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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[857]

Nr. 51.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(14. Fortsetzung. Die 13. Fortsetzung befindet sich in Nr. 49.)


Andree arbeitete an dem Bilde von Werner Troost, bis ihm die Hand müde wurde und ein körperliches Gefühl ihn daran erinnerte, wie lange er nichts gegessen hatte. Nach einem hastig eingenommenen Mahle suchte er vergeblich eine kurze Siesta zu halten; die Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er raffte sich daher bald auf und ging aus, um sogleich für die malerische Ausschmückung seines Ateliers Sorge zu tragen. Unterwegs traf er Hilt, der ihn mit pfiffig spionierenden Aeuglein ansah und fragte, ob er denn schon wisse, wer seit gestern nach Hamburg zurückgekommen sei.

„Gewiß, natürlich!“ gab Andree unbefangen zurück. „Familie Brühl ist wieder da! Ich bin heut vormittag in Person dort gewesen, um zu fragen, wann denn die letzten nothwendigen Sitzungen stattfinden sollen. Nachgerade treibt es mich doch, mein Bild endlich fertig zu machen!“

„Kann ich Dir nicht verdenken! Du wirst nun wieder fleißig bei Brühls aus und eingehen, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht, man muß es abwarten. Vorläufig bin ich für morgen dort zu Tisch geladen!“

Andree dachte bei sich: Hilt erfährt ja doch alle äußeren Dinge, da ist es denn schon am besten, ich sage sie ihm selbst.

„Und die schöne Stella wird nun immer zu Dir ins Atelier kommen, was?“

„Mit ihrer Mutter, jawohl!“

Hilt machte eine Grimasse.

„Dies schöne Wesen ist leider sehr unvorsichtig in der Wahl seiner Eltern gewesen – die beiden Alten sind schwer zu verdauen!“

Waldemar fand diese Kritik im stillen nicht unberechtigt, ging aber nicht näher darauf ein.

„Ich hätte eine Bitte an Dich, Hilt!“ begann er nach einigem Zögern. „Ich möchte gern mein Atelier, das von wahrhaft verblüffender Reizlosigkeit ist, ein bißchen hübsch machen, damit ich mich seiner, wenn ich Damenbesuch bekomme, nicht zu schämen brauche. Willst Du mir einiges aussuchen helfen?“

Winter.
Nach dem Gemälde von H. Rettig.

[858] „Aber mit tausend Freuden! Was willst Du – alte Gobelins, Rüstungen, Teppiche, Metall, Gläser?“

„Alles!“ sagte Andree kurz.

„So? Also alles!“ Hilt lachte abgebrochen und kniff die Augen ein. „Ich dachte, Du wolltest nur für kurze Zeit hier in Hamburg bleiben, da ist doch so ’ne kostbare Ateliereinrichtung die heilloseste Verschwendung!“ Der kleine Mann blinzelte vor sich hin wie ein Spürhund, der eine Fährte wittert.

„Ich kann ja alles hinterher verkaufen, wenn ich hier meine Zelte abbreche!“ warf Andree so harmlos wie möglich hin.

„Gewiß kannst Du das! Aber für’n Butterbrot! Bedenk’ den seligen Rembrandt, was der für ein Lumpengeld für seine wunderbaren Alterthümer bekommen hat! Aber wie Du willst! S’ ist ja Dein Geld und nicht meines – ein Jammer übrigens! Wär’ ich Du, ich wüßte was anderes mit meinem Vermögen anzufangen, als es in Augenblendwerk und hübsche Spielereien zu stecken. Gar kein Talent in Dir, das Leben zu genießen! Na, aber komm, helfen will und kann ich Dir! Hoffentlich hast Du Dir die Taschen gehörig voll Geld gesteckt?“

„Ja, ich denke, es wird reichen! Wenn nicht, giebt man mir schon Kredit!“

„Und nachher gehen wir zur Belohnung zu Pfordte, nicht wahr?“

„Meinetwegen!“

Mochte Hilt als Mensch unangenehm sein – bei praktischen Dingen war er gut zu brauchen, das erfuhr Andree jetzt von neuem. Die Einkäufe wickelten sich rasch und glatt ab. Andree wußte auch recht gut, was schön und echt war, aber Hilt verstand zu feilschen, und das konnte er selbst nicht. Der kleine Maler verbot ihm gleich zu Anfang den Mund und führte die Unterhandlungen allein – er sah Andree nach den Augen, ob ihm das betreffende Stück gefiel, und sobald er das festgestellt hatte, that er, als sei er selbst der Käufer und als handle es sich um seine eigene Börse. Dabei kam Andree gut weg, sie erstanden für verhältnißmäßig günstige Preise eine ganze Menge hübscher, malerischer Dinge und saßen dann noch ein paar Stunden, eifrig plaudernd und exquisit essend und trinkend, bei Pfordte zusammen – das heißt, Hilt plauderte, und Andree warf nur selten ein Wort in all die Berliner und Hamburger Skandalgeschichten und Liebesabenteuer, die der kleine Schwätzer ihm unermüdlich vortrug. –

Als Andree gegen Mitternacht heimkam, sagte er sich selbst, daß er den Abend nach seiner Verlobung anders und würdiger zuzubringen gehofft hatte. Warum denn hatte er es nicht gethan? Er war ja Herr seiner Handlungen. Gewöhnt, sich jederzeit ehrlich Rechenschaft zu geben, sagte er sich, daß er seinen Gedanken hatte aus dem Wege gehen wollen und daß ihm dazu so ziemlich jedes Mittel gut genug gewesen war.

Am nächsten Tage kamen alle bestellten Sachen an, und er hatte sich tüchtig zu tummeln, sie sammt und sonders an richtiger Stelle unterzubringen. Hilt hatte ihm seine Hilfe angeboten, war aber abschlägig beschieden worden. Andree wünschte nicht, daß er die „Eos“ sehen sollte.

Gegen drei Uhr machte er sich dann auf den Weg, wählte einen kostbaren Ring aus mit wundervollem Opal, der von kleinen äußerst fein geschliffenen Diamanten umgeben war, und befand sich etwas vor vier Uhr in dem Hause auf dem Alsterdamm.

Zu seiner mehr als unliebsamen Ueberraschung fand er noch mehrere Mittagsgäste vor – den Ritter von Tillenbach nebst seinem Herrn Sohn, den jungen Leskow und einen ältlichen Bankier Fischer, den er noch nie gesehen hatte. Stella, die ihm im Vorzimmer entgegengekommen war, hatte ihm zugeflüstert, die Eltern hätten dies bestimmt, ihnen sei der Gedanke gekommen, Andree als einziger Mittagsgast am heutigen Tage hätte den Leuten sehr viel zu denken geben können und allerlei naheliegende Mutmaßungen gestattet. Das müsse man natürlich um jeden Preis vermeiden – und nun solle er um Gotteswillen kein so bitterböses Gesicht machen – sie sei ja doch selbst ebenso unglücklich über diese Störung wie er!

Wenn sie das war, dann konnte sie sich meisterhaft beherrschen! Andrees finsterer Blick maß immer wieder mit peinlichem Staunen das strahlend schöne und strahlend heitere Geschöpf, das mit Kuno scherzte und sich mit dem Bankier Fischer, einem jovialen Herrn, der gern Witze machte, lustig neckte. Ihm war unsäglich traurig und enttäuscht zu Muthe. Gewiß, so würde das nun immer sein, er würde sich jedesmal fügen müssen und sie nie für sich allein haben … nie!

Er fühlte in seiner Brusttasche das Etui mit dem Ring, und ein bitteres Lächeln verzog seine Lippen – er würde wohl gar keinen unbewachten Augenblick finden, ihr denselben zu geben! Fand Stella doch kaum Zeit, ihm bei Tisch einen flüchtigen Dank für seine „köstlichen Blumen“ ins Ohr zu sagen. Sie deutete dabei mit dem Blick auf zwei wunderschöne Rosen, die sie an ihrem Gürtel befestigt hatte. Andree nickte dazu, aber sein Gesicht wollte sich nicht aufhellen.

Sie sah, wie unglücklich er war, und er that ihr leid. Eigentlich hatte sie ihn doch sehr gern! Sie mußte versuchen, ihn nach Tisch für die Qualen, die er jetzt litt, einigermaßen zu entschädigen, sie konnte das schon so einrichten! Ein Gutes wenigstens hatte dies Diner – von den geladenen Gästen hatte niemand auch nur eine Ahnung von dem wahren Sachverhalt. Daß man in diesem wortkargen, verstimmten Herrn etwa den heimlichen Verlobten der glänzenden Stella Brühl zu suchen habe, das fiel keinem auch nur eine Sekunde ein.

„Mir ist dieser Maler Andree als ein liebenswürdiger Mensch geschildert worden,“ sagte Bankier Fischer nach aufgehobener Tafel zu Brühl, „aber ich kann das nicht unterschreiben; er hat ja kaum von seinem Teller in die Höhe gesehen und kaum ein Wort gesprochen. Er hat wohl Künstlerlaunen – wie?“ Papa Brühl, dem diese Annahme sehr bequem lag, nickte bestätigend. „Das ist aber schade, Freundchen!“ fuhr der behäbige Herr fort. „Ich seh’ es eigentlich nicht ein, warum ein Künstler nothwendig Launen haben muß, bloß weil er Farben reibt oder Marmor punktiert, ebenso wie unsereins die Kurse studiert und den Geldmarkt absucht! Und wenn er denn durchaus mal schlecht gelaunt sein muß – ja, warum bleibt er dann in Teufels Namen nicht zu Hause in seinen vier Pfählen, anstatt hier andere Leute mit solch’ einer Grabesmiene anzusäuern?“ –

Als der Kaffee gereicht wurde, brachte Stella, die viel von ihren Reisen zu erzählen wußte, das Gespräch auf allerlei hübsche Sachen, die sie sich unterwegs gekauft, unter anderem auf ein kleines Marinebildchen, von dem sie so entzückt gewesen sei, daß Papa es ihr habe schenken müssen. Sie wisse trotz des hohen Preises nicht, ob es etwas wirklich Werthvolles sei – ob Andree so gut sein wolle, es sich anzusehen und seine Meinung darüber abzugeben?

Kuno wollte sich den beiden anschließen, aber Stella wehrte ihn neckisch ab.

„Guter Kuno, was wollen Sie denn bei Bildern? Sie meinen doch nicht etwa, davon etwas zu verstehen? Nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich auf Ihr Urtheil über solche Dinge kein Gewicht lege! Sie brauchen darum keine so trübselige Miene aufzusetzen! Nicht wahr?“ nickte sie ihm lächelnd zu und nahm Andrees Arm. „Auf Wiedersehen also, Kuno!“

Die beiden durchschritten stumm die beiden nächsten Zimmer, und erst im dritten machte Stella Halt. Sie ließ es gar nicht dazu kommen, daß Andree ihr Vorwürfe machte. Sie hob sich auf die Fußspitzen empor, umstrickte seinen Hals mit ihren weichen Armen und zog sein Haupt zu sich nieder.

Er gefiel ihr ja wirklich ausnehmend gut, und sie empfand es mit wahrem Jammer, wie schade es sei, daß sich die Persönlichkeit Andrees mit dem Rang und der Stellung des Prinzen nicht in eins zusammenschmelzen ließ – wie herrlich wäre das gewesen, und mit welcher Freudigkeit hätte sie einen solchen Mann geheirathet! Es war alles so unvollkommen im Leben!

