... der Kaffee wurde gebracht, die zersplitterte Unterhaltung ging weiter und die Tische verschwanden ebenso lautlos, wie sie gekommen waren. Geraucht wurde nicht; ich hätte gern eine Imperialis versucht, wenn es deren gegeben hätte; doch war es recht gut, denn sonst hätte sich in den engen, ziemllch niedrigen Räumen des alten Baues wohl ein gar zu mörderischer Qualm entwickelt.

Mitten in die sich wieder bildenden Gruppen kam nun plötzlich Madai zu mir und theilte mir mit, er habe Seiner Majestät soeben gesagt, daß sich der Verfasser des „Struwwelpeter“ hier befinde; der Kaiser wolle mich noch einmal sprechen. Im höchsten Grade überrascht folgte ich ihm sogleich. An der Thür des zweiten Saales kam der Kaiser mir freundlich entgegen, reichte mir die Hand und sprach zu mir, er habe meine Bücher gelesen und sich recht sehr darüber gefreut. Ich verbeugte mich geziemend und erwiderte: „Majestät, ich hatte mich mit den kleinen Schriften eigentlich nur an die Herzen der Kleinen gewendet; ich erfahre nun, daß ich damit auch die Herzen der Großen gewonnen habe. Kann ich einen schöneren Erfolg wünschen?“ Er frug darauf: „Ruht denn jetzt Ihre Feder?“ Darauf entgegnete ich: „Ich bin Direktor der Irrenanstalt; mein Beruf ist ein so ernster, daß die Augenblicke freier Stimmung zu selten sind, um solche Nebendinge zu betreiben; auch bin ich zu alt. Uebrigens haben wir die hundertste Auflage herausgegeben, und mehr kann ich doch nicht [843] verlangen!“ Der Kaiser drückte darüber seine anerkennende Freude aus und wandte sich darauf an Herrn von Madai mit den Worten: „Ich danke Ihnen!“ Ich verbeugte mich, und die Audienz war zu Ende.

Es mag mich wohl mancher in der Gesellschaft beneidet haben, und ich glaube einige erstaunte Augen bemerkt zu haben von Leuten, die sich wunderten, daß ein stiller alter Doktor solche Auszeichnung erfahren konnte; ja, eine der Finanzgrößen unserer Stadt, die mich sonst nicht einmal grüßte, trat auf mich zu und reichte mir auch huldvollst die Hand! Das Fest war zu Ende, ich ging nach meinem Wagen und fuhr, nunmehr behaglich meine Cigarre rauchend, heim nach meiner entfernten Wohnung. So eilig hatte ich meinen Rückzug angetreten, daß ich nicht einmal Gelegenheit fand, dem Freunde Madai zu danken. Das wollte ich dann am nächsten Morgen brieflich nachholen. Ich meinte nun noch weiter, daß ich mich über den Verlauf der Festtage in unserer Stadt aussprechen und dabei namentlich hervorheben sollte, daß all der Jubel aus warmfühlenden einigen Herzen entsprungen sei, und daß dieser Tag ein Tag der Versöhnung mit der neuen Reichsverfassung gewesen sei. Da ich aber wußte, daß Madai wöchentlich zweimal bei dem Kaiser erschien, um ihm über die Angelegenheiten seiner Residenzstadt zu berichten, so glaubte ich, daß möglicherweise mein Bericht im Munde des Polizeipräsidenten von Berlin für unsere Stadt von Nutzen sein und auf die Stimmung des Kaisers über Frankfurt doch einigen Einfluß gewinnen könnte. Ich fügte schließlich bei, auf der Treppe beim Weggehen sei mir der Gedanke gekommen, ich hätte dem Kaiser die Frage stellen sollen, ob ich ihm die kleinen Hefte nicht zusenden dürfe, natürlich nicht für ihn selbst, sondern für seine Enkel; doch sei es auch so gut, da ich ja nicht wüßte, ob der Kronprinz noch so kleine Kinder habe, um solche Dinge zu verwenden. Es sei also doch besser so.

Damit glaubte ich nun, daß die Sache zu Ende, zu einem für mich ehrenvollen und erfreulichen Ende gelangt sei. Dem war aber nicht so, und es entwickelte sich daraus weiter ein ganz eigenthümlicher mittelbarer Briefwechsel.

Ich erhielt nämlich am 24. Oktober eine Antwort von Madai, die mich in das höchste Erstaunen versetzte; er schrieb mir:

 „Hochgeehrter Freund!
Selbst auf die Gefahr hin, von Ihnen einer – wenigstens nicht übel gemeinten – Indiskretion geziehen zu werden, habe ich es mir nicht versagen können, Sr. Majestät unserem, wie Sie mit Recht sagen, herrlichen Kaiser und Herrn bei dem heutigen Vortrage Ihren so patriotischen Brief vom 20., soweit derselbe Se. Majestät und die Gewinnung der Frankfurter Herzen durch ihn betrifft, vorzulesen, und der Kaiser hat mich beauftragt, Ihnen zu wiederholen, daß es ihm wahrhaft erfreulich gewesen wäre, den Verfasser des Struwwelpeter kennengelernt zu haben, und Ihnen zu sagen, daß er Ihre fünf Bilderbücher – jedoch nicht für seine Enkel, sondern für sich persönlich – dankbar annehmen würde. Ich stelle mich Ihnen mit großer Freude als Ueberbringer der zusammengebundenen fünf Bilderbücher nebst deren Widmung zur Verfügung. Der Kaiser ist über den ihm in Frankfurt bereiteten herrlichen Empfang in hohem Grade erfreut und giebt seiner Befriedigung bei jeder Gelegenheit den freudigsten Ausdruck. Gott erhalte uns den gnädigsten Herrn noch recht lange Jahre! – – – Schönstens grüßend bin ich Ihr treu ergebener v. M.“ 

Da war es nun geschehen und mehr erreicht, als ich je gewollt! Nun hieß es, rasch ans Werk! Schnell schreibe ich dem Freunde ein paar Dankesworte, eile dann zu dem Verleger, suche möglichst gute Exemplare aus und lege als sechstes Heft auch noch die Melodien bei, die der Musikdirektor Haßla in Würzburg zu den Versen zusammengestellt hatte, und bringe das alles dem Buchbinder, daß er es anständig elegant mit Goldschnitt einbinde. Dann besuchte ich noch den Polizeipräsidenten von Hergenhahn, um mich, der ich in solchen Dingen unerfahren war, über Widmungsformel und Titulatur belehren zu lassen. Als ich dann nach ein paar Tagen das kleine Quartbändchen in präsentablem Gewande erhalten hatte, machte ich alles ordnungsgemäß zurecht; auf der Decke stand „Der Struwwelpeter und seine vier Geschwister“. Auf das zweite Vorblatt aber schrieb ich folgende Strophen:


  Die Nachzügler vom 18. Oktober 1877.

Frohe Knnde ward vernommen,
Fackeln glühten, Lieder schallten;
Unser Kaiser war gekommen,
Einkehr in die Stadt zu halten;
Und das Liebste, was wir haben,
Unsre Kinder, unsre Knaben
Schritten vorn im langen Zuge.

Doch nicht alle; – einige blieben
Scheu zu Hause still verborgen.
Nun hat uns ein Freund geschrieben:
„Kommt nur ohne Angst und Sorgen!“
Und da sind sie! Zögernd schreiten
Durch des Schlosses Herrlichkeiten
Sie in alten Werktagskleidern.

Ach, sie werden dort, so denk’ ich,
Nicht zum besten sich betragen,
Weil sie täppisch ungelenkig
Waren schon in früh’sten Tagen,
Möge freundlich man vergeben!
Wie sie sind, so sind sie eben,
Doch im ganzen gute Jungen.

 Frankfurt a. M. Im Oktober 1877.


Das Buch wurde sorglich verpackt und am 5. November an Madai abgesendet; ich legte einen Brief an denselben bei, der also lautete:

 „Hochgeehrter Freund und wohlwollender Protektor!
Ich übersende Ihnen hiermit das Buch. Sie haben mir gütigst zugesagt, ein freundlicher Führer für meine kleine bunte Gesellschaft sein zu wollen, wenn dieselbe das kühne Wagniß bestehen will, vor der Kaiserlichen Majestät zu erscheinen. Ich gebe den Kindlein meinen väterlichen Segen mit; Sie aber werden ihnen kein Stiefvater sein. – Die Unbedeutendheit des Gegenstandes verlangt ein einfaches Kleid, und übermäßige Goldverzierung hätte dem Buche schlecht gestanden. Ich habe den fünf Heften noch ein sechstes beibinden lassen, nämlich den musikalischen Struwwelpeter; ein Musikdirektor a. D., Herr Haßla in Würzburg, hat die mich verblüffende Idee gefaßt, bekannte Opern- und Liedermelodien dem gar nicht dafür berechneten Texte unterzulegen. Und siehe! es ging, und manches ist recht komisch und gut gelungen, viele Kinder singen die Lieder. Ich dachte der Kuriosität wegen das Heft beilegen zu dürfen. So kann es geschehen, daß musikalische Hofdamen noch einmal den Struwwelpeter in einem Hofkonzert vortragen. Wie hätte der ungeleckte Bär bei seinem Entstehen an eine solche Möglichkeit denken können! Die Einführungsverse auf Blatt 2 werden wohl in ihrer Bescheidenheit die Sonderbarkeit der Gabe entschuldigen und von Seiner Majestät nicht ungnädig aufgenommen werden. Für Ihre große Güte und Liebenswürdigkeit aber sage ich Ihnen zum voraus den herzlichsten und wärmsten Dank. Ihr dankbarer treuer Freund Dr. H.“ 

Am 13. November wurde das Buch dem Kaiser überreicht. Madai las selbstverständlich wie früher wieder den vorstehenden Brief vor und berichtete nun über den Hergang in nachstehenden Zeilen:

Berlin, den 14. Nov. 1877.     
 „Hochgeehrter theurer Freund!
Wegen der Abwesenheit des Kaisers bin ich erst gestern imstande gewesen, Sr. Majestät Ihre bunte kleine Gesellschaft in ihrem schönen Festgewande zu überreichen, und bin von ihm beauftragt, Ihnen seinen besonderen Dank für die Erheiterung auszusprechen, die ich ihm bereiten durfte. Auch Ihre Dedikation, die ich ihm vorlesen durfte, sowie Ihr so humoristischer Brief an mich, den ich mir nicht versagen konnte, von Anfang bis zu Ende vorzutragen, hat den herrlichen hohen Herrn sichtlich ergötzt, und beim Weggehen rief Majestät mir noch nach: ‚Aber danken Sie Herrn Dr. Hoffmann ja recht sehr!‘ Ich stehe Ihnen nicht dafür, daß der Kaiser sich den musikalischen Struwwelpeter, den er sich ganz genau ansah, nicht nächstens vortragen läßt. Die bunte kleine Gesellschaft ruht vorläufig auf dem Schreibtisch Sr. Majestät. Es ist mir eine wahre Freude gewesen, dieselbe an allerhöchster Stelle einführen zu dürfen . . .
Ihr treuer Freund v. M.“     

Daß ich dem liebenswürdigen Vermittler in Berlin entsprechend erwiderte, ist selbstverständlich, und ich meinte, daß nun der letzte Akt dieses heiteren Spieles zu Ende wäre, allein wieder täuschte ich mich: der letzte sollte erst ein paar Wochen später folgen. –

Das Christfest wurde in der Anstalt, in der wir wohnten, und bei uns im Familienkreise gefeiert; alle die Meinigen waren bei uns versammelt, und alle waren glücklich und zufrieden, so die Geber wie die Empfänger. Die Kerzen am hohen Tannenbaum waren fast herabgebrannt. Da brachte bei heftigem Schnee- und Regenfall ein besonderer Postbote zwischen sieben und acht Uhr abends eine flache Kiste – Absender: von Madai; vom Regen war sie tüchtig naß geworden. Ich meinte wohl, es könne das Porträt Madais sein, welches ich vor ein paar Tagen in den Schaufenstern gesehen hatte. Vorsichtig mit Hammer, Meißel und Schraubenzieher wurde die Sendung eröffnet – und wir erblickten das Bild unseres Kaisers in geschnitztem Holzrahmen, trefflich gelungen, mild und freundlich mit seiner eigenhändigen Unterschrift: „Wilhelm, Imper. Rex. 1877.“ Es lag ein Blatt von der Hand Madais bei mit folgendem Wortlaut:

Berlin, den 22. Dezember 1877.     

