Die Gartenlaube (1893)/Heft 48
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Nr. 48. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sabinens Freier.
Drei Jahre vergingen, da erhielt ich Kunde vom Tode des Justizraths Bayer; er sei ganz plötzlich an einem Herzschlag gestorben. Diesmal schrieb ich an Tante Klara einige theilnehmende Worte und an mein Pathchen auch. Ein paar Wochen blieb ich ohne Nachricht, da kam ein Brief der Tante, der mich erschreckte. Sie bat mich, ihr und den beiden Kindern doch ein Obdach zu gewähren in unserem alten Hause. Bayer habe seine Tochter in den denkbar ungünstigsten Verhältnissen zurückgelassen, eigentlich seien die Kinder auf ihr, der Großmutter, geringes Witwengehalt angewiesen, ich wisse ja: dreihundert Thaler, und – wie lange lebe sie noch? Und da ich doch gewiß vorläufig keine andere Verwendung für die leerstehenden Zimmer hätte, so bitte sie mich, wieder dort einziehen zu dürfen.
Ich war gerade im Begriff, meine Koffer zu packen, um nach beendetem Manöver eine Urlaubsreise anzutreten; ich wollte mit einem alten Kameraden, dem Rittmeister von Leeden, in Berlin zusammentreffen, um von dort aus mit dem Römerzug direkt über die Alpen nach Italien zu reisen und neapolitanische Sonne zu genießen. – Wie auf einmal alles wieder lebendig vor mir steht, das alte Haus, der große Flur darin und die dunkle Treppe, über deren Geländer sich ein liebes blasses Mädchenantlitz biegt. Ich sehe diese Augen so deutlich vor mir, höre ebenso deutlich die Stimme: „Viktor, kommst Du? Ach, wie lieb von Dir!“
„Böhme!“ rief ich in das Nebenzimmer, „eine Depesche besorgen, sofort! Geh’ gleich auf den Bahnhof!“
„Befehl, Herr Major!“
„Packe vorläufig nur den Handkoffer – ich reise, anstatt morgen früh, heute abend mit dem Zehnuhrzuge. Nur den Handkoffer vorläufig!“
Böhme, mein Bursche aus dem Feldzuge, jetzt Diener bei mir, verschwand schleunigst mit dem kleinen Blatt, das meinen Reisekameraden lakonisch ersuchte, nur immer voraus zu fahren; ich hätte vor der Hand noch eine Familienangelegenheit zu ordnen, hoffte aber, in etwa fünf bis sechs Tagen nachkommen zu können. Meine Adresse sei vorläufig: Wardelingen in der Mark.
Um zehn Uhr stieg ich in ein Coupé erster Klasse des Schnellzuges, Böhme nebst dem Koffer verschwand in der dritten Klasse. Und in schwindelnder Eile ging’s der Heimath zu. Eine lange Fahrt; aber diesmal, diesmal konnte ich die unbezahlte Rechnung nicht beiseite schieben, und diesmal wurde es mir trotz der aufgegebenen Reise nicht schwer, denn der Mann, den zu sehen ich vermeiden wollte, war tot und ich konnte endlich mein Wort einlösen – Lenis Kind brauchte mich.
Am andern Nachmittag schon fuhr der Zug durch die einförmige Landschaft der Mark. O Du liebe kiefernduftige sandige Heimath, wie reizvoll bist du mir stets erschienen! Welch’ süße Schwermuth liegt über diesen einsamen Dörfern, von
[806] Eichen umstanden, über den winzigen Städtchen, über die der plumpe Kirchthurm aufragt. Wie gern bin ich diese birkenumsäumten Feldwege geritten ober über die Heide dahin gesprengt, am Saume des Kiefernwaldes entlang, mit sehnsüchtig traurigen Gedanken an ein Paar klarer Mädchenaugen, die mein Hoffen waren und mein Schmerz geblieben sind.
Und da war ja schon der Stadtforst von Wardelingen mit dem Jägerhause, in dessen Gaststube wir bei Waldpartien zu tanzen pflegten; und hinter den Bäumen kam der alte schiefe Thurm der Marienkirche zum Vorschein, in dessen Schutz das Brenkenhaus stand. Wie sonst funkelte die sinkende Sonne in den Fenstern des hohen Rathhauses und wie sonst standen ein paar Menschen auf dem Bahnsteig, ein paar Bauern mit ihren Weibern und ein paar Offiziere, die einem Kameraden das Geleit gaben oder einmal nach Hannover hinüberrutschen wollten; und wie sonst der Inspektor in rother Dienstmütze – alles unverändert!
Ich kam unerwartet und beschloß, zuerst in den Gasthof zu fahren; dann besann ich mich anders. Die Wardelinger klappernden Gasthofswagen kannte ich noch von früher her zu gut, um sie nicht gern zu vermeiden; sie sahen thatsächlich noch ebenso vorsintfluthlich aus, diese alten Kasten, wie damals. Ich setzte also Böhme in den Wagen des „Deutschen Hauses“ und schlenderte an diesem dämmernden warmen Oktobernachmittag zu Fuß weiter. Es war zum Lachen – alles noch dasselbe, höchstens daß die Bahnhofanlagen, das heißt, die Sträucher und Hecken etwas gewachsen waren, sonst alles genau wie früher. Dort der kleine Teich, an dem der Weg geländerlos sich hinzieht, noch immer im Besitz seines üppigen Pflanzenwuchses unter der bräunlichklaren Fluth. Dort das „Hamburger Thor“, das aus zwei roh aufgemauerten Pfeilern besteht, zwischen denen an einer Kette die Oellaterne hängt; und da, im Schatten der halb entlaubten Bäume, die Ausspannung „Zu den sieben Linden“. Die ausgebissenen Pferdekrippen stehen noch immer vor dem Hause, und vor den torfbeladenen Leiterwagen die kräftigen Pferde, die habe ich ja auch damals schon gesehen, vielleicht auch den Bauer, der eben sein Braunbier trinkt. Und doch sind achtzehn Jahre vergangen! Ein mächtiger, ein gewaltiger Sturm ist über unser Vaterland hingebraust. Allenthalben hat es sich gereckt und gedehnt, ist es emporgeblüht, nur du, mein Wardelingen, bist noch genau so bescheiden, so schlicht, so einfältig geblieben. Wie es Gesichter giebt, die das Alter nicht zu ändern vermag, so auch du!
Mich rührte es, so die Straße entlang zu gehen und ich weiß nicht, wie es kam, daß ich den Weg nach dem alten Familienhause einschlug, obgleich ich nur auf die Personen acht hatte. Es kannte mich wohl keiner mehr, nicht einmal die alte Pastorin, die genau so wie vordem am Fenster saß, die Kaffeetasse neben sich. Ob sie noch immer so klatschte? Ich grüßte sie und sie stieß sich beinah die Nase an der Fensterscheibe ein, aber sie erkannte in dem großen Mann, der Civilkleider trug, wohl nicht mehr den Springinsfeld, über den sie sich baß zu ärgern pflegte, wenn er klappernden Säbels unter ihren Parterrefenstern dahinschritt, just wenn sie nach Tische auf ihrem Sofa ein kleines Nickerchen machen wollte.
Nein, nein, ich war allen fremd in dem Lande meiner Jugend, ich war alt geworden! Und dennoch, auf einmal höre ich hinter mir meinen Namen rufen: „Herr Leutnant, wollt’ sagen Herr Rittmeister – Herr Oberst – entschuldigen Sei doch man – nein, wie ich mich freue – Sei sind’s doch?“ Und athemlos kam ein altes Weiblein hinter mir her, das mir eben erst begegnet war. Und das war „oll Dört“; die alte Mutter Buschen, die als Kastellanin im Erdgeschoß unseres Hauses ein Stübchen hatte.
„Un nich die Spur hebben Sei sich verännert!“ schreit sie, „un noch eben so sehen Sei ut, blot en beten vülliger.“ Und sie steigert sich nach und nach in ihren Lobeserhebungen und meint, ich sei setzt „veel staatscher“, und dabei geht sie neben mir und redet so laut, daß alle Leute uns nachstarren.
Auf einmal wurde sie stille, ich hatte nach Tante Klara gefragt.
„Ja, Du leeve Gott, Herr Leutnant – wull seggen, Herr General – oder wat sünd Sei denn eigentlich? Da is man slecht von to vertellen, de oll gnä Fru werd dat wol selbsten beter seggen. Sehn Sei,“ fuhr sie fort, „wat de Herr Justizrath was, de hat ja allens, sin Geld und allens verloren. De Lüd seggen ja, hei hat grausam spekuleert. Aber ik weit nich, Herr General, oder wat sünd Sei denn eigentlich?“
„Major, Frau Busch, Major!“
„Herr Major, von mir wissen Sei nichts, nich wohr? Ik will de gnä Fru nich weih dauhn, un wenn se nu wedder in uns Hus intreckt – – de Lüd seggen ja, sei will wedder – in wi sollen da tosammen wohnen, denn möt dat Freeden sin – ik hef nicks seggt!“
„Na, liebe Frau Busch, morgen komme ich und sehe mir das Haus an. Guten Abend!“
„O Herr, es ist allens propper. Sei können stantepeh mitgahn,“ rief sie. „Und bi Bayers, da is hüt Auktschon wesen, da iß doch man ungemüthlich.“
„Dank’ schön! Morgen komm’ ich, Mutter Buschen. Gute Nacht!“
Ich schritt meinen Weg eilig weiter und bog nach kurzer Zeit in die Gasse ein, in der das stattliche Bayersche Haus lag. Richtig, da waren ja noch die Spuren der Versteigerung! Vor der Thür stand allerhand Hausgeräth, und Leute waren beschäftigt, dasselbe fortzuschaffen oder einzupacken. Das Hofthor stand angelweit offen, und eben zogen zwei Männer einen eleganten Landauer heraus, Ich trat auf die Hausdiele und spähte nach einem dienstbaren Geist, der mich bei Tante Klara anmelden sollte. Aber da war niemand als ein Mann mit Lederschurzfell, der eine große Anzahl Weinflaschen auf einen Handwagen lud.
„Wissen Sie nicht,“ fragte ich, „wo das Stubenmädchen oder die Köchin zu finden ist?“
„Die finden Sie nicht, Herr, die sind seit gestern abgelohnt; die Herrschaft hält nun keine mehr. Wenn Sie aber die alte gnädige Frau sprechen wollen, so – ich glaube, sie ist vor einer Stunde die Treppe da hinaufgegangen.“
Ich stieg bangen Herzens die Stufen empor, aber oben blieb ich stehen und beobachtete eine Scene, die sich auf dem Vorplatz abspielte und wahrhaft originell war, In der leichten Dämmerung stand die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens, fast noch eines Kindes, in knappem tiefschwarzen Trauerkleide. Sie hatte mir den Rücken zugewendet und beobachtete zwei Dachshunde die beschäftigt waren, ihr Mahl mit ziemlichem Heißhunger und in nicht ganz vollendeter Uebereinstimmung einzunehmen, denn gelegentlich bissen sie nach einander und knurrten sich an.
„Donnerwetter!“ rief plötzlich eine jugendfrische Stimme, „Du kriegst die großartigsten Keile, wenn Du Deinem Bruder das Beste wegfrißt!“ und die junge Dame knallte mit einer ledernen Hundepeitsche über die beiden Kerlchen so kunstgerecht hinweg, daß nicht einmal das glänzend schwarze Fell der drolligen Geschöpfe gestreift wurde, die sich übrigens aus dieser Drohung durchaus nichts zu machen schienen, sondern weiter schlangen.
Nun kniete das Mädchen nieder, und jetzt fiel das Licht aus dem großen Fenster auf blondes knabenmäßig verschnittenes Haar.
„Aha, das wird Fräulein Hella sein,“ dachte ich, „eine recht vielversprechende junge Dame!“
Und jetzt begann sie, die Teckel streichelnd, mit ihnen zu reden, so weich und kosend, wie man es zu einem Kinde thut. „Nein, nein, ihr sollt nicht hungern, lieber hungere ich! Und fortgeben thu’ ich euch auch nicht, wie die böse alte Dame will; dann geh’ ich eben auch mit fort. Nein, nein, ihr sollt nicht schlecht behandelt werden, lieber vergifte ich euch und mich dazu. So – freßt nur – freßt! Donnerwetter, sieh’ ’mal, da ist ja noch ein schönes Stückchen Fleisch – friß, mein Thierchen!“
In diesem Augenblick hatte ich aber wohl eine Bewegung gemacht, die Hunde ersahen mich und fuhren wie rufend auf mich los.
„Donnerwetter!“ schrie das Mädchen, „Parapluie – seid ihr toll? Hierher – zurück!“ Und sie knallte wieder mit der Peitsche dazwischen, daß man vor diesem Getöse und dem Kläffen der Herren Köter sein eigenes Wort nicht hörte. Dann aber ward’s plötzlich still, und aus einem ganz verweinten Gesichtchen schaute mich ein Paar trotziger blauer Kinderaugen nicht eben freundlich an.
„Mein Herr – die Herren vom Gericht sind, soviel ich weiß, unten im Bureau,“ sagte sie kurz.
„Verzeihen Sie, Fräulein Bayer – Fräulein Hella Bayer, nicht wahr?“ antwortete ich. „Ich habe nicht die Absicht, die Herren vom Gericht zu sprechen, ich möchte zu Ihrer Frau Großmutter. Gestatten Sie aber zuerst, daß ich mich als Ihren Onkel vorstelle – Onkel Viktor Brenken.“
Ein Aufschrei des Entzückens, und im nächsten Augenblick hatten mich zwei schlanke Arme umfaßt und eine vom Weinen heiße Wange sich an die meinige geschmiegt. „Onkel – Du? [807] Gottlob! Das ist famos – das ist furchtbar schneidig von Dir, daß Du gekommen bist, Du Goldonkelchen! Ach Gott, das ist einzig, das ist –“
Und nun gar ein, zwei Küsse, und ebenso wahnsinnig in der Freude bezeigten sich die Teckel, die unablässig an mir in die Höhe sprangen und Freudentöne ausstießen.
„Herr des Himmels, Hella, laß mich doch zu Athem kommen – beruhige die Teckel, ich habe einen ganz neuen Civilanzug an!“
„Donnerwetter! Parapluie!“ schrie Fräulein Hella, und nun wurde mir klar, daß die zwei krummbeinigen Gesellen so schneidig getauft waren.
„Du hast Dir ja ein paar recht anmuthige Namen für die beiden Strolche ausgesucht,“ sagte ich zwischen Aerger und Lachen, „muß einen netten Effekt geben, wenn Du auf der Straße so nach ihnen rufst.“
„Da rufe ich nicht, Onkel, da pfeife ich, siehst Du – so!“ Und sie legte den gekrümmten Zeigefinger zwischen die Lippen, und ein kunstgerechter Straßenjungenpfiff gellte mir in die Ohren.
Ich starrte förmlich entsetzt dieses Wunder der väterlichen Erziehung an. So ein verd– Unsinn, aus einem Mädel einen halben Jungen machen zu wollen! Das giebt dann solch angenehme Zerrbilder.
„Na, da führ’ mich ’mal zu Deiner Großmutter!“ sagte ich.
„Ja, Onkel, aber – aber ich muß Dich vorher noch um etwas bitten – lieber, lieber Onkel!“ Und sie hob die gefalteten Hände zu dem kleinen, in verhaltenem Weinen zuckenden Mund empor. „Sage doch Großmama, daß ich meine Teckel behalten will – ich bitte Dich, lieber, lieber Onkel! Den ‚Hans‘ haben sie mir heute schon verkauft und den – hat – der Gärtner Kuhne, und da muß er nun“ – das alles unter heftigem Schluchzen – „den Kartoffel- und Gemüsewagen ziehen, und wenn er nicht will, weil er es nicht gelernt hat, so wird er Prügel bekommen, und das ist doch so schrecklich! Wenn sie mir aber nun auch die beiden da fortnehmen, dann – ach, lieber Onkel!“ Und wieder schmiegte sie ihr thränenüberströmtes Gesicht an das meinige.