Sie schmeichelte, sie bat, sie setzte ihre Gründe für die Anwesenheit dieser fremden Gäste noch einmal auseinander. Und sowie Andree die Lippen zu einer Frage oder Klage öffnen wollte, verschloß sie ihm dieselben mit einem Kuß. Er wäre kein Mann mit heißem Künstlerblut in den Adern, er wäre kein Verliebter gewesen, wenn ihm dies Verfahren nicht die Besinnung geraubt hätte! Er gab alles auf – berauscht von seinem Glück preßte er das schöne Mädchen an sein glühendes Herz.

Nun holte er doch den Ring aus der Brusttasche hervor und steckte ihn ihr an den Finger. Wie sie ihm dankte und sich freute – sie, das verwöhnte, mit Kostbarkeiten aller Art überschüttete Prinzeßchen! Und sie brauchte ihre Freude und ihre Zärtlichkeit nicht zu heucheln, sie kamen ihr in diesem heimlichen glücklichen Zusammensein wirklich von Herzen, nur [859] daß sie dabei keinen Augenblick den Kopf verlor, wie es ihm in der ersten Minute geschehen war. Ihre Augen spähten immer wieder verstohlen nach dem halb zurückgeschlagenen Thürvorhang hinüber, ihrem wachsamen Ohr entging nicht das leiseste Geräusch – und für alle Fälle hing wirklich das kleine Marinebild, das den Vorwand für ihr Verschwinden hatte geben müssen, in ihrer unmittelbaren Nähe an der Wand. Stella konnte aber ganz unbesorgt sein – es kam niemand; man hörte von Zeit zu Zeit ein gedämpftes Lachen oder das leise Aneinanderklirren des feinen Porzellans – das war alles. Mama Brühl war auf ihrem Posten und duldete nicht, daß jemand aus der kleinen Gesellschaft den beiden nachging.

„Wir müssen zurück, Liebster!“ sagte Stella endlich leise. „Wirf wenigstens einen flüchtigen Blick auf das Bildchen, damit Du den andern sagen kannst, Du habest es gesehen!“

Er hörte gar nicht, was sie zu ihm sagte, und schaute sie mit flammenden Augen an.

„O Du!“ murmelte er. „Du!“ Er preßte seine Lippen in ihr duftiges Haar. „Ich will Dich allein für mich behalten – für mich allein!“

„Das geht nicht an, Waldemar! Komm’, sei vernünftig, wir müssen zu den andern!“

„Nein, wir müssen noch nicht!“ Er hielt sie fest und spielte mit dem Händchen, das den Ring trug. – Sie fing schon an, ungeduldig zu werden.

„Wenn Du noch bleiben willst, muß ich schon allein gehen!“ schmollte sie. „Es ist zu auffallend, daß wir beide solange hier allein bleiben! Was sollen die Gäste denken?“

„Ach, was sie wollen, mein Herz !“

„Wir müssen doch unser Geheimniß bewahren!“

„Dies verdammte Geheimniß!“ Sein Gesicht wurde zornig. „Jetzt bestehe ich darauf, alles zu erfahren! Du bist mir’s schuldig, mich völlig darüber aufzuklären, warum ich so gemartert werden soll! Wem haben Deine Eltern Dich versprochen? Wem halb und halb Deine Hand zugesagt? Denn um so etwas wird sich’s doch wohl handeln! Ich muß das wissen!“

„Gewiß, Liebster! Du sollst es auch! Aber nicht heute, nicht gleich – es ist ja unmöglich, sieh es doch nur ein!“

„Unmöglich ist nichts!“

„Was Du verlangst, läßt sich heute wirklich nicht thun. Wir leben doch nun einmal in der Welt und mit der Welt und nicht auf einer einsamen Insel!“

„Leider – leider!“

„Nun, für die Insel hätt’ ich auch verzweifelt wenig Talent!“ Stella lachte leichthin, es war ein Lachen, das Andree nicht gefiel.

„Du bist doch ein richtiges Weltkind!“ flüsterte er, sie zärtlich an sich ziehend. „Wirst Du es auch lernen, manches anzunehmen, manches aufzugeben – mir zuliebe?“

„Ich weiß nicht!“ Sie sah wieder unruhig auf die Thüre. „Komm’ jetzt, ich will es haben! Wir sehen uns ja morgen wieder – bei Dir im Atelier!“

„Und Deine Mutter ist dabei?“

„Ja, ohne die Mama könnte ich doch überhaupt nicht kommen, das liegt auf der Hand. Nun also –“

„Ohne einen letzten Kuß?“ fragte er vorwurfsvoll und traurig, als sie ihn bei der Hand faßte und mit sich zog.

Sie unterdrückte einen Seufzer der Ungeduld und bot ihm die Lippen. Ihr dauerte das alles zu lange.

„Liebst Du mich, Stella?“ fragte er bedeutsam und bog ihr Köpfchen leicht zurück.

„Aber natürlich! Kam da nicht jemand? Warte – so laß mich doch los! Du kommst jetzt!“

Sie hatte sich rasch aus seinen Armen frei gemacht und ging ihm voran. Langsam folgte er.

„Aber die Bilderschau hat lange gedauert!“ rief ihnen der joviale Bankier Fischer aufgeräumt entgegen und drohte Andree leicht mit dem Finger. „Das muß ja ein hochinteressantes Marinebildchen sein!“

„Ist es auch!“ gab Stella heiter zurück. „Und Herr Andree hat förmlich ein Studium daraus gemacht – nicht wahr, Herr Andree?“

„Gewiß!“ bestätigte dieser ernst. „Ich habe mancherlei Neues entdeckt, wenn auch einiges, was mich befremdete! Man lernt ja nie aus!“

„Sehr wahr!“ bestätigte Herr Brühl, der die beiden heimlich beobachtete. Er war nicht zufrieden; dies Verschwinden zu zweien hatte viel zu lange gewährt, es war sehr unvorsichtig gewesen.




22.

Am nächsten Vormittag sah dieselbe freundliche Novembersonne, die schon die Tage zuvor so hell über Hamburg geleuchtet hatte, durch die breiten Fenster von Waldemar Andrees Atelier. Es sah jetzt sehr hübsch darin aus, die neuen Dekorationsstücke machten sich gut, und doch fühlte der Eigenthümer all dieser schönen Sachen sich fremd unter ihnen, sie kamen ihm gar nicht wie sein Besitzthum vor. In Rom, ja, da war’s anders gewesen! Da hatte er sich allmählich Stück für Stück zusammengetragen, oft nach langer sorgfältiger Wahl, oft nach langem vergeblichem Suchen – an jeden Vorhang, jede Vase knüpfte sich irgend eine Erinnerung, ein kleines Geschichtchen – wieviele davon hingen mit Werner Troost zusammen! Wenn er sich dort in seinen vier Wänden umgesehen hatte, war es ihm warm ums Herz geworden, er hatte sich zu Hause gefühlt. Jetzt und hier schien es ihm, als ob er zu Besuch wäre, als ob man ihm all die Herrlichkeiten nur geliehen hätte wie Theaterdekorationen zu einem neuen Ausstattungsstück. Nun, es war für Stella geschehen – ihr sollte es hier gefallen, und wenn es ihr gefiel, dann war ja alles gut!

Ruhelos ging er hin und her, zwecklos dies oder das ordnend und anders stellend. Jetzt mußte sie bald kommen! Was sie zu der „Eos“ sagen würde? Sie sah dieselbe ja heute zum ersten Male! – Seltsam, daß ihm, sowie er von ihr getrennt war, kein volles, befriedigtes Glückgefühl kommen wollte! War sie bei ihm, dann schlugen ihm die Flammen seiner Leidenschaft über dem Kopf zusammen – ein volles bewußtes Glück empfand er auch da nicht! Ach wenn nur erst dies unwürdige Versteckspiel zu Ende sein würde – dann sollte es schon anders werden! Nun, die paar Monate mußten ja zu überwinden sein!

Draußen schlug die Glocke an. Frau Wiedekamps Mädchen öffnete und ließ die Damen eintreten.

Der Künstler ging ihnen entgegen und überreichte ihnen die Bukette, die er für sie bestellt hatte. Stella, in einem neuen Herbstkostüm entzückend schön, lächelte ihn über die Blumen hinweg, in die sie ihr feines Näschen steckte, dankbar an – die Mama nickte huldvoll und ließ ihre Blicke neugierig umherschweifen. Wider ihren Willen machte ihr dieser hohe Raum mit der prächtigen Dekorierung einen großen Eindruck. – Stella sah sich nur flüchtig um und nickte kurz Beifall. Sie winkte Andree, der ihr behilflich sein wollte, Hut und Jacke abzulegen, lebhaft ab und lief zu der „Eos“ hin.

Wie schon gesagt, war das große Gemälde nahezu fertig – nur das Haupt der Göttin war erst in leichten Umrissen angedeutet, während die herrliche Gestalt in leichtem goldfarbenen Gewande, das im Frühwind flatterte, schon vollkommen ausgeführt war.

Stella staunte. Sie sagte sich beim ersten Blick, daß dies ein ganz ungewöhnliches Werk sei, das ungeheures Aufsehen erregen müsse. Die ganze Art der Darstellung, der Gegenstand an sich, die Größe des Gemäldes – es nahm fast die ganze Wand ein! – die wunderbare Gluth und Leuchtkraft der Farbe – und bei alledem der unnennbar zarte Zauber von Keuschheit, der über das ganze Bild ausgegossen war – dies zusammengenommen mußte eine außerordentliche Wirkung erzielen! Und sie, Stella Brühl, die allbekannte, vielbewunderte, sollte hier als die göttliche Spenderin des Lichts, der Morgenröthe prangen! Man würde sie allen zeigen, die zahlreich herbeiströmenden Fremden würden ihren Namen nennen hören und ihn mitnehmen in ihre ferne Heimath, die Einheimischen würden mit Stolz, mit Neid von ihr reden, die ganze große Ausstellung würde eigentlich nichts anderes als eine Verherrlichung ihrer Schönheit sein, denn es war unmöglich, an diesem Gemälde achtlos vorüberzugehen, es mußte der Hauptanziehungspunkt der ganzen Ausstellung werden!

Bei diesem Gedanken hob sich Stellas Brust in ungemeinem Stolz. Sie warf einen kurzen, leuchtenden Blick auf Andree, der leise hinter sie getreten war, und überließ ihm willig ihre Hand, von welcher er geschickt den weichen Handschuh abstreifte, um sie dann sehnsüchtig an seine Lippen zu drücken. In ihm wallte sein [860] ganzes Dankgefühl auf gegen das wundervolle Geschöpf, das sein Schönheitsideal verkörpert, das ihm dies Werk ermöglicht hatte, sein bestes, von dem er sich sagen mußte, es werde ihn auf den Gipfel dessen emporheben, was ihm überhaupt mit seiner Kraft und Begabung zu erreichen möglich war. Sein toter Freund, sein Werner hatte ihm dies Glück, diesen Erfolg verschafft – vor allem aber sie, die seinem – Andrees – Künstlergenius die höchste Weihe gegeben!