 „Mein hochverehrter Freund!
Se. Majestät der Kaiser hahen die Gnade gehabt, für Sie sein mit seiner eigenhändigen Unterschrift versehenes Bild zu bestimmen, und ich bin so glücklich, Ihnen dasselbe im Auftrag Sr. Majestät überreichen zu dürfen, eine Weihnachtsgabe, um welche Sie Millionen beneiden werden. Indem ich Ihnen und Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin ein recht frohes Fest wünsche, bin ich in aufrichtiger Hochachtung Ihr treu ergebener
v. M.“     

[844] Man kann sich unsere freudige Ueberraschung denken; Rührung ergriff mich über diesen Beweis eines königlichen Wohlwollens und solcher feinfühlenden Güte. Am nächsten Tage sendete ich ein vorläufiges Danktelegramm und ließ diesem am 27. den nachstehenden Brief folgen:

 „Hochgeehrter Herr Präsident, theurer und treuer Freund!
Ein eiliges Dankeswort wird Ihnen der elektrische Draht überbracht haben; mein Herz drängt mich aber, wenn auch nur in Kürze, etwas ausführlicher mich auszusprechen. Vor allen Festtagen des Jahres halte ich das Christfest hoch; es liegt ein unaussprechlicher Segen in dieser Zeit auf der christlichen Welt; es sind Tage, wo jeder dem andern, dem Nächsten und dem Entfernteren, Gutes und Erfreuendes thun will, ein anderer Gedanke hat für diese Tage in den Herzen von Hunderttausenden gar keinen Raum, und ich habe immer gemeint, daß Geben seliger sei als Nehmen – nun, diese Weihnacht hat mir einmal das Gegentheil bewiesen.

Wir alle, unsere Kinder, die Enkel und einige Freunde waren am Heiligen Abend bei uns vereinigt; der Kinderjubel war etwas beruhigt, die Kerzen des Baumes brannten noch fast verglimmend und nur das Gefühl ruhiger Freude und stiller Liebe herrschte noch in dem kleinen Kreise; da brachte ein besonderer Abendpostbote die Sendung des lieben treuen Freundes aus Berlin. Alles umstand mit ungeduldiger Freude die mit Sorgfalt zu eröffnende Kiste. Aber welche Ueberraschung, welch ein freudiger Dank wurde laut, als das freundliche, so sehr getroffene liebe Bild unseres Kaisers uns an diesem schönen Abend begrüßte! Wir alle erkannten in dieser sinnigen Gabe die ganze Herzensgüte des hohen Herrn, die ja überall einen erobernden Zauber ausübt, weil er in höchster irdischer Stellung menschlich warm fühlt und ja immer das Rechte und Beste zu sagen und zu thun weiß.

Freilich gab es gleich Streit in dem sonst so friedfertigen Hause; meine Frau wollte das Bild in dem Wohnzimmer, ich in meinem Arbeitszimmer aufhängen, endlich vereinigten sich alle für das Eßzimmer; da werde der Kaiser mit uns frühstücken, zu Mittag essen und abends mit uns Thee trinken, und so geschah es und so bleibt es. Nun aber ist auch der Gedanke gekommen, daß Nehmen auch selig ist! Ich werde auf der Rückseite des Bildes die Veranlassung der Gabe und die Jahreszahl notieren, damit es von meinem Geschlechte so lange demselben eine Zukunft beschieden sein mag, in seiner ganzen Bedeutung erkannt werde und bleibe, und damit alle künftigen Besitzer es sehen und in gleicher Treue und Anhänglichkeit dem Kaiserlichen Hause gesinnt bleiben wie wir, die jetzt Lebenden.

So bereitete denn des Kaisers Güte uns ein unvergeßliches Weihnachtsfest, wofür ich Sr. Majestät nicht genug danken kann. – Und wie soll dies geschehen? Soll ich an ihn einen Dankbrief schreiben? Der würde jedenfalls etwas steif ausfallen; oder werden Sie, hochgeehrter Helfer in der Noth, wieder der liebenswürdige Bote und Vermittler meiner Gesinnung sein? Haben Sie die Güte, darüber einen Entscheid zu geben, und genehmigen Sie die Versicherung meiner treuen freundschaftlichen Ergebenheit Ihr H.–D.“ 

Christmette.
Nach einer Originalzeichnung von A. Heide.

Schon an einem der nächsten Tage erhielt ich folgende Antwort:

 „Mein hochgeehrter Freund!
Eben habe ich Sr. Majestät nicht nur Ihr Telegramm vom 24., sondern auch Ihren Brief nebst den beiden Nachschriften, letztere selbstredend mit Ausschluß der für mich bestimmten Stellen, vorgelesen, und der Kaiser war über die Schilderung Ihrer Freude über die Ihnen, wie er sich ausdrückte, ‚übersendete große Kleinigkeit‘ sichtlich erfreut. Se. Majestät meinte, herzlicher und sinniger hätten Sie sich gegen ihn direkt nicht ausdrücken können und es bedürfe eines Schreibens Ihrerseits an ihn nicht mehr, wenn ich ihm den an mich gerichteten Brief überlassen wollte, was ich natürlich sofort that, wobei er mir noch sagte, er wolle mir gern eine Abschrift des Briefes zustellen lassen, worauf ich jedoch, da ich den Inhalt genau kannte, verzichten konnte. Namentlich berührte den Kaiser Ihre Placierung in Ihrem Speisezimmer, wo er täglich mit frühstücken, zu Mittag essen und abends Thee trinken werde, sehr angenehm, und Se. Majestät versicherten mich wiederholt, Ihnen seine Freude über Ihre Herzensergießungen auszusprechen, die ihm wahrhaft wohlgethan hätten.

Mich hat die rührende Herzensgüte, mit der der Kaiser Ihren Dank aufnahm, so ergriffen, daß ich ihm nur mit tiefbewegter Stimme Ihre Briefe vorlesen konnte. Ein reineres, edleres und tieffühlenderes Herz, als unser Kaiser und Herr besitzt, hat die Welt nicht weiter aufzuweisen. Gott erhalte ihn uns noch recht lange! – – –

Ihnen drückt in treuer Freundschaft die Hand Ihr v. M.“ 

Und nun ist auch der dritte Akt und diese Geschichte mit ihrem eigenthümlichen Briefwechsel zu Ende; der Kaiser hat das kleine Buch und wir haben sein Bild. Als ich die Bilderbücher entwarf, hatte ich freilich nicht daran gedacht, daß ihnen solche Anerkennung zu theil werden könnte; jetzt liegen sie wohl noch auf einem Tische, und der Struwwelpeter hat vielleicht noch gar Aussicht, in das Hohenzollernmuseum zu kommen. Der Bursche muß sich in acht nehmen, nicht zu eitel zu werden; er hat aber wirklich Karriere gemacht! –

Mit den welterschütternden und umgestaltenden Thaten des großen Helden hat meine einfache Geschichte freilich nichts zu thun; sie zeigt aber, daß dem Manne, dessen Hand in kräftiger Sicherheit das goldene Scepter hielt, in der Brust ein warmfühlendes Menschenherz schlug, und wenn wir dies darin schlagen fühlen, so mag dies eine nicht zu verachtende Erkenntniß sein. Nur in solchen Erlebnissen lernt man die eigentliche Menschennatur kennen, nur hier entdeckt man den eigentlichen ethischen Kern. Wenn das Erzählte hierzu beitragen konnte, so ist damit auch die ausführliche Darstellung entschuldigt und gerechtfertigt.

Ich hätte wohl die eingeleiteten Beziehungen weiter ausnützen und gewiß nicht vergebens in Homburg oder Ems, wo ich den Kaiser schon in früheren Jahren gesehen hatte, eine Audienz erhalten können, um ihm noch einmal persönlich zu danken. Ich habe es unterlassen in dem Bedenken, daß der vielbeschäftigte Fürst doch mehr zu thun hatte, als mit einem alten Doktor und Kinderliederdichter die Zeit zu verplaudern, und ich glaube damit recht gethan zu haben.

Auch in meiner Stadtwohnung, die ich bezogen habe, seit ich meine ärztliche Thätigkeit meines Alters wegen beschlossen habe, hängt das Bild an alter Stelle. Ich war aber bedacht, dem Kaiser einen möglichst passenden Hofstaat zu geben, und so befindet sich über dem Kaiser ein anderer Herrscher, auch ein König in einer idealen Welt, im Reich der Töne, das Bild Beethovens, und unter ihm ein Autograph Uhlands, der Entwurf des köstlichen Gedichtes „Münstersage“. Mehr konnte ich nicht thun.

Der Kaiser aber blickt in freundlicher Milde auf unseren kleinen Kreis, wir verzehren in behaglichem Frieden unsere bescheidenen Mahlzeiten und gedenken täglich dankbar des menschenfreundlichen großen Helden. Wenn noch ein Jahrhundert dahin gegangen sein wird, dann wird er in unseren Dramen, Erzählungen Epen und Sagen wieder auferstehen und als ein hohes Ideal königlich menschlicher Anschauung bestehen bleiben. Die Kinder unserer Urenkel werden es erleben.

Frankfurt a. M. Dr. H. Hoffmann-Donner. 


[845] Nachdruck verboten.0
Alle Rechte vorbehalten.

Die Chronik des Klausners.
Erzählung von Ernst Lenbach.0 Mit Illustrationen von B. Hohlfeld.

Als das Laub an den Kastanienbäumen ganz vergilbt war und in den Weinbergen die blauen Burgundertrauben reiften, packte Franz Rainer seine Sachen, nahm den Bauer mit seinem Raben sorgfältig in den Arm unb löste sich eine Fahrkarte dritter Klasse nach der großen Stadt am Rhein, um dort Einsiedler zu werden.

Noch selbigen Tages hatte er nach einigem Suchen eine Klause gefunden, die vollkommen seinen Wünschen entsprach: in einer engen, belebten Gasse, zwei Treppen hoch nach der Straße, bei einer dicken Frau, die einen Handel mit Preßhefe trieb und nebenbei auf Pfänder lieh. Das Haus war so schmal, daß es in jedem Stockwerk nur zwei Zimmer faßte. Auf dem zweiten Stock wohnte also außer Franz nur noch eine Partei, und zwar eine Lehrerin, die älteste Mietherin im Hause, wie die Wirthin versicherte.

Nachdem er es sich einigermaßen heimisch gemacht hatte, verwendete er den ersten Abend darauf, sich seine Pläne noch einmal genau klar zu machen, wobei er als philosophisch angelegter Mensch und als Deutscher mit einem Rückblick auf die Vergangenheit anfing.

Vier Jahre hatte er auf der Hochschule verbracht, in den ersten Semestern rechtschaffen Natur und stärkere Sachen genossen, in den folgenden fleißig den philologischen Studien obgelegen. Er hatte sich den Doktorhut erworben durch einen gelehrten Nachweis in lateinischer Sprache, daß der verloren gegangene Kommeiltar eines byzantinischen, schwer auszusprechenden Philosophen zu einer gleichfalls verloren gegangenen Schrift des Aristoteles gar nicht von jenem Philosophen herrühren könne. Auch ein Staatsexamen hatte er abgelegt, aber nicht verwerthet. Dann hatte er in wohlverdienter Erholungszeit allerlei Bücher gelesen, auch solche, auf denen noch nicht der Staub der Jahrhunderte lastete, und schließlich hatte er selber Bücher verfaßt: mehrere fünfaktige Schauspielem, einen starken Band Gedichte und drei oder vier Novellen, die mit einer oder mehreren Verlobungen oder aber mit einem Doppelmord schlossen – alles sauber ins Reine geschrieben und meist noch nicht gedruckt. In dem Kreise seiner gleichstrebenden Freunde genoß er ein gewisses Ansehen als Dichter wie als trinkbarer Mensch. Nach zwei Jahren kam aber einer unter sie, der nicht mehr an Goethe und Schiller glaubte und schreckliche Revolutionsgedanken hegte, besonders nachts von elf Uhr an im Café. Der verlangte, der wahre Dichter müsse die Wahrheit und nur die Wahrheit schildern. Zu diesem Zwecke müsse er sich unter die Menschen begeben, sie beobachten und sozusagen geistig auskultieren, um dann nach gewonnener Diagnose einsam und groß in seine Klause zurückzukehren und dort die Krankheitsgeschichte der Menschheit zu schreiben. Er trug diese Lehren, unter häufigen Hinweisen darauf, daß wir im neunzehnten Jahrhundert lebten, mit großer Ausdauer und so lange vor, bis Franz Rainer schließlich ganz von ihnen durchdrungen war. Zur selben Zeit entdeckte Franz, daß ihm von seinem väterlichen Vermögen gerade noch sechstausend Mark übrig waren. Diese Summe theilte er in drei Theile, wies sich zweitausend Mark als Jahresrente an und beschloß, sich getreu den Lehren des Meisters einzuspinnen, um dann nach vollendetem Studium als glänzender Schmetterling den neuen Dichterlenz zu eröffnen. Drei Jahre dünkte ihm dafür gerade ausreichend. Vorläufig veranschlagte er den Ertrag dieser drei Jahre auf etwa einundzwanzig Novellen – dreimal sieben, denn er hielt etwas auf Zahlenmystik – unter dem Gesamttitel „Die Chronik des Klausners.“ Ein dickes, in schwarzes Leder gebundenes Buch war bestimmt, die Reinschrift dieser Novellen aufzunehmen, und zum Abschluß seines Kriegsplanes setzte Franz Rainer noch am ersten Abend seines neuen Lebens die bewußte Ueberschrift groß und deutlich auf die Titelseite des Buches. Dann bewirthete er seinen Raben, der wie alle Raben Jakob hieß, zur Feier des Tages mit einem Stück Käse, das vom Abendbrot übrig geblieben war, und legte sich „quasi re bene gesta“, als ob nun alles gut wäre, zu Bett. – –

In den ersten Wochen fand Franz Rainer das neue Leben ungemein behaglich. Von seinen beiden Fenstern aus genoß er das bunte Straßenleben aus der Vogelschau. Gewissenhaft wie ein Strandwächter beobachtete er, die Pfeife in der Hand, das wimmelnde Geschäftsgewühl der Leute, den verworrenen Singsang der Straßenverkäufer, die bewegten Scenen, welche sich um ein gestürztes Droschkenpferd oder um einen hoffnungslos betrunkenen Bummler zu bilden pflegen. Alles dieses photographierte er in langen Notizen auf stets bereit liegende Blätter. Dann ging er nachmittags selber unter das Gewühl, suchte und fand besonders ausdrucksvolle Köpfe und Gestalten, welche ihm zu Helden seiner Novellen Modell stehen sollten. Seine Mittagsmahlzeiten nahm er mit Vorliebe in alten verräucherten Weinwirthschaften, wo es vom ältesten Stammgast bis zur Küchenmagd nur Charakterköpfe mit rothen Nasen gab. Auch seine Wirthin und deren Kunden studierte er, mußte aber zu diesem Zwecke in den Laden hinabsteigen, da die geringe Breite der Haustreppen dem Durchmesser seiner Wirthin schon lange nicht mehr gewachsen, auf Besuche von dieser Seite also nicht zu rechnen war.