„Na, sei nur gut,“ tröstete ich, von diesem kindlichen Schmerz gerührt, „Du wirst sie schon behalten dürfen! Aber nun führ’ mich endlich zur Großmama und zu Deiner Schwester!“
„Großmama liegt aber im Bett,“ meinte sie zögernd, „sie war recht leidend heute; und Bine – ich weiß nicht, wo Bine ist. Vorhin sah ich sie fortgehen. Am Ende ist’s doch besser, Du kommst morgen früh wieder; morgen sind wir nämlich noch hier im Hause; übermorgen“ – sie zuckte verächtlich die Schultern – „müssen wir es geräumt haben. Es ist immer möglich, daß Bine gegangen ist, ein Unterkommen für uns zu suchen. Die Frau Oberst hat uns ja ihr Fremdenzimmer angeboten, bis Antwort von Dir da wäre, aber die Möbel, weißt Du –“
„Mein liebes Kind, Großmama hätte doch wahrhaftig nicht auf meine Antwort zu warten brauchen,“ sagte ich erregt, „das Haus steht zu Eurer Verfügung! Theile ihr das augenblicklich mit; ich selbst werde sofort zur alten Busch gehen und ihr das Nähere sagen.“ Ich wandte mich auf dem Fleck um und schritt die Treppe hinunter. „Adieu!“ rief ich zurück, „grüß’ die Damen – auf Wiedersehen morgen, ich komme mit dem frühesten!“
Sie ließ es sich nicht nehmen, mir die Treppe hinunter das Geleite zu geben, samt den Hunden, und mich noch einmal in der noch immer weit geöffneten Hausthür an mein Versprechen zu erinnern, für die Lieblinge zu bitten bei der „Großalten“, wie sie sich liebevoll und burschikos zugleich ausdrückte.
„Seid Ihr hier nun ganz allein im Hause?“ fragte ich.
„Die Hunde sind ja da,“ antwortete sie, „und dann, weißt Du, Onkel,“ sie lachte hart auf, „zu stehlen ist hier nischt mehr.“
„Das mag ja sein,“ gab ich zu, „aber –“
„Na, und außerdem hat uns Lieutenant von Felsenberg seinen Burschen aufgedrängt, der irgendwo in einem der untern Zimmer schlafen wird.“
„So, so! Das ist sehr vernünftig von diesem Lieutenant – wie heißt er doch?“
„Felsenberg, Onkel. Ja, sehr aufmerksam in der That! Ich wundere mich nur, daß er sich nicht selbst, eingewickelt in seinen Mantel, wie zu alten Zeiten auf die Schwelle unserer Stube legt, Aber nun gute Nacht, lieber Onkel! Kommt her, ihr Racker, sagt adieu, auf Wiedersehen!“
Ich winkte dem enfant terrible noch einmal mit der Hand und schritt durch die jetzt vom Mondschein erhellten Gassen der Wasserstraße zu, in der das Brenkenhaus lag. Hinter den Fenstern war allenthalben Licht, nur unser altes Haus, das ich nach wenigen Minuten raschen Gehens erreichte, lag dunkel und verlassen da. Im Mondlicht unterschied ich aber doch deutlich das verwitterte steinerne Wappen über der rundbogigen Thür und den wunderlichen schmiedeeisernen Klopfer, der die Jahreszahl 1615 trug und mit dem ich, als Tante Klara und Leni noch hier wohnten, so oft das Zeichen gegeben hatte, daß ich Einlaß begehre. Eben wollte ich ihn heben, da merkte ich, daß die Thür nur angelehnt war, und nun trat ich ein. Die Klingel schrillte laut über den großen Flur. Ich wartete ein Weilchen in völliger Dunkelheit – niemand kam. „Oll Mutter Buschen“ mochte noch nicht zurückgekehrt sein – aber wie kam es dann, daß die Thür offen war? Schlief vielleicht die Alte in ihrer Stube?
Allmählich war das Dunkel lichter vor meinen Augen geworden, und ich sah nun, daß gegenüber die Gartenthüre offen stand und daß die Mondstrahlen, welche hereinlugten, genügend Licht schufen, um den alten trauten Raum in allen Einzelheiten erkennen zu lassen. Und in dieser spukhaften Stille, in diesem Dämmern war es mir plötzlich, als seien viele Jahre weggelöscht aus meiner Erinnerung, als sei ich wieder der junge frische Offizier, als sei ich wie einst in der goldenen Zeit hier eingetreten, um sehnsüchtig und klopfenden Herzens hinauszueilen – zu ihr.
Wie wunderlich traumhaft das über mich kam! Selbst den Geruch, den Geruch von Gravensteiner Aepfeln glaubte ich zu spüren, der damals aus der Kellerthür zu quellen pflegte. Vielleicht war das alles und das ganze öde trockene Leben dazwischen ist nur ein Traum gewesen, der nie zur Wahrheit werden kann – ein Traum, daß sie einem andern gehörte, ein Traum, daß sie tot ist! Sie lebte noch, sie mußte ja noch leben und sie würde mein sein!
Und dort oben an der Treppe taucht jetzt ein schwacher Lichtschimmer auf und wirft die Umrisse des Geländers in großen schwarzen Schatten an die Wand, und nun schreitet eine schlanke dunkle Gestalt die Treppe herunter, sorgsam das Licht mit der feinen durchsichtigen Hand schützend, und die Strahlen dieses Lichtes fallen hell auf ein süßes, ach so vertrautes Mädchenantlitz. Das sind ja die grünlichklaren Augen das ist das braune schlichte Haar, das sind die feinen Brauen und der rothe Mund. Wie ein holder sinnverwirrender Spuk kam sie daher. Und mit demselben Klange, der mein Herz einst wie jetzt rasend pochen machte, fragte sie: „Sind Sie da, Frau Busch?“
Wie sie mich erblickte, da erschrak sie, daß ihr das Licht aus der Hand fiel und verlöschte, und ich hörte, wie sie die Treppe wieder hinaufeilte.
„Leni!“ rief ich mit halberstickter Stimme.
Die leichten Schritte hielten inne. „Wer – wer sind Sie?“
„Ich bin’s ja, Viktor!“ sagte ich ebenso klanglos.
Da lief sie die Stufen herunter und ein Freudenschrei zitterte zu mir herüber. „Onkel Viktor – Du? Du bist es wirklich? Ach, lieber Onkel, wie gut von Dir, daß Du gekommen bist!“
Und ich fühlte, wie ihre zitternden Hände die meinen ergriffen, und fühlte, wie die kühlen frischen Mädchenlippen sich darauf drückten. „Laß doch, Leni!“ sagte ich.
„Sabine, Onkel – Bine heiß’ ich! Warte; gleich will ich Licht holen. Mutter Buschen ist freilich nicht da und – ach Onkel, ich wußte nicht wohin mit den paar Sachen, die uns geblieben waren und da wollte ich mich bei der alten Frau erkundigen, ob Du ihr vielleicht eine Anweisung geschrieben habest oder ob sie glaube, daß wir es auch ohne Deine Antwort wagen dürften, die paar Möbel hierherzubringen. Ich fand sie nicht, die Alte, da aber die Hausthür offen stand, so nahm ich ein Lichtstümpfchen vom Fensterbrett und schlich hinauf, um mir den Flur oben anzusehen, ob dort vielleicht Platz sei. Ach Onkel,“ unterbrach sie sich, „ich kann die Streichhölzer nicht finden, hast Du vielleicht?“
Nein, ich hatte keine; und so schritten wir zu der Gartenthür hinüber, als müßten wir uns wenigstens beim Mondlicht ins Gesicht schauen. Leni – Leni war es Zug für Zug in erschütternder, fast unbegreiflicher Aehnlichkeit!
Ich starrte in das blasse Gesichtchen, bis mir die heißen Tropfen in die Augen traten. Sie sah mich ihrerseits an mit einem forschenden und verwunderten Ausdruck, wie ihn Kinder haben, die zum ersten Male Dinge erblicken, mit denen ihre junge Phantasie stets aufs angelegentlichste beschäftigt gewesen ist.
[808] „Du bist Onkel Viktor?“ sagte sie endlich wie staunend, „ich habe mich immer sehr darauf gefreut Dich einmal zu sehen, aber – aber ich hatte Dich mir immer ganz anders vorgestellt, Onkel.“
„Wie denn?“ fragte ich befangen, als sei ich ein junger Fant, und hatte nicht den Muth, die kleine Hand zu fassen, die sich mir entgegenstreckte.
Trotz der schwachen Beleuchtung sah ich eine Purpurröthe über ihr Gesicht fliegen. „Ich weiß nicht,“ stotterte sie, „ganz anders – Du siehst ja beinah noch ebenso aus wie auf der alten Photographie, welche Mama in ihrem Nähtischchen hatte. Den Nähtisch habe ich geerbt, das Bildchen liegt noch darin – ich will es Dir zeigen, wenn Du kommst. Onkel, warst Du schon bei der Großmama?“
„Ja, aber gesprochen hab’ ich sie nicht. Morgen komme ich, und dann helfe ich Euch umziehen, Leni!“
„Bine, Bine! Sehe ich denn Mama wirklich so ähnlich?“
Ich antwortete nicht und in diesem Augenblick kam der alte Drache dieses Hauses von dem nachbarlichen Schwatz zurück und erschrak nicht wenig, als da zwei Leute im Mondschein standen, ganz so, als wären sie hier zu Hause.
„Herr Gott doch,“ rief sie, „und ich hab’ doch man zugeschlossen!“
„Nein, es war offen, Frau Busch,“ antwortete das junge Mädchen.
„Du leiwe Tid, man wird vergeßlich, Herr General, oder wat sünd Sei doch glik?“
„Ja, ja, Mutter Busch, und deshalb ist’s gut, daß hier noch mehr Leute wohnen. Morgen kommt Frau von Brenken mit ihren beiden Enkelinnen; da stehen Sie nur ’mal ein Stündchen früher auf und öffnen Sie alle Fenster, damit –“
„Herr,“ unterbrach mich die Alte ganz beleidigt, „da oben is alle Dag open west, da is ’ne Luft, die is für Prinzessinnen nich zu slecht und keine Spur von Staub.“
Und als ich mit dem Mädchen schon die Stufen der Hausthürtreppe zur Straße hinunterschritt, zeterte ihre Stimme noch hinter uns her: „Un allens is wie neu, un auf dem Fußboden können Sei Speck snieden, so propper is da. Goode Nacht, Herr Major, oder wat sünd Sei doch glik?“
Ich ging neben Leni, es war wie ein Märchen. Ich gab mir auch keine Mühe, meine nach rückwärts schweifende Phantasie wieder in die Gegenwart zu versetzen. Sie sprach mit der weichen, etwas verschleierten Stimme, ich weiß nicht mehr, was. Ich lauschte nicht den Worten, nur diesem lieben vertrauten Tonfall und als wir endlich in ihrem Hause standen, da zog ich ihre Hand an die Lippen, respektvoll, als sei sie eine kleine Königin; ja, da küßte ich Leni die Hand – und es war doch mein Pathenkind, dem ich noch vor drei Jahren Puppen geschickt hatte. Und verwirrt wie ein Sekundaner hörte ich ihr reizend verlegenes: „Aber Onkel, das darfst Du nicht thun!“
Ich zögerte und hielt die kleine Hand mit meinen beiden fest. „Gute Nacht, Leni!“
Sie duldete das „Leni“, ohne mich zu verbessern. „Gute Nacht, Onkel, auf Wiedersehen! Ach, Onkel, Du wirst morgen viel Trauriges hören!“
Und dann stand plötzlich wie aus der Erde gewachsen ein riesenhafter Ulan vor uns und meldete in streng militärischer Haltung: „Herr Lieutenant von Felsenberg schickt mich zur Wache!“
„Gute Nacht!“ sagte sie noch einmal zu mir, und zu dem Mann: „Kommen Sie mit hinein!“
Dann war ich allein, in der wunderlichste Stimmung, die ich je gehabt. O diese Wardelinger Luft, der grelle Mondschein und – Herr Gott, diese Aehnlichkeit, diese wunderbare Aehnlichkeit!
Ich fand nur wie im Traume den Weg zum „Deutschen Hause“. Der Wirth begrüßte mich schon in der Thür aufs höflichste. „Wünschen der Herr Major zu speisen? Der Herr Major werden die Beefsteaks noch ebenso delikat finden wie vor zwanzig Jahren. Erinnern sich der Herr Major vielleicht noch meiner, des damaligen Oberkellners Jean? Nicht wahr, den Jean, den kennen Herr Major noch? Habe dann die kleine Emilie geheirathet. Der Herr Major erinnern sich doch noch der kleinen Emilie, die das Kochen hier lernte? Wünschen Herr Major vielleicht im Offizierspeisezimmer zu essen? Einige der Herren sind noch da, der Herr Rittmeister von Schlieben, Herr Lieutenant Randow und Herr von Felsenberg.“
Hol’ ihn der Teufel – schon wieder dieser Felsenberg! Muß er überall dabei sein? dachte ich.
In diesem Augenblick that sich die Thür des Speisesaals auf und ein junger Mensch, schön wie ein Bild in der kleidsamen Uniform, schritt säbelklirrend der Hausthür zu.
„Untertänigsten guten Abend, Herr von Felsenberg!“ rief mein diensteifriger Wirth, sich verbeugend.
Ich sah dem hübschen Jungen nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. So, so – das ist der Felsenberg! dachte ich. Hm!
„Ich will auf meinem Zimmer speisen,“ sagte ich dann. Droben aber konnte ich doch nicht mit dem gewohnten Appetit essen. Die Uebermüdung natürlich!
Auf Schlaf hoffend, suchte ich mein Lager auf – umsonst. Der verwünschte Mondschein! Diese Wardelinger Luft! Fort, sobald ich morgen mit der „Großalten“ gesprochen hatte! Auf nach dem Süden! Dieser ganze Erinnerungstraum taugte nichts, war nur dazu angethan, einen sonst leidlich vernünftigen Menschen verdreht zu machen. Gegen morgen schlummerte ich endlich ein.
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Es war allerdings viel Trauriges, was ich am anderen Morgen von Tante Klara zu hören bekam.
Hella nebst ihrem Gefolge „Donnerwetter“ und „Parapluie“ that mir die Ehre an, mich gegen zehn Uhr im Gasthof aufzusuchen, um mich zu benachrichtigen, daß Großmama meiner warte.
„Sie war schon um Neun heute früh ,aufgezäumt‘“ sagte das unartige Mädel – „das dauert jetzt schon immer ein bißchen lange, Onkel Viktor, sie hat also um sieben Uhr angefangen, sich zu putzen; ich glaube, sie will durchaus eine Eroberung an Dir machen.“
„Aber Hella, Du bist ein entsetzliches Mädchen!“
„Warum denn?“ Die blauen Augen, die wieder geweint haben mochten, sahen ganz erstaunt zu mir herüber.