Sie hatten beide nur den einen Gedanken: malen, malen! Zu dem herrlichen Gemälde das eine noch fügen, was das ganze Werk krönen sollte, das Haupt der Göttin! Eilfertig half Stella mit, sich ihrer Hüllen zu entledigen, beiden zitterten die Hände vor ungeduldigem Eifer. Es wurde kein Wort mehr gesprochen, als unbedingt nöthig war, nur das, was die Arbeit erforderte. Mama Brühl fand, daß man sie rücksichtslos behandle, sie mußte sich wahrhaftig selbst einen der schweren Eichenstühle mit gepreßtem Ledersitz zurechtrücken, um einen guten Ausblick auf das Gemälde zu gewinnen! Nun ja – ja – es war sehr schön, sie mußte es einräumen, und es würde einen ungeheuren Triumph abgeben, aber dieser Maler war doch im Leben kein Mann für „ihr Kind“! Diese Künstleransprüche! Dieser kurze, befehlende Ton! Wie ein Herrscher, und ein Herrscher über wen? Ueber ihre Stella, der ein Prinz von Geblüt zu Füßen gelegen, die einen belgischen Baron, Millionär noch dazu, in Trouville hätte haben können. Freilich war es ein älterer Herr gewesen, ungefähr in den Jahren des Papa Brühl, allein wenn auch! Es war doch etwas anderes als ein Maler! Daß aber Stella dies alles vergessen zu haben schien und sich jetzt von diesem Herrn Andree völlig nach seinem Willen lenken ließ, bewies der Frau Senatorin aufs neue, welch unglaubliche Schwäche die schöne Tochter für den Mann haben müsse. Mama Brühl begriff das nicht, sie fand nichts an ihm! –

Er legte einen schneeweißen Shawl von flockiger Seide kunstvoll um Stellas Oberkörper – ihr Köpfchen hob sich wie aus frischgefallenem Schnee heraus – und half ihr, das Haar anders zu ordnen, es sollte halb gelöst sein, am Hinterkopf leicht in einen lockeren Knoten verschlungen, aber dann in ein paar ungezwungenen Locken rückwärts flatternd, vom frischen Morgenhauch bewegt. Das Tizianhaar sollte sich wie eine flammende Glorie von dem rosigen Duft abheben, der die Gestalt der Göttin umgab.

Kurze Worte flogen hin und her. „Mehr nach rechts, wenn ich bitten darf!“ „Ist es richtig so?“ „Sehr gut – jetzt, bitte, den Kopf ein wenig heben – noch höher – und nun, Stella, einmal Dein strahlendstes Lächeln, Deinen leuchtendsten Blick – so, – ah! Wer das jetzt sofort festhalten könnte!“

Mit raschem Sprunge war er auf der Trittleiter, die vor dem Gemälde stand, und sein Pinsel begann zauberschnell zu arbeiten. Es wurde mäuschenstill im Atelier; heute versuchte auch Stella nicht wie früher in Uhlenhorst, als Andree ihr Porträt malte, ihn von seiner Kunst ins Gebiet des persönlichen Empfindens zu ziehen, ihre Macht an ihm zu erproben und sich zu freuen, wenn er endlich erklärte, nicht mehr weiter malen zu können. Heute stand zuviel auf dem Spiel! Es handelte sich um das Ausstellungsbild, um die Vermittlung ihrer Schönheit an ein tausendköpfiges Publikum – daß es sich auch um Andrees Künstlerruhm dabei handelte, fiel ihr weiter nicht ein.

Ihm desto mehr! Ein brennender Ehrgeiz hatte ihn gepackt und führte ihm die Hand mit fast dämonischer Herrschaft. Ihn beseelte nicht nur der Gedanke: du malst dein Liebstes, und Tausende werden es sehen, darum muß es gut werden! – er sagte sich auch: du malst dein Bestes, und du wirst deinen guten Namen zu einem großen machen!

Den beiden verging die Zeit rasch genug, desto langsamer der Mutter, die sich auch als Ehrendame hier völlig überflüssig fühlte. Es fiel ja schon seit mehr als einer Stunde kein zärtliches Wort, nicht einmal ein liebevoller Blick! Scharf prüfend wanderten des Malers Augen von Stella zu dem Bilde und wieder zu Stella zurück, sein Athem ging rasch, eine strenge Falte zwischen den Brauen ließ ihn älter und weit weniger liebenswürdig im Ausdruck als sonst erscheinen, und zuweilen, wenn er das schöne Mädchen ansah, schüttelte er gar ungeduldig den Kopf. Was hatte das zu bedeuten? War sie ihm etwa nicht schön genug? Hatte er an ihrer Haltung etwas auszusetzen? Unmöglich! Sie saß ja still wie ein Lamm, und wie unbequem und ermüdend mußte das sein! Mama Brühl erkannte ihre Tochter nicht wieder, die sich daheim stundenlang auf den weichsten Sofas dehnte und oft zu bequem war, nur die Hand zu rühren! Daß sie, die Mutter, dies mit ansehen mußte! Warum hatte das Kind heute nicht die Willmers befohlen? Nein, gerade sie hatte es sein müssen!

Frau Brühl fing an, sich auf eigene Hand, so gut es ging, zu unterhalten, da sonst niemand die mindesten Anstalten dazu traf. Sie erhob sich und begann, im Atelier vorsichtig auf den Zehenspitzen umherzuschleichen – dann, als die beiden sie durchaus nicht beachteten, trat sie herzhafter auf. Sie besah sich die Gobelins, die Rüstungen, die orientalischen Teppiche und Gewebe in der Nähe, sie hob Vasen und Trinkgefäße von ihrem Standort herab und rechnete sich in der Stille aus, wieviel das alles wohl kosten könne. Es kam eine recht ansehnliche Summe dabei heraus – und was würde ihm nun die „Eos“ einbringen? –

Es standen ein paar große Gestelle mit Mappen umher. Frau Molly konnte sich’s nicht versagen, mit spitzen Fingern vorsichtig darin zu blättern, – nach und nach wurde sie auch hierin dreister. Eine sehr schöne Sammlung werthvoller Kupferstiche und Radierungen, die Andree aus Rom mitgebracht, reizte sie wenig, davon verstand sie nichts. Aber hier, Stella und wieder Stella und immer sie – nun, das war hübsch! Er mußte sie doch grenzenlos lieben! Dann ein paar Blätter mit halbverlöschten Umrissen einer Mädchengestalt, eines Kopfes – darunter ein Blatt wie im Zorn mitten durchgerissen. Und hier – das war ja Werner Troost – und dies war er noch einmal! Ja, ja, ein hübscher junger Mensch! Die Frau Senatorin seufzte ein klein wenig, als es ihr einfiel, daß er tot sei. –

Die Sonnenflecken an der Wand rückten weiter, wieviel Uhr war es denn? Himmel, es waren schon mehr als zwei Stunden vergangen! Und die Frau Senatorin hatte sich zu Hause um diese Zeit einen Dekorateur bestellt, der ihr die neuen Vorhänge aufmachen sollte! Es hungerte sie auch schon! So konnte es nicht bleiben, sie mußte etwas sagen!

„Mein liebstes Kind – Stella –“ begann sie leise.

„Still, Mama!“ sagte das schöne Mädchen diktatorisch, und Mama war still!

Es dauerte dann noch sehr lange, bis die Sitzung endlich beendet war. Die Frau Senatorin weinte fast vor Ungeduld und Verzweiflung, sie besah auch keine Bilder und Sachen mehr. Sie saß mit geschlossenen Augen in ihrem altväterischen hohen Stuhl und wünschte Andree und die Kunst und die „Eos“ ins Pfefferland. – Zuletzt ließ Andree den Pinsel sinken und sagte tonlos: „Ich kann nicht mehr!“

„Aber es ist gut? Du bist zufrieden?“ fragte Stella.

„Ja!“ gab er mit entschiedenem Tone zurück.

Sie dehnte sich mit einer anmuthigen Bewegung und rückte sich leicht in den Schultern zurecht. Er trat zu ihr heran und küßte ihr die Hand.

„Wie ich Dich ermüdet haben muß, armes Lieb!“ sagte er zärtlich.

„An mich denkt kein Mensch!“ dachte die Senatorin entrüstet.

„O, das schadet nichts! Wenn nur das Bild gut wird! Laß einmal ansehen!“

„Es ist noch nicht allzuviel zu sehen, mein Kind!“

„Noch nicht allzuviel!“ dachte die empörte Mutter. „Was in aller Welt hat denn der Mensch in der ganzen, ewig langen Zeit gethan?“

Das Haupt der „Eos“ war aber doch da, und Andree erklärte seiner Braut, was nun noch ausgeführt und hinzugefügt werden müsse.

„Muß – müssen – muß Stella noch einmal wiederkommen?“ fragte Frau Brühl kläglich.

„Mehrmals!“ sagte Andree bestimmt.

Stella sah ihre Mutter an und lachte.

„Mama scheint nicht sehr erbaut von dieser Aussicht zu sein. Schadet nichts! Wenn nur ich es bin!“

Es klang selbst für Andree ein so nackter Eigennutz aus diesen Worten, daß er stutzig wurde.

„Wir sind schlecht gegen Sie gewesen, meine gnädige Frau!“ sagte er mit seinem gewinnenden Lächeln und sah die verstimmte Dame bittend an. „Verzeihen Sie es uns im Interesse der

[861]

Larnaka auf Cypern.
Nach dem Gemälde von H. Corrodi.

[862] Kunst – das ist eine strenge Herrscherin! Wie Sie angegriffen aussehen! Warten Sie, ich hole Ihnen ein Glas Wein – so dürfen Sie nicht fort. Auch Stella muß trinken – es ist unverantwortlich von mir, nicht früher daran gedacht zu haben, aber ich glaubte nicht, daß die Sitzung so lange dauern würde.“

Er kramte geschäftig aus einem geschnitzten Schränkchen eine Flasche Wein hervor und nahm die schönsten Trinkgefäße, die er finden konnte, um aus ihnen den Trank zu kredenzen.

„Champagner ist es nicht!“ sagte er lächelnd. „Ich halte mir keinen; Stella trinkt ja Sekt am liebsten – aber zu verachten ist dieser spanische Wein auch nicht!“

Nein – Frau Molly mußte das zugeben. Andree klang mit seinem Glase an das Stellas.

„Auf die ‚Eos‘!“ sagten sie beide zugleich. Es hätte auffallen können, daß es nicht ihre junge Liebe war, auf die sie tranken.

Beim Abschied wollte Andree gern recht zärtlich sein – allein Stella, die nun auch zu fühlen begann, wie erschöpft sie eigentlich sei, ließ es gar nicht dazu kommen. Sie winkte mit den Augen nach ihrer Mutter hin, wie wenn sie diese nicht gern zum Zeugen einer bräutlichen Scene haben wolle. Ob Andree sie übermorgen auf einem Spazierritt wie zufällig treffen wolle? Freilich seien noch ein paar Herren ihrer Bekanntschaft zugegen, auch eine Dame und die Reitknechte – aber anders gehe es doch nun einmal nicht! Sie wolle sehen, ob ihre „Primrose“ sie noch kenne und sich ihr nach der langen Trennung gutwillig in die Hand füge. Ob Andree dabei sei? Selbstverständlich nur, wenn sie schönes Wetter hätten!