Bei den ersten Versuchen, das Gewonnene dichterisch auszugestalten, fingen aber ernste Schwierigkeiten an. Da hatte zum Beispiel seine Wirthin ein Milchmädchen, ein ganz herrliches Exemplar von dunkler Poesie in Weiberkleidern, mit schwarzen schweren Haaren, schwarzen tiefgründigen Augen, einer klassisch geschnittenen Nase und vollen Rubinlippen, gewachsen wie die Königin Bathseba. Man brauchte diese Jungfrau nur anzusehen, so stand [846] schon die Novelle, in der sie als Heldin leuchten mußte, im Geiste fertig – sie war der reine Zigeunerroman auf zwei Beinen. Sobald aber die Schöne den Mund weit öffnete und in einer unerträglich breiten ländlichen Mundart, die unwillkürlich an weichen Quarkkäse erinnerte, Betrachtungen über die Marktpreise und über das Kalben der Kühe zum Besten gab oder Scherze von der letzten Kirmeß her erzählte, so war der Eindruck bedeutend anders. Franz Rainer versuchte es gleichwohl, um der ewigen Wahrheit willen, die schöne Trina mit allen guten und bösen Seiten „dichterisch festzulegen“, aber er mußte es sich seufzend gestehen, daß für die Muse manche Dinge selbst dann nicht zu einem Wesen vereinbar sind, wenn dies Wesen fünfeinhalb Fuß hoch leibhaftig durch die Welt geht. Und so hatte ihm sein eifriges Studium nach drei Wochen noch weiter nichts eingebracht als einen kleinen sehr ruppigen und sehr possierlichen Hund.

Das kam so. Eines regnerischen Abends wandelte Franz Rainer an einer abgelegenen Stelle des Hafens einher, weil er einmal ganz genau den Lokalton eines „Herbstabends im Hafenviertel bei Regen und Nebel“ festhalten wollte. Unheimlich war die Gegend entschieden, es roch gar nicht schön, die spärlichen Laternen flackerten trübe, und dann und wann verrieth ein wüster Lärm aus einer Schifferkneipe, daß die holde Eintracht hier nicht wohne. Mit einem Male hörte Franz ein leises Winseln, er ging dem Laute nach und entdeckte einen kleinen Köter, der sich mit sklavischer Scheu vor ihm herumdrückte. Nachdem er das arme Vieh an sich gelockt hatte, bemerkte er, daß es von Wasser troff und einen schmierigen Strick mit einem Stein am Halse trug; offenbar hatte der bisherige Besitzer sich des Hundes durch grausamen Mord entledigen wollen. Der gute Franz nahm den Hund mit nach Haus, vermittelte als höhere Instanz ein friedliches Einvernehmen zwischen dem Raben und dem Köter und hatte nach einigen Tagen das Vergnügen, in dem wieder zu Kräften Gekommenen ein eben so treues wie häßliches Thier kennenzulernen. Da der bisherige Vorname des Köters dunkel war wie seine Vorgeschichte, so behielt er nur seinen Familiennamen – Pintsch. Jakob und Pintsch vertrugen sich alsbald ausgezeichnet. Mit großem Vergnügen beobachtete Franz an den langen Abenden, bequem vor dem Ofenfeuer sitzend und rauchend, ihre Spiele. Natürlich zeichnete er auch diese auf. Hier ergab sich nirgends ein Widerspruch; je wahrheitsgemäßer die Schilderung wurde, um so anmuthiger wurde sie auch. Als Franz sie der Redaktion einer großen Zeitung unterbreitete – für die „Chronik des Klausners“ war der Gegenstand doch zu gering! fand sie sogleich freundliche Annahme, und die ganze Leserwelt erfreute sich an der Plauderei „Jakob und Pintsch“. –

Von seiner Nachbarin, der ältesten Mietherin des Hauses, wußte Franz Rainer weiter nichts, als daß sie Klara Meinhold hieß und zuweilen Klavier spielte und dazu sang, meist einfache schöne Lieder, mit einer ziemlich kleinen Altstimme. Der Gesang störte ihn nicht, und der Name, den er auf der zierlichen Visitenkarte an der Thür des Fräuleins gelesen, hatte auch nichts Aufregendes für ihn. Eher schon vermochten einige junge Mädchen seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, welche ihm hin und wieder auf der schmalen Treppe begegneten, offenbar Schülerinnen des Fräuleins. Eine darunter schien besonders häufig Bestellungen an ihre Lehrerin zu haben, ein schlankes, voll erwachsenes Mädchen mit braunen Haarflechten, braunen großen Augen und hübschen Zügen. Wenn sie Franz Rainers höflichen Gruß mit freundlichem Nicken beantwortete, so ertappte sich der junge Einsiedler wohl auf dem stillen Wunsche, daß doch der Besuch eines so artigen Wesens lieber ihm als der alten Privatlehrerin gelten möchte, und schließlich träumte er sogar von dem Braunköpfchen, besondere am Nachmittag, wenn er sein Dichterschläfchen hielt.

Aus einem solchen angenehmen Traume schreckten ihn am Nachmittag des Allerseelenfestes die vereinten Bemühungen seiner Weckuhr und des Raben Jakob auf. Sobald Jakob die Weckuhr rasseln hörte, pflegte er flügelschlagend neben dem Kopfe seines Herrn Posto zu fassen und mit heiserer Stimme zu schreien: „Frranss muß aafstehn!“ Das war eine von seinen höchsten Künsten, mit der er besonders Pintsch dem Hunde gewaltig imponierte.

Ziemlich verdrossen und müde machte sich Franz Rainer auf den Weg, nachdem er seinen zwei Genossen die üblichen Abschiedsermahnungen gehalten hatte. Pintsch hatte sich schon daran gewöhnt, zu Hause bleiben zu müssen. In den ersten Tagen war es ihm nach Art der Hunde sehr schwer gefallen, wenn der Herr ohne ihn ausging; seitdem aber trug er es mit Gelassenheit, ja er schien sich ordentlich zu freuen, wenn er mit Jakob allein sein durfte, eine Thatsache, die in dem Aufsatze des Dichters umfassende Würdigung gefunden und eine Reihe zustimmender Beobachtungen von seiten anderer einsamer Thierfreunde hervorgerufen hatte. Die Zeitung hatte sie in einem Nachtrag unter der Rubrik „Beiträge zur Kenntniß der Thierseele“ zusammengefaßt.

Den heutigen Nachmittag hatte Franz zu einer realistischen Anschauungsreise über den Friedhof bestimmt. Es war ein richtiges Allerseelen-Wetter, der Himmel war grau und schwerlastend, die Luft weich und feucht, und als Franz die große Stadt hinter sich hatte, rauschte ein warmer stoßweise einsetzender Südwest in dem dürren Laube der Promenaden. Auf der breiten Landstraße, die zum Friedhof führte, wälzte sich langsam eine dichtgedrängte Menschenmasse dahin, weniger gehend als geschoben und schiebend. Auf beiden Seiten längs der Straße zogen sich Reihen von trüb erleuchteten Verkaufsständen hin. Da gab es Kränze zu kaufen, solche aus wirklichen Blumen und solche aus Blech, letztere meist dicken gelben Immortellenkränzen nachgebildet, so daß sie aussahen wie die Rettungsringe auf Flußdampfern; ferner Kerzenbündel, Lampions und Stearintöpfchen zur Beleuchtung der Gräber, Rosenkränze, dann auch Pfefferkuchen und Printengebäck für die mitgenommenen Kinder. Das eilige Rufen der Verkäufer, die bedachtsamen Fragen ihrer Kunden, die Gespräche der dahinwallenden Gruppen und vom Rücken her der ferne Lärm der Großstadt mischten sich zu einem dumpfen Gebrause. Und vor ihnen in der dicken nebligen Luft lag es wie eine breite niedrige Wolke in warmer rauchgelber Farbe. Das war der aufsteigende Dunst der Tausende von Kerzen und Lämpchen, die schon auf dem Friedhofe brannten; er hing wie ein Herbstschwaden um das dürre Geäst der Trauerweiden.

Auf dem Wege sah und hörte Franz Rainer manches, was wohl geeignet war, ihn in seiner nüchternen Weltanschauung zu bestärken. Auch der Anblick der langen Reihe von Wirthshäusern, die sich gegenüber den Friedhofsthoren hinzogen und gedrängt voll waren von zechenden Leidtragenden, schien einen ausgezeichneten Hintergrund für einen „realistischen Roman“ abzugeben, nicht minder innerhalb der Friedhofsmauern selbst die pomphafte Beleuchtung einzelner Familiengräber von vornehmen Leuten und die davor sich drängende Menge mit ihrem Gaffen und Kritisieren: „Voriges Jahr hatten sie in der Mitte ein Kreuz und einen Stern in Gold und Blau, das machte sich viel imposanter!“

Es gab aber noch anderes zu sehen und zu hören. Ein großes Kriegerdenkmal war ganz mit bunten Lämpchen umstellt und mit Kränzen umgeben. Graubärtige Männer, gebeugte Matronen umstanden es, mit ihnen Jünglinge und Jungfrauen, die in der Wiege gelegen, als ihre Väter draußen Im Felde standen, und dann auch schon Kinder des jüngeren Geschlechtes. Sie zogen langsam und leise vor den Tafeln vorbei, die in goldenen Buchstaben die Namen der Gefallenen trugen, und lasen die Namen. Eine junge schöne Frau hob ihren Knaben auf den Arm und ließ ihn zwei Worte buchstabieren: „Das war Dein Großvater!“ sagte sie, und der Knabe rief: „Nach dem bin ich genannt!“. Und die Mutter küßte ihn und sagte; „Werde wie er!“ Dann ertönte in gedämpften Klängen Choralmusik um das Kriegergrab her, ein alter Herr in langem schwarzen Gewand trat vor und hielt eine kurze Ansprache, wie er einst zu den Kriegern selbst als Feldgeistlicher gesprochen. Da hörte man [847] ringsum viel Schluchzen und Weinen, aber in den hohen Cypressen um das Denkmal her rauschte der Südwind mächtig und voll, und die Lichter schienen heller aufzustrahlen.

Abseits in einer schmalen Gräberstraße, wo zumeist nur ärmliche Hügel lagen, mit wenig oder gar keinem Schmuck, stand eine rüstige Bürgersfrau mit ihren Kindern vor dem Grabe des Vaters. Sie hatten das schmale Viereck mit brennenden Kerzen besteckt und beteten nun halblaut im Chore. Franz Rainer, der in anderen Ländern und anderem Bekenntniß erzogen war, fühlte sich fremd angemuthet von diesem Beten; es kam ihm ein wenig mechanisch vor. Aber nach einigen Minuten zog die Frau ein neues Päckchen Kerzen aus dem Mantel und fing mit ihren Kindern an, die ungepflegten Gräber zu schmücken, die rechts und links lagen. „Die armem Leute, die sollen änch ihr Licht und ihr Vaterunser haben, es denkt wohl keiner in der Welt mehr an die,“ sagte sie.

Vor einer anderen breiten und schön gepflegten Grabstätte standen zwei Männer, der ältere eine rüstige Gestalt in Reisekleidern, der jüngere mit blassem Gesicht und in gebeugter Haltung. Der erste brach sich von einem Lebensbaum ein Zweiglein ab und legte es, ins Taschenbuch. „Das nehm’ ich meiner Frau mit,“ sagte er. Dann umarmte er den Begleiter und fuhr fort: „Wir wollen auch aus der Ferne immer treu zusammenhalten, Bruder, wir sind ja die letzten vom Geschlecht!“

„Gewiß,“ antwortete der Jüngere mit heiserer Stimme. „Und wenn ich erst diesen lästigen Husten los bin, im Frühling, dann besuch’ ich Euch. Du kannst es Deiner Frau sagen.“

„Das versteht sich,“ erwiderte der ältere Bruder und wandte sich ab, „so ein Katarrh, was macht denn das!“ Indessen fing der Jüngere gleichsam verstohlen an zu husten, und als er das Tuch vom Munde zurückzog, sah der lauschende Franz, wie es roth auf dem Tuche schimmerte. Der Bruder machte sich an dem Grabe zu schaffen und that, als sehe er nichts.