„Weil Du in Ausdrücken sprichst wie sie eine wohlerzogene junge Dame nicht gebraucht, noch dazu von ihrer Großmutter.“
Sie zuckte die Achseln. „Ich bin auch gar nicht auf die junge Dame dressiert, Onkel! Wohlerzogenheit ist Ansichtssache. Papa fand jedenfalls meine Erziehung äußerst angemessen. Er hat mir ja auch noch täglich vom Wachtmeister Schmückert Stunde geben lassen.“
„Stunde geben lassen? Reiten natürlich?“
„Reiten und – Gehen. Ich habe richtig exerzieren müssen. Papa sagte immer, er wolle ein gesundes Mädel aus mir machen, nicht so ein quackeliges Ding, wie Mama gewesen sein soll. Er sagte, da hätte er genug darunter gelitten. Lieber weniger feine Manieren, aber gesunde Nerven.“
„Ich habe ja nichts gegen den Sport, liebes Kind, aber – die Redeweise! So, nun komm’, wir wollen die alte Dame nicht warten lassen.“
Der Unband pfiff den Hunden und wir machten uns auf den Weg nach dem Bayerschen Hause. Als wir über den Rathhausplatz gingen, wo gerade Wochenmarkt abgehalten wurde, stürzte Hella plötzlich auf einen kleinen braunen Pony los, der vor ein Leiterwägelchen gespannt, sich das Leben und Treiben um ihn herum mit noch nicht abgestumpftem Interesse ansah, denn das Spiel seiner Ohren war äußerst lebhaft, auch schien ihm das Stillestehen sauer zu werden.
„Hans, mein lieber goldener Hans!“ hörte ich das Mädchen rufen, und im nächsten Augenblick hatte sie das Thier um den Hals gefaßt und weinte die bittersten Thrähnen in die krause Mähne, während sie mit der einen Hand in die Kleidertasche fuhr und dem Pony Zucker hinhielt. Die dicke Gemüsefrau, jedenfalls die neue Eigenthümerin, stemmte die Arme in die Seite und lächelt. „Aber, gnä’ Fräulein, gnä’ Fräulein, dem geht doch nichts ab! Wie kann man nur so einem Thier nachweinen, das ist ’ne große Sünd’!“
Aber als ob sie nichts hören wollte, riß Hella sich schnell wieder los und kam herüber. Und dann ging sie stumm neben mir her, immer leise schluchzend.
Und wenige Minuten später saß ich neben Tante Klara. Sie war mir mühsam bis an die Thür entgegengeschritten; nun mußte ich sie stützen, so zitterte sie in bitterlichem Weinen.
„Ach, ich danke Dir, Viktor, daß Du gekommen bist, ich
danke Dir! Ich bin am Rande meiner Kräfte angelangt; es
war zu viel. dies alles.“ (Fortsetzung folgt.)
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Fischzucht.[1]
Wunderbar, wie die Zeiten und mit ihnen der Geschmack und die Sitten sich ändern! In der homerischen Heroenzeit galt es für das größte Unglück, welches den Armen betreffen konnte, Fische essen zu müssen; im Zeitalter des Perikles luden die Griechen einen Freund zu einem Fische wie wir heutzutage zu einem Teller Suppe. Während der Rüpelperiode der römischen Republik verachtete man feinere Genüsse und baute Kohl und Getreide; in der Kaiserzeit verschwendete man riesige Summen für raffinierte Fischgerichte. Damals kam auch der erste Gedanke einer rationellen Bewirthschaftung der Gewässer auf; aber man wendete sich nicht an das süße Wasser, dessen Bewohner man wenig schätzte, sondern an das Meer und trieb Austern- und Muränenzucht in großartigem Maßstabe. Die Ascetik des Christenthums, das den Leib kasteite, machte der antiken Kultur ein Ende und mit ihr den Bestrebungen, diesem Leibe mehr und besseres als den gewöhnlichsten Nahrungsstoff zuzuführen. Aber durch die Züchtigung des unersättlichen Magens mittels der Fasten wurde man der Bewirthschaftung der Gewässer wieder zugeführt, da man um jeden Preis sich Fastenspeise verschaffen wollte. Jetzt waren es aber die Binnengewässer, auf die man sein Augenmerk richtete. Bald gab es kaum ein Kloster, welches nicht seinen Karpfenteich, seinen Krebsbach, seinen Schneckengarten gehabt hätte, und was die Geistlichen thaten, ahmten die Laien nach. Die Tradition dieser Bewirthschaftung erhielt sich in den katholischen Ländern, während in den protestantischen die Aufhebung der Fasten ihr einen schweren Schlag bereitete. Um so mehr, als man unterdessen das Einpökeln und Räuchern der Seefische erfunden hatte, die nun in großen Mengen, besonders auf dem Seewege, versendet werden konnten. Die Bevölkerungen an der Nord- und Ostsee nährten sich von Heringen, die Küstenbewohner des Mittelmeeres von Stockfischen – wozu also Fische züchten?
Der Bewohner des Binnenlandes war in Beziehung auf diesen Punkt nicht vortheilhaft gestellt. Der Vertheuerung durch die Frachten wegen drangen die geräucherten und gesalzenen Meerfische in größeren Massen nicht tief in das Land hinein, man war auf diejenige Beute angewiesen, welche die Wasser des Landes boten, und zwar in um so engerer Umgrenzung, je wärmer die Temperatur im Sommer wurde. Die Beförderung der frischen Fische auf weitere Strecken hin war unmöglich. Ich erinnere mich noch sehr wohl der Zeiten, wo man von verschiedenen Schweizerstädten nach kleinen Orten, stillen Gründen und lieblichen Bergthälern wandelte, um dort Forellen zu schmausen, die man nicht nach der Stadt bringen konnte – heute fliegt die Forelle, in Eis verpackt, mit Windeseile von dannen und die gastronomischen Spaziergänger haben das Nachsehen!
Nach den Kriegen im Anfange unseres Jahrhunderts entwickelte sich nach und nach der Verkehr, die Industrie und mit ihnen der Begehr nach besserem Lebensgenusse. Man reiste mehr und mehr, trotz der Beschwerlichkeiten, welche das Reisen damals noch mit sich brachte. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß die große Mehrzahl der Reisenden es auswärts besser haben will als zu Hause; der Mann, der auf seinem Familientische nur bei ganz außerordentlicher Gelegenheit Wild, Geflügel und Fisch sieht, verlangt gebieterisch, daß diese Gerichte ihm an der Wirthstafel geboten werden. Meistens sogar ist er um so anspruchsvoller, je schlechter er es zu Hause hat.
Infolge der gesteigerten Nachfrage mehrt sich der Verbrauch und das Bestreben, ihm gerecht zu werden. Die Teichwirthschaften entwickeln sich, aber nur langsam, und kaum läßt sich in ihrem Betriebe ein Fortschritt verzeichnen. Aber überall ertönen die Klagen über zunehmende Verarmung der Binnengewässer. An vielen Orten mögen diese Klagen gerechtfertigt sein; hier und da beginnt schon die Vergiftung der Bäche und Ströme durch die Fabriken. An anderen Orten ist aber diese Verarmung nur scheinbar; der Strom, der See liefert jahraus, jahrein, freilich mit erheblichen, aber sich ausgleichenden Schwankungen bei Berechnung längerer Perioden, dieselbe Menge von Fischfleisch, die aber dem zunehmenden Verbrauche nicht genügen kann. Dazu kommt, daß der Geschmack und damit die Nachfrage nach bestimmten Fischsorten sich wesentlich geändert hat.
Jetzt stehen, unter den Süßwasserfischen, die Lachse und Forellen im höchsten Ansehen; ihnen folgen die Renken oder Felchen, die derselben Familie der Salmoniden angehören. Früher war das anders. Aeltere Küchendokumente vom Elsaß und dem Genfersee weisen dem Barsche den ersten Platz und den größten Kaufwerth zu; ihm folgen die Trüsche oder Rutte und der Hecht, und dann erst kommen die Salmoniden. Die nicht ganz sicher beglaubigten Nachrichten, wonach die dienende Klasse am Rheine die Bedingung stellte, daß ihr nicht öfter als zweimal in der Woche Lachsfleisch geboten werden dürfe, mögen wohl in dieser Geringschätzung des Edelfisches ihren Grund haben.
Aber die Klagen ertönten lauter und lauter. Man suchte Abhilfe nach zwei verschiedenen Richtungen hin; einerseits bestrebte man sich, die Versendung und damit den Bezug der Fische auf größeren Entfernungen zu ermöglichen, anderseits suchte man Flüsse und Seen gründlich zu bewirthschaften, indem man die einheimischen Fische pflegte und züchtete oder selbst Arten einzuführen suchte, welche anderwärts in gutem Rufe standen und ohne Schaden der einheimischen Fische in die ihnen bisher fremden Gewässer verpflanzt werden konnten. Letztere Versuche, zum Theil mit großen Kosten und Mühen angestellt, schlugen damals gänzlich fehl.
Hinsichtlich der anderen Zielpunkte griff die Wissenschaft ein; nicht ohne Mühen, nicht ohne empfindliche Enttäuschungen, aber schließlich doch mit nennenswerthen Erfolgen, die sich um so mehr entwickelten, als man durch genaueres Studium der Lebensbedingungen der Fische es dahin brachte, die Natur zur Lehrerin zu nehmen.
Den Anstoß gab die Erfindung oder vielmehr die Wiederaufnahme der künstlichen Befruchtung der Fischeier, besonders der Salmoniden. Das Verfahren war längst geübt worden, zu wissenschaftlichen wie zu industriellen Zwecken – aber wer dachte in den vierziger Jahren daran? Ich erfand es im Jahre 1840, wo ich Eier von Felchen zum Behufe von Studien über die Entwicklung der Salmoniden im Ei befruchtete, und konnte im Jahre 1859 in der ersten Auflage meines Werkchens „Ueber künstliche Fischzucht“ schreiben:
„Wenn man jetzt, wo die geschichtlichen Dokumente fast vollständig vor aller Welt Augen liegen, die so klaren, präcisen und genauen Instruktionen liest, die ein Lieutenant aus Lippe-Detmold, Jacobi, vor fast einem Jahrhundert in dem ‚Hannoverschen Magazin‘ publizierte; wenn man sieht, wie dieser Mann seinem Verfahren durch Einsendung von Manuskripten an Buffon, Lacépède, Fourcroy, Gleditsch und andere Celebritäten seiner Zeit die möglichste Verbreitung gab; wenn man diese Instruktionen in dem großen klassischen Werke von Duhamel über die Fischereien, das im Jahre 1773 publiziert wurde, ausführlich liest; wenn man sie in dem „Lehrbuch der Teichwirthschaft“ von Hartig im Jahre 1831 wieder ausführlich erwähnt findet, so wundert man sich, daß die Männer der Wissenschaft sowohl wie die praktischen Fischer die Sache vollkommen in Vergessenheit gerathen lassen konnten, so zwar, daß Gelehrte und Praktiker von sich aus dasjenige wieder entdecken mußten, was längst gekannt und an einzelnen Orten auch im stillen praktisch geübt worden war.“
„Da mußte es das Schicksal fügen, daß man auch in Ländern romanischer Zunge auf denselben Gegenstand verfiel und daß ein Gascogner darin ein Mittel finden konnte, sich weiter emporzuschwingen. Jetzt war die Welt des Lärmens voll. Die südliche Zunge klöppelte so rüstig in der großen Glocke der Oeffentlichkeit, daß jedem die Ohren gellen mußten. Ein Mittel war gefunden, den Nationalreichthum nicht nur um Millionen, sondern um Milliarden zu erhöhen. Ministerien und Administrationen, Akademien und Gesellschaften aller Art konnten sich kaum mehr retten vor den Abhandlungen, Anträgen und Plänen, die auf sie herabregneten. Wenn Heinrich IV. einem jeden Bauer Sonntags sein Huhn im Topf gewünscht hatte, so versprach Herr Coste jedem Franzosen täglich eine Forelle auf den Tisch. War es ein Wunder, wenn die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf den Gegenstand richtete?“
[811] Und in einem vor vier Jahren erschienenen Werkchen „La pisciculture en eaux douces“ sagt A. Gobin:
„Man erinnert sich ohne Zweifel, daß in den Jahren von 1850 bis 1864 unter dem Anstoße von Dr. Henry Milne-Edwards und ganz besonders von Coste ein unbeschreiblicher Enthusiasmus für Fischzucht in Frankreich sich entwickelte. Die Anstalt von Hüningen wurde gegründet; man riß sich förmlich um die befruchteten Eier, welche die Anstalt gratis austheilte; überall in Frankreich versuchte man die Wiederbevölkerung der Flüsse, Ströme, Kanäle, Bäche und Seen mit Lachsen, Forellen und Saiblingen; man führte selbst ausländische Fischsorten ein und verschwendete viel Zeit Arbeit und Geld. Der schöne Enthusiasmus verschwand aber so schnell, als er gekommen war. Man war in unlogischer Weise vorgegangen und hatte keine produktiven Erfolge erzielt.“
Glücklicherweise zeigten andere Länder, die mit weniger Feuer die Sache angegriffen hatten, auch mehr Ausdauer in ihren Bestrebungen. Man ließ sich durch Mißerfolge nicht abschrecken, sondern suchte, oft mit viel Mühe und Arbeit, die begangenen Fehler zu verbessern, die natürlichen Vorgänge sich klar zu machen, die Gesetze und Verhältnisse zu erforschen, auf denen das Wesen der künstlichen Fischzucht beruht, die Grenzen zu erkennen, welche die Natur selbst gesteckt hat und über die man nicht hinaus kann, und endlich aus all diesen Vorbedingungen das Verfahren abzuleiten, welches man einschlagen muß, um zu Erfolgen zu gelangen. Deutschland, England, Amerika gingen auf diesem Wege weiter, sich wechselweise die Hand reichend, und in allen diesen Ländern, sowie dann auch in Frankreich und Skandinavien traten Männer an die Spitze, vollauf gerüstet mit theoretischen und praktischen Kenntnissen, die sich gänzlich der Sache widmeten und mit sicherem Kurse dem Ziele zusteuerten, das sie sich in ganzem Selbstbewußtsein gesteckt hatten.
Die Enthusiasten sind selten geworden. Aber über alle die genannten Länder, ja man kann sagen, über alle Kulturländer haben sich zahlreiche Vereine verbreitet, welche der Fischerei mit allen ihren Nebenzweigen ihre Thätigkeit widmen; Zeitungen erscheinen, welche einzig dieser Sache gewidmet sind; Staats- und Gemeindebehörden helfen durch Gesetze und Verordnungen nach; Verträge werden abgeschlossen zwischen den Regierungen der Staaten, welche dasselbe Gewässer begrenzen. Wenn es sich aber darum handelt, die Fortschritte zu erkennen und abzuwägen, welche die Fischzucht seit jener Zeit der Ernüchterung bis zu unseren Tagen gemacht hat, so muß man anerkennen, daß diese nicht sowohl den Vereinen und Behörden zuzuschreiben sind, sondern eben jenen einzelnen Männern, welche durch Forschung, Nach- denken und klares Erkennen neue Mittel und Wege auffanden. Die Vereine und Behörden sind nur die ausführenden Gewalten – glücklich, wenn sie die richtigen Männer zu finden wissen, welche sie auf den rechten Weg leiten und Mißgriffe verhüten. Freilich hapert es auch in dieser Beziehung nicht selten und man hört wohl da und dort die Klage, daß die juristisch verbildeten Beamten infolge ihrer einseitigen Ausbildung gar nicht imstande seien, zu begreifen, worum es sich eigentlich handelt!
Wir müssen uns kurz fassen. Aber wir können nicht umhin, hier darauf aufmerksam zu machen, daß sich in der Fischzucht, wie in allen anderen Gebieten der menschlichen und besonders der industriellen Thätigkeit, mehr und mehr besondere Spezialitäten ausgebildet haben, welche theils in den örtlichen Daseinsbedingungen theils auch in Liebhabereien begründet sind, die hier und da selbst zu einer Art von Sport sich entwickelt haben.