Was blieb ihm übrig, wenn er sie überhaupt sehen und sprechen wollte, als zuzusagen? Sie hastete nur, fortzukommen, streifte flüchtig mit den Lippen seine Wange und zog ihm ihre Hand fort, die er gar nicht loslassen wollte. Er stand noch und sah ihnen nach – Stella ging mit ihrem leichten, elastischen Schritt über die Straße. Zuvor hatte sie unten im Hausflur herzhaft gegähnt und unwillig gesagt:

„Bin ich aber müde! Wie zerschlagen am ganzen Körper! Wir nehmen den nächsten Wagen, den wir finden!“ – Nach einer kleinen Weile setzte sie dann nachdenklich hinzu: „Die ‚Eos‘ wird aber schön!“ – –




Herr Grimm ging mit Gerda über den Neuen Jungfernstieg. Es war in den letzten Tagen viel Schnee gefallen – weich und glatt wie weißer Sammet lag er überall – dazu eine freundliche Wintersonne und ein lichtblauer Himmel! Man war im Dezember, nahe an Weihnachten.

Gerda ging schweigsam und tief in Gedanken an Onkel Grimms Seite. Sie hatte es nicht acht, daß der Blick manches Vorübergehenden wohlgefällig ihre schlanke Figur in dem hübschen dunkelgrünen, mit Pelz verbrämten Wintermantel streifte. Sie sah viel wohler aus als früher, nicht mehr bleich und blutlos. Der Reitunterricht im Sommer, die regelmäßige Bewegung im Freien, die zweckmäßige Ernährung hatten ihr gut gethan – ihr junges Gesicht war frisch geröthet, der Gang leicht, die Haltung straff – sie wurde wirklich hübsch. In dem Punkt konnte Onkel Grimm mit ihr zufrieden sein!

Nur daß sie ihm zu ernst war für ihre Jugend! Immer seltener brach der kindliche Uebermuth, die tolle Lachlust früherer Tage bei ihr durch. Sie lebte nicht mehr unter einem Druck, sie brauchte sich vor niemand mehr zu ängstigen, bekam alle schönen Sachen, nach denen ihr Sinn stand, und hatte einen liebevollen Beschützer, dem auch sie von Herzen gut war. Sie sah den ungeheuren Vortheil dieses Wechsels auch ein, sie war Herrn Grimm wirklich dankbar und versicherte ihm immer wieder, es gehe ihr viel zu gut und sie verdiene ein so herrliches Leben gar nicht. Und trotzdem schien es, als ob das „herrliche Leben“ all die übersprudelnde Kinderfröhlichkeit, die unter den trübseligen Verhältnissen des elterlichen Hauses doch stets wieder zum Vorschein gekommen war, für alle Zeit in ihr erstickt habe.

Es war nichts gegen Gerda zu sagen, sie war immer freundlich und aufmerksam, sie lernte gut und befleißigte sich großer Ordnung und Pünktlichkeit – aber eben das war’s: Herr Grimm ärgerte sich, daß sich nichts gegen sie sagen ließ. Möchte sie doch in Gottes Namen einmal über die Schnur schlagen, ihm Gelegenheit geben, sie zu schelten. Er lauerte förmlich darauf – umsonst! Sie blieb tadellos. Himmel, sie war doch noch ein Kind – –

Oder war sie kein Kind mehr? Der Pflegevater schaute sie sich manchmal darauf hin scharf an. Sie sah in der That aus wie ein erwachsenes Mädchen und benahm sich auch wie ein solches. Früher hatte er oft gesagt: „Sei doch nicht so kindisch, Du bist ja schon ein großes Fräulein!“ und nun sie ihm den Willen that, war es ihm wieder nicht recht.

Ins „Vorderhaus“, wie Gerda die Wohnung ihrer Eltern nannte, kamen sie selten. Wolfgang dagegen war oft oben bei Herrn Grimm mit seinem Freund, in dessen Gesellschaft er ganz wacker lernte und vorwärts kam. Die Einladungen, die von Herrn und Frau Senator Brühl an den „Hausfreund“ und Gerda ergingen, wurden also meistens zurückgewiesen. Bald hatte Gerda zuviel zu lernen, bald erwartete Herr Grimm Besuch, oder er ging mit „seiner Tochter“ ins Theater, ein ganz neues Vergnügen für sie, das sie sehr liebte – kurz, die beiden wurden in der Brühlschen Familie fast nie sichtbar.

Und wenn es doch einmal geschah, was bekamen sie dann zu sehen? Ein wunderschönes, von jedermann verwöhntes und angebetetes Mädchen – ein „Götzenbild“, das sich seiner Macht von Tag zu Tag mehr bewußt wurde, dem alle, die eigenen Eltern voran, huldigten – und einen heimlich Verlobten, der sich in Qual und Eifersucht verzehrte, dessen Stirn immer finsterer, dessen Lächeln immer seltener wurde. Solange die „Eos“ unvollendet war und Stella, durch die Sitzungen ihm näher gebracht, ihn noch durch ein paar freundliche Worte, ein Lächeln, eine Liebkosung beschwichtigen und einigermaßen für alle Pein, die er litt, entschädigen konnte, ging es noch – jetzt aber war das Gemälde fertig, in wenigen Wochen sollte die Ausstellung eröffnet werden, die heimlich Verlobten sahen einander immer seltener und nie mehr allein.

Der Winter mit all seinen Festlichkeiten war da, und die schöne Stella Brühl strahlte natürlich als Ballkönigin, als unbestrittener Stern ersten Ranges. Keine Premiere in den Theatern ohne sie, keine lebenden Bilder, kein Kostümbazar zu wohlthätigem Zwecke, kein Maskenball, kein großartiger Eislauf denkbar, ohne daß sie die erste Rolle dabei spielte! Was wollte denn Andree? Es war ja so natürlich! Es machte ihr doch Spaß, warum sollte sie es also lassen? Er konnte ja auch kommen, niemand verwehrte es ihm, er wurde fast überall eingeladen – wenn er nicht wollte, wenn er behauptete, es nicht ertragen zu können, sie so gefeiert zu sehen und als ihr Verlobter, der das größte Recht auf sie habe, dabeizustehen, ohne daß jemand um dies sein Recht wisse … nun gut, dann war das eben seine Sache, und sie selbst ging allein! –

Herr Grimm hätte lange nicht so klug zu sein brauchen, wie er es thatsächlich war, um die Lage der Dinge zu durchschauen. So selten er zu Brühls kam – er wußte genau, wie es dort zuging, wußte, wie sehr Andree litt, und wie bitterwenig Stella sich darum bekümmerte. Es war eine schwüle Luft in dem Hause, und lange konnte es nicht mehr dauern, dann mußte das Gewitter losbrechen. War die Ausstellung erst da, dann würde Andree auf seinem Recht bestehen – und was dann?

Grimm hatte es mit Aufbietung aller seiner Diplomatie bisher vermieden und wollte es auch weiter vermeiden, mit Andree in ein vertrauliches Gespräch zu kommen. Wozu sollte das führen? Die Wahrheit, wie er sie sah, konnte er dem Maler nicht sagen, und mit Redensarten würde dieser sich nicht abfertigen lassen, dazu standen sie einander zu freundschaftlich nahe – auch verstand Herr Grimm es ganz und gar nicht, Redensarten zu machen.

Wenn also Andree einmal hinaufkam in die gemüthliche Wohnung des Freundes, dann holte dieser sofort Gerda herbei, mochte sie nun wollen oder nicht, und das Gespräch drehte sich immer um ganz unpersönliche Dinge: Kunst und Wissenschaft – Gerdas Lehrstunden – ihre Lieblingsbeschäftigungen – die neueste Oper – den letzten Roman – Andrees Bilder … das waren die Stoffe, die hier verhandelt wurden, aber zu einer vertraulichen Aussprache kam es nie, und eben das wollte Herr Grimm. Er athmete, so lieb er Andree hatte, jedesmal erleichtert auf, sobald dessen hohe Gestalt seine Behausung verließ, und war froh, daß die gefährliche Klippe, vor der ihm [863] immer heimlich bangte, wieder einmal glücklich umsegelt worden war! –

Solche Gedanken beschäftigten Herrn Grimm wieder, als er jetzt schweigsam neben Gerda einherwandelte. Sie hatten den Alten Jungfernstieg umgangen und bogen nun in den Alsterdamm ein. Noch wimmelte die Binnenalster von Schlittschuhläufern, aber das Vergnügen konnte für heute nicht lange mehr dauern – bereits senkten sich die ersten Schatten der rasch hereinbrechenden Winterdämmerung herab.

„Warum bist Du eigentlich heute nicht auf dem Eis gewesen, Kind?“ unterbrach Grimm endlich das Schweigen. „Es ist ja kostbares Wetter dazu!“

„Ich, Onkelchen? Ja – Wolfgang konnte heute nicht kommen und Georg auch nicht – und allein –“

„Du würdest doch noch andere Bekannte dort gefunden haben.“

„Meinen Sie?“ fragte Gerda so nachdenklich, als handle es sich um ein großes Problem.

„Hat man Dich nicht auch zu der großen Schlittenfahrt aufgefordert, die heute früh stattfand?“

„Ja, Onkel!“

„Nun? Und Du hast abgelehnt, ohne mich vorher nur gefragt zu haben? Ich hätte Dir’s erlaubt, mitzufahren!“

„Ja, ich weiß wohl. Aber ich wollte viel lieber zu Hause bleiben!“

Grimm schüttelte unwillig den weißen Kopf.

„Wo sollte denn die Fahrt eigentlich hingehen?“

„Ich weiß nicht!“

„Mit wem ist denn Stella gefahren? Mit Andree?“

„Nein – ich denke, mit dem jungen Leskow!“

„Sie müssen wohl bald zurückkommen – oder wollten sie bis zum Abend fortbleiben?“

„Bewahre! Stella hat ja eine Loge im Theater bestellt – sie geben ein Stück aus dem Französischen – ich hab’ den Titel augenblicklich vergessen, ich glaube, es hängt mit einem Prozeß zusammen!“

„So so!“ sagte Gerdas Begleiter zerstreut – dann plötzlich aufmerksamer werdend: „Sind das nicht Schlittenglocken – viele auf einmal? Steh’ einen Augenblick still! Können sie das nicht sein?“

Ja, sie waren es! Mit einem lustigen, hellen Geläut, mit unternehmendem Peitschenknall kam es durch die reine, frische Winterluft heran, immer ein Schlitten nach dem andern, vier – fünf – sechs – man hörte Lachen und Scherzen, Federn nickten, Schleier wehten, die Pferdehufe stampften in den weißen, zerstäubenden Schnee – und wie ein Traumgesicht war alles vorbei!

Aus einem der Schlitten hatte ein Herr die beiden gegrüßt – es war Andree.

„Hast Du ihn gesehen, Gerda? Mir kam es vor – aber ich kann mich irren, es ging ja wie im Fluge – als hätte er bedenklich finster ausgesehen. Schien es Dir auch so?“

„Ja,“ sagte Gerda zögernd, „mir schien es auch so!“

Schweigend gingen die beiden ihrer Behausung zu.

Oben kam ihnen Frau Müller entgegen.

„Schön, daß Sie da sind, gerade ist der Kaffee fertig - mit Berliner Pfannkuchen, Gerdachen! Was ich sagen wollte – ich hab’ gleich ein paar Tassen mehr gemacht, Herr Andree ist nämlich da, er sitzt drinnen im Wohnzimmer. Er kam herauf und fragte, ob die Herrschaften zum Kaffee nach Hause kämen – er hätte sie auf der Straße gesehen!“

Herr Grimm nickte Frau Müller zu und öffnete die Thür zum Wohnzimmer – ja, da saß Andree auf einem Lehnsessel am Tisch, und Hafis lag lang ausgestreckt auf dem Sofa und schlief.