Da überkam es den jungen Schriftsteller wie eine heiße Scham und ein Widerwillen gegen seine ganze Notizenjagd, und eilig schritt er dem Ausgang des Friedhofs zu.

Draußen war es schon ganz dunkel geworden und der Wind wehte kühler und schärfer. Franz Rainer mied die Landstraße. Auf ziemlich verlassenen Seitenwegen schritt er der Stadt zu, um auch hier durch minder belebte Straßen seine Wohnung aufzusuchen.

Ihm war wunderlich zu Muthe, wie er so einsam dahinging durch den grauen feuchten Novemberabend. Er versuchte, geistig neben sich selbst zu treten und seine Stimmung zu beobachten, eine seltsam aufgeregte Stimmung, ein inneres Beben und Frösteln, als ob lange zurückgedämmte Empfindungen aus der Seele heraustreten wollten, um von draußen zu den Sinnen zu sprechen mit der Stimme der Elemente, mit dem Pfeifen des Windes und dem leisen Aechzen der aneinander vorbeistreifenden entlaubten Aeste.

Es lief etwas neben ihm her, knisternd und raschelnd, ein dürres Blatt, zusammengeschrumpft und braunroth gefärbt. Der Wind mochte es hinter ihm hergesandt haben, mit in die Stadt hinein. Bald hüpfte es auf dem Bürgersteig ein klein wenig vor den Fuß des Wandernden, bald wieder zurück, immer treu ihm zur Seite, immer raschelnd und plaudernd, und Franz Rainer glaubte seine eigene Seele zu hören. „Einsam, einsam und unstet wie ein dürres Blatt, das von seinem Baume verweht ist; ohne etwas Liebes, und wäre es auch nur ein liebes Grab. Ein dürres Blatt, das raschelt und weht ... bis es vergeht ...“

„Um Gottes willen,“ sagte er endlich vor sich hin und freute sich, seine eigene Stimme zu hören, „Symbole sehe ich, und wenn ich mich nicht zusammennehme, so sehe ich auch noch Gespenster! Was hast Du mir hier nachzulaufen, dummes Ding?“

Die Frage war sehr begründet, denn der sonderbare Begleiter lief jetzt sogar gegen den Wind mit. Mit einem entschlossenen Ruck machte Franz unter einer flackernden Gaslaterne Halt und bückte sich nach dem Blatte, das gleichfalls mit einem letzten Rascheln stillhielt. Es erwies sich, daß es nicht eigentlich ein dürres Laub war, sondern eine verschrumpfte Rose, offenbar aus einem Grabkranz. Sie stak an einem langen dünnen Drahte, dergleichen die Kranzwinder gebrauchen, und dieser Draht hatte sich in Franz Rainers langem Ueberzieher festgehakt. Franz nahm die Rose an sich und entfernte den Draht. Dabei entdeckte er, daß der Ueberzieher außerdem noch einen großen dreieckigen Riß aufwies, und diese ärgerliche Entdeckung, vereint mit dem erlösenden Gebimmel eines herannahenden Pferdebahnwagens, befreite ihn einstweilen von der Gespensterstimmung. Er machte noch einige Einkäufe zum Abendbrot und ging nach Hause.

Die Wirthin war ausgegangen, im Hause alles dunkel und öde; nur von oben erscholl vergnügtes, ungeduldiges Gebell des Pintschers. Diesmal schien dem Vierfüßler die Klausur doch furchtbar hart geworden zu sein. Mit einem wahren Freudentanze empfing er den heimgekehrten Herrn, während der Rabe, würdevoll auf einem Bücherschrank sitzend, mehrmals versicherte: „Jakob warr brrav, brraverr Jakob!“

Nachdem Franz das Feuer in dem eisernen Zimmerofen angeschürt, mit einem Fidibus die Lampe und den Spiritusdocht unter der Theemaschine angezündet hatte, schickte er sich an, den Riß im Ueherzieher zu flicken; es schien ihm ein ziemlich schwerer Fall, der seine ganze Schneiderkunst herausforderte.

Indessen wurde der Hund unruhig. Draußen hörte man die Treppe leise krachen, ein Rascheln und Tasten auf dem schmalen Gang, ein Hin- und Hergehen, dann pochte es leise an die Thür. „Herein!“ rief Franz aufblickend, und da stand in dem dunklen Thürrahmen jenes schlanke braunäugige und braunlockige Mädchen. Franz starrte sie an, als ob jetzt wirklich ein Gespenst gekommen wäre.

„Verzeihen Sie, Herr Nachbar,“ sagte die anmuthige Erscheinung mit überaus lieblicher Stimme, „möchten Sie mir vielleicht ein Zündholz leihen? Frau Schütz ist nicht zu Hause, und ich kam eben von der Reise.“ Dabei hatte sie Mühe, den Hund abzuwehren, der mit stürmischer Freude an ihr emporsprang.

„Ob Du herkommst, Pintsch!“ wetterte Franz. „Fürchten Sie sich nicht, er ist nicht bösartig.“

„O, mir thut Pintsch nichts,“ versicherte die Braune, „wir verstehen uns schon, nicht wahr, Pintsch?“

„Ja, aber sind Sie denn – ?“ stotterte Franz Rainer.

„Klara Meinhold ist mein Name,“ erwiderte sie lächelnd.

„Die älteste Mietherin im Hause!!“ murmelte Franz ganz geistesabwesend.

„Ich glaube, ja,“ antwortete das Fräulein etwas verwundert. „Ich wohne hier schon seit fünf Jahren. Seit ich in der Stadt bin.“

„Ja so,“ machte Franz. „Leider, Fräulein – Meinhold, sind auch mir die Zündhölzer ausgegangen. Wenn ich Ihnen vielleicht mit der Lampe behilflich sein darf?“

Sie dankte unbefangen und schritt mit ihm nach ihrem Zimmer. Pintsch folgte wedelnd.

In dem Zimmer war es kalt, das Fenster stand offen. Eine

[848]

Heimkehr von der Wohltätigkeitsbescherung.
Nach einer Originalzeichnung von H. Fechner junior.

[849] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [850] große weiße Katze war ihnen entgegengesprungen und hatte Pintsch sehr freundlich begrüßt.

„Die beiden vertragen sich schon,“ beruhigte Fräulein Klara den Nachbar. „Wenn Pintsch hier ist –“

„Hier?“

„Ach ja, Herr Doktor,“ erklärte sie, „hoffentlich nehmen Sie mir’s nicht übel. Der arme Pintsch heulte immer so, wenn Sie abends nicht da waren, und da habe ich ihn meist zu mir geholt, bis Sie wieder kamen.“

„Also deshalb!“

„Ja,“ meinte sie unter leisem Lachen, „der Jakob war’s wohl nicht, wie Sie in Ihrer reizenden Erzählung gesagt haben.“

Die hatte sie also auch gelesen!

Ihre Lampe war unterdessen angezündet. In zwiefacher Helle lag das Zimmer vor Franz Rainers Augen, einfach aber anheimelnd eingerichtet, wie es nur Frauenhand und Frauensinn versteht.

„Ach Gott,“ klagte das Fräulein „nun ist mein Ofen nicht eingelegt, und Frau Schütz hat den Kellerschlüssel mit und ist ausgegangen, und das alte Paar unten im ersten Stock ist auch nicht daheim!“

Franz segnete die ausgeflogenen Herrschaften von ganzem Herzen. „Hier können Sie aber nicht bleiben,“ sagte er mit Würde; „bedenken Sie doch Ihre Gesundheit, und dann die arme Katze! Wenn ich mir vielleicht gestatten dürfte, Ihnen mein bescheidenes Zimmer –“

Sie erröthete ein wenig und sah ihn prüfend an, dann nickte sie und nahm dankend an.

„Dann müssen Sie mir aber auch erlauben, Fräulein, daß ich Ihnen eine Tasse Thee bereite,“ sagte Franz, während die viecköpfige Karawane über den Gang schritt, und war überaus glücklich, als sie auch das annahm, ohne irgend einen Zweifel an seiner Kochkunst zu äußern.

„Nun will ich mir aber mein Gastrecht verdienen,“ meinte Klara, als sie auf dem Sofa Platz genommen hatte. „Ich sah Sie vorhin mit einer Arbeit beschäftigt, die ich Ihnen wohl abnehmen darf, Herr Doktor!“

Franz Rainer erhielt nun Unterricht im Rockflicken. Die Lehrerin verstand es jedenfalls aus dem Grunde. Ob aber der Schüler etwas behielt, ist zweifelhaft, denn er guckte nur immer auf die flinken weißen Hände und dann verstohlen auf den braunen Scheitel und den schönen Nacken und gar nicht auf das Lehrobjekt. Darüber ließ er die Theemaschine überkochen, worauf ihm auch dieses Ressort entzogen wurde.

Aus der angebotenen Tasse Thee wurde übrigens unter vielem Lachen und einigem Erröthen ein regelrechtes Picknick, denn Klara ließ es sich nicht nehmen, auch aus ihren Vorräthen beizusteuern. Nach dem Abendbrot mußte Franz sich seine Cigarre anzündest, und während Pintsch, Jakob und Monnes – so hieß der weiße Kater – von zarten Händen einige Leckerbissen erhielten, plauderten die beiden Nachbarsleute miteinander.

Klara Meinhold erzählte aus ihrem bescheidenen Leben. Sie war geprüfte Lehrerin, gab Privatstunden und war auch an einem Pensionat thätig, dessen Leiterin eine ziemlich strenge Dame zu sein schien: nach Franz Rainers Empfinden mußte der ein schrecklicher Drache sein, der gegen seine schöne Nachbarin streng sein konnte. Die Eltern Klaras waren tot, der Vater war früher ein kleiner Kaufmann in einer Nachbarstadt gewesen. Dorthin hatte Karra heute wie alljährlich ihre Allerseelen-Reise gemacht.

Franz erwähnte, daß auch er heute auf dem Friedhofe gewesen sei. „Gewiß an theueren Gräbern,“ meinte sie schüchtern.

„Ach nein,“ antwortete Franz traurig. „Meine Mutter habe ich ganz früh verloren, sie liegt weit, weit von hier, in New-York, und mein Vater hat ein gar großes Grab gefunden – er ging mit seinem Schiffe vor zwölf Jahren unter, in einem Taifun, an der chinesischen Küste.“

„Und Sie haben gar keine Verwandten mehr?“ fragte Klara mit einem Blick voll Mitleid aus ihren Rehaugen.

„Gar keine. Ich stehe ganz allein.“

„Wie traurig! Ich, ich habe doch noch Tante Martha – sie ist zwar nie sehr gut zu uns gewesen, meines Vaters Ehe hat sie mit ihm entzweit – sie war seine einzige Schwester. Aber ich habe doch noch ein Lebendes, für das ich beten kann.“

Franz nahm sich fest vor, von heute an auch so reich zu sein.

Sie plauderten aber auch über minder traurige Dinge: über Jakob, Pintsch und Mones, welche aufmerksam zuhörten, sehr geschmeichelt, daß die beiden Menschenkinder ihre werthen Namen so oft erwähnten, dann über Musik und Litteratur, wobei sich herausstellte, daß Klara die jüngste Veröffentlichung ihres Nachbars sehr genau kannte. Zuletzt tranken sie sogar feierlich auf gute Nachbarschaft, er mit einem Glase Grog und sie mit einem Glase heißen Zuckerwassers, in welchem drei Tropfen Rum verlorengegangen waren, und als dann Fräulein Klara die Sitzung aufhob und sich die Thür auf der andern Seite des Ganges hinter ihr und Mones schloß, faßte Franz den nichtsahnenden Pintsch in die Arme und gab ihm einen Kuß mitten zwischen seine zottigen Ohren.

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Ja! – In China, wo so vieles anders ist als bei uns, soll man auch die Kunst verstehen, mit ein und demselben Wort, je nach der Betonung, die verschiedenartigsten Gegenstände zu bezeichnen. Es ist gewiß etwas Wunderbares um eine Sprache, in der sich zum Beispiel Stiefelwichse und Rahmbutter nur durch die Betonung unterscheiden. Aber das ist noch gar nichts gegen die Unmenge von Bedeutungen, welche wir Deutschen in jenes eine, kleinste und mächtigste Wörtchen unserer Sprache legen können – und die Krone von alledem war das „Ja!“, welches Fräulein Klara Meinhold als eigenes Patent besaß und anwandte, wenn sie irgend eine Behauptung oder Lehre hörte, die sie nicht gleich widerlegen konnte, aber um nichts in der Welt annehmen wollte. „Ja!“ Sie sprach es milde und heiter aus, genau wie andere Menschen ein vergnügt erstauntes „Ei!“ hören lassen, und lächelte freundlich dazu. Es sah gar nicht gefährlich aus und doch konnte sie mit diesem Lächeln und dieser Silbe den stärksten männlichen Geist in seinem Glauben an die eigenen Ansichten wankend machen.