Zuerst wendete man sich den Edelfischen, den Salmoniden und im besonderen den Lachsen und Forellen zu. Stand doch ihr Fleisch im höchsten Werthe und machte sich deshalb die Mangelhaftigkeit der Zufuhr am meisten fühlbar! Außerdem war hier die künstliche Befruchtung und die Ausbrütung der Eier, die in der kalten Jahreszeit abgelegt werden, verhältnißmäßig leicht auszuführen. Die Methoden der Befruchtung wurden nach und nach verbessert, eine Unzahl von verschiedenen Apparaten, Brutkästen der mannigfaltigsten Art erfunden und vervollkommnet und die Bebrütung selbst geregelt und überwacht. Man sah bald ein, daß man nicht nach Schablonen arbeiten könne, sondern sich nach der Decke strecken müsse; ein kleiner Betrieb, der nur einige tausend Eier behandelte, stellt andere Bedingungen als ein großer, wo man nicht nur für die örtlichen Bedürfnisse arbeitet, sondern auch für weiter entlegene Orte. Man kam bald dazu, die Bedingungen zu ermitteln, unter welchen man, ohne großen Verlust, selbst über See, nach Amerika und Australien, Eier von Lachsen, Saiblingen und Forellen entsenden konnte, in deren Innerem man schon die Augen des sich bildenden Jungen unterscheiden konnte. Man erfuhr bald, daß die Temperatur des Wassers einen entscheidenden Einfluß auf die Schnelligkeit der Entwicklung des Embryos im Ei ausübe, und richtete danach die Verpackung ein.
Die Eier der Salmonen boten die günstigsten Bedingungen. Sie sind verhältnißmäßig groß und kleben nicht aneinander wie die Eier so vieler anderer Fische, die in Schnüren oder Klumpen abgelegt werden; die Befruchtung konnte also hier am vollständigsten ausgeführt werden und die befruchteten Eier vermochte man in den vom Wasser durchströmten Brutkästen so auszubreiten, daß jedes einzelne dem Beobachter zugänglich war. Obgleich meist röthlich oder gelblich gefärbt, sind diese Eier vollkommen wasserklar und durchscheinend; die verderbenden Eier werden weiß und undurchsichtig und konnten sofort mit einem Saugröhrchen oder einer Zange entfernt werden. Aber es bedurfte beständiger Aufsicht und unablässiger Sorgfalt, um die Feinde der Eier abzuhalten und namentlich die Ansteckung durch einen Schimmelpilz, Saprolegnia, zu verhüten. Man sah bald ein, daß die einfache Befruchtung der Eier und das Ausstreuen derselben in Bäche, Flüsse und Seen nur wenig Früchte bringen könne; eine Menge von Fischen nährt sich großentheils von Fischeiern, und anderes Gethier, Krebse und Würmer, helfen getreulich zur Zerstörung mit. Diese größeren Feinde der Eier hielt man von den Brutkästen durch metallische Geflechte ab, dem Schimmelpilz konnte man aber auf diese Weise nicht beikommen, da seine Keimkörner mikroskopisch klein sind; Tag für Tag mußte man die angesteckten Eier auslesen und entfernen. Man errichtete also große und kleine Brutanstalten, wo man die Eier bis zum Ausschlüpfen der jungen Fischlein unter steter Aufsicht und Auslese behandeln konnte.
Die Salmonenbrut schlüpft verhältnißmäßig früh aus dem Ei. Das Junge zeigt an dem Bauche einen mehr oder minder großen, in der Leibeshöhle eingeschlossenen Sack, der mit Dottersubstanz erfüllt ist, welche nach und nach durch einen offenen Kanal in den Darm übertritt und in diesem verdaut wird. Bis dieser Dottersack vollständig aufgesaugt ist, nimmt das junge Fischchen durchaus keine weitere Nahrung zu sich; es liegt meist ruhig auf dem Boden und macht nur zuweilen schnellende Bewegungen, um sofort wieder sich ruhig auszustrecken.
Es ist leicht, einzusehen, daß diese Ruheperiode nach dem Ausschlüpfen eine sehr gefährliche Periode ist, während welcher die Feinde im freien Wasser leichtes Spiel haben; man richtete sich also darauf ein, die Brut so lange in den Brutkästen zu behalten, bis ihr Dottersack verschwunden war und sie ihre Jagd auf Beute begannen.
Was nun thun?
Der Betrieb verfolgte schon während der Brutzeit verschiedene Richtungen. Viele Anstalten arbeiteten nur für die Erneuerung des Stockes von lebenden Fischen in einem bestimmten Gebiete; Privatbesitzer, Fischereiberechtigte, Gemeinden und Staaten ließen die Eier bebrüten, um dann die Jungen in ihre Gewässer auszusetzen, wo sie zusehen mochten, wie sie fortkommen könnten. Andere trieben noch nebenbei schwunghaften Handel mit den befruchteten Eiern, die sie im Uebermaße erzeugten.
Schon in diesem Punkte griff Hüningen mächtig ein. Es zog gewissermaßen die Lieferung von befruchteten Eiern und dotterlosen Jungen für Frankreich, die Schweiz und den Oberrhein ganz an sich. Da es Regierungsanstalt war, gab es die Eier umsonst ab. Die drei Uferstaaten des Oberrheins bis Basel, Frankreich für das Elsaß, Baden und die Schweiz, hatten einen Vertrag abgeschlossen, wonach jeder dieser Staaten sich verpflichtete, alljährlich eine bestimmte Anzahl von Lachsbrut, nach der Uferlänge bemessen, in den Rhein setzen zu lassen. Hüningen lieferte diese Brut und bezog also Mengen von Eiern von allen Orten am Rheine. So viel ich weiß, besteht der Vertrag noch heute, nur ist infolge der Annexion das Elsaß, also das Deutsche Reich für Frankreich eingetreten.
Ein wunder Punkt ergab sich freilich gerade in Beziehung auf den Lachs, dessen Vermehrung man am meisten wünschte. Der Lachs ist ein Wanderfisch; er lebt wohl die größte Zeit im Meere, steigt aber weit hinauf in die Flüsse, um dort zu laichen. Die Jungen kehren, vielleicht nach einem oder auch nach zwei Jahren, in das Meer zurück. Sie haben erst dann, wenn sie nach mehreren Jahren wieder aufsteigen, Marktgröße. Aber dort unten, an den [812] Rheinmündungen, fischen die Holländer sie weg. Je mehr Junge der Oberrhein und Mittelrhein erzeugen, desto ergiebiger wird der Fang der Holländer, denen man doch schließlich nicht verbieten kann, in ihren Gewässern so viel Fische zu fangen, als ihnen beliebt. Man hat schon viel verhandelt über diesen Gegenstand, hat auch insofern einige Erfolge gehabt, als der Gebrauch gewisser Netze, welche den Fluß gänzlich absperrten, so daß kein Fisch herabsteigen konnte, in Holland verboten wurde, aber damit ist dem Uebelstande noch nicht abgeholfen. Für die übrigen deutschen Flüsse, in welche Lachse aufsteigen, trifft dieser Uebelstand nicht zu – aber der Lachs aus der Weser oder der Elbe ist auch weit weniger geschätzt als der Rheinlachs, der stets höher im Preise steht.
Mehr Schwierigkeiten verursachten die ebenfalls zu der Familie der Salmoniden gehörenden Coregonen, die Maränen, Renken, Felchen oder Gangfische, welche sowohl im Norden, als in den Gebirgen die verschiedenen Seen bevölkern und eine außerordentliche Menge von einzelnen Arten und Spielarten zeigen. Die Eier sind sehr klein, und da das Laichgeschäft meist in kurzer Zeit während des Winters in Gesellschaft geschieht, so bieten sich kaum zu bewältigende Massen von Eiern, die sehr leicht der Pilzkrankheit verfallen und schwer auszulesen sind. Als wesentlichen Fortschritt kann man hier die Erfindung eines Selbstauslesers bezeichnen, der anfangs aus Amerika in sehr komplizierter Form herüberkam, dann aber von einem „einfachen Manne“, wie ihn Direktor Haack nennt, Weiß in Zug, handlich vereinfacht wurde. Er beruht auf der Erfahrung, daß die mit Saprolegnia behafteten Eier durch die Schimmelfäden, welche eine dichte Krone darum bilden, leichter werden als die gesunden Eier und von diesen durch einen Wasserstrom weggeführt werden können, der von unten her die Eimassen durchsetzt und die verdorbenen Eier fortspült, Durch diesen einfachen Apparat wurde viel Handarbeit erspart.
Man hatte also junge Fischbrut in Menge und, wie bemerkt, wurden sowohl befruchtete Eier als Junge in Mengen ausgesetzt. Ob der Zweck, die Gewässer zu bevölkern, wirklich in ausgedehntem Maße erreicht wurde, ließ sich nur schwer entscheiden, da die Abschätzung des Fischreichthums eines Gewässers nur sehr schwer sich erreichen läßt. Namentlich durch das Auftauchen von neu eingeführten Sorten, wovon noch die Rede sein soll, konnte man den Beweis liefern, daß Setzlinge sich zu marktfähigen Fischen entwickeln; aber man war nicht im Reinen darüber, ob dies auch massenhaft geschieht. Und jetzt scheint die Ansicht vorzuwalten, daß die Zahl der marktfähig werdenden Fische in keinem Verhältniß zu den riesigen Mengen, Millionen und Millionen von Eiern und Brut steht, welche man in die Gewässer aussetzt. Die feindlichen Einflüsse, welche die Entwicklung des größten Theiles der von den Fischen frei abgesetzten Eier hindern, scheinen in noch erhöhtem Maße auf die Setzlinge einzuwirken.
Von Anfang an war man zu dem Entschlusse gekommen, Setzlinge bis zu dem Zeitpunkte zu züchten, wo sie marktfähig wurden und also dem Unternehmer ein Entgelt für seine Mühe, einen Gewinst liefern konnten. Um aber diese Züchtung vornehmen zu können, bedurfte es eingefriedigter Strecken von Gewässern, welche den Lebensbedingungen der einzelnen Arten entsprachen, klare laufende Gewässer für die Salmonen, Teiche und Tümpel für andere Fische, wie Karpfen und Schleien. Diese verschiedenen Bedingungen, auf welche wir hier nicht näher eingehen können, wurden sorgfältig studiert und erprobt, und stets wurde man wieder auf den Grundsatz jeder Züchtung zurückgeführt, daß man um so vortheilhaftere Erfolge verzeichnen konnte, je enger man sich an die von der Natur selbst vorgesteckten Verhältnisse anschmiegen konnte.
Es war aber selbstverständlich, daß man aus einem gegebenen Gewässer durch geschlossene Züchtung mehr Fischfleisch zu erhalten wünschte, als dasselbe im unbewirthschafteten Zustande liefern konnte. Der Jäger und Nomade braucht zur Fristung seines Lebens einen weit größeren Flächenraum als der Ackerbauer, und je nachdrücklicher dieser seine Bewirthschaftung gestaltet, desto mehr kann er den ihm nöthigen Flächenraum seiner Aecker beschränken. Ganz so bei der Fischzucht; die im Freien lebende und jagende Forelle bedarf immerhin mehr Wasserraum, als man dem zu industriellen Zwecken gezüchteten Fische geben kann.
So entstand denn die tief einschneidende Frage, wie man die Ueberzahl der Fische ernähren könne, wie es thunlich sei, ihnen die in verschiedenen Lebensaltern verschiedene Nahrung zu verschaffen, ohne durch diese Beschaffung den Produktionspreis des Fischfleisches wesentlich zu erhöhen. Davon in einem zweiten Artikel.
Ein Lieutenant a. D.
(8. Fortsetzung.)
Dem ersten Besuch Erwins im Hause von Miß Sumner folgte bald ein zweiter und dritter, bei denen ebensowenig sonst jemand zugegen war, wie beim ersten. Erwin fing an, die amerikanische Sitte, die den jungen Damen erlaubte, Herren ihrer Bekanntschaft allein zu empfangen, gar nicht so übel zu finden. Sicher hätte er sich mit Miß Carry nicht halb so gut unterhalten, wenn die Anwesenheit ihrer Eltern seiner Bewunderung, die sich in immer glühenderen Blicken und immer feurigeren Worten äußerte, Zügel angelegt hätte.
Es waren köstliche Stunden, die er in Miß Carrys Empfangszimmer verlebte. Hatten sie sich satt geplaudert, so setzte sich Carry ans Klavier, spielte und sang, und er stand hinter ihr, um die Notenblätter umzuwenden, und wenn er sich vorbeugte, streiften ihre Locken seine Stirn. Dann mußte er sich Gewalt anthun, um diese entzückende Gestalt nicht in seine Arme zu schließen und in leidenschaftlichen Worten seine Liebe zu gestehen.
Aber eine gewisse Unsicherheit, ein leiser Zweifel, den er immer noch nicht ganz überwinden konnte, hielten ihn ab, schon jetzt die Entscheidung herbeizurufen. Besser abwarten und langsam vorgehen, als leichtsinnig und zu früh alles auf eine Karte setzen! Und so fuhr er fort, sich mit allem Eifer um Miß Carry zu bemühen, ohne doch das letzte Wort zu sprechen.
Das Verhältniß, das sich zwischen den beiden bildete, war nicht viel anders als das auf dem Schiffe. Miß Carry gewöhnte sich wieder daran, Erwin als ihren „dienenden Ritter“ zu betrachten, dessen Pflicht es war, immerdar ihres Winkes gewärtig zu sein. Sie verfügte über seine freie Zeit, wie wenn es für den jungen Deutschen nichts Köstlicheres geben könnte, als alle ihre Launen blindlings zu erfüllen. Erwin aber ergab sich mit der glücklichsten Miene in sein Schicksal.
Es kam ziemlich häufig vor, das Carry nach Beendigung einer Lehrstunde an Erwin herantrat. „Mister Hagen, ich hätte Lust, heute nachmittag einen Gang nach dem Centralpark zu machen. Nicht wahr, Sie begleiten mich? Um drei Uhr!“ Und er stellte sich, wenn es seine Zeit irgend erlaubte, folgsam zu der angegebenen Stunde in der Lexington Avenue ein, um seine schöne Gebieterin abzuholen. Oder Carry bemerkte in ihrer entschiedenen Weise, die keinen Widerspruch zuließ: „Mister Hagen, ich habe Karten fürs Theater. Seien Sie pünktlich!“ Und Erwin war pünktlich und fand sich des Abends rechtzeitig ein, um mit ins Schauspielhaus zu gehen.
Eigenthümlich war die Veränderung, die inzwischen in Klaras Verhalten gegen Erwin vor sich gegangen war. Während sie früher ängstlich jede Begegnung vermieden hatte, konnte es jetzt manchmal vorkommen, daß sie plötzlich auf dem Flur erschien, wenn Erwin plaudernd mit der Amerikanerin an ihrer Zimmerthür vorüberschritt. Bei dem Anblick der beiden fuhr sie dann wie überrascht zurück, jedoch nicht, ohne vorher ihren Blick für eine Sekunde mit einem deutlichen Ausdruck schmerzlichen Befremdens auf Erwin gerichtet zu haben. So oft dieser mit ihr im Bureau zusammentraf, kam eine sichtliche Unruhe, eine nervöse Erregtheit über sie, an Stelle der eisigen Kälte, mit der sie sich früher ihm gegenüber gewappnet hatte. Mehr als einmal schien es Erwin bei solchen Gelegenheiten, als ringe sie nach Worten, als habe sie irgend eine Mittheilung auf dem Herzen, für die sie nicht den rechten Ausdruck zu finden vermöge. Aber er war zu sehr in die Netze der Amerikanerin verstrickt, als daß solche [813] Wahrnehmungen einen tieferen Eindruck in ihm hinterlassen hätten. Mit täglich wachsendem Selbstvertrauen malte er sich seine Zukunft aus, in der Miß Sumner die Zauberin war, welche Glück und Reichthum spendete. Mister Sumner war, soviel hatte Erwin in Erfahrung gebracht, auch nach amerikanischen Begriffen ein reicher Mann und Carry war sein einziges Kind. Wenn er ihre Hand gewann, dann war es eine Wonne, heimzukehren mit einer ebenso schönen wie eleganten jungen Frau, die auch in einem deutschen Salon als blendende Erscheinung gelten würde. Allen seinen Verbindlichkeiten konnte er mit Leichtigkeit gerecht werden, vielleicht ließ es sich sogar erreichen, daß er wieder in sein Regiment eintreten durfte. Freund Schuckmann war eine gute ehrliche Haut, ein treuer Kamerad, aber doch schon allzu sehr von amerikanischen Anschauungen durchdrungen, zu sehr vom harten mitleidlosen Kampf ums Dasein zerrieben, um noch ein Verständniß zu haben für das Ideal irdischen Glückes, für die schöne stolze Lieutenantszeit!