„Nun, das ist recht, Andree!“ rief Herr Grimm freundlich und schüttelte seinem Besuch die Hand. „Frau Müller, die Lampen! Mein Töchterchen und ich wollen nur unsere Hüllen ablegen, dann sind wir bei Ihnen, und es soll ein gemüthliches Kaffeestündchen werden!“

„Und nach demselben möchte ich Sie um ein paar Worte unter vier Augen bitten!“ sagte Andree leise.

Die Lampen wurden gebracht, der herrlich duftende Kaffee, die warmen Pfannkuchen dazu – aber zu dem „behaglichen Kaffeestündchen“, das der Hausherr prophezeit hatte, wollte es doch nicht kommen. Andree saß finster und schweigsam da, er hob selten die Augen von seiner Tasse, und zuweilen überhörte er es, wenn Grimm mit ihm sprach. Gerda trank ihren Kaffee beinahe brühend heiß hinunter, sie konnte nicht früh genug fortkommen, um die beiden allein zu lassen. Als ihr Pflegevater sich wunderte, daß sie so eilig sei, sagte sie, sie habe für morgen noch viel zu thun, und weg war sie.

Herr Grimm streichelte seinen Hafis und wartete ab, bis Andree reden würde.

„Lieber Freund,“ begann dieser endlich mit derselben gedämpften Stimme wie zuvor, „es ist mir aufgefallen, und ich finde es sehr merkwürdig: Sie haben mir bisher in der ganzen langen Zeit noch mit keinem Wort zu meiner Verlobung gratuliert!“

„Habe ich nicht?“ murmelte Herr Grimm verlegen.

„O, Sie wissen es ebenso genau wie ich!“

Das stimmte, und Herr Grimm sah schuldbewußt aus und fuhr fort, Hafis zu streicheln.

„Warum thaten Sie es also nicht?“ fuhr Andree ruhig fort.

Der ältere Mann wiegte unmuthig den Kopf.

„Das wird ein peinliches Gespräch, mein bester Andree, und ich wollte, ich könnte es uns beiden ersparen – ich habe es bis jetzt immer vermieden.“

„Ganz recht! Das thaten Sie! Jetzt geht das aber nicht länger!“

„Gut also! Was wünschen Sie nun von mir?“

„Zunächst wünsche ich zu wissen, was Sie über diese meine Verlobung denken – die volle Wahrheit, versteht sich!“

Herr Grimm wurde unruhig.

„Mein Lieber, das ist eine seltsame Zumuthung! Die Wahrheit! Ja – weiß ich denn, ob das, was ich nach meiner unmaßgeblichen Meinung dafür halte, die einzige, die richtige Wahrheit ist? Ich bin auch nur ein Mensch und kann irren! ‚Was ist Wahrheit?‘ hat schon Pilatus gefragt.“

„Sie sollen mir das sagen, was Sie, nach Ihrer eigenen Auffassung, für die volle Wahrheit halten!“

Der weißhaarige Herr, so in die Enge getrieben, faßte einen kurzen Entschluß.

„Nun denn – Sie haben es gewollt! Ich habe mich über diese Verlobung nicht freuen, ich habe Ihnen nicht dazu Glück wünschen können, weil ich Sie lieb habe und mir von dieser Verbindung kein Glück für Sie verspreche. Sie und Stella passen durchaus nicht zusammen – Ihre Braut ist in allen Stücken der gerade Gegensatz zu Ihnen!“

„Sie kennen sie genau?“

„Sehr genau!“

„Sie thun ihr nicht unrecht?“

„Ich denke, nein! Die Versuchung für ein so schönes, junges Geschöpf ist ja riesengroß.“

„Welche Versuchung?“

„Ein Götzenbild zu werden, sich anbeten, huldigen zu lassen und darüber desjenigen verlustig zu gehen, was, in meinen Augen wenigstens, das Weib erst zum Weibe macht!“

Er sah Andree erschrocken an – es hatte ihn wieder einmal fortgerissen, er war zu weit gegangen! Trotz seiner weißen Haare immer noch diese Unbesonnenheit!

„Und Sie meinen, ich würde nicht glücklich werden?“ brach Andree nach einer Pause das Schweigen.

„Sind Sie jetzt glücklich?“

Es kam keine Antwort.

Grimm hörte auf, Hafis zu streicheln, ergriff Andrees kalte willenlose Hand und drückte sie.

„Sehen Sie, Grimm,“ begann der Maler endlich gepreßt „diese heimliche Verlobung – und daß ich nie den stichhaltigen Grund dafür erfahre, warum sie geheim sein muß – denn sie weicht mir immer aus, wenn ich sie frage, und wir sind ja auch nie mehr allein, nicht einmal auf fünf Minuten! Ich hatte gehofft, wir würden heute bei der Schlittenpartie zusammen fahren, aber nein! Sie meinte, es könnte auffallen …“

„Lassen Sie die Ausstellung herankommen!“ suchte Grimm ihn zu ermuthigen. „Das Bild, – es ist ja ein Kunstwerk ersten Ranges, nach meiner Ansicht – es wird packen, wird zünden – nun, und das wird Ihnen helfen! Stella ist für Aeußerlichkeiten, Erfolg, Aufsehen empfänglich, es wird ihr schmeicheln – –“

[864] „Und darauf soll ich mein Lebensglück bauen?“ brach es plötzlich leidenschaftlich aus Waldemars Brust. Gleich darauf sank er wieder in sich zusammen.

„Wenn ich wüßte, ob sie mich liebt! Mir schien es anfangs so – warum hätte sie auch sonst meine Werbung angenommen? Jetzt aber – – sie sagt, sie habe Werner Troost zu sehr geliebt, sein Andenken … ja so, Sie wissen es nicht, daß sie Werner Troosts heimliche Verlobte gewesen ist – –“

„Doch! Ich weiß es!“

Andree fragte nicht, durch wen, er nickte nur.

„Sein Andenken also stehe zwischen ihr und mir, sie habe sich über die Stärke ihres Gefühls für mich getäuscht, ich solle ihr Zeit lassen, vielleicht lerne sie es, mich allmählich so zu lieben, wie sie ihn geliebt –“

Er brach kurz ab und starrte vor sich hin. Grimm fühlte ein tiefes Mitleid mit ihm. Was sollte er ihm sagen? Wodurch versuchen, ihn zu trösten? Es fiel ihm nichts ein.

Sie saßen eine Weile stumm bei einander, zuletzt erhob sich Andree schwerfällig.

„Es war unrecht von mir, darüber zu sprechen – sogar zu Ihnen, der Sie ein verschwiegener Mann und mein Freund sind; ich hätte es nicht thun sollen. Aber immer und immer schweigen, gegen niemand sich aussprechen können –“

„Lassen Sie es sich nicht leid thun, Andree! Ich bin Ihnen ein wahrer Freund und kann Sie verstehen. Freilich, helfen – wenn ich Ihnen helfen könnte –“

Andree schüttelte langsam den Kopf.

„Wie sollten Sie das können, da ich es selbst nicht zustande bringe? Das geht nun so weiter … Ich muß jetzt fort. Grüßen Sie Gerda, rufen Sie sie wieder herein, ich habe sie vertrieben. Ein gutes Kind! Sie hat keine –“ er verstummte plötzlich.

„Wollen Sie nicht den Abend über bei mir bleiben?“ fragte Grimm herzlich. „Kommen Sie, lassen Sie Ihre Pelzmütze liegen! Ich hole mein Kind, wir plaudern zusammen …“

„Nein!“ sagte Andree hastig. „Nein – ich danke Ihnen. Ein andermal! Ich danke Ihnen!“

Und damit war er gegangen.

(Schluß folgt.)




Aus der Wendei.

Schilderung von Th. Gampe. Mit Abbildungen nach Photographien von Oskar Meister in Bautzen.

 „Und übers grüne Heideland
 Trabe, mein Rößlein, trabe.“

Wendische Braut.

Heidekorn, Milchhirse, schweigsame, mißvergnügte Mongolengesichter, ungedielte Stuben und trostlose Sanddünen, das sind so ungefähr die Grundfarben der landläufigen Vorstellungen über die Wendei; haben diese sich doch im sächsischen Volk zu den Spottnamen „Wendische Türkei“ oder gar „Hundetürkei“ verdichtet.

Die Oberlausitz mit der vielgethürmten uralten Wendenstadt Budyssin (Bautzen) kann unmöglich gemeint sein, denn sie ist eines der lieblichsten Gelände im weiten Deutschland, und dazu giebt es dort wohlhäbige Bauerndörfer in Fülle. Die Heerführer des Dreißigjährigen Krieges, ebenso Friedrich der Große und Napoleon I. wußten nur zu gut, warum sie mit ihren Heeren immer wieder die Oberlausitz überschwemmten und hier ihre Schlachten schlugen; sie fanden hier eine reiche Gegend, die ihre Armeen leicht beherbergen und ernähren konnte. Ebenso sind die alten lausitzer Götterberge, der „schwarze Gott“ und der „weiße Gott“, der „Czerneboh“ und der „Bileboh“, von Touristen überlaufen wie von Ameisen, und diese waldreichen, schöngeformten und um ihrer vorgeschichtlichen Bedeutung willen äußerst merkwürdigen Berge verdienen das auch in reichem Maße, sie gehören zu den schönsten Mittelgebirgen im weiten Vaterland. Bautzen selbst ist das Ziel von Tausenden schaulustiger Wanderer, es liegt auch mit seiner Ortenburg, seiner stimmungsvollen Kirchenruine, seinen Thorthürmen und dem schönen Rathhaus malerisch wie ein kleines Prag auf stattlicher Felsenhöhe.

Und der Norden der Wendei? Nun, der ist ja in wenig Jahren ein liebes Schoßkind der Berliner geworden. Wer kennt nicht den Spreewald mit seinen stillen Wasserspiegeln, seinen thurmhohen Erlengruppen, seinen grünen Kaupen (Inseln, von Kanälen umgeben) und daran die Mühlen mit den moosbewachsenen Mühlrädern; und im Winter, wer hätte sie nicht wenigstens im Bilde gesehen, die spiegelglatten Eisflächen auf den Tausenden von Rinnsalen mit ihrer hellen Volkslust?

Also können sich die Spottnamen nur auf den Theil der Lausitz beziehen, der mitteninne liegt, auf die „Wendische Heide“. Das ist nun freilich ein armes, sehr armes Land. Sagt doch der Wende selbst von ihm, unser Herrgott habe aus Versehen einen Sandsack umgehängt, wie er als Sämann die Erde überschreitend in die Gegend von Sprey, Tschölln und Slepa kam. Aber es ergeht der Heide wie so manchen mit Worten unbeholfenen Menschen – man lernt sie schwer kennen, weil sie so gar nichts Einladendes haben. Man muß in die Heide selbst etwas poetische Stimmung mitbringen, wenn man ihrer Poesie theilhaftig werden will, sonst bleibt sie uns eben eine – Hundetürkei.

Für den ethnographischen Forscher, für den Freund eines reinen bäuerlichen Volksthums ist die Heide weitaus der werthvollste Theil der ganzen Wendei. Hier sitzt noch der Rest eines untergehenden Volkes, kaum berührt von den Wogen des Germanismus. Wie sie leben und weben, diese Heidebauern in ihren einsamen Dörfern, versteckt hinter Sanddünen und vereinsamt in großen unabsehbaren Kieferwäldern, so lebten auch unsere wendischen Vorsassen, die einst unsere deutsche Erde bepflügten und besäten bis an die Pegnitz bei Nürnberg, den Main bei Bamberg und bis über die Trave bei Lübeck hinaus.