Franz Rainer bekam diesem „Ja!“ in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft recht oft zu hören, und die Zuversicht, mit welcher er Klara anfangs von seinem realistischen Menschenstudium und seinen Einsiedlerplänen erzählt hatte, litt merklich darunter. Uebrigens nahm ihre nachbarliche Freundschaft trotzdem die schönste Entwicklung, sie sahen sich täglich, er las ihr vor, lauschte ihrem Gesang, plauderte mit ihr, und auch das Picknick fand seine häufige Wiederholung.

Eines Abends saßen sie nach dem Thee auf Klaras Zimmer. Sie beschäftigte sich mit einer Handarbeit, Franz saß ihr gegenüber und las ihr eine Novelle von Tieck vor. Sie hatte ihn gebeten, ihr einmal etwas von diesem Dichter mitzutheilen, von dem sie in der höheren Mädchenschule nur Geburts- und Sterbejahr und einige andere Notizen gelernt hatte. Vor dem kleinen Ofen lagen Pintsch und Mones nebeneinander, während Jakob auf der Schulter seines Herrn saß und ernsthaft mit ins Buch guckte. Dazu summte der Wasserkessel leise, und draußen pfiff zuweilen ein Windstoß durch die Dachluken und Schornsteine.

[851] Die Vorlesung hatte Klara sehr bewegt. Sie stand auf und trat ans Fenster. Franz folgte ihr.

„Sehen Sie,“ sagte Klara nach einer kleinen Weile, indem sie mit der Hand hinauswies, „wie all die schiefen niedrigen Dächer an den Hinterhäusern im Regen feucht glitzern; und dann hier und dort die winzigen Fensterchen mit dem blaßrothen Lichtschein von drinnen!“

„Es ist eine traurige Aussicht,“ meinte Franz bekümmert. „Wenn Sie doch lieber nach vorn wohnten. Ich wollte, wir könnten tauschen. Da sehen Sie mehr Leben und Licht. Es ist so viel lustiger.“

„Ja,“ sagte sie. „Aber ich stehe doch oft gerne hier. Gerade wenn es so ist. Und da muß ich immer denken: wenn jetzt der Adventsengel hier herüber fliegen würde mit den weißen großen Schwingen, wie es uns Kindern erzählt wurde, der sähe durch den feuchten Schiefer hindurch in all die kleinen Stuben, die da draußen so ärmlich leuchten. Er würde gewiß viel Elend sehen, viel Sünde und Zorn. Aber auch wieviel Liebes und Gutes! Wieviel Mutterliebe, wieviel kleine Sorgen, die doch bis zum Himmel fliegen, Sorgen um Weib und Kind! Eine ganze Welt des Herzens würde sich dem Engel enthüllen, wo wir nur graue Dächer sehen. Und so meine ich, so muß es wohl mit dem Dichter sein. Das Alltagsleben das Treiben und Hasten ringsum, das ist ja nur die graue Hülle, der Regen auf dem Schiefer. Das sehen wir, und der Dichter geht mit uns und muß es auch sehen. Aber ich meine, zuweilen – wenn es über ihn kommt – da sieht er auf einmal mit Geistesaugen, die dringen durch die Hülle, und da schaut er das innere Leben, das wahre Leben in den Herzen, und hört die Stimmen, die aus dem Herzen bis in den Himmel gehen.“

„Er sieht aber auch das Böse und hört auch die Dissonanzen, die gar nicht nach dem Himmel klingen,“ sagte Franz.

„Ja,“ antwortete Klara. „Allein er hört sie wie ein Geist. Die Geister verstehen so viel, darum vergeben sie auch. Ich glaube, sie hören und sehen auch im Menschenherzen immer mehr Gutes als Böses.“

„Hm,“ meinte Franz, indem er seine Nachbarin ansah, „ich hätte mir’s sagen können, daß Sie mehr von den Engeln wissen als ich.“

Darauf erröthete sie und trat ins Helle zurück. „Es ist mir nur so gekommen,“ sagte sie etwas verwirrt. „Bitte, lesen Sie weiter, Herr Doktor!“ –

In dieser Zeit fing Franz an, außerordentlich fleißig zu werden. Früher hatte er in zwei, drei Tagen nicht soviel gethan als jetzt in einem, obwohl er doch abends oft seiner Nachbarin Gesellschaft leistete und außerdem seine Gedanken alltäglich stundenlang zu ihr hinüberspazierten. Mit großer Schaffensfreude begann er eine längst geplante Erzählung auszuarbeiten. Es war auch ein gutes Theil Trotz dabei; er wollte seiner ungläubigen Freundin einmal so recht zeigen. daß Grau in Grau doch das Wahre sei. Ueber dem Schreiben aber erging es ihm ganz wunderlich. Anstatt Grau in Grau schob ihm seine Stimmung eine ganze Palette lebensfroher Farben unter, und das Schönste dabei war, daß es dem Künstler immer mehr vorkam, daß er sich das von jeher so gedacht habe, je weiter sich sein Werk von dem ursprünglichen Plane entfernte.

Besonders die Heldin der Erzählung, die zufällig auch Klara hieß, gefiel dem Dichter über die Maßen. Sie schien ihm immer besser zu gerathen, und oft, wenn er über sein Werk nachsinnend im Lehnstuhl saß und rauchte, hörte Jakob ihn plötzlich rufen: „Süße Klara!“ „Liebe Klara!“ oder „Cara Clara!“ Letzteres gefiel Jakob besonders, weil es so rabenartig klang.

Auch in gesellschaftlicher Hinsicht wurde Franz plötzlich sehr rege und praktisch. Er knüpfte mit dem Herausgeber der Zeitung, die seine Thiergeschichten veröffentlicht hatte, nähere Bekanntschaft an, erneuerte einige werthvolle Verbindungen von der Universität her und übernahm für die Zeitung mehrere kritische Aufgaben die er mit Fleiß und großem Geschick löste, immer voll gespannter Vorfreude auf das Gesicht, mit welchem seine Nachbarin seine Kritiken zu lesen pflegte.

Noch lieber wäre es ihm gewesen, wenn er ihr Gemälde und Schauspiele persönlich hätte zeigen dürfen, anstatt ihr nur gedruckte Berichte darüber vorzulegen. Aber von solchen gemeinsamen Kunstgängen wollte sie nichts wissen. Auch lehnte sie es freundlich ab, wenn er ihr seine Begleitung auf ihren Nachmittagswegen, besonders zu einer weit entfernt wohnenden Schülerin anbot – morgens war sie in der Schule thätig. Glücklicherweise brachten die Zeitungen, als gerade der erste dichte Schnee die Stadt winterlich färbte, einige Nachrichten über bösartige Ausschreitungen Betrunkeuer gegen Damen in irgend einem entlegenen Stadtviertel. Angesichts dieser Schreckensmär konnte Klara wicklich nichts dagegen sagen, daß ihr am nächsten Abend unweit der Wohnung ihrer Schülerin der Nachbar zufällig begegnete und sogleich seine schützende Begleitung nach Hause anbot; und so spielte der Zufall auch fernerhin. Klara kam dadurch etwas später heim als sonst, denn sie pflegte für gewöhnlich die Pferdebahn zu benutzen. Aber bekanntlich ist das Reisen zu Fuß immer schöner und gesünder als das mit all dem modernen Fahrzeug.

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„Es freut mich wirklich, daß Ihre neue Erzählung angenommen ist,“. sagte Doktor Müller, der Herausgeber der Zeitung, zu Franz Rainer. Sie saßen rauchend beisammen, nach einem recht gediegenen Mittagsmahl, zu welchem Müller seinen neuen Mitarbeiter eingeladen hatte. „Oder richtiger gesagt, es freut mich, daß Ihre Erzählung so geworden ist, wie sie ist. Ich wußte es ja, daß Sie bei der grauen Manier nicht bleiben würden. Es ist das überhaupt nur eine vorübergehende Mode. Alle Achtung vor scharfer Beobachtung und gelegentlicher Kleinmalerei, aber daß man einen Mann kennt, wenn man weiß, wieviel Zähne in seinem Munde plombiert sind, das glaubt doch auf die Dauer kein Mensch. Na, das Beispiel ist wohl übertrieben. Aber dann überhaupt dieses ganze naturalistische graue Elend – das ist, als wenn einem immer nur graue Erbsen vorgesetzt würden. Ich bin selbst Ostpreüße und schätze die grauen Erbsen sehr, aber man will doch auch ’mal ’was anderes, etwa –“ Und der gastronomisch gebildete Mann zählte eine große Menge von guten Sachen auf, für die er eine besondere Vorliebe hatte.

„Wissen Sie,“ fuhr er dann fort, „Ihre neue Erzählung macht schon ganz den Eindruck, als ob Sie einen Beruf hätten. Ja, sehen Sie mich nicht so verwundert an, es ist so. Diese ganze verregnete Weltanschauung, diese Sucht, alles im Elend zu sehen – das ist nur eine Folge der Berufslosigkeit. Wenn einer freilich immerfort nach des Dienstes ewig gleich gestellter Uhr nur im Geleise läuft und sich keine einzige Stunde mehr freihält, um sie schaffend oder verstehend der Kunst zu weihen, der wird zum Philister. Wer aber gar nicht in dieses Geleis kommt, der wird erst recht einer. Pessimismus und Blasiertheit und all diese Uebel unserer jungen Talente sind nur die Kinder der Langweile, die einer schließlich sich selber einflößt, wenn er nicht sein tägliches Maß irdischer Pflichten abzutragen hat. Wer weiß, ob nicht selbst der Herr von Goethe am Ende den heiteren Sinn in der Kunst verloren hätte, wenn er nicht nebenbei auch als Minister für Polizei und Bergbau und einiges andere zu thun gehabt hätte! Darum wünsche ich Ihnen Glück, denn Ihre neue Erzählung klingt frisch und hell – sie klingt nach Beruf.“

„Indessen wissen Sie wohl,“ antwortete Franz auf diese lange Rede, „daß ich den Beruf, wie Sie es nennen, vorläufig erst suchen muß.“

„Ich weiß, was Sie meinen,“ erwiderte der Gewaltige der Presse, „aber ich denke, auch dafür wird Rath werden, lieber Freund. Nur noch ein paar Wochen Geduld müssen Sie haben. Aber ich denke, wir reden noch vieles miteinander.“

In fröhlichster Stimmung, eine verwegene Melodie trällernd, langte Franz einige Stunden nach dieser Unterhaltung vor seiner Wohnung an. Vor der Thür stand eine Droschke, eine überaus seltene Erscheinung vor diesem Hause. Als Franz die Treppe hinaufstieg, sah er Klara reisefertig aus der Thür ihres Zimmers treten. Sie sah blaß und verweint aus.

„Ich muß gleich fort,“ antwortete sie hastig auf seine besorgte Frage; „meine Tante ist plötzlich schwer erkrankt und verlangt nach mir.“

„Ach, der Brief!“ rief Franz. Er hatte beim Weggehen mittags gehört, wie der Briefträger unten nach seiner Nachbarin fragte.

Klara wurde plötzlich sehr verlegen. „Ja – nein,“ stammelte sie, „der Brief – ich habe eben ein Telegramm erhalten.“

„Also so schlimm ist es!“ sagte Franz mit herzlichem Bedauern. „Kann ich Ihnen nicht mit irgend etwas behilflich sein?“

Sie schüttelte dankend den Kopf. In diesem Augenblicke stolzierte Jakob der Rabe, welcher sich auf dem Vorplatz herumtrieb, herbei, sah sich die beiden mit auf die Seite gelegtem [852] Köpfchen ernsthaft an und deklamierte: „Süße Klara! Cara Clara! Cara Clara!

„Ach bitte, sperren Sie den Vogel hinein!“ bat Klara in größter Verwirrung. „Ich muß fort. Leben Sie wohl, Herr Doktor!“

Und ehe Franz noch zu Ende gefragt hatte, ob er sie nicht wenigstens zur Bahn begleiten dürfe, war sie die Treppe hinuntergeeilt.

Das war ein trauriger Zwischenfall für Franz. Er war so betrübt, daß er sogar den Raben recht unwirsch anfuhr. Dieser flüchtete sich unter das Sofa, wohin sich Pintsch angesichts der schlechten Laune seines Herrn bereits verkrochen hatte, und tröstete sich dort mit einigen leisen: „Jakob warr brrav! Brraverr Jakob!“ Das rührte den Herrn so, daß er die beiden Thiere hervorlockte und beruhigte. Dabei fiel ihm ein, daß er sich nun aber auch der Katze annehmen müsse. Er wagte es, in Klaras leeres Zimmer hinüberzugehen,

Da fand er eine neue Ueberraschung. Die Katze war nicht da, aber auf dem Arbeitstischchen lag der verhängnißvolle Brief, und daneben ein feuchtgeweintes Taschentuch. Der Brief aber trug eine Fünfpfennigmarke und zeigte den Stadtpoststempel.