So sehr spann sich Erwin in diese lockenden Träume und Hoffnungen ein, daß die Begeisterung, die er anfangs für Herrn Beelitz und seine Lehrmethode empfunden hatte, sich erheblich abzukühlen begann, daß der Eifer, mit dem er seinen Berufspflichten nachkam, merklich nachließ. Es war nichts Seltenes mehr, daß Erwin seinen Kollegen gegenüber über die Geldgier des Direktors klagte, der keine Rücksicht kenne als die auf seinen Gewinn, der seine Angestellten mit Arbeit überbürde und sie in schonungsloser Weise ausbeute. Zugleich legte er einzelnen Aufträgen seines Prinzipals gegenüber so viel Gleichgültigkeit an den Tag, daß dieser zu Zurechtweisungen griff, die, je kürzer und knapper, um so verletzender waren. Dann knirschte Erwin wüthend in sich hinein und empfand, daß es eine Lust für ihn wäre, diesem hölzernen Schulmeister, der aus so untergeordneten „plebejischen“ Verhältnissen kam und nicht einmal eine „anständige“ Verbeugung zustande brachte, seine Verachtung ins Gesicht zu schleudern und ihm den ganzen Kram vor die Füße zu werfen. Diese Rückfälle in die Stimmungen seines früheren Lebens stellten sich bei Erwin um so häufiger ein, je liebenswürdiger Miß Carry sich gegen ihn erwies und je näher damit die Verwirklichung seiner Hoffnungen gerückt schien.
Eines Abends befand sich Erwin wieder im Empfangszimmer der Sumnerschen Wohnung in Gesellschaft Miß Carrys. Das häßliche Regenwetter, das schon den ganzen Tag über herrschte, bannte sie an das Haus. Die Amerikanerin ruhte nach ihrer Gewohnheit im Schaukelstuhl, den sie ab und zu mit einer Bewegung des zierlichen Fußes in sanfte Schwingung versetzte. Sie machte ein verdrießliches Gesicht und zeigte sich launisch und ungeduldig. Wie ein eigenwilliges Kind sprang sie in ihrer Unterhaltung ohne Uebergang von einem Gegenstand zum andern über. Jetzt erhob sie sich mit jähem Ruck, setzte sich ans Klavier und begann die getragene schwermüthige Weise des Chopinschen Trauermarsches. Doch auch hier brach sie plötzlich mit grellem Mißklang ab und wandte sich zu Erwin herum.
„Welch ein verwünschter, langweiliger Regen!“ sprudelte sie nervös hervor. „Sie glauben gar nicht, wie schwermüthig mich dieses einförmige Plätschern macht. Geht es Ihnen nicht auch so?“
„Schwermüthig?“ Crwins blendend weiße Zähne leuchteten zwischen den frischen rothen Lippen hervor. „In Ihrer Gesellschaft schwermüthig zu sein Miß Carry, das ist für mich rein ein Ding der Unmöglichkeit.“
Sie zuckte mit den Achseln und blickte eine Weile schweigend und träumerisch vor sich hin. „Sie waren Lieutenant in Ihrer Heimath, nicht?“ fragte sie dann unvermuthet.
„Ja. Ich glaube, es Ihnen schon erzählt zu haben.“
Sie blickte ihm eine Weile voll ins Gesicht. „Sie muß Ihnen ausgezeichnet gestanden haben, die hübsche deutsche Offiziersuniform.“
Erwin verbeugte sich artig und versetzte lächelnd: „Ich wage nicht, Ihnen zu widersprechen, Miß Carry, obgleich meine Bescheidenheit mich dazu drängt, denn ich weiß, Sie können Widerspruch nicht ertragen, am wenigsten, wenn Sie ‚schwermüthig‘ sind.“
Sie drohte ihm schelmisch mit dem Finger, versank aber gleich wieder in ein träumerisches Brüten, aus dem sie ebeuso plötzlich wieder mit der Frage auffuhr: „Ihr Beruf sagte Ihnen nicht zu, Mister Hagen?“
„Sie meinen, der Beruf als Offizier?“
Sie nickte.
„Wie können Sie das glauben, Miß Carry!“ rief er lebhaft. „Mit Leib und Seele hing ich an meinem Beruf, dem glänzendsten, schönsten, ehrenvollsten der Welt!“
„Dann begreife ich nicht, Mister Hagen, warum Sie das alles im Stich lassen konnten, um in dieses barbarische Land zu kommen, in dem man der Uniform noch keine Bewunderung entgegenbringt.“
Er blickte verblüfft in ihr muthwilliges Gesicht, dann senkte er verlegen die Augen, und zu seinem Aerger fühlte er, daß er erröthete wie ein Schuljunge. Da fuhr ihm ein erlösender Gedanke durch den Sinn. Rasch erhob er den Kopf und sagte, anfangs mit leicht ironischem Klang in seiner Stimme, dann in aufwallender Empfindung: „Das will ich Ihnen erklären, Miß Carry – weil es mein Schicksal war, mit Ihnen zusammenzutreffen, weil es mir vorherbestimmt war, vor zwei amerikanischen Augen mein Sedan zu finden, weil es in den Sternen geschrieben steht, Miß Carry, daß ich –“ er holte tief Athem, die Entscheidung nahte.
Mit einem eigenthümlich flimmernden Blick in den Augen hatte Carry sich erhoben und trat nun mit zwei, drei schnellen Schritten vor ihn hin, so dicht, daß er ihren Athem auf seinem Gesicht spürte. In Erwin schlug eine lodernde Flamme auf und jedes Bedenken, jedes kleinmüthige Zagen trat vor dem ungestümen Verlangen zurück, sie an seine Brust zu reißen. Schon streckte er die Hände nach ihr aus, da fühlte er plötzlich ihre Arme um seinen Hals, ihre Lippen auf den seinen, gluthvoll, bebend, wieder und wieder. Ein paar Sekunden seligsten Selbstvergessens verstrichen
Plötzlich riß sie sich jäh von ihm los und eilte von ihm weg, dem Fenster zu. „Gehen Sie, Mister Hagen, gehen Sie!“ rief sie heftig, die Hand abwehrend gegen ihn ausstreckend, das Gesicht von ihm abgekehrt.
Er aber stand wie angewurzelt, noch halb im Taumel, bestürzt über die Schroffheit ihrer Stimme und Gebärde. „Carry, süße Carry!“
Sie aber unterbrach ihn mit nervöser Hast. „Noch einmal, Mister Hagen, gehen Sie! Und ich erwarte von Ihnen als Gentleman, daß Sie zu niemand sprechen von dem, was hier – – Und wenn ich Ihnen künftig nicht mehr in der Beelitz-Schule begegnete, so würden Sie mir eine peinliche Erinnerung ersparen, [814] wenn ich auch bedauern werde, daß unser Verkehr ein so plötzliches Ende finden muß.“
Erwin stand sprachlos vor diesem Räthsel. Konnte die Reue, die Beschämung Carrys, sich ihrem Gefühl widerstandslos hingegeben zu haben, sie so gänzlich daniederdrücken, daß sie ihm nun nie mehr ins Auge sehen wollte, daß sie ihn, den sie doch liebte, für immer verbannte? Was hinderte sie denn, ihrem Gefühl zu folgen?
Gewaltsam riß er sich aus seiner Erstarrung und trat ihr ein paar Schritte näher. „Carry,“ begann er in weichem, von wirklicher Gemüthsbewegung durchzittertem Tone, „ich gehe, denn ich sehe und kann Ihnen nachempfinden, daß Sie jetzt allein zu sein wünschen. Morgen aber, Carry, morgen sollen auch die anderen erfahren wie glücklich ich geworden. Morgen kehre ich zu Dir zurück, meine süße Braut, um Hand in Hand mit Dir –“
Sie wandte sich so heftig zu ihm um, daß er bestürzt innehielt. Die Arme auf der Brust verschränkt, schaute sie ihn kalt und abweisend an, in ihren Zügen war keine Spur mehr von der leidenschaftlichen Bewegung, die sie eine Minute vorher an seine Brust getrieben hatte.
„Wenn ich Sie recht verstehe, Mister Hagen,“ erwiderte sie kühl, „so beabsichtigen Sie, morgen Ihre Werbung bei meinen Eltern anzubringen.“
„Das erscheint mir selbstverständlich, Miß Carry,“ stammelte er, nach Fassung ringend.
„Selbstverständlich!“ Ein spöttisches Zucken um die Mundwinkel begleitete diesen Ausruf. „Bitte, Mister Hagen, wollen Sie mir sagen, welche Stellung Sie mir an Ihrer Seite bieten können? Ich bemerke Ihnen, daß ich ein wenig verwöhnt bin und daß ich, wenn ich mich einmal verheirathe, meine Ansprüche an Behaglichkeit und Genuß natürlich nicht herabstimmen werde, Im Gegentheil! Sonst wäre es eine lächerliche Thorheit, meine Eltern, die mir jeden Wunsch erfüllen, zu verlassen.“
Erwin war bei diesen Worten ganz blaß geworden. Also er war für dieses herz- und gemüthlose Geschöpf nichts anderes gewesen als ein Spielzeug, das man achtlos wegwirft, wenn man es satt bekommt, und was er vorhin für ein elementares Aufwallen ihrer Leidenschaft gehalten hatte, war nur eine frivole Laune! Seine Liebe hatte sie sich gefallen lassen, aber ihm die Hand zu reichen, das dünkte sie „eine lächerliche Thorheit“! Empört fuhr er auf. „Die Frage, Miß Sumner, die Sie soeben an mich gestellt haben, würde in meiner Heimath niemals eine junge Dame an einen Mann richten. Ein deutsches Mädchen würde, bevor sie einem Manne in monatelangem Verkehr ihre Neigung kundgiebt, im klaren darüber sein, daß ihr Pflicht und Liebe gebieten, an seiner Seite jedes Los auf sich zu nehmen.“
Sie lachte schrill auf und entgegnete dann in beißendem Spott: „Ich weiß es, Mister Hagen, ich weiß es. Leider bin ich aber kein blondes deutsches Gretchen, und wenn Sie das vergessen haben, so ist es nicht meine Schuld. Ich weiß, daß man bei Ihnen andere Anschauungen hat als bei uns, wo es für selbstverständlich gilt, daß der Mann die Sorge für seine Frau auf seine eigenen Schultern nimmt, wo man eine Frau um ihrer selbst willen begehrt und nicht – des Geldes ihres Vaters wegen.“
Erwin zuckte zusammen, doch ehe er etwas erwidern konnte, fuhr die Amerikanerin mit überlegener Ruhe fort: „Und nun, Mister Hagen, lassen Sie uns eine Unterredung beenden, die für beide Theile peinlich und zwecklos ist.“ Sie kehrte sich ab und schritt wieder dem Fenster zu.
Erwin drehte sich mit heftigem Ruck herum und ging zur Thür. Dort aber machte er noch einmal Halt, der Sturm, der in ihm tobte, drohte, ihn zu ersticken, wenn er ihm nicht Worte lieh. „Ich gehe, Miß Sumner, und mit Freuden, denn jetzt kenne ich Sie ganz. Und wenn ich auch die Lehre, die Sie mir soeben ertheilt haben, verdiene, zum Theil wenigstens verdiene, so ist doch Ihr Verhalten, meine stolze Lady, noch viel weniger einwandfrei, und nur der Umstand, daß Sie ein Weib sind, verhindert mich, ihm den rechten Namen zu geben.“
Er machte eine kurze Verbeugung und hatte im nächsten Augenblick das Zimmer verlassen. Ihm nach schallte ihr zorniges Lachen.
Als Erwin seine Wohnung erreicht hatte, warf er sich in stumpfem Brüten auf einen Stuhl, und während er dieser neuen Demüthigung nachsann, trat in seinem Geiste neben das Bild der koketten Amerikanerin die schlichte Erscheinung Klaras, wie er sie einst in glücklichen Tagen gekannt hatte. Nie war ihm ihr bescheidenes, selbstloses Wesen so überzeugend zum Bewußtsein gekommen wie in diesem Augenblick. Und im Ueberschwang seines Gefühls warf er sich auf die Knie nieder, und die Hände in flehender Gebärde ausstreckend, bat er dem armen, betrogenen Mädchen reumüthig alle Unbill, alles Leid ab, das er ihr zugefügt.
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Als Erwin am anderen Vormittag in das Zimmer trat, in dem die oberste Klasse seiner Schüler versammelt war. bemerkte er, wie sich Miß Sumner bei seinem Erscheinen in zorniger Enttäuschung auf die Lippen biß. Er aber zuckte kaum merklich mit den Achseln und begann scheinbar gleichmüthig den Unterricht, während Miß Carry zerstreut zu Boden blickte und offenbar mit sich zu Rathe ging.
Nach Beendigung der Stunde sah Erwin, wie die Amerikanerin, die ihn keines Blickes, keines Abschiedsgrußes würdigte, in das Privatzimmer des Direktors eintrat, und eine Regung der Genugthuung durchzuckte ihn. Nun ging sie, weil er ihr nicht das Feld geräumt hatte, und kündigte Herrn Beelitz die Stunden auf. Mochte sie gehen! Ein Thor wäre er gewesen, wenn er ihretwegen seine Stellung aufgegeben hätte. Einer Miß Sumner schuldete er keine zarte Rücksicht.
Am Nachmittag, als er mit seinem Tagewerk zu Ende war, rief ihn Herr Beelitz in sein Zimmer. Ahnungslos, irgendwelche Anordnung wegen des Unterrichts erwartend, folgte Erwin.
„Herr Hagen,“ nahm der Direktor das Wort und maß den vor ihm Stehenden mit einem kalten, stechenden Blick, „ich habe während der letzten Wochen wiederholt die Bemerkung machen müssen, daß Sie sich nicht mehr mit dem nöthigen Eifer dem Unterricht widmen, und da mir überdies von seiten der Schüler Klagen über Sie zu Ohren kommen –“
„Miß Sumner?“
„Allerdings, Miß Sumner,“ bestätigte Herr Beelitz. „Sie beklagt sich, daß Sie im Verkehr mit ihr nicht den richtigen Ton beobachtet hätten, nicht jene Artigkeit und Zurückhaltung, die ich unter allen Umständen im Hinblick auf den guten Ruf meiner Anstalt von meinen Lehrern fordern muß. Und da ich außerdem weiß, daß Sie Ihrerseits mit den Forderungen, die ich an Ihre Leistungen stelle, unzufrieden sind, so halte ich es für das Beste, wir trennen uns, Fräulein Wagner wird Ihnen Ihren vollen Wochengehalt auszahlen.“
Damit setzte sich Herr Beelitz nach einer förmlichen Verbeugung an sein Pult. Erwin wußte nicht, wie ihm geschah. Dieser Schlag war so unerwartet auf ihn herabgefahren, daß er nicht imstande war, seine ganze Schwere zu ermessen. Langsam ging er hinaus, dem Bureau zu. Jeder Versuch, den Direktor umzustimmen, wäre vergebens gewesen. Miß Sumner, das sah er nun klar, war seine erbitterte Feindin geworden und hatte es sich zur Anfgabe gemacht, ihn aus der Stellung, in der er ihr unbequem war, zu verdrängen, und er wußte, daß es einer der Geschäftsgrundsätze des Herrn Beelitz war, lieber zwei Lehrer fortzuschicken als einen Schüler zu missen.