In der Bautzener Gegend wie im Spreewald sucht man alte Wendengräber auf, gräbt Heidenschanzen um und schleppt mühsam gelehrtes Material herbei. Ich sollte meinen, es sei für den Gelehrten mindestens ebenso dankbar, in die Heide zu gehen und an dem lebenden Geschlecht, an dem stillen unberührten Völkchen Studien zu machen. Jetzt wär’s noch Zeit, aber auch jetzt schon muß man zu solchem Zweck die abgelegensten Heidedörfer aufsuchen.

Der Volkscharakter der Wenden ist wie derjenige aller Nordslaven ein friedliebender. Die Heidenschanzen, die uns oft wie diejenigen beim Dorfe Ostro durch ihre Größe verblüffen, haben ausschließlich der Vertheidigung gedient. Mißvergnügt sind die Leute keineswegs, im Gegentheil, ich habe sie immer heiter und freundlich, sogar mittheilsam gefunden. Nur dort, wo sie keinen Grundbesitz erwerben können, wo sie auf fremder Scholle hausen müssen, habe ich wohl etwas Gedrücktes, aber selbst dann nichts Unzufriedenes an ihnen beobachtet. Aus ihren zahlreichen Volksliedern spricht eine tiefe Gutmüthigkeit, ein wehseliges Denken und vor allem eine große Liebe zur Geselligkeit. Und wie gut behandeln sie ihre Thiere! Ein wendischer Pferdeknecht hat mehr Kosenamen für seine Gäule als mancher unserer jungen Bursche für seinen „herzallerliebsten Schatz“. Die Hälfte aller Dresdener Fuhrwerksbesitzer trägt wendische Namen, ein Beweis, wie die gute Behandlung der Thiere auch zu wirthschaftlichen Erfolgen beiträgt, denn diese Leute sterben nicht selten als reiche Fuhrherren. Im sächsischen Gardereiterregiment sind die wendischen Soldaten bekannt als ausgezeichnete Pferdewärter.

Unter sich pflegen sie, wenn es irgend die Umstände erlauben, äußerst lebhafte Gespräche. Es war mir völlig neu, etwa ein Dutzend Leute, die beim Heumachen über eine Wiese vertheilt waren, in eine lang andauernde, sehr angeregte Unterhaltung verwickelt zu sehen, und zwar ohne Nachtheil für die kräftig geförderte Arbeit. Das Gespräch mußte der Entfernung wegen so laut

[865] geführt werden, daß ich es für einen Streit hielt, und erst die Lachsalven dazwischen belehrten mich eines Besseren. Haben die wendischen Mägde niemand, mit dem sie sich aussprechen können, so unterhalten sie sich mit ihren Kühen, als wenn es Freundinnen wären. Erfreulich ist es auch, die wendischen Volksgruppen in Dresden zu sehen. Das lacht und kichert und schmeichelt und schüttelt sich die Hände, als gälte es, das Maß der Freundschaft vollzurütteln wie einen Scheffel Getreide. Fänden sie einen Defregger, der sie der gebildeten Welt künstlerisch darstellte, wie sie sind, ganz Deutschland würde das Völkchen liebgewinnen.

Bautzen. 

Die gesammte wendische Sprachinsel umfaßte nach der letzten Volkszählung in der sächsischen Oberlausitz 56 354, in der preußischen Oberlausitz 37 307, in der preußischen Niederlausitz 66 071 Wenden. Verstreut lebten in Sachsen und Preußen 4402, und die Wenden in der Fremde schätzt man auf 3000. Im ganzen sind noch 105 wendische Pfarrbezirke mit 763 Dörfern vorhanden, räumlich umfassen diese Bezirke etwa 65 Quadratmeilen.

Das ist der Rest von den weiten Slavengebieten, die im Laufe der letzten Jahrtausende von der germanischen Völkerbrandung verschlungen worden sind. Wie ein unabweisbares Naturgesetz geht der Absterbeprozeß vor sich. Niemand leitet ihn, niemand beschleunigt ihn, es hat auch niemand einen Vortheil davon, ihn zu beschleunigen – und doch rückt er in immer schnellerem Gange vor. Vor etwa 8 Jahren bezeichnete mir ein Stammtisch von Camenzer Bürgern einmüthig das Dorf Jesau als das erste echte und gerechte Wendendorf. Von dort her kämen die meisten Wenden nach der Camenzer Wendenkirche. Schon andern Tages konnte ich dieselben Herren mit der Mittheilung überraschen, daß ihr Nachbardorf sozusagen über Nacht deutsch geworden sei. Die Jesauer verstanden zwar noch wendisch, aber sie sprachen es nicht mehr, und als ich einige ältere Leute fragte, warum sie nun nicht auch in den deutschen Gottesdienst gingen, gaben sie die etwas praktisch nüchterne Antwort: „Wir wollen uns nicht erst deutsche Gesangbücher kaufen.“ Also eine Geldfrage! Uebrigens waren auch einige der Meinung, die wendische Predigt höre sich doch erbaulicher an – jedenfalls spielt da Gewohnheit und Erinnerung eine wesentliche Rolle. Ein Jesauer Gutsbesitzer von etwa vierzig Jahren versicherte mich, er habe bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr das Deutsche nicht verstanden, auch im Gehöft unter dem Gesinde sei niemand gewesen, der anders als wendisch gesprochen habe; jetzt sei niemand mehr da, der anders als deutsch rede, und doch seien sie alle als Wenden geboren. Auf meine Frage, wie denn das so gekommen sei, wußte er mir eigentlich keine Erklärung zu geben; der Wandel hatte sich unbemerkt vollzogen. Ein witziger Knecht meinte, das ganze Gehöft habe sich nach und nach deutsch angeraucht wie des Bauern Meerschaumpfeife. Als ich zwei Matronen des Kuhstalls fragte, warum sie nicht wenigstens unter sich das Wendische in Uebung hielten, wußten sie mir auch keinen Grund anzugeben. „’S ist eben so,“ meinten sie achselzuckend. Ich wies dann später in der Schenke auf die sogenannten „wendischen Päpste“ hin, die mit Gewalt das alte Wendenthum erhalten und das deutschgewordene am liebsten zurückbilden möchten, und erkundigte mich, ob denn das Landvolk gar keine Furcht vor ihnen habe. Da lachte der ganze Tisch, und der witzige Knecht meinte: „Ein Pfeifenkopf läßt sich nicht wieder weiß rauchen.“

Und doch kommen Rückfälle vor, sogar von recht tragischer Natur. Ein Arzt erzählte mir, daß die meisten alten Leute, die sich zum Sterben legen, in ihren letzten Augenblicken ganz [866] unvermittelt wieder anfangen, ihre Muttersprache zu reden, und daß sie ihre Kinder in einer Sprache segnen, die diese nicht mehr verstehen. Auch in Fieberphantasien soll zuweilen die Ursprache des Volkes wieder die Oberhand gewinnen – eine psychologisch gewiß nicht gleichgültige Wahrnehmung.

Eine Scene von einem drolligen Durcheinander erlebte ich in einem halbverdeutschten Dorfe. Eine Woika, eine wendische Großmutter, ereiferte sich auf wendisch über ihren ungezogenen Enkel, einen etwa sechsjährigen Jungen mit einem für diese Gegend ungewöhnlich muthwilligen Gesicht. Der Junge war nicht zu bewegen, sein Unrecht einzusehen, und schwieg. Da ergriff der Vater, der Sohn der Woika, einen „echten“ Ochsenziemer, also keinen von Leder, und hieb mit kräftigen deutschen Begleitworten seinem Sprossen die Jacke voll. Der Woika ging der väterliche Zorn zu weit, sie wiegelte auf deutsch ab und bat schließlich um Einhalt; der Enkel nahm das Mitleid schnell wahr und bat seinerseits auf wendisch die Großmutter um Hilfe. Der Vater prügelte auf deutsch weiter, die Woika schimpfte erst wendisch, dann deutsch über Unbarmherzigkeit, und endlich beendigte der väterliche Strafrichter den Auftritt mit einer wendischen Bemerkung, welche die „Schwachheit der Frauen im allgemeinen“ zum Gegenstand hatte. Es war, als hätten sich die drei Betheiligten förmlich verabredet, nie in derselben Sprache zu antworten, als benutzten sie diesen Gegensatz, um ihren Meinungsverschiedenheiten einen recht bestimmten Ausdruck zu geben.

Einen höchst überraschenden Eindruck machen öfters auch Sprachrückfälle in längst germanisierten Dörfern. Da sitzt ein halbes Dutzend Bauern plaudernd beisammen in der Schenke. Irgend ein Zwiespalt giebt Anlaß zum Streit, man wird heftiger, es bilden sich Parteien – soweit bewegt sich alles in den überall herkömmlichen Formen. Das Eigenartige kommt erst, wenn auf einmal die ganze Gesellschaft in eine wildfremde Sprache fällt. Man möchte sich dann fragen, ob man nicht plötzlich aus der Dresdener Pflege einige hundert Meilen hinter Warschau versetzt worden sei! Einige dazwischengeworfene wendische Fluchworte bilden gewöhnlich die Vorläufer, und dann fährt die slavische Sprache wie aus einem lang verstopften Quell hervor und schießt mit Zischlauten durcheinander wie Zündraketen. Mit der Sprache wechselt gewöhnlich auch das Getränk: der „Palenz“, der Branntwein, tritt an die Stelle des Bieres, und die Bierseidel sollen häufig nur noch dazu da sein, um die Härte der Wendenschädel einer Probe zu unterziehen.

Wie der Wende im Spreewald lebt und sich häuslich einrichtet, das ist oft beschrieben; der Oberlausitzer, der sächsische Wende zeigt in seinen Bauerngehöften keinen wesentlichen Unterschied vom obersächsischen Bauer. Fremdartig sind uns Deutschen nur die Heidedörfer. In Sprey z. B. finden sich Bauernhöfe, die man für Indianerheimstätten halten könnte. Unser letztes Bildchen zeigt noch eines der stattlicheren Güter; daneben giebt es Hütten, deren Dachfirsten eingedrückt sind wie der Rücken einer alten Mähre, deren Fenster verschoben und so klein sind, daß man kaum den Kopf hindurchzustecken vermag, und deren Thüren für ein Zwergengeschlecht eingerichtet zu sein scheinen. Die ganze Giebelbreite mancher Bauernhäuser übersteigt kaum drei Meter. In dieser kümmerlichen Enge der Wohnungen weichen die Sserbjo, wie sich die Wenden selber nennen, von ihren Stammverwandten, den Tschechen, vollständig ab. Die letzteren bauen ihre Bauernhäuser groß und behäbig mit hohen Dächern und tiefen Zimmern, sie wissen sich überhaupt sehr behaglich einzurichten, während der Wende, wenigstens in der Heide, wo doch gar kein Holzmangel ist, sich drückt, bückt und schmiegt, als suche er recht arm, noch ärmer, als er ist, zu erscheinen.

Im Innern der Hütten sieht’s meist etwas freundlicher aus; das gesammte Hausgeräth macht einen bäuerlich alterthümlichen Eindruck, angehaucht von einer kulturgeschichtlichen Patina. Man glaubt in den Schnörkeln an den Enden der Stangen, die um den Ofen laufen, oder an den Bettpfosten uralte Wendengötter zu erblicken. Sehr angenehm fällt die naive Freude an entschiedenen Farben ins Auge.