In den nächsten Tagen hatte Franz viel zu arbeiten. Gar schwer entbehrte er dabei den Anblick seiner Nachbarin, ihren Gesang, ihr ernsthaftes Plaudern und ihr helles leises Lachen. Um so mehr dachte er an sie, und in den Pausen der Arbeit malte er sich allerlei Zukunftsbilder aus, wobei Jakob noch ganz neue Ausrufe belauschte, die er aber vorläufig verschwiegen in seiner schwarzen Brust verschloß, nachdem ihm seine Indiskretion neulich so übel gerathen war.

Immer wenn ein Schritt auf der Treppe klang, lauschte Franz auf, ob nicht die schlanke Gestalt im dunklen Mantel und dem kleinen Hütchen wieder auf der Schwelle erscheinen werde. Klara blieb aber länger aus, als er dachte, und als sie endlich wiederkam, trafen sie sich auf der Treppe, just als er dringend weg mußte. Sie sah zum Erbarmen angegriffen aus und trug ein schwarzes Kleid; die Tante war einige Tage nach ihrer Ankunft gestorben, Franz empfand das tiefste Mitgefühl. Er suchte krampfhaft nach irgend einer zerstreuenden Bemerkung, die er der Versicherung seines Beileids anfügen könnte. Schließlich meinte er in der Noth seines Herzens: „Denken Sie, der Mones war alle die Zeit über weg und ist erst heute morgen wiedergekommen, ganz mager und wüst sieht er aus.“

Draußen auf der Straße hätte er sich am liebsten selber geprügelt für diese Bemerkung, er konnte sich nichts Dümmeres denken.

Klaras Wesen war viel stiller und zurückhaltender als bisher, was Franz mit Betrübniß empfand. Nur auf Pintsch strömte ihre Gnade in überreicher Fülle aus. Abends war der Doktor jetzt vielfach durch neue Pflichten in Anspruch genommen. Mit dem nachmittäglichen Abholen des Fräuleind war es auch nichts mehr; wie Klara erzählte, hatte ihre Schülerin wegen dringender Weihnachtsarbeiten die Stunden vorläufig ausgesetzt. Sie sagte das mit einiger Verwirrung, die dem guten Franz freilich entging. Wohl aber wunderte er sich sehr, als er Klara mehrmals des Vormittags auf der Straße begegnete oder sie zu Hause fand, zu einer Zeit, wo sie doch in der Schule sein mußte. Als er sie darüber harmlos befragte, meinte sie ausweichend, sie hätten ja jetzt Weihnachtsferien. Damit hätte er sich auch zufrieden gegeben, wenn er nicht gerade zwei Tage darauf im Vorübergehen gesehen hätte, wie sämtliche Schülerinnen aus der Anstalt kamen, mit Büchern und Mappen und in so alltäglicher Stimmung, als ob die Ferien noch in nebelhafter Ferne lägen.

All dies bekümmerte Franz Rainer sehr. Als ein hoffnungsvoller Lichtpunkt schimmerte aber vor ihm das nahe Weihnachtsfest. Frau Schütz, seine wohlbeleibte Wirthin, hatte ihn schon längst zum Heiligen Abend eingeladen mit dem Vermerk, daß auch ihre älteste Mietherin, seit sie bei ihr wohne, das Fest stets bei ihr feiere, Seit seinen frühen Knabenjahren hatte sich Franz nicht so auf Weihnachten gefreut. „An diesem Abend soll sich alles finden, Pintsch,“ sagte er zu seinem Getreuen, „und du und Jakob, ihr sollt dann auch etwas Leckeres bekommen.“

Am Nachmittag vor dem Feste faßte er sich ein Herz und bat seine Nachbarin, mit ihm zusammen „In die Buden“, wie man dort den Weihnachtsmarkt nennt, zu gehen, um auch einige Geschenke für die Wirthin einzukaufen. Klara wollte erst nicht, dann aber, als sie ihn darüber so betrübt sah, stimmte sie mit einem Male muthig zu und machte sich schnell bereit. Auf sein Bitten setzte sie sogar lächelnd das dunkelrothe Pelzmützchen auf, das er so gern auf ihren braunen Flechten sah.

Draußen war es furchtbar kalt, der Schnee knisterte ihnen unter den Sohlen, und der Wind blies so scharf, daß Franz seine Begleiterin ängstlich bat, die Boa dichter umzulegen. Aber Frost und Wind vermochten gar nichts gegen die Herzenswärme, welche das wunderliche Menschenvolk an diesem Tage durchströmte. Ueberall auf dem Markte drängte und aummte es von geschäftigen Menschen. Es war ja Geschäft wie sonst, Kauf und Verkauf, Nachfrage und Angebot. Aber in den Augen der Käufer leuchtete ein anderer Glanz, als den die bloße Besitzlust entfacht, sie wollten [853] nur kaufen, um anderen Freude zu machen, und sie wollten billig kaufen, um noch mehr schenken zu können. Und die Verkäufer lächelten heute von Herzen, sie waren so flink und gefällig, als ob sie dem Gelde, das sie heute einnahmen, eine besondere Zauberkraft zuschrieben. Ueberall duftete es nach Tannen, nach immergrünen Weihnachtsbäumen, und wer die rechten Augen hatte, der schaute auch schon himmlische Kerzen leuchten, die Weihnachtslichter in den Blicken der Menschen.

Franz Rainer jedenfalls schaute sie – in den braunen Augen seiner Begleiterin. Er freute sich so, ihre Wangen wieder rosig zu sehen und ihr leises, frohes Lachen wieder zu hören; ja er glaubte, sie noch nie so herzlich und heiter gesehen zu haben. Wie die Kinder wiesen sie einander die vielen schönen Sachen, ermunterten sich, dies und jenes zu kaufen, berathschlagten, was der alten Frau wohl besondere Freude machen würde, und hatten bei dem allem die größte Freude aneinander.

An einer ziemlich dunklen und einsamen Stelle des Marktes, als sie schon heimkehren wollten, rief sie ein altes Männlein an, das von seinem Kleinkram wohl noch wenig verkauft haben mochte. Es waren allerlei Figürchen aus Steingut, ihr Kunstwerth war gewiß sehr gering. „Schöne Figuren, echte Nippes!“ krähte der Alte. „Wollen Sie nicht kaufen, schöne Frau?“

Lachend trat Klara näher: „So ’was liebt sie gerade,“ flüsterte sie Franz zu und wählte einige sehr bunt bemalte Heiligenbilder. „Und das kriegt der Herr Einsiedler hier,“ meinte sie und schob Franz einen Eremiten zu, der mit fürchterlich ernstem Gesicht und langer brauner Kapuze auf einem äußerst spitzen Felsblock lehnte und in die Unendlichkeit hinausstarrte.

„Danke,“ sagte Franz, „dann ist dies hier aber für Sie“ und wies auf eine schlanke Fee in Rokokogewand mit unvermeidlichem Zauberstab. Der Alte schmunzelte und packte die Sachen ein, während die beiden plauderten. „So,“ sagte er und schob ihnen die Päckchen hin, „das sind die Heiligen und das ist für die gnädige Frau und das ist für den Herrn Gemahl.“

Franz lachte und sah seine Begleiterin an. Da bemerkte er, daß eine ältere hagere Dame, gleich streng in Aussehen und Tracht, an ihnen vorüberging und ihre kalten Augen mit einem bösen Ausdruck auf Klara richtete. Auch diese mochte die Begegnende wahrgenommen haben, sie bezahlte hastig, steckte ihr Päckchen ein, und auf dem Heimweg war sie viel stiller als vorher.

Kaum hatte Franz daheim Licht gemacht, so schickte er sich an, seinen Einsiedler auszupacken. Nun war es aber gar nicht der Eremit, sondern die Fee. Die Päckchen waren verwechselt worden. Nachdenklich lächelte Franz auf das Figurchen. Da sah er einen großen Brief vor sich liegen, der von der Hand Doktor Müllers überschrieben und an ihn gerichtet war. Und kaum hatte er den Brief aufgerissen und überflogen, so packte er ihn mitsamt der Fee und eilte hinüber zu Klara. Ihr „Herein!“ war kaum zu hören.

„Denken Sie,“ rief Franz – „aber Sie haben ja kein Licht!“

„Einen Augenblick,“ sagte sie und zündete die Lampe an. Nun sah er, daß sie geweint hatte, und blickte sie fragend an.

„Sie wollten mir etwas sagen,“ bemerkte sie ausweichend.

„Ja,“ antwortete er. „denken Sie, hier ist mein Lehensbrief –ich bin Feuilletonredakteur an unserer Zeitung geworden!“

Sie wünschte ihm herzlich Glück.

„Das ist aber noch das Wenigste,“ fuhr er fort, „sehen Sie her. was ich habe!“ Und er zeigte ihr die Fee.

„O,“ meinte sie, „da ist eine Verwechslung vorgekommen. Wahrhaftig, hier ist der Eremit! Wie komisch!“

„Ich finde das gar nicht komisch,“ rief Franz und faßte ihre Hände, „ich finde das ganz in Ordnung, und menn Dz mich ein wenig lieb hast, Klara, so nimm Deinen Klausner hin und laß mir meine süße braune Fee, die ich so unendlich lieb habe – willst Du, Klara?“

„Ja,“ flüsterte sie leise. Es war ein ganz anderes Ja, als sie sonst zu sprechen pflegte. – –

„Nun muß ich Dir beichten, Liebster,“ sagte Klara nach einer Weile. „Ach, ich habe Dich so schändlich belogen, kannst Du mir verzeihen? Ich bin gar nicht mehr Lehrerin. Seit dem Tage nicht mehr, an dem ich abreiste.“

„Ah,“ rief Franz, „der Brief!“

„Der Brief – hast Du ihn gelesen?“ fragte Klara erschreckt.

„Wo denkst Du hin!“ beruhigte er sie.

„Ach, es war so häßlich, so bodenlos häßlich,“ seufzte sie erröthend, „ich mag es Dir nicht sagen, was mir diese Frau schrieb von Dir und mir!“

„Laß es gut sein, Lieb,“ sagte Franz zärtlich. „Uebermorgen geb’ ich unsere Antwort auf ihren Brief in Druck, drei süße Zeilen! Bitte, sei nicht böse wegen der Frage – war das Deine frühere Prinzipalin, die uns vorhin auf dem Markte begegnete? – So? Na, der trau’ ich beinahe jeden Brief zu. Was mußt Du ausgestanden haben unter ihr -“

„O nein, Franz! Sie ist nur eigen und streng, und weil sie uns öfters zusammen gesehen hatte –“

„Aber warum verschwiegst Du mir denn das alles, Du Böse?“

„Ach,“ flüsterte sie erröthend, „ich dachte, dann hättest Du mir gleich Deine Hand geboten.“

„Ei, sieh’ ’mal! Und wäre Dir das so peinlich gewesen?“

„Ja, Franz – aus einem solchen Grunde! Nun darf ich Dir aber auch das andere beichten, Liebster: ich bin reich! Meine Tante hat mir alles hinterlassen. Ach, ich hätte es Dir so gern anvertraut. Aber siehst Du, ich dachte – –“ Sie verstummte ein Weilchen und flüsterte dann an seiner Brust: „Ich dachte, Du würdest es unzart finden. Ach Du, ich bin wohl schrecklich dumm?“

„Jedenfalls denkst Du schrecklich viel,“ meinte der glückliche Franz lächelnd und küßte seine Liebste. „Denkst Du auch noch daran, was Du alles vom Adventsengel dachtest? Was der wohl sagen mag, wenn er jetzt durchs Dach schaut!“

„Süße Braut! Cara Clara!“ krächzte es da plötzlich. Jakob und Pintsch hatten sich hinter ihrem Herrn hergemacht. Der Hund spielte zärtlich mit dem Kater Mones, in verständnißvoller Anlehnung an das Vorbild ihrer Herrschaften, Jakob aber saß in erhabener Einsamkeit auf Klaras Arbeitstischchen und trug seine neueste Weisheit vor: „Klara, süße Braut!“

„Dein erster Gratulant, Klara!“ –

„Woher er das nur wieder hat?“ fragte sie schelmisch lächelnd.

„Ach, so ein Klausnerrabe schnappt allerlei vor der Zeit auf!“

„Ja, Du,“ fragte sie, „was wird nun aber aus der ‚Chronik des Klausners‘?“

„Die wollen wir gleich fertig machen,“ rief Franz. „Komm!“ Und nun schritten sie in zärtlicher Umschlingung hinüber in sein Zimmer. Da holte Franz das Buch aus dem Schreibtisch, Klara reichte ihm die Feder, und unter die Ueberschrift „Die Chronik des Klausners“ schrieb er: „blieb ungeschrieben, weil der Klausner noch rechtzeitig eine Klausnerin fand.“


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Deutsche Weihnachten in der guten alten Zeit.