Unsicheren Schrittes betrat Erwin das Bureau. Die Bankanweisung lag ausgefüllt für ihn bereit; er nahm sie schweigend an sich, ängstlich darauf bedacht, dem Blick Klaras, den er fürchtete, nicht zu begegnen. Und so konnte er nicht sehen, daß diese zitternd vor ihm stand, daß sie mit sich rang und kämpfte, daß sie ansetzte, um zu sprechen, und doch kein Wort über die blassen Lippen brachte. So ganz versunken war er in sein Mißgeschick, so ganz verwirrt und betäubt von dem, was ihm widerfahren war, daß er auch nicht wahrnahm, wie ihm ihre Augen voll schmerzlicher Theilnahme folgten und wie sie, während er die Thür öffnete, ihm hastig einen Schritt nachging. Und da er die Thür mit lautem Schlag achtlos hinter sich ins Schloß fallen ließ, so konnte er auch den kurzen, erstickten Schrei nicht hören, der jetzt sich Klaras Brust entrang,
Erwin besaß, als er aus seiner Stellung in der Beelitz-Schule schied, nichts als seinen letzten Wochengehalt. Sein Verkehr mit Miß Sumner hatte so viele Ausgaben mit sich gebracht, daß er auch nicht einen Cent zurücklegen konnte. Skrupel hatte er sich deswegen nicht gemacht, denn abgesehen davon, daß es nicht seine [815] Art war, Geld zurückzulegen, hatte die Zukunft heiter, sorgenfrei vor ihm gelegen. Und nun mit einem Male wieder Nacht, dunkle Nacht um ihn!
Diesmal wartete er nicht, bis er den letzten Dollar ausgegeben hatte, sondern erinnerte sich beizeiten seines Freundes Schuckmann. Während der ersten Zeit seines neuen Berufes hatte er den Freund regelmäßig zwei- bis dreimal in der Woche zu einem Plauderstündchen aufgesucht; es waren gemüthliche, schöne Abende gewesen, die er da mit Frau Libby und ihrem Gatten verlebt hatte. In den letzten Wochen aber waren diese Besuche seltener und seltener geworden, und nun waren es volle vierzehn Tage, daß er seinen Fuß nicht in jene Gegend gesetzt hatte. Wie würde ihn Schuckmann empfangen? Doch er kannte den treuen Kameraden – der wußte von keiner Empfindlichkeit, keinem Uebelnehmen. Und frohen Muths machte er sich auf den Weg.
Auf sein lautes Klopfen an Schuckmanns Thür hörte er jemand eilig durch die Küche huschen. Es wurde geöffnet und Frau Libby stand vor ihm, bleich, mit vergrämtem Gesicht, die Augenlider geschwollen und geröthet von Weinen und Nachtwachen. „Sie, Mister Buschenhagen? Bitte, nur recht leise! Ach Gott, Mister Buschenhagen!“
Die kleine Frau sagte das mit einer so trostlosen, verzweifelten Miene, daß Erwin an der Schwelle stehen blieb. „Was ist geschehen, Missis Libby?“ fragte er hastig. „Doch kein Unglück? John –“
„Johnny ist gesund. Aber treten Sie nur ein, Mister Buschenhagen, er wird sich freuen, Sie zu sehen!“
Sie schritten durch die Küche. Libby ging auf den Zehenspitzen, und sich zu Erwin umdrehend, der ihr folgte, bat sie ihn noch einmal mit leiser Stimme, recht behutsam zu sein.
„Unser Henry, unser süßer, lieber Henry ist –“ Schluchzen erstickte ihre Stimme. Sie traten in die Wohnstube. Vor dem Bettchen seines kleinen Sohnes stand Schuckmann; beim Eintritt Erwins wandte er sich langsam um. Dieser starrte den Freund erschüttert an – was hatten die letzten Wochen aus dem blühenden, glücklichen Mann gemacht! Seine Wangen waren bleich und eingefallen, tiefe Linien umzogen Mund und Augen. Unwillkürlich glitt Erwins Blick zu Henrys Bettchen hinab. Mit röchelndem Athem lag der Kleine da, die Augen eingesunken, Fieberröthe auf den abgezehrten Wangen.
Stumm drückte Erwin die Hand des Freundes, der mit den Thänen kämpfte.
„Diphtheritis!“ sagte Schuckmann mit schleppender, müder Stimme. „Der Arzt meint, wir müßten auf alles, auf – das Schlimmste gefaßt sein.“
Er wandte sich ab und drückte die Hand gegen die Augen, während Libby sich über das Bett beugte und ängstlich den unregelmäßigen Athemstößen des Kindes lauschte. Die bange Stille, die beklemmende Luft des Krankenzimmers lastete drückend auf Erwin; er hätte für sein Leben gern etwas gethan, um diesen Menschen, die sich in Angst um ihr einziges Kind verzehrten, einen Theil ihrer Bürde abzunehmen. Aber rathlos stand er da, von einem zum andern blickend.
Da ertönten plötzlich wimmermde Laute vom Krankenbett her. Schuckmann fuhr erschreckt zusammen und eilte an das Lager seines Kindes. „Was ist Dir, Liebling – Henry, mein Junge?“
„So weh, Papa,“ stieß der Kleine heiser hervor „so weh – hier!“ Und er deutete mit seinem schwachen zitternden Händchen an seinen Hals.
Schuckmann redete dem Kinde sanft zu und zwang sich, ein lächelndes Gesicht zu zeigen. Erwin, der zur Seite stand, fühlte sich aufs tiefste erschüttert; Mitleid und Bewunderung zugleich weiteten ihm das Herz.
Der Kranke war wieder in seinen unruhigen Schlaf gesunken. Schuckmann richtete sich mit verzerrter Miene auf. „Buschenhagen,“ sagte er und seine Stimme zitterte, „wer nie am Bett seines kranken Kindes gestanden hat, der weiß nicht, was das Leben an Elend birgt. Das Herz möchte man sich aus der Brust reißen, wenn damit geholfen wär’. Aber mit ansehen, wie so ein hilfloses Wesen sich quält, wie es langsam dahinsiecht und elend zu Grunde geht, und nichts, nichts thun können, rein gar nichts, das ist nicht zu ertragen!“ Stöhnend sank er auf einen Stuhl und stierte finster vor sich nieder.
Erwin, der nicht wußte, was er thun sollte, legte dem Verzweifelten die Hand auf die Schulter und stotterte: „Schuckmann, lieber Freund, wenn ich nur wüßte – – wenn ich etwas für Sie thun könnte – – Schuckmann, es wird ja wieder besser werden – – fassen Sie sich, lieber Freund, seien Sie ein Mann!“
„Ein Mann!“ Schuckmann erhob sein Gesicht, über das ein bitteres Lächeln zuckte. „Als Mann habe ich alles getragen, was bis jetzt über mich kam, aber das – das wäre zu viel. Ich habe nichts als mein Weib und mein Kind – mein einziges Kind!“ In fassungslosem Schmerze sprang er auf, und ganz aufgelöst von den Leiden der letzten Tage und Nächte, brach der starke, im Kampf des Lebens abgehärtete Mann in heftiges Weinen aus.
Da trat Libby an ihren Gatten heran. Mit leiser thränenumflorter Stimme sagte sie: „Lieber Johnny, es ist Zeit für Henry zum Einnehmen.“
Tief aufathmend wandte sich Schuckmann zum Tisch, nahm Löffel und Medizinflasche in die Hand und folgte seiner Frau damit an das Krankenbett. „Komm, mein Liebling, einnehmen!“ sagte Schuckmann, dem Kinde sanft zuredend. „Du weißt, der Onkel Doktor will es. Siehst Du, wenn Du brav und tapfer bist, dann wirst Du bald gesund und dann gehst Du mit Mama und Papa spazieren – in dem neuen rothen Kleidchen, weißt Du, mit den schönen blanken Knöpfen!“
Libby beugte indessen dem Kranken sachte den Kopf nach vorn, der Kleine aber bog sich hintenüber. „Nein, nein – es ist so bitter!“
Nur mit vieler Mühe vermochte man, ihm die Arznei einzuflößen. Als es endlich gelungen war, trat Schuckmann leise an den Freund heran. „Seit acht Tagen ringen wir um das Leben unseres Kindes. Die ganze Zeit über sind wir nicht aus den Kleidern gekommen, nur ab und zu legt sich eines ein Stündchen aufs Sofa. Ich sage Ihnen, Buschenhagen, wenn mir der Junge –“ er schauerte sichtbar zusammen – „wenn mir der Junge stirbt, dann ist’s auch mit mir aus, dann strecke ich die Waffen.“
Erwin faßte seine Hand und drückte sie herzlich. Dann um wenigstens etwas zu sagen und ihn von seinem Schmerz abzulenken, fragte er: „Und Ihr Dienst, Schuckmann?“
„Mein Dienst?“ Schuckmann zuckte die Achseln. „Der Dienst kümmert mich blutwenig. Wenn nur erst mein Kind wieder gesund ist, das übrige macht mir keine Sorgen.“
Erwin schlug unwillkürlich die Augen nieder, die Erinnerung an seine eigene bedenkliche Lage und an das, was ihn hergeführt und was er vor diesem Jammer ganz vergessen hatte, kehrte plötzlich zurück.
„Und Sie, Buschenhagen? Wie steht’s mit Ihnen?“
Erwin zwaug sich zu einem sorglosen Lächeln. Um keinen Preis hätte er es fertig bekommen, dem Freunde auch noch mit seinen Sorgen beschwerlich zu fallen. „Ich – ich danke,“ stammelte er.
Und Schuckmann, der mit raschem Blick die elegante Erscheinung des Freundes überflog, hielt jede weitere Frage für überflüssig. Von Frau Libby mit leiser Stimme gerufen, trat er wieder an das Krankenbett und lauschte aufmerksam den Athemzügen des Kindes. Plötzlich richtete er sich auf und winkte den Freund eifrig heran. „Meinen Sie nicht, Buschenhagen, daß er jetzt leichter und ruhiger athmet als vorher?“ fragte er mit zitternder Stimme. Und als Erwin nach einer kurzen Pause diese Beobachtung bestätigte, umfaßte er seine kleine Frau und drückte sie in überströmendem Glück an sich. „Ach Libby, Libby, wenn es besser würde, wenn –!“
Eine Viertelstunde später verabschiedete sich Erwin. Unablässig war Schuckmann in dieser Zeit zwischen Tisch und Bett hin und her gewandert, alle zwei Minuten den Kranken beobachtend und die Freudenbotschaft verkündend: „Er athmet viel ruhiger, wahrhaftig!“
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Am Ende der Woche war Erwin mit seinem Gelde fertig, da er nirgends Arbeit gefunden hatte, und von neuem begann für ihn ein schnelles Hinabgleiten in das obdachlose Vagabundenthum. Glücklicherweise hatte sich inzwischen die warme Jahreszeit eingestellt und so war der unstet Umherirrende wenigstens vor dem Erfrieren geschützt.
Eines Morgens wanderte Erwin vom Centralpark, wo er schon zweimal unter freiem Himmel übernachtet hatte, der Stadt zu. Unablässig beschäftigte ihn der eine Gedanke, wie er seinen Hunger stillen könnte, den wahnsinnigen Hunger, der ihn folterte bis zur Unerträglichkeit. Seine Phantasie malte ihm die Seligkeit
[816][817] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [818] einer Mahlzeit in den verlockendsten Farben, und eine wahre Wuth, zu essen, kam über ihn.
Da kreuzte ein Wagen, über und über mit frischen, großen Broten beladen, seinen Weg. Die Augen gierig auf das langsam vorwärts rollende Gefährt geheftet, folgte Erwin, und so oft der Fuhrmann vor einem Hause anhielt, um seine Kunden zu befriedigen, blieb auch er stehen. Mit dem Rest seines Ehrgefühls kämpfte er einen verzweifelten Kampf; ein grimmiges Lächeln irrte um seine bleichen Lippen. Befand er sich nicht im Kriege mit der Gesellschaft, die ihn achtlos den Hungertod sterben ließ, und war es im Kriege nicht erlaubst zu – zu „requirieren“?
Wieder verschwand der Führer des Wagens, mit Broten bepackt, diesmal im Laden eines Spezereihändlers, und Erwin, von wahnsinnigem Verlangen getrieben, schlich näher und näher an das Gefährt heran. Jetzt stand er dicht davor – nur schnell noch einen Blick ringsum! Es war noch frühe Morgenstunde, die Straße menschenleer. Aber dort – er zuckte zusammen und machte hastig ein paar Schritte vorwärts – dort vorn stand breitspurig, mit einem großen Schlapphut auf dem Kopf, einer kurzen dampfenden Pfeife im Munde, ein junger Bursche mit dicken rothen Backen in dem gutmüthigen Gesicht. „Jänicke – wahrhaftig er ist’s!“ murmelte Erwin vor sich hin. Aber im nächsten Augenblick blieb er wieder stehen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es war ja unmöglich! Ein neuer hastiger Blick. Nein, es war doch so: mitten auf der Straße stand in süßem Nichtsthun sein früherer Bursche.
Ungestüm eilte er jetzt vorwärts, an dem Fuhrmann vorbei, der eben aus dem Laden trat. Und nun stand er ihm gegenüber seinem guten treuen Jänicke, der die Augen aufriß und dessen weit geöffnetem Mund die qualmende Pfeife entfiel.
„Jänicke,“ rief Erwin, „ja bist Du’s – sind Sie’s denn wirklich?“
Ein Ruck fuhr dem Burschen durch den Körper straff richtete er sich auf und in strammer Haltung wie einst im bunten Rocke stieß er stotternd hervor: „Herr Lieutenant, Herr Lieutenant . . .“ und immer wieder nichts weiter als: „Herr Lieutenant!“ Erst als Erwin ihm die Rechte entgegenstreckte, wich die Erstarrung, die sich des Ueberraschten bemächtigt hatte, und mit festem Griff erfaßte er die Hand seines ehemaligen Herrn und schüttelte sie, daß die Gelenke krachten. Dabei traten dicke Tropfen in seine treuherzigen blauen Augen.
Als der erste ungestüme Ausbruch der beiderseitigen Freude vorüber war, fragte Erwin: „Aber sagen Sie mal, Jänicke, wie kommen denn Sie nach Amerika?“
Jänicke grinste vergnügt. „Sehr einfach, Herr Lieutenant,“ antwortete er. „Als ich meine Zeit bei’n Kommiß ’rum hatte, kriegte ich einen Brief von meinem Onkel, meines Vaters Bruder. Der schrieb so viel Schönes über Amerika und daß hier einer, der keine Arbeit nicht scheut, viel besser dran wäre wie bei uns zu Hause in Pommern. Und das Reisegeld schickte er auch gleich mit, und daß er Kaufmann sei und daß es ihm gut gehe, und wenn ich wollte, könnte ich das Geschäft bei ihm lernen. Und da bin ich denn herüber und drei Monate bin ich nu all hier, in dem Laden da! – Aber Sie, Herr Lieutenant?“
Er ließ seine Blicke prüfend über das Aeußere seines ehemaligen Vorgesetzten schweifen, der verlegen die Augen senkte, und jetzt erst gewahrte er, in welch trauriger Verfassung sich dieser befand.