Ein Viertel vom ganzen Zimmer nimmt der „Kachelke“, der Ofen, ein. Er besteht meist aus farbigen Hohlkacheln, die nicht nur freundliche Wärme, sondern auch gemüthliche Lichter um sich verbreiten. Das haubenförmige, ungeschlachte Ofengebilde macht den Eindruck eines freundlichen Hausgötzen, und so mag er wohl auch den Hausbewohnern erscheinen. Einen „himmlisch schönen“ Platz für die rauhe Winterszeit hat sich der Wende zwischen Ofen und Wand eingerichtet. Hier träumt er auf hölzerner Pritsche, läßt die Katzen um sich schnurren, und darunter schmiegen sich die Jagdhunde. Selbst die Hausfrau, die sonst alle Räume um den Ofen in Beschlag nimmt, läßt diesen Platz unangetastet, er gehört ein für allemal allein dem Hausherrn.

Neben dem Ofen ist der Hauptgegenstand der Zimmereinrichtung das Ehebett, oft buntblumig bezogen und mit Bauernmalereien versehen. Das Bett ist überhaupt ein Stolz der slavischen Hausfrau; in Böhmen sind es wahre bäuerliche Luxusungethüme, die auf den Fremden einen fast beängstigenden Eindruck machen. Ein anderer Stolz der Wendenfrau ist das Tellerbrett. Hier glitzert’s und schimmert’s bunt und anheimelnd von hochrothen Rosen, tiefblauen Vergißmeinnicht, schwefelgelben Primeln, und die Kränze um die Schüsseln sind in einem so fetten Grün gehalten, wie es sonst in der ganzen Heide kaum vorkommt. Der „Spiehel“ (Spiegel) scheint nur um seiner selbst willen da zu sein, er hängt in der Regel so hoch und unbequem, daß niemand ohne einige Mühe sein liebes Ich darin wiederfindet.

In diesen engen niedrigen Räumen haust ein großes gesundes Geschlecht. Man ist oft verwundert, was für schöne Gestalten unter den niedrigen Thüren hervorkriechen, die Frauen stark und breithüftig, die Männer hochschulterig und schlank. Vielleicht verdanken sie das nur dem Festhalten an ihrer alten und gesunden Bauernkost, die in Milchhirse, Hafergrütze, Heidekornbrot und Bohnen besteht. Hier und da sind die Spuren des Branntweintrinkens unter den Männern unverkennbar, es muß aber zu ihrer Ehre gesagt werden, daß sie immer gern zum Bier übergehen, wenn sie wohlhabender geworden sind. Die Armuth zwingt ihnen das billige Genußmittel auf, von dem sie recht wohl wissen, wie sehr es sie schädigt. „Palenz je Walenz“ lautet ein wendisches Sprichwort, das heißt „der Branntwein ist ein Umwerfer“, und damit meint der Wende, daß er nicht nur Menschen, sondern auch „Häuser umwerfe“, ganze Wirthschaften zu Grunde richte.

Die Trachten der Wenden sind sehr vielgestaltig, aber auf eine nähere Beschreibung der einzelnen einzugehen, würde sich kaum lohnen; meist sind sie sehr bunt, für unser nervöses Auge oft schreiend. Die Weiber tragen sich nicht sehr kleidsam, sie verbilden sich durch ihre dicken Bauernröcke. Sehr hübsch aber sehen die Männer um Slepa aus mit ihren weiß eingefaßten langen blauen Röcken.

In demselben Kirchspiel wird die Trauer in einer von der unseren ganz verschiedenen Weise zum Ausdruck gebracht. Die Frauen hüllen sich einschließlich des Kopfes in schneeweiße Gewänder, die bis zur Erde reichen. Nach Verlauf der tiefen Trauer tritt mit einem kurzen weißen Mäntelchen, ähnlich einer spanischen Mantilla, die Halbtrauer ein, und für das Austrauern benutzt man einen breiten weißen Halskragen. Ich sah in Slepa einen schneeweißen Leichenzug, der mich gar seltsam berührte. Ueberhaupt gehört ein Sonntag in dem reinen Wendendorf Slepa (Schleife) als Gast des Pfarrers Hanko Welan zu meinen eigenartigsten Erinnerungen. Eine so farbenstrotzende Kirchengemeinde dürfte in ganz Europa nicht ein zweites Mal zu finden sein.

Unser Bild „Wendische Hochzeitsgesellschaft“ zeigt uns wendisches Bauernvolk aus der reichen Bautzener Gegend und aus einem der sieben Klosterdörfer, die zum Wendenkloster Mariastern gehören. Das Mädchen mit dem Blumenstrauß ist die „Njewesta“, die Braut. Der eigentliche Brautschmuck besteht in zahlreichen Gold- und Silberketten und der „Borta“, der hohen Brautmütze. Der Mann daneben mit dem Bauernhut und der Schärpe ist der „Nowoschnja“, der Bräutigam. Hinter dem Brautpaar steht der „Braschka“, der Hochzeitsbitter mit dem üblichen Dreimaster, und im Hintergrund links die mächtige Bauerngestalt, mit der Doppelschärpe angethan, ist der „Swat“, der Hauptzeuge. Die Frauen und Mädchen mit den weißen Häubchen sind die protestantischen, die mit den schwarzen die katholischen „Druschky“, die Brautjungfern und Zeugen. Das feine seidene Tuch, welches die Brust des Braschka schmückt, wird nach altem Herkommen von den Verlobten als ein Geschenk gegeben, und seine Kostbarkeit stellt eine Art Maßstab für den Reichthum des Brautpaares dar. Das Leben und Treiben auf den wendischen Hochzeiten unterscheidet sich weniger als die Trachten von den deutschen Bauernhochzeiten. Der geladene Gast, oft auch der ungeladene, zahlt an den Hochzeitgeber einen baren Betrag, der seinem Vermögen entspricht, und erkauft sich damit das Recht, möglichst viel zu [867] essen und zu trinken. Der Hochzeitgeber wird damit zum Gastwirth, das Familienfest zum Dorffest auf gemeinschaftliche Kosten, aber mit einem Unternehmer, eben dem Hochzeitgeber. Als eine slavische Besonderheit erschien mir der Gebrauch, daß die junge Frau nach der Hochzeit ihre neue Heimstätte vier Wochen lang nicht verlassen darf – „sonst hält die Ehe nicht“, sagt man.

Wendische Hochzeitsgesellschaft.

Eine slavische Einrichtung sind auch die Singebänke auf den Dorfplätzen der Heidedörfer, wo die jungen Mädchen Sonntag nachmittags nach sonst ganz unbekannten Melodien fromme Lieder singen.

In der Gesichtsbildung ist das slavische Gepräge meist sofort zu erkennen, nur in den halbdeutschen Dörfern mischt sich der obersächsische Typus, der selbst an den slavischen streift, mehr oder weniger stark herein. Gutmüthig sehen die Wenden immer aus, Arbeitsamkeit und Duldsamkeit sind die Aeußerungen dieser guten Seiten ihres Wesens, und die Adelsgeschlechter, die sich zwischen ihnen festsetzten, haben diese Vorzüge recht wohl wahrgenommen.

An ihrer armen Scholle hängen sie mit großer Liebe. Weit fort wandern sie nie gern, meist suchen sie sich Dienste in den umliegenden Städten, und besonders Dresden ist ein Mekka für wendische Dienstboten. Hier können sie wendische Predigten hören, hier treffen sie viele ihres Stammes, und wenn’s noth thut, so können sie rasch wieder daheim sein bei ihren Sanddünen. Alljährlich um die winterliche Sonnenwende findet sich das dienstlose wendische Gesinde an der katholischen Hofkirche in Dresden ein. Es entwickelt sich ein regelrechter Markt mit Agenten, Steigen und Fallen der Löhne. Aber die erste Frage der Dienstsuchenden ist nicht die nach dem Lohne, sondern nach der Entfernung des Gehöfts, wohin sie sich verdingen sollen. Ueber eine halbe Tagereise gehen sie nicht gern von Dresden fort, und gewitzigt fragen sie neuerdings, ob Eisenbahnstunden oder Wegstunden gemeint sind.

Die Zukunft des Völkchens ist leicht vorauszusagen. Die wendische Sprache steht seit undenklichen Zeiten still, sie ist eine Bauernsprache geblieben, die gar keinen Anlaß hatte, neue Begriffe und Wortbildungen in sich aufzunehmen. Alle die neuen Kulturbegriffe, wenn sie überhaupt bis in die Heide vordringen, werden durch die Deutschen vermittelt, und diese bringen gleich die Wörter mit. Selbst ältere Einrichtungen wie solche des Militärwesens, der Gemeindeverwaltung u. a. werden nur mit deutschen Wörtern bezeichnet. Neuerdings hat der Panslavismus von seinen hochgehenden Wogen auch einige kleine Wellen über die Wendei ergossen. Man hat sich in Moskau und Prag des Wendenstammes erinnert und versucht, ihm neue Wörter, namentlich aus dem Tschechischen und Polnischen, zuzuführen und sich den Stamm als einen Vorposten gegen den anstürmenden Westen zu erhalten. Man hat versucht, die tschechischen Druckzeilen, die wie Stacheldraht über das Papier laufen, einzuführen. Aber bis jetzt war der Liebe Müh’ vergebens.

Auf der anderen Seite möchte ich indeß auch vor künstlicher Beschleunigung des Germanisierungsprozesses warnen; er vollzieht sich so harm- und schmerzlos, so von selbst, daß jedes Eingreifen auch in Zukunft überflüssig erscheint. Auch vor Ungeschicklichkeiten sollte man sich mehr hüten. Wie man nur aus einem Dorfe, ich glaube Miworas, „Mühlrose“ und aus Lichan „Leichnam“ machen kann! Ein Dorf Namens „Leichnam!“ Abscheulich!

Also Ruhe und Einsicht auf beiden Seiten! Das Völkchen wird ganz von selbst wie die Nachbarn alle zu einem gut deutschen Volksstamm heranreifen, es wird wohlhabender werden, es wird dem Palenz entsagen, es wird mit der Zeit auch einen leisen Zug von Mißtrauen ablegen. Was es aber nicht ablegen soll, das ist seine Lebenslust, sein Fleiß, seine Treuherzigkeit und seine echt bäuerliche gesunde Naivetät.

Bauerngehöft in Sprey.

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Junge Gäste.

Skizze von Hans Arnold. Mit einem Bild von G. Buchner.

Die Hausfrau saß in der beschaulichen Ruhestimmung der ersten Stunde nach dem Essen in ihrer Fensterecke und strickte. Da wurde die Thür eilig aufgerissen und ihr ältester Sohn, der Untersekundaner Fritz, stürzte, mit dem unverkennbarsten Ausdruck einer großen und reinen Freude in seinen edlen Zügen, in das Zimmer.

„Mutter,“ rief er ihr voll Entzücken entgegen, „der Doktor Schneider hat ein gastrisches Fieber – ist das nicht famos?“

Empört über diese augenscheinliche Herzlosigkeit blickte die Mutter auf.

„Was fällt Dir denn ein?“ fragte sie scharf, „wie kannst Du denn das famos finden?“

Fritz sah etwas beschämt aus.

„Nun,“ meinte er zögernd, „es wird ja wieder besser werden – aber wir haben heut nachmittag frei!“

„Ach so!“ sagte die Hausfrau besänftigt, „na, und was weiter? Da wollt Ihr doch entschieden etwas!“

„Ja!“ gestand Fritz, in dessen Augen es sehr unternehmend blitzte, „Müller und Reimann machen einen Waldspaziergang –“

„Bis wann?“ unterbrach die Mutter kurz.

Ach – ein paar Stunden!“ wich ihr Sohn aus, „und sie wollen mich mitnehmen!“

Die Mutter legte das Strickzeug zusammen.

„Eigentlich ist mir an dem Verkehr mit Reimann nicht viel gelegen,“ sagte sie mit der ihrer Würde zukommenden Zurückhaltung, „er ist mir viel zu erwachsen für Dich!“

Fritz wippte vor Ungeduld mit dem Fuß.

„Was schadet denn das, Mutter? In zwei Jahren bin ich ja ebenso alt!“ vertheidigte er sich mit mehr Wärme als Logik.

„Vorausgesetzt, daß Reimann so lange mit dem Aelterwerden auf Dich wartet!“ bemerkte der eben eingetretene Vater; „um was handelt es sich denn?“

Die Mutter, die in der ganzen Welt eine große Falle zu sehen geneigt war, in welcher man ihren Fritz zu fangen oder zu beschädigen beabsichtigte, theilte die Pläne des Sohnes mit offenkundigem Widerwillen gegen ihre Ausführung dem Vater mit – sie hatte sogar noch die Gefühllosigkeit, an einen Aufsatz zu erinnern, welcher seit Tagen drohend am Familienhimmel schwebte, und die Hauptcharakterzüge des Torquato Tasso „im Unreinen“ zu behandeln hatte. Der Vater aber legte sich ins Mittel, er vermochte sich besser in das Gefühl der freiheitdürstenden, jungen Seele seines Sohnes zu versetzen.

„Laß ihn nur gehen, Mathilde,“ sagte er, „Du kannst ihn doch nicht ewig am Schürzenbändchen hängen haben! Warum sollen die Jungen nicht bei dem himmlischen Frühjahrswetter einen Spaziergang machen?“

Die Mutter fügte sich, wenn auch etwas unwillig, nachdem sie sich erst noch von Fritz „in die rechte Hand“ hatte versprechen lassen, daß er unter keinen Umständen Kahn fahren würde – ein Eid, der um so leichter zu halten war, als das Bächlein, welches den Wald als einziger Wasserreichthum durchrieselte, höchstens eine mäßig breite Zündholzschachtel hätte tragen können.

Selig, die Schülermütze auf dem lockigen Haare, den dargebotenen Ueberzieher mit Entrüstung und Hohnlachen zurückweisend, stand Fritz bald darauf vor der Hausthür, die Freunde erwartend.

Reimann war Primaner – ein in alle Tücken und Gefahren des Lebens eingeweihter, sehr weltmüder Mann von siebzehn Jahren, der geneigt war, bitter über Einbildungen und jugendliche Aufwallungen zu lächeln, und mit den meisten Freuden dieser Erde schon endgültig abgeschlossen hatte, „da der ganze Rummel, in der Nähe betrachtet, doch nur Blech sei!“

Diese Weltanschauung, sowie ein Scheitel über den ganzen Kopf, eine in mehrjährigen Tanzstundenkursen erlangte tiefe Kenntniß des weiblichen Herzens, die ebendaselbst erworbene Fähigkeit, links herum zu walzen und den Hut beim Grüßen nach der Tagesmode mit tiefem, feierlichem Ernst und so langsam abzunehmen, als wenn ein Begräbniß vorbeikäme, sicherten Reimann die unbedingteste, widerspruchloseste Achtung seiner Gefährten.

Müller und Fritz fühlten sich demgemäß durch die Aufforderung dieses jungen Weltweisen, mit ihm spazieren zu gehen, auch namenlos geschmeichelt. Beide waren trotz ihrer fünfzehn Jahre überraschenderweise kindlicher Auffassung noch nicht so ganz fern und wären nicht abgeneigt gewesen, nachdem man das Menschengewühl verlassen hatte, sich zu fangen oder zu prügeln – aber wer hätte davon vor Reimann anfangen mögen! So schritten denn die drei, rauchend und die tiefsten Fragen der Menschheit mit einer wahrhaft erquickenden Leichtigkeit behandelnd und lösend, durch den frühlingsgrünen Wald.

Uebrigens rauchten nur Fritz und Müller – Reimann that es „nicht mehr“, wie er sagte, als wenn ihm dergleichen durch jahrelanges, gewohnheitsmäßiges Betreiben schon überdrüssig geworden wäre – in Wirklichkeit, weil ein einmaliger Versuch mit einer entsetzlichen Krankheitskatastrophe für ihn geendet, die der Vater Reimann durch eine wohlgezielte Ohrfeige noch gefährlich verschärft hatte.

Daß übrigens der freie Schultag, der köstlich blaue Himmel und die fröhliche Frühlingsluft die erstorbene Lebenslust bei Reimann soweit wieder anzufachen vermochte, daß er, auf einer Waldlichtung angelangt, sich ohne vorherige Herausforderung auf Müller stürzte und mit ihm einen jauchzenden, quiekenden und von beiderseitigem höchsten Genusse begleiteten Ringkampf begann, verdient erwähnt zu werden! Fritz betheiligte sich nach Kräften durch Hiebe auf den jeweilig siegreich scheinenden Kämpfer und durch die anspruchslose flehentliche Bitte: „Haut mich doch auch!“ Ich theile übrigens diesen ganzen Zwischenfall nur im geheimen mit, da Reimann es doch nur den jüngeren Kameraden „zuliebe“ gethan hatte! Selbstverständlich!

Die Unterhaltung kam auf diesem Wege in ein lebhafteres Tempo und der Spaziergang wurde durch freundschaftliches Schubsen und Puffen nach rechts und links und durch gegenseitiges Rollen in zum Glück rücksichtsvoll ausgetrocknete Gräben gewürzt, während einige zoologische Bezeichnungen deutlich bekundeten, daß man aus den Regionen der höchsten philosophischen Probleme wieder in die Gymnasialluft niederzusteigen begann.

Man gelangte bei all diesen Erheiterungen ziemlich tief in den Wald hinein, und allmählich begann trotz aller Freude an der schönen Natur doch auch die materielle Seite des Lebens ihr Anrecht an die jungen Männer geltend zu machen. Nachdem Fritz als der jüngste und unbesonnenste sich zu einem „infamen Hunger“ bekannt hatte, erklärten auch Müller und Reimann, daß man sich wohl jetzt nach einer „Kneipe“ umsehen dürfte.

„Soviel ich weiß,“ sagte der Senior unserer Gesellschaft, „giebt’s hier irgendwo ein Forsthaus mit Wirthschaft – da wird man uns für Geld und gute Worte schon etwas vorsetzen!“

Fritzens Gesicht wurde bei diesem Vorschag merklich lang! Seine Barschaft war infolge eines verlorenen und auf väterlichen Befehl „vom Eignen“ wiedergekauften Zirkels zu sehr betrübender Kleinheit zusammengeschmolzen, und sich von den Gefährten freihalten zu lassen, wäre ihm doch äußerst „peinlich“ gewesen! Er beherrschte sich aber wacker und hörte mit dem Gesicht eines vollendeten Feinschmeckers den Berathungen über das zu, was man im gegebenen Fall „futtern“ würde.

Das Forsthaus war bald erreicht. Es lag idyllisch mitten im tiefen Walde und bot mit seinem schrägen, moosbewachsenen Dach einen hübschen Anblick. Sehr erhöht wurde dieser Eindruck noch dadurch, daß in der halbgeöffneten Thür, vom Sonnenschein umflimmert, ein bildhübsches, blondes Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren saß, das den Gruß der drei Jünglinge mit einem freundlichen Nicken erwiderte und durch einen einzigen Blick ihrer blauen Augen Reimanns im ganzen gegen Damen sehr unempfindliches Herz in die hellsten Flammen setzte. Auch die beiden andern fühlten sich angenehm berührt durch den Anblick der allerliebsten Waldnymphe, drückten aber ihre Empfindungen nur durch ein paar stumme Püffe aus, die sie sich gegenseitig verabfolgten, während Reimann mit der ihm eigenen Sicherheit auf das Försterstöchterlein lossteuerte.

„Mein Fräulein, würden Sie drei ermüdeten Wanderern vielleicht eine Stärkung angedeihen lassen?“ frug er in musterhaft gewählter Ausdrucksweise. „Was könnten wir hier wohl haben?“

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Junge Gäste.
Nach einem Gemälde von G. Buchner.

[870] Fritz und Müller sahen sich mit wortloser Bewunderung an – dieser Reimann! Wie er sich wieder zu benehmen wußte! Großartig!

Die keine Waldfee erhob sich und öffnete die Thür.

„Kommen Sie nur herein!“ sagte sie, und als die drei zögerten, fügte sie mit einem sehr niedlichen Anstrich von mütterlicher Fürsorge hinzu: „Nein, nein, drinnen setze ich Ihnen etwas vor, hier zieht es zu sehr!“

Sie führte unsere drei über diese Wendung der Sache höchst erfreuten Freunde in die von Alter und Rauch geschwärzte und trotz der Frühjahrsluft draußen noch schön geheizte Wirthsstube. Bald hatte das flinke Mädchen ein blüthenweißes Tuch über den Tisch gedeckt und vor jeden ihrer Gäste eine Tasse hingestellt, Fritz bat allerdings um Bier – er trank zu Hause noch Milch und fühlte sich infolgedessen moralisch verpflichtet, auf Ausflügen möglichst nur Dinge zu genießen, die diesem kindlichen Getränk gerade entgegengesetzt waren! Ein herrlicher, brauner Napfkuchen wurde auch hereingetragen, der eben frisch gebacken zu sein schien, und unsere drei Helden ließen sich, ihrem Alter und Stand als ewig hungrige Schüler gemäß, nicht zweimal nöthigen und hieben tüchtig ein. Doch nein – Reimann nicht! Reimann war so plötzlich, so gänzlich und so rettungslos in sein reizendes Gegenüber verliebt, wie man dergleichen eben nur mit siebzehn Jahren fertig bekommt!

Während die kleine Schönheit eifrig an einer Näharbeit stichelte und in munterster Weise mit ihren jungen Gästen scherzte, schmolz der Primaner wie ein Schneeball an der Sonne! Seine sonst sehr kühl und verächtlich dreinblickenden Augen nahmen einen so sentimentalen Aufschlag an, daß sie beinah in Gefahr gerathen wären, nie wieder in ihre normale Lage zu kommen, und er erröthete ohne irgend welche ersichtliche Veranlassung wiederholt bis zur dringendsten Gefahr des Nasenblutens. Und als Fritz und Müller, entschlossen, den Becher dieses aufsichtslosen Nachmittags bis auf die Hefe auszukosten, abermals nach ihrem Rauchzeug griffen und das Försterstöchterlein Reimann fragte, ob sie ihm vielleicht auch eine Cigarre bringen dürfe, da war Reimann, wie wir wissen, in der glücklichen Lage, ohne besondere Seelenkämpfe sich die großartige Bemerkung zu gestatten: „Meinen besten Dank, mein Fräulein – ich rauche nicht in Damengesellschaft!“ Diese Feinheit stellte allerdings seine beiden Gefährten auf einen recht tiefen Standpunkt der gesellschaftlichen Bildung, aber