Von Alexander Tille. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Wir befinden uns am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, in einer kleinen Stadt Mitteldeutschlands. Die Ernte der Flur, welche die meisten Bürger noch selbst bestellen, ist eingebracht, auch der Martinstag, das große Gesamterntefest, ist bereits ins Land gegangen. Schon hat es einmal geschneit, und allenthalben rüstet man sich auf den Winter. Aber wenngleich bereits ein scharfer Wind durch die Gassen fegt, die Jugend macht noch keinerlei Anstalten, sich in die Häuser zurückzuziehen. An der Südseite des Marktes; dicht beim „Goldenen Kalbe“, hat sich ein ganzer Trupp versammelt, den augenscheinlich ein Gegenstand von großer Wichtigkeit beschäftigt. Seine Aufmerksamkeit gilt indessen nicht dem ungeheuren ziegelrothen Kutschwagen, der eben vor dem Gasthause hält und dessen vier Rosse aus den schweren Steinkrippen fressen, er sucht vielmehr mit neugierigen Augen durch die kleinen trüben Scheiben in das Innere des Hinterzimmers zu dringen, zu dem man nur durch die große Gaststube gelangen kann.

Da drinnen geht es sehr laut zu. Fünfzehn junge Männer sind hier versammelt und halteu „Heiligen Christrath“. Draußen hat man wohl aufgepaßt, wer alles dahineingegangen ist; denn wenn man weiß, wer beim Christumzug betheiligt ist, dann sind die einzelnen hinterher leichter zu erkennen. Es sind ernste Zeiten für die, so da drinnen in Berathung sitzen. Seit Menschengedenken hat der Christumzug inmitten der Weihnachtsfestfreude gestanden, seit Menschengedenken hat der Mummenschanz der Christnacht dem „Heiligen Christrath“ erkleckliches Stück Geld eingebracht, und jetzt soll ihm dieses Vorrecht genommen werden! Das Erkenntniß der theologischen Fakultät der Universität Leipzig vom Jahre 1680 lautet ganz unzweideutig: „Halten dannenhero schrifftmäßig davor, daß so beschaffenes Heil. Christ-Spiel in Haupt und Fuß zu verändern, daß sowohl die vornehmste Person, der vermummte Heil. Christ, als die unterste, nehmlich der Knecht Ruprecht, abzuschaffen seynd, damit weder Occasion zur Abgötterey noch zu allerhand Schand und Ueppigkeit in Zusammenkünften gegeben werde. Die mittel Personen können, als Engel, S. Petrus oder von dem Heil. Christ abgeordnete Diener, die Kinder zu examinieren, beten zu lassen, und von Untugenden abzumahnen, in geziemenden Schrancken vol beybehalten, und hierdurch die Kinder bey Christlicher Weynacht-Freude, die Agirenden aber bey den hergebrachten Accidenze (darum es sonsten zu thun zu seyn scheinen will) gelassen werden, welches dann mit Zusammensetzung des Magistrats und Ministerii gar füglich und absque strepitu (ohne Lärm), ohne Eintrag der Schul-Collegen und derer, welche bißher einig solatium daran genossen, auch ungehindert des hierunter von Eltern abgezielten Zweckes, wohl geschehen mag.“

Aber was soll aus dem Christspiel werden, wenn seine Hauptgestalt, der Knecht Ruprecht, fehlt? Und wer soll die Veränderung „in Haupt und Fuß“ besorgen? Der wohlgelahrte Meister der Stadtschule hat sich infolge jenes Erkenntnisses feierlich vom Umzugsspiel losgesagt, und jetzt übt er mit seinen Buben auf Befehl des Stadtraths gar noch ein paar ehrwürdige lateinische Weihnachtsgesänge ein und es geht das Gerücht, daß er mit ihnen am Heiligen Abend von Haus zu Haus ziehen und sich auf diesem Wege seine Taschen füllen wolle!

Das Christspiel.

Doch die Burschen fürchten die Nebenbuhlerschaft der singenden Buben nicht, sie gedenken vielmehr, die singende Schar, wenn sie ihr zufällig begegnen sollten, weidlich durchzuprügeln. Und was das Christspiel betrifft, so sieht jeder ein, daß Veränderungen zu den Unmöglichkeiten gehören; darum soll auch alles beim alten bleiben. Nur eins verspricht man sich, beim Umzug nämlich sich nicht zu weit voneinander zu entfernen, damit man den beiden Nachtwächtern und den vier Stadtsoldaten nöthigenfalls geeigneten Widerstand leisten knune. Spät abends geht man auseinander. Nun beginnen die Vorbereitungen, Proben und andere Zusammenkünfte, und bald ist man darüber einig, daß man ohne den alten Schullehrer, der immer recht haben wollte und im Grunde eigentlich gar nichts verstand, weit besser zustande komme.

Indessen ist wieder ein Monat ins Land gegangen. Mit Schrecken berichten die Kinder daheim, daß sie heute in der Dämmerung den Knecht Ruprecht bereits hätten über die Straße huschen und im „Goldenen Kalb“ verschwinden sehen. Die ganz Kleinen machen dabei große Augen; die Schulbuben lächeln schlau; sie denken daran, was ihnen der Herr Lehrer gesagt hat. Die Mutter aber hat ihr vierjähriges Töchterchen auf dem Schoß und läßt sich ernsthaft von ihm das „gemeine Kindersprüchlein“ wiederholen:

„Das Jesulein bin ich genand,
Bey denen frommen Kindernlein wohl bekand,
Die ihren Eltern gehorsam seyn,
Und ihren Catechismum lernen fein:
Die Früh aufstehn und beten gern,
Denen will ich alles guts beschern.
Was aber solche Holtz Böcke seyn,
Die schmeissen Schwester und Brüderlein,
Die schlept der Todt in die Hölle hinein.
Darumb seyd fromm, ihr Kinderlein
Daß ihr nicht kompt in solche Pein.“

Endlich ist es Heiliger Abend. Der Vormittag ist langsam verstrichen, aber sein Verlauf erscheint noch eilig gegen den Schneckengang des Nachmittags. Doch auch er findet einmal ein Ende. Da eine weiße Schneedecke die Fluren, Gärten und Straßen deckt, so tritt die Dämmerung verhältnißmäßig spät ein. Endlich, endlich beginnt es düster zu werden. Hier, dort, in zwei, drei, vier Fenstern flammt ein Licht auf, das nur mühsam das Zimmer erhellt, aber doch durch die kleinen, runden Scheiben hindurchglänzt. Längst ist kein Kind mehr auf der Straße zu erblicken. Die Furcht, „mitgenommen“ zu werden, überwiegt selbst die kindliche Neugier. Auch von Erwachsenen geht nur hinaus, wer muß. Denn auch sie sind vor den „Christlarven“ nicht sicher. Schon huscht da und dort eine vermummte Gestalt über die Straße, die man ebenso gut für einen Bären wie für einen Baum halten kann. Immer düsterer wird’s draußen, immer stiller auf den Straßen. Auch die beiden Nachtwächter bleiben wohlweislich zu Hause, und die vier Stadtsoldaten belustigen sich auf der Wachtstube im Rathhause.

Allenthalben sind die Eltern noch bis gegen Abend beschäftigt gewesen, die „Christbürden“ fein säuberlich zusammenzupacken und mit [855] Christstollen, Zucker, Pfefferkuchen, Aepfeln, Nüssen, Puppen, Kleidern, Bildern, Büchern, Schreibtafeln, Federn und Papier zu füllen. Auch die Christruthe darf nicht fehlen zur heilsamen Mahnung. Der Vater versäumt nicht, die Bündel der Kleinsten noch durch ein paar Knoten möglichst fest zu verschließen; denn das Auspacken ist ja das Hauptvergnügen. Jetzt werden die „Bürden“ der Reihe nach auf ein Tuch in die düstre Ecke gelegt. Auf dem Tisch glänzen seitlich ein paar Kerzen, denn noch ist es nicht üblich, einen Lichterbaum üher die ausgelegte Bescherung strahlen zu lassen. Die Glocke klingt, und die Kinderschar stürmt ins Zimmer. Große und Kleine bemächtigen sich ihres Bündels, und nun geht’s ans Auspacken!

Da pocht der Klopfer an die Hausthür. Ein jäher Schreck fährt allen durch die Glieder. Das sind die Christlarven! Im Nu wird wieder eingepackt, so rasch die Bestürzung es erlaubt. Wie konnte man auch über der Festfreude die drohende Gefahr vergessen! Jetzt donnert’s schon förmlich gegen die Thür. Der Hausherr öffnet und, ihn fast umrennend, stürzt eine wilde Schar nach dem Zimmer der Bescherung. Der Knecht Ruprecht voran. Er ist ganz in Pelze gehüllt und trägt über dem Arme einen Sack, in den er die unartigen Kleinen stecken will. Die Kinder flüchten sich scheu hinter den Tisch oder suchen Schutz bei der Mutter.

Dann beginnt auf der anderen Seite des Tisches das Christspiel. Rupertus fragt und Petrus erzählt. Dazwischen sprechen die Engel einige Worte, und Joseph giebt den Spaßmacher ab, indem er seine Rede mit allerlei Anspielungen würzt, die meist in keinerlei Zusammeuhang mit dem Stücke stehen, aber ihre Wirkung nicht verfehlen.

Das Spiel, dem die Kinder andächtig lauschen, ist bald zu Ende und nun wollen die einzelnen Personen des Stückes kleine Geschenke austheilen, für die sie nachher vom Hausherrn eine Geldsumme bekommen, die in keinem Verhältniß zu ihren geringen Gaben steht. Christus beginnt; indessen die Empfänger haben keine Lust, hervorzukommen und ihre Geschenke in Empfang zu nehmen: sie fürchten zu sehr die Späße, denen sie sich dabei aussetzen. Aber der heilige Christrath weiß dafür Abhilfe. Mit einem Schlage springen sämtliche vermummte Gestalten auf, und es beginnt in dem Zimmer, auf dem Hausflur, trepp auf, trepp ab, durch Kammern und über die Böden eine tolle Jagd. Wehe dem, der sich erwischen läßt! Die erwachsene Tochter des Hauses steht furchtsam in einer Fensternische, halb hinter einem Schranke verborgen. Zweimal, dreimal ist die Gefahr bereits glücklich an ihr vorübergegangen – endlich ist sie gefunden. Ein kräftiger Kuß auf ihre rothen Lippen besiegelt trotz alles ihres Sträubens die Freude des Finders und noch mehr als einmal wird sie unversehens umarmt. Das ist nun eben das verbriefte Recht der Christlarven.

Die Christlarven vor der Kirche.

Um sich der nnruhigen Gäste möglichst bald zu entledigen, läßt der Hausherr Bier in großen Mengen auftischen und giebt dem Christus das übliche Geldgeschenk. Aber noch machen die Larven nicht Miene, weiter zu ziehen. Sie bemerken plötzlich, daß bei der Beschenkung jemand vergessen worden ist, der sich bis jetzt verborgen hat, und so beginnt die Jagd denn aufs neue. Abermals wird das Unterste zu oberst gekehrt. Endlich ist auch das letzte Opfer aufgetrieben, und allerlei Schabernack bleibt ihm nicht erspart.

Jetzt denken die Larven an Aufbruch. Die Abzeichen ihrer Würde, der Sack, der Bischofsstab und der Heiligenschein, die bei dem tollen Treiben beiseite gelegt worden waren, werden wieder aufgenommen und unter Johlen und Schreien geht’s aus dem Hause – zur nicht geringen Freude der Familie.

Bald ist überall wieder Ordnung geschafft, und schon wendet sich jedes wieder seinen Geschenken zu. Da tönt vom Nachbarhause ein Lärm herüber, daß die Scheiben klirren. Alles stürzt an die Fenster und einige Muthige blicken sogar durch die geöffnete Hausthür hinaus. Drüben läßt ein vorsichtiger Hausvater die Christlarven nicht herein, sie aber suchen durch einen höllischen Lärm den Eingang zu erzwingen. Die Thür birst fast unter den Stößen, es ist ein Heulen, Johlen, Pfeifen, Brummen, daß einem Hören und Sehen vergeht. Leitern werden angelegt; und ein Mädchen, das eben zum Fenster herausschaut, wird zur Strafe seiner Unklugheit solange abgeküßt, bis ein gewaltiger Besen von drinnen den kecken Angreifer verscheucht. Endlich läßt das Toben nach – und gleich darauf herrscht Totenstille. Da auf einmal ruft eine Grabesstimme, der Heiland selbst sei dagewesen und habe dem Hause seine Gaben und seinen Segen bringen wollen. Nun nehme er beides wieder mit fort.

Dann geht’s weiter vor eine andere Thür.

Je mehr Häuser bereits heimgesucht sind, desto eiliger haben es die Christlarven und desto kürzer bemessen sie ihre Besuche. Denn noch ehe es vom Thurme der Stadtkirche neun Uhr schlägt, müssen sie die Runde gemacht haben. Um Neun rufen die Glocken zur Christmette, die bis Schlag zwölf Uhr dauert, und auf der Straße die Kirchgänger zu necken, das tst ein noch weit größeres Vergnügen, als in den Häusern Muthwillen zu verüben.