„Ja, wie sehen Sie denn aus, Herr Lieutenant!“ entfuhr es ihm unwillkürlich. „Geht es Ihnen denn nicht gut? Sie sehen ja aus, als ob – als wenn –“
„Mir geht es schlecht, Jänicke,“ gestand Erwin leise. „Meine Stellung habe ich verloren und seit drei Tagen bin ich – bin ich obdachlos und gegessen habe ich –“
Weiter kam er nicht. „Herrgott!“ rief Jänicke, packte ohne
weitere Worte den vor ihm Stehenden bei den Schultern und zog
ihn mit sich in das Hinterzimmer des Spezereiladens, wo die Familie
seines Onkels eben beim Frühstück saß. Mit ein paar kurzen Worten
hatte er den erstaunt Aufblickenden den Sachverhalt erklärt; dann
drückte er Erwin auf einen Stuhl nieder und trug ihm selbst auf,
was gerade zur Hand war: Brot, Butter, Eier, Schinken, Wurst
und Käse. Erwin ließ sich nicht erst nöthigen und griff wacker
zu, und je tiefere Breschen er in die vor ihm aufgestapelten
Eßvorräthe legte, zu desto freundlicherem Grinsen verzog sich Jänickes
breiter Mund, desto länger wurden die Gesichter des Krämers
und seiner Frau, die ihren unerwarteten Gast scheel von der
Seite ansahen. (Schluß folgt.)
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorhehalten.
John Brinckman.
Seit mehr als zwanzig Jahren ist ein Dichter verstorben, dessen Werke jetzt anfangen, allgemeinere Beachtung zu finden, während er bei Lebzeiten neben einem erfolgreicheren Mitstrebenden sehr in den Hintergrund trat: es ist das John Brinckman, ein plattdeutscher Erzähler und Poet, der aber auch eine hochdeutsche Dichtung verfaßt hat. John Brinckman wurde zu Rostock, wo sein Vater als Kaufmann und Reeder ansässig war, am 3. Juli 1817 geboren, besuchte dort das Gymnasium und studierte dann die Rechte, ein Studium, das er später mit demjenigen der neueren Sprachen und Litteraturen vertauschte. Zwei Jahre lang war er an einer Privatschule als Lehrer thätig; dann begab er sich auf Reisen, besuchte England und Nordamerika und trat in New-York bei einem älteren Bruder ins Geschäft. Später wurde er Sekretär des brasilianischen Generalkonsuls; doch wiederholte Anfälle des klimatischen Gallenfiebers zwangen ihn, nach Deutschland zurückzukehren. Hier war er mehrere Jahre als Hauslehrer thätig; im Jahre 1846 übernahm er eine Privatschule und Pensionsanstalt zu Goldberg; 1849 wurde er an die Güstrower Realschule als Lehrer der neueren Sprache berufen und verblieb in dieser Stellung, die ihm freilich nur ein geringes Gehalt abwarf, bis zu seinem Tode am 20. September 1870. Daß er sich in einer so gedrückten Lebenslage eine so unverwüstliche Heiterkeit bewahrt hat, wie sie sich in seinen plattdeutschen Erzählungen ausspricht, ist in der That erstaunlich.
John Brinckman hätte schon bei Lebzeiten sehr gut neben Fritz Reuter eine anerkannte Stelle finden können; aber es schien, als ob zwei schriftstellerische Größen gleicher Art, die beide der plattdeutschen Sprache sich bedienten, in dem kleinen Mecklenburg nicht nebeneinander Platz hätten. Fritz Reuter gewann nach heißem Ringen die Palme des Glückes und John Brinckman blieb neben ihm im Schatten. Und doch ergänzten sich beide vollkommen: Fritz Reuter schildert das mecklenburger Landleben, seine Helden sind Gutsbesitzer und Wirthschaftsinspektoren; Brinckman aber ist ein Marinemaler, seine Helden sind Schiffskapitäne, und obgleich sie fest im heimathlichen Boden wurzeln, so haben sie doch einen weiten Weltblick und reiche Abenteuer in der Ferne bestanden.
Dies gilt besonders von dem Helden in John Brinckmans Hauptwerk „Kasper Ohm un ik“, welches älter ist als Fritz Reuters „Ut mine Stromtid“ und bis jetzt in fünf Auflagen erschien (Rostock, Werthers Verlag). Der berühmte plattdeutsche Dichter Klaus Groth sagt von diesem Roman, er sei von einer Vollendung, daß man prophezeien dürfe, man werde ihn lesen, so lange man plattdeutsch lese, und die Zahl seiner Freunde und Verehrer werde wachsen mit den Jahren. Der Roman spielt in dem alten Rostock, wie es vor einigen Geschlechtern war, als die Schiffskapitäne auf eigenen Schiffen die Ostsee befuhren, Thran von Schweden holten und Aepfel nach Petersburg brachten, ein Handelsartikel, welchem der Held der Erzählung, Kasper Ohm, vorzugsweise seine Wohlhabenheit verdankt. Er ist ein Rostocker Kind von echtem Schrot und Korn, tüchtig in jeder Hinsicht, aber von einem Selbstgefühl beseelt, welches unbedingte Anerkennung verlangt, großsprecherisch, aber ohne in Größenwahn zu verfallen.
Von den kleineren Erzählungen, welche den zweiten Band von Brinckmans ausgewählten plattdeutschen Schriften bilden, ist „Peter Lurenz bi Abukir“ eine ergötzliche Münchhauseniade. „Voß und Swinegel“, die erste und älteste plattdeutsche Erzählung Brinckmans, die beim Erscheinen einiges Aufsehen erregte, ist eine mit behaglicher Breite erzählte Fabel; auch die anderen meistens harmlosen Geschichten tragen das Gepräge eines kerngesunden, von keiner Empfindsamkeit angekränkelten Humors.
Im Jahre 1859 erschien eine Gedichtsammlung „Vagel Griep“, die nach dem Wappen Rostocks benannt war. Diese Sammlung enthält frische Landschaftsbilder, ansprechende Genreskizzen besonders aus der Erntezeit und dem sonstigen landwirthschaftlichen Leben, herzinnige, tiefempfundene Familienbilder. Einzelne Poesien aber dürfen auf ganz besonderen poetischen Werth Anspruch machen, wie das elegische Gedicht „Die Kronen“ und das Gedicht eines durch das Hinscheiden des Sohnes tiefbetrübten Vaters „He sturw“, in welchem der Tod selbst in ergreifender Weise geschildert wird. Ein sehr anmuthiges Gemälde der Winterlandschaft findet sich in denl Gedicht „Nucklas“, welches dann in eine Darstellung des heiligen Christabends übergeht. Auch über diese Gedichtsammlung hat Klaus Groth ein sehr anerkennendes Urtheil gefällt; sie enthalte, meint er, mehr lyrische Schätze als die ganze plattdeutsche Litteratur.
Die einzige hochdeutsche Dichtung Brinckmans, „Die Tochter Shakespeares“,
erschien lange Zeit nach dem Tode des Dichters im Jahre 1881;
es ist eine schöne, bilder- und gedankenreiche Dichtung, der man das
Vorbild Shakespeares und seines über den Räthseln des Menschenlebens
brütenden Geistes wohl anmerkt, bedeutsam genug, um dem Namen
Brinckmans auch in der hochdeutschen Litteratnr Gewicht zu verleihen. Rudolf von Gottschall.
[819]
BLÄTTER UND BLÜTHEN.
Eine Armenindustrie für Kinder auf dem Lande. Daß unter Umständen die Noth unter der bäuerlichen Bevölkerung ebenso drückende oder noch drückendere Formen annehmen kann als unter den städtischen Armen, das zeigt besonders deutlich das heurige Jahr, wo in manchen Gegenden durch das äußerst mangelhafte Erträgniß der Futterernte ein wirklicher „Nothstand“ geschaffen wurde. Da ist jeder praktische Vorschlag zur Hilfe gerade im gegenwärtigen Augenblick, wo der Winter beginnt, doppelt willkommen. Und einem solchen sind wir begegnet in einer kleinen Broschüre des schwäbischen Pfarrers Hermann Faulhaber, „Drei soziale Fragen, unser Landvolk betreffend“, in welcher neben der Einrichtung von Landesversorgungsämtern und einer geordneten Krankenpflege auf dem Lande vor allem die Beschäftigung der ländlichen Armen gefordert wird. Faulhaber denkt dabei nicht an die Arbeitskräfte, welche im landwirthschaftlichen Betrieb Verwendung finden können, sondern an die, welche für die schwere Arbeit in der Oekonomie nicht oder nicht recht verwendbar sind und sich daher in der übelsten Lage befinden, da ein anderer Verdienst als eben der in der Landwirthschaft für sie häufig gar nicht zu haben ist. Für diese „Aermsten der Armen“ müßte man also industrielle Beschäftigung einführen, und wie das zu geschehen hätte, das zeigt Faulhaber an einer Armenindustrie für Kinder, die er selbst vor elf Jahren schon einrichtete und die seitdem eine immer größere Ausdehnung gewonnen hat. Es handelt sich um die Verfertigung von Geldbörsen aus kleinen Drahtringen, welche von Faulhaber zwar nicht erfunden, aber neu aufgenommen und verbessert wurde. Anfangs ging die Sache nur mühsam und unter Sorgen, es fehlte an dem nöthigen Absatz und an Kapital. „Als das erste Weihnachten nahe war,“ erzählt Faulhaber, „da war die Schuldsumme schon auf Tausende angewachsen, und ich wußte wohl: gelingt es, so bleibt man ja wohl in Ehren; gelingt es aber nicht, so sagt jedermann, auch der beste Freund: „Hättest es bleiben lassen können! Was braucht ein Pfarrer dergleichen Handel anzufangen!“ Aber am Ende kam doch das Gedeihen und jetzt beschäftigt diese Industrie schon 200 Kinder in verschiedenen Gemeinden Württembergs und bringt ihnen alljährlich mehr als 10
000 Mark Arbeitsverdienst. Hunderttausendweise gehen die niedlichen Börsen, vernickelt, versilbert und vergoldet, hinaus in die Welt, selbst in entfernte Länder. Als Mangel dieser Industrie bezeichnet es deren Gründer, daß sie nur Kinder, nicht auch Erwachsene beschäftigen kann, da sie (bei 5 bis 7 Pfennig Lohn in der Stunde) für die letzteren zu wenig einträglich ist. Allein eine Sache vermag nicht alles zu leisten. Wenn man bedenkt, daß im Durchschnitt jedes beschäftigte Kind jährlich 50 Mark verdient und daß diese Summe für eine arme Familie schon einen recht hübschen Zuwachs zu ihrer Einnahme bedeutet, so wird man das Werk Faulhabers nicht gering anschlagen; um so mehr, als er seinen kleinen Arbeitern die für die Schulaufgaben und die Erholung im Freien nöthige Zeit nicht verkümmern läßt und die Beschäftigung selbst unter dem Gesichtspunkte leitet, daß die Kinder dadurch für die spätere Erlernung eines Handwerks gelehriger und arbeitslustiger werden. So verbindet Faulhaber mit dem unbedingt erforderlichen praktischen Geschick – er selbst hat z. B. die in seiner Industrie verwendeten Maschinen erfunden – den gesunden sittlichen Blick, der nicht weniger werthvoll ist. Wie treffend ist sein Urtheil, wenn er sich gegen den Vorwurf vertheidigt, daß er mit seinen Vorschlägen die Schäden der Fabrikthätigkeit auch auf das Land verpflanze! „Es kommt doch immer darauf an,“ sagt er, „von wem und wie solche Arbeit organisiert wird und daß derartige Beschäftigung mit sittlichen Faktoren in Verbindung gebracht wird. Der Pessimist sagt: ‚Die Maschine ist Mechanismus, sie macht den Menschen geistlos arbeitend, verflacht ihn, sie erniedrigt ihn und verbraucht ihn unwürdig, oder aber – sie macht ihn entbehrlich, arbeitslos, arm.‘ Gerade so gut kann man umgekehrt sagen: Die Maschine ist Geist, sie schont die Kräfte des Menschen würdig, sie erleichtert die Arbeit und erspart ihm die schwere Arbeit.“Wer sich näher für diese „Armenindustrie“ interessiert, der findet in der genannten Broschüre an der Hand hübscher Bilder eine genaue Schilderung der Fabrikation. Vielleicht läßt sich der eine oder andere durch den wohlthuenden Geist des Büchleins und den guten Zweck des Unternehmens bestimmen, zu dessen weiterer Ausbreitung selbst mit Hand anzulegen, damit dasselbe immer mehr werden kann, was es sein möchte, eine Hilfe für die „Aermsten der Armen“.
Die Dynamitexplosion in Santander. (Zu dem Bilde S. 809.) Der wichtigste Hafenplatz an der Nordküste Spaniens ist Santander, die Hauptstadt der Provinz gleichen Namens. An einer prächtigen Meeresbucht erhebt sie sich, malerisch zwischen Rebenhügel gebettet; um den geräumigen sicheren Hafen her hat sich ein reiches industrielles Leben mit seinen Ansiedlungen entwickelt. Dieser ganze Stadttheil ist nun in den ersten Morgenstunden des 4. Novembers durch eine grauenvolle Dynamitexplosion fast vernichtet worden. In der Nacht vom 3. auf den 4. November war an Bord des im Hafen ankernden Transportdampfers „Cabo Machichaco“ Feuer ausgebrochen; ein heftiger Wind trug die Flammen hinüber auf die benachbarten Lagerhäuser, und im Verlauf von einigen Stunden brannte die ganze Umgebung. Mit äußerster Kraftanstrengung versuchte man, des Feuers Herr zu werden und namentlich das dicht am Quai verankerte Schiff frei zu machen, um es in die offene See hinauszuführen. Allein alle Versuche scheiterten. Und doch wäre gerade die Entfernung des Dampfers das einzige Mittel gewesen, um die eigentliche Katastrophe abzuwenden. An Bord des „Cabo Machichaco“ befanden sich nämlich große Mengen Dynamit, die jeden Augenblick explodieren und die ganze Umgebung in die Luft sprengen mußten.
In der Frühe des 4. Novembers, kurz nach vier Uhr, trat das Furchtbare ein. Die ganze Stadt und die Dörfer auf mehrere Meilen im Umkreis erzitterten wie von einem Erdbeben, Häuser und Mauern wurden niedergerissen, Dächer abgedeckt, Thüren und Fenster zertrümmert, und der Hafenstadttheil selbst bildete im nächsten Augenblick eine einzige große Ruine, aus der ein Flammenmeer in die Lüfte stieg. Das Schiff war verschwunden, in Millionen Atome zerschlagen, mit ihm eine Dampfbarkasse und mehr als hundert kleinere Fahrzeuge. Der schwere Anker des „Cabo Machichaco“ wurde 800 Meter weit geschleudert, fiel auf den Balkon eines Hauses, zerstörte ihn vollständig und schlug dann tief in den Boden der Straße. Noch in einer Entfernung von 2 Kilometern wurde ein Mann durch herunterfallende Trümmer getötet. In dem Augenblick, als die Explosion erfolgte, lief der Madrider Eilzug in den Nordbahnhof ein, und ehe noch die Reisenden die Wagen verlassen konnten, fing der Zug samt dem Bahnhof Feuer, so daß viele den Flammentod fanden, während andere sich aus den Fenstern des noch in vollem Gange befindlichen Zuges stürzten. Weit zahlreicher aber waren die Opfer des Unglücks im Hafen selbst. Unter den dort mit den Rettungsarbeiten Beschäftigten, unter den Zuschauern, die sich um die Quais drängten, ohne die Dynamitgefahr zu kennen, forderte die Explosion die zahlreichsten Opfer. Gegen 3000 Getötete sollen es sein, darunter der Gouverneur der Stadt, der Kommandant der Garnison samt 40 Offizieren, der Polizeipräfekt, die höheren Beamten überhaupt. Die Bestürzung war ungeheuer, man dachte nicht mehr daran, die Löscharbeiten fortzusetzen, den Verwundeten, deren jammervolle Rufe aus den Flammen drangen, Hilfe zu bringen. Erst als aus den benachbarten Städten Viktoria und San Sebastian Truppen und Feuerwehr in Sonderzügen eintrafen, ging man daran, dem verheerenden Brande Einhalt zu thun. Unser Bild zeigt den Hafenstadttheil von Santander vor dem verhängnißvollen Ereigniß. Mögen die Spuren des Unglücks bald vertilgt sein, mögen die Wunden, die da geschlagen wurden, nach Möglichkeit gelindert werden! Die spanische Regierung ist mit gutem Beispiel vorangegangen und hat sofort einen unbegrenzten außerordentlichen Kredit bewilligt für die Rettungsarbeiten und die Unterstützung der Hilfsbedürftigen.
Zum Andreasabend. (Zu dem Bilde S. 813.) Es ist noch nicht ausgemacht, an die Stelle welches germanischen Gottes der heilige Andreas, der Bruder des heiligen Petrus, der in Scythien, Galatien, Bithynien und Kappadocien das Christenthum gepredigt haben soll, getreten ist. Aber eines ist sicher: jener germani[s]chen Gottheit muß die Liebe und die Ehe geweiht gewesen sein. Die weitaus größte Mehrzahl der Volksbräuche der Zwölfnächte, mittels deren man die Zukunft zu erforschen sucht, gilt der großen Frage nach dem künftigen Verlobten oder der künftigen Braut. In tausendfachem Wechsel klingt doch immer dieselbe Weise wieder.
Aber an keinem Tage tritt das so hervor wie am Andreasabend. Dort holt das heirathslustige Mädchen im Dunkel der Andreasnacht Kirsch- und Fliederzweige und pflegt sie sorgsam in lauwarmem Wasser, bis Weihnachten herankommt. Dann müssen sie in voller Blüthe stehen, wenn die Hochzeit nahe sein soll. Soviel Tage vergehen, bis die erste Blüthe aufbricht, soviel Wochen oder Monde muß man noch warten, bis der erste Freier sich meldet. Auch aus der Zahl und Stellung der Blüthen weiß man Schlüsse auf die Nähe oder Ferne des ersehnten Eheglücks zu ziehen.
Auch sitzt wohl ein Mägdlein schweigend neben dem Herde und betet ein Vaterunser rückwärts. Denn dann erscheint ihr sicher der künftige Gatte. Einstens wollte, so erzählt Franziscus im „Höllischen Proteus“, ein zwölfjähriges Mädchen dies nicht glauben. Da rieth ihm die Magd, es doch einmal selbst zu versuchen. Das Mädchen that es. Da trat aus der Küche eine weiße Gestalt mit bleichem Antlitz herein. Das Kind schrie auf, und die Gestalt verschwand. Es wurde nachmals siebzig Jahre alt und starb als Jungfrau, denn so oft es auch umworben ward, immer zerschlugen sich die Verlöbnisse wieder. So wurde der Tod wirklich sein Bräutigam. – Hier kann man auf einem Kreuzwege, dort im Brunnen den künftigen Liebsten sehen, und wieder anderorts erscheint seine Gestalt nachts in der Schlafkammer und trinkt aus einem Wasser- oder Weinglas, je nachdem er arm oder reich ist.
Eine eigenthümliche Rolle spielt bei diesen Versuchen, in die Nacht der Zukunft zu schauen, vielfach der sogenannte „Erbzaun“. In Schlesien und im Harz, in Bayern und am Rheine zieht man ihn in den Bereich des Andreaszaubers. Nachts, wenn es bald die zwölfte Stunde schlägt, geht das Mädchen hinaus an den Erbzaun, der das Gehöft ihres Vaters von dem Nachbargute scheidet. Sobald die Glocke zum Schlage aushebt, schüttelt sie den Zaun kräftig und spricht:
„Erbzaun, ich schüttle dich,
Erbzaun, ich rüttle dich,
Wo mein Liebchen wohnt, da regt es sich.
Kann er sich nicht selber melden,
So laß er nur ein Hündchen bellen.“
Dann wartet sie, bis irgendwo ein Hund bellt, und in dieser Richtung wohnt dann ihr künftiger Schatz.
Anderwärts schüttelt sie den Erbzaun so lange, bis eine Planke losgeht. Diese nimmt sie sorglich mit sich und bewahrt sie an einem verborgenen Orte auf. Am ersten Weihnachtsfeiertage steckt sie dieselbe dann beim ersten Läuten in den Ofen, beim zweiten schiebt sie sie noch ein Stück weiter hinein und beim dritten stellt sie sich ans Fenster und sieht, wer [820] zuerst vorüber geht. Ist’s ein Weib, so bleibt sie dieses Jahr noch ledig, ist’s ein Mann, so wird sie Braut.
Auch die Burschen im Harz reißen am Andreasabend gern eine Planke aus dem Erbzaun und stecken sie noch in selbiger Nacht in den Ofen. Sie bleiben dann andächtig vor dem brennenden Scheit sitzen; denn der Volksglaube lehrt, daß dann die künftige Braut komme und sich am Feuer wärme.
In der Bukowina gehen alle Mädchen gegen elf Uhr aus der Spinnstube heim. Um zwölf Uhr, wenn Vater und Mutter längst schlafen, schleicht dann die Tochter sich leise aus der Stube. Sie geht im Finstern über den Hof und tappt mit den Händen nach dem Zaune. Von dem Zaunpfahl aus, den sie zuerst erfaßt, fühlt sie weiter nach rechts. Um den neunten bindet sie ein farbiges Band und kehrt dann ins Haus zurück. Noch ist es am nächsten Morgen nicht völlig hell, da geht sie hinaus, um nachzusehen, ob ein schöner gerader oder ein krummer Stock das Band trägt; denn davon ist die Leibesbeschaffenheit des künftigen Gatten abhängig. Nach dem Ausfall der Probe zu schließen, müßten die meisten Männer der Bukowina bucklig sein; denn die losen Burschen belauschen gern die Mädchen bei ihrem heimlichen Thun und knüpfen dann das Band um den krümmsten und mißgestaltetsten Stock. A. T.
Max Müller. Eines berühmten Vaters berühmter Sohn feiert am 6. Dezember dieses Jahres seinen siebzigsten Geburtstag. Max Müller, der große Orientalist und Sprachforscher, wurde am 6. Dezember 1823 zu Dessau geboren als der Sohn jenes Wilhelm Müller, der durch seine „Griechenlieder“ der schwärmerischen Begeisterung seiner Zeitgenossen für das um seine Freiheit ringende Volk der Hellenen den schwungvollsten Ausdruck lieh und dessen „Müllerlieder“ in der Schubertschen Komposition noch heute überall gesungen werden. Wie sein Vater, so lebte auch Max Müller von Jugend auf in philologischen Neigungen; er wendete aber seine Studien einem damals noch wenig angebauten Gebiete der Philologie, der Sanskritforschung zu, und unter den Gelehrten, welche jene Mutter der indogermanischen Sprachen, also auch der unsrigen, dem Verständniß erschlossen und die Wurzeln unseres Kulturlebens in den Denkmälern altindischer Vorzeit bloßgelegt haben, nimmt Max Müller eine der hervorragendsten Stellen ein. Früh ist er durch seine Studien nach England geführt worden, wo er später seinen dauernden Aufenthalt nehmen sollte. Denn England war vermöge seiner engen Verbindung mit Indien damals die Heimat der Sanskritkunde, dort saß der Forscher an der Quelle, der stets neues Material entströmte. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, wollten wir alle die gelehrten Arbeiten, die Müller im Laufe der Jahre erscheinen ließ, alle seine Ausgaben, Kommentare, Uebersetzungen und Abhandlungen im einzelnen aufführen. Es befinden sich darunter Riesenwerke, die fast allein ein Leben ausfüllen könnten, wie die Gesamtausgabe des Rigweda, welche Müller in nicht weniger als sechs großen Quartbänden 1875 zum Abschluß brachte, ferner die „Sacred books of the east“, die „Heiligen Bücher des Orients“, eine Sammlung von englischen Uebersetzungen der wichtigsten Religionsbücher des Ostens, insbesondere der indischen, chinesischen, persischen, arabischen, deren erste Reihe 1885 mit 24 Bänden vollendet wurde, während eine zweite im Werke ist.
Auf weitere Kreise hat Müller vornehmlich durch seine Schriften über vergleichende Mythologie und vergleichende Religionsgeschichte gewirkt, Gebiete, auf denen er vielfach als Erster bahnsuchend und bahnbrechend vorging, und auch seine Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache haben weit über die Grenze der Fachgelehrten hinaus einen anregenden und befruchtenden Einfluß ausgeübt. Ganz aus dem Rahmen seiner Lebensaufgabe heraus fällt seine Ausgabe von Schillers Briefwechsel mit Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein, ferner eine Denkschrift auf seinen Urgroßvater Basedow, den bekannten Pädagogen und Gründer des „Philanthropins“ zu Dessau, endlich eine anziehende Erzählung „Deutsche Liebe“, die eine große Anzahl von Auflagen erlebt hat.
Seit 1848 hat Max Müller seinen dauernden Wohnsitz in Oxford, an dessen Universität er von Stufe zu Stufe stieg, bis sie ihm 1876 sogar das beneidenswerthe Los bereitete, ihn von allen Lehrverpflichtungen zu entbinden und ihm gänzlich freie Hand für seine litterarische Thätigkeit zu schaffen. Nur einmal, im Sommer 1872, hielt er an der neugegründeten Kaiser-Wilhelms-Universität zu Straßburg einen Vorlesungskursus über die Ergebnisse der Sprachwissenschaft.
Ein scharfer, vielseitiger Denker tritt uns in Max Müller entgegen, ein mächtiger Förderer der Wissenschaft und ein wackerer Streiter für den Ruhm deutschen Geistes im Auslande. Möge dem Rastlosen ein reicher Lebensabend beschieden sein, zum Lohne für ein ungewöhnlich arbeitsvolles Leben im Dienste der menschlichen Erkenntniß!
Turkmenischer Fahnenträger. (Zu dem Bilde S. 816 u. 817.) Jenseit des Kaspischen Meeres erstreckt sich im fernen Osten eine weite weite Ebene, halb Wüste, halb Steppe, mit einem rauhen Klima und armseligen Pflanzenwuchs. Glühender Sonnenbrand liegt auf ihr im Sommer, und klingender Frost und Schneestürme machen sie im Winter unwirthlich. Wir stehen hier auf einem Boden, der seit Jahrtausenden nomadisierenden Räuberhorden als Tummelplatz und Heerstraße diente. Als das Wort des Propheten, der seine Gläubigen das Paradies mit dem Schwerte erobern läßt, in diese Gebiete drang, da hatten die heidnischen Bewohner, die Turkmenen, schon längst in echt türkischer Art gehaust. Die Turkmenen leben in einzelne Stämme getheilt, die einander befehden und sich nur dann zusammenschließen, wenn es gilt, ein Nachbargebiet zu plündern. Die Leute sind faul; selbst in Oasen wie in Merw, wo es Wasser im Ueberfluß und viel guten Boden giebt, wird nur das gebaut, was die geringste Arbeit erfordert, gerade soviel, daß der Mensch nicht Hungers stirbt. Die Schafzucht in der Steppe bringt auch kein Vermögen ein und so ist hier von der bunten orientalischen Pracht nichts zu sehen, wie malerisch auch aus der Ferne ein Trupp Reiter in den langen schlafrockähnlichen Gewändern und mit den Lammfellmützen erscheinen mag. Nicht einmal ein gutes Handwerkszeug haben diese Räuber für ihre Zwecke, das Pferdematerial ist mittelmäßig, gute Flinten sind äußerst selten, ja zumeist führen die Nomaden nur den Säbel als einzige Waffe. Aber trotzdem sind sie gefährliche Gegner. Das Sprichwort: „Zu Pferde kennt der Turkmene weder Vater noch Mutter“, lügt nicht; er schont nichts, um nur Beute zu erlangen. Persien war bis vor kurzem das Gelobte Land, nach dem die Turkmenen sehnsüchtig hinüberzuschauen und eifrig hinüberzureiten pflegten. Von dort holten sie sich verschiedenes, namentlich Geld, Pferde und schmucke Perserinnen; denn der Menschenraub gilt bei ihnen als erlaubt und die Sklaverei hat Gesetzeskraft.
Ein Raubzug heißt in der Sprache der Turkmenen „Alaman“, und gegen Persien pflegten sie Alamans in großem Stile zu unternehmen. Da wurde ein „Serdar“, d. h. ein Führer gewählt, die blutige Fahne des Islam hervorgeholt; ein Reitertrupp nach dem andern erschien am Sammelort, und dann konnte man in der flachen Steppe eine stolze Heerschau erblicken, wie sie der Maler auf unserem Bilde wiedergegeben hat.
Die Zeiten haben sich indessen geändert. Die Russen rückten in die turkmenischen Steppen vor, zogen 1884 in Merw ein und die Nomaden beugten sich vor ihrer Macht. Durch ihre Gebiete schnaubt das Dampfroß, welches die militärischen Züge bis Samarkand führt. *
Zur Frage des Choleragiftes. In Nummer 30 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ haben wir in dem Artikel „Ist das Choleragift entdeckt worden?“ über die Forschungen der Münchener Professoren Emmerich und Tsuboi berichtet, welche zu dem Ergebniß gelangten, daß die Cholerabakterien in erster Linie dadurch den Menschen krank machen, daß sie im Darme giftige Stoffe, die sogenannten Nitrite oder salpetrigsauren Salze, erzeugen. Heute möchten wir unseren damaligen Mittheilungen noch einen kurzen Nachtrag hinzufügen. In der Fluth der Choleralitteratur, die in den letzten Jahren entstanden ist, ist uns eine kurze Schrift „Cholera-Nosologie und Desinfektion“ entgangen, die im Selbstverlage des Verfassers, Dr. phil. Ferdinand Vielguth, emerit. Apothekers und Kreisgerichtschemikers zu Wels in Oberösterreich, schon im Jahre 1892 erschien. In dieser Schrift sprach nun Dr. Vielguth vor Emmerich und Tsuboi die Ansicht aus, daß Nitrite, welche von den Kommabacillen im Darme erzeugt werden, die hauptsächlichsten Choleragifte seien, außerdem aber meinte er, daß die Kommabacillen noch andere giftige Stickstoffverbindungen und auch Cyanverbindungen, wie Blausäure, erzeugen können. Auf Grund von Schlußfolgerungen, die er aus bakteriologischen Untersuchungen anderer ziehen zu dürfen glaubte, war er aber, was die Entstehung der Nitrite anbelangt, einer anderen Ansicht als Emmerich, Tsuboi und Löw. Nach den Ausführungen dieser Forscher, die in dem vorerwähnten Artikel der „Gartenlaube“ wiedergegeben wurden, bilden die Kommabacillen Nitrite durch Reduktion, d. h. sie verwandeln salpetersaure Salze in salpetrigsaure. Dr. Vielguth meint dagegen, daß die Kommabacillen das Ammoniak zu Nitriten oxydieren, und hält seine Ansicht auch in einer Abhandlung in Nr. 32 und 33 des „Medizinisch-Chirurgischen Centralblattes“, Jahrg. 1893, aufrecht. *
[ Verlags-Werbung J. G. Cotta für „Ludwig Anzengrubers Bauernstücke, Dramen und Volksstücke“ ]
Inhalt:
[ Verzeichnis der Beiträge in Nr. 48/1993. ]
- ↑ Vergl. auch „Gartenlaube“ 1871, S. 586, 1874, S. 125, 1892, S. 588. Die Red.