Schon sieht man ganze Scharen nach der Kirche pilgern, da erschallt plötzlich der Ruf: „Die Christlarven sind da!“ und sofort beginnt an den Kirchthüren ein heftiges Gedränge, jedes will sich in Sicherheit bringen. Aber schon fliegen die Schneebälle der Larven über die Köpfe hin, und ein Widerspenstiger wird auf dem Markte im Schnee gerollt. Da tönt Geschrei aus einer kleinen Nebengasse. Die Stadtsoldaten haben zwei Christlarven festgenommen, weil sie die Wachtstubenthür eingestoßen haben. Die beiden Opfer werden fortgeschleppt, aber die Genossen eilen zu ihrer Hilfe herbei und es giebt eine tüchtige Rauferei. Für diesmal gelingt es noch, die Gefangenen zu befreien, aber am nächsten Morgen erfährt man zur allgemeinen Trauer, daß zwei andere Larven, darunter der Heilige Christ selbst, in sicherem Gewahrsam hinter Schloß und Riegel sitzen.

Vergebens haben sich die Christlarven nach den Schulknaben umgesehen, von denen sie glaubten, daß sie ihnen Konkurrenz machen würden. Jetzt löst sich das Räthsel: unter Leitung ihres fürsichtigen Lehrers und Kantors der Stadtkirche naht in feierlichem Zuge die Schar der Schüler, jeder in der Hand eine Kerze als Christfackel. Beim Eintritt in die Kirche erklingt aus ihrem Munde der alte Weihnachtsgesang, mit ernstem Schritt durchziehen sie das Schiff. Jetzt sind sie zu Ende, sie steigen zum Chor auf, und die eigentliche Mette beginnt, die erst um Mitternacht schließt.

Aher nur ein Theil der Stadtbewohner weilt in der Kirche. Andere feiern den Weihnachtsabend in althergebrachter Weise daheim unter allerlei ernsten und losen Bräuchen. Ernst sitzt die Runde um den großen Tisch, da tritt eines mit einem Licht ein, geht um den Tisch und verläßt schweigend wieder die Stube. Alle aber schauen erwartungsvoll nach der Wand: denn wessen Kopf beim Scheine dieses Lichtes keinen Schatten wirft, der muß dieses Jahr sterben. Dort kehrt die Magd, ehe sie zum Abendessen in das Haus geht, flugs noch einmal den Schnee weg vor den Schweineställen und horcht an der Thür. Da raschelt es drinnen wie Hobelspäne und nun ist es ihr gewiß, daß sie einst das Weib eines Schreiners werden wird. Da sucht man in den Stubenwinkeln rückwärts Haare und schließt daraus, ob man einen blonden oder einen schwarzen Ehegatten bekommen wird. Die künftige Verehelichung steht dabei immer im Mittelpunkte des Interesses. Wenn dann in der ersten Stunde des neuen Tages die Kirchgänger nach Hause zurückkehren, dann wacht die Festfreude noch einmal auf. Ein fröhliches Mahl vereint das ganze Haus am Tische, und erst lange nach Mitternacht endet die deutsche Weihnachtsfeier der guten alten Zeit.


[856]


Blätter und Blüthen.

Weihnachtsbüchertisch für die Jugend. Es ist eine dunkle Welt, die der Büchermarkt vor jedem Weihnachlsfest unseren Kindern erschließt. In einer Fülle von Jugendschriften suchen Schriftsteller und Verleger die Phantasie wie das Wissen der Kleinen in gleicher Weise zu beleben, zu entwickeln. Und man muß gestehen, das geschieht mit steigendem Geschick; jedes Jahr bringt eine größere Zahl trefflicher Leistungen. Es kann sich unter diesen Umständen hier nlcht darum handeln, alle lobenswerthen Erscheinungen der Jugenlitteratur aufzuzählen, wir müssen uns damit begnügen, aus dem großen Vorrath das auszuwählen, was uns nach Inhalt und Ausstattung den Bedürfnissen unserer Leser besonders zu entsprechen scheint.

Für die Jüngsten bringt der Verlag von W. Effenberger (Stuttgart) in hübschem „unzerreißbaren“ Gewand „Kleine Thierbilder“, die sehr lebendig und naturgetreu die bekanntesten Thiergestalten aus Hof und Stall wiedergeben. Die Anschauungswelt, die sich in Haus, Garten und Feld, auf der Straße vor unseren Kleinen aufthut, ist in einer Menge übersichtlich geordneter Bilder festgehalten in „Da schau her!“ (Schreiber, Eßlingen). Den ersten Schritt in die Geheimnisse des Lesens und Schreibens erleichtert „Das neue ABC“ (Weise, Stuttgart), ein praktisches Büchlein, das uns zugleich zu jenem Punkte führt, wo für die Kleinen die Schule und damit die eigene Lektüre beginnt. Für diese Zeit, bis hinauf zu einem Alter von ungefähr zwölf Jahren, hat der Verlag von Ströser in Nürnberg eine Reihe mustergültiger Bücher geschaffen. In den „Heiteren Stunden“ werden Ziehbilder von schönster Genauigkeit in Farbe und Ziehvorrichtung geboten; E. Dobbert erzählt „Im Bilderhaus“ in Prosa und Poesie eine stattliche Anzahl von Geschichten aus dem kleinen Leben der Kinder und der Thiere, Helene Binder giebt in dem Bande „Fürs kleine Volk und im „Plauderstündchen“ reichen Stoff für Belehrung und Unterhaltung. – Daß der immerfrische Born der Märchen unserem jungen Geschlecht nicht versiege, dafür sorgen stets neue Sammlungen und Zusammenstellungen. Die uns allen wohlvertrauten und liebgewordenen „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm sind, von dem Maler P. Grot Johann mit anziehenden Bildern ausgestattet, bei der Deutschen Verlagsanstalt (Stuttgart) in einer großen Prachtausgabe erschienen. Eine kleinere Auswahl von diesen und den bekanntesten der übrigen Märchen findet sich in den Sammlungen „Es war einmal“ und „Märchenzauber“ (Effenberger, Stuttgart).

Der reiferen Jugend sind die rothen Bändchen der „Universalbibliothek für die Jugend“ (Union, Stuttgart) und der „Vaterländischen Jugendschriften“(Flemming, Glogau) schon seit geraumer Zeit gute Freunde geworden. Unter dem, was heuer zu diesen Sammlungen neu hinzugetreten ist, hat uns besonders gefallen der „Balladenschatz“ von H. Fogowitz, der die besten deutschen Balladen vereinigt, und die Lebensbeschreibung, welche L. Ziemssen dem Schöpfer des Wormser Lutherdenkmals, dem Bildhauer Ernst Rietschel, gewidmet hat. Einem ähnlichen guten Gedanken wie der „Balladenschatz“ verdankt die „Geschichte des neuen Deutschen Reiches in Gedichten“ (Löwenthal, Berlin) ihre Entstehung. H. Schillmann hat hier zu einem Gedenkbuch für Schule und Haus alle dichterisch werthvollen Lieder zusammengestellt, welche die großen Ereignisse unserer vaterländischen Geschichte seit 1870 mit frohen und wehmüthigen Akkorden begleitet haben. Von Spemanns illustrierten Blättern für Knaben und Mädchen vom „Guten Kameraden“ und vom „Kränzchen“, liegt je der letzte Jahrgang in einem reichhaltigen Bande vor. Erzählungen, Gedichte, Aufsätze aus dem Gebiet der Naturwissenschaft und der Geschichte, Beschreibungen neuer Handarbeiten und Spiele – das alles, verbunden mit guten Illustrationen findet sich in diesen gediegenen Jugendzeitschriften. Zum Lob des von Ottilie Wildermuth gegründeten und von ihren beiden Töchtern fortgeführten „Jugendgartens“ können wir unseren Lesern nur wiederholen, was wir alljährlich darüber zu sagen hatten: hier waltet gesundes Verständniß für eine richtige Unterhaltungslektüre der Heranwachsenden. Eine lebendige kulturgeschichtliche Erzählung aus der Zeit der Gründung jenes mächtigen Rheinischen Städtebundes im 14. Jahrhundert bietet Oskar Höcker in „Stegreif und Städtebund“ (Hirt und Sohn, Leipzig); Friedrich J. Pajeken, der unermüdliche Erzähler, führt im „Vermächtniß des Invaliden“ (Effenberger, Stuttgart) und in „Bob, der Millionär“ (Hirt und Sohn, Leipzig) unsere Knaben in das gelobte Land der Abenteuer – in die Prairien Nordamerikas.

Weniger an die Phantasie als an Gemüth und Gewissen der Jugend wendet sich „Herz“ (Geering, Basel), eine deutsche Prachtausgabe der vortrefflichen Schrift von Edmondo de Amicis, die im italienischen Original 150 Auflagen erlebt hat. In der Form eines Tagebuches, das ein Schüler im Lauf eines Schuljahres schreibt, werden alle Erlebnisse in Haus und Schule im edelsten Geiste behandelt. – Ein Werk sei hier noch angefügt, das sich durch seinen äußerst billigen Preis und seinen reichen Lehrstoff vor allem zur Anschaffung für Schülerbibliotheken eignet: „F. Hirts Bilderschatz zur Länder- und Völkerkunde“ (Hirt und Sohn, Leipzig).

Für junge Mädchen sei außer auf den neuen, 39. Jahrgang von Thekla v. Gumperts „Töchteralbum“ (Flemming, Glogau) besonders auf das Album „Maienzeit“ hingewiesen, das sich heuer zum dritten Mal einstellt (Union, Stuttgart). Beiträge namhafter Autoren, eine gefällige Ausstattung zeichnen auch diesen neuen Band aus.

Damit sind wir am Schluß unseres Berichtes angelangt. Mögen die Bücher, die das heurige Weihnachtsfest unseren Kindern bringt, überall fröhliche Herzen treffen!

Verkäufer von Wachsstöcken an der Schloßbrücke in Berlin.
Nach einer Originalzeichnung von W. Zehme.

Unsere Weihnachtsbilder. E. Unger stellt sich diesmal mit einer größeren Komposition in der „Gartenlaube vor – es ist unsere Kunstbeilage „Weihnachten“. Da fährt, von Knecht Ruprecht geleitet, auf seinem Schwanenschlitten Christkindchen ein in sein fröhliches Reich, das Füllhorn in Händen, das lichtergeschmückte Bäumchen vor sich auf dem Schnabel des Schlittens, umringt von lustig spielenden Putten und musizierenden Engeln – eine richtige Versinnbildlichung der fröhlichen und doch so weihevollen Weihnachtszeit. Und ein Ton der Weihe zieht auch durch das Weihnachtslied, das auf unserem Bilde S. 841 von frischen Mädchenlippen kommt, er klingt mächtig aus der schwingenden Glocke hervor über die beschneite Stadt. – H. Fechner d. J. hat auf dem Bilde S. 848 u. 849 den Schluß einer Wohlthätigkeitsbescherung dargestellt, und gerne ruht das Auge des Beschauers auf den verklärten Gesichtern der Beschenkten, die mit Schulranzen, Schiefertafeln, Bilderbüchern und allerhand Näschereien aus dem noch festlich erleuchteten Raum herausströmen –

Ein Bild aus dem Berliner Weihnachtstreiben führt uns W. Zehme in seinem wachsstockverkaufenden Jungen vor. Diese armen Knaben fassen zur Zeit des jetzt zum Aussterben verurtheilten Berliner Weihnachtsmarktes auf der Schloßbrücke Posto und bieten ihre Ware mit dringlich flehenden Worten zum Kauf an. Der arme Knabe! Sein Schwesterchen ist ihm vor Hunger und Kälte im Schoße eingeschlafen, und der rührende Anblick verfehlt nicht seines Eindrucks auf die vorübergehende reiche Dame. Sie wird ihm den Wachsstock bezahlen, aber nicht abnehmen, damit die Kinder in ihrem doppelten Gewinn doch auch etwas Weihnachtsfreude mit nach Hause bringen.


manicula 0 Hierzu Kunstbeilage XIV: Weihnachten. Von E. Unger.

Inhalt: Das alte Paar. Gedicht von Emil Rittershaus. Mit Bild. S. 837. – Sabinens Freier. Von W. Heimburg (3. Fortsetzung). S. 838. – Der Struwwelpeter bei Kaiser Wilhelm I. Von Dr. H. Hoffmann-Donner. S. 840. – Das Weihnachtslied. Bild. S. 841. – Christmette. Bild. S. 844. – Die Chronik des Klausners. Von Ernst Lenbach. S. 845. Mit Abbildungen S. 845, 846, 847. 850, 852 und 853. – Heimkehr von der Wohlthätigkeitsbescherung. Bild. S. 848 und 849. – Deutsche Weihnachten in der guten alten Zeit. Von Alexander Tille. Mit Abbildungen S. 854 und 855. – Blätter und Blüthen: Weihnachtsbüchertisch für die Jugend. S. 856. – Unsere Weihnachtsbilder. S. 856. (Zu den Bildern S. 841, 848, 849 und 856.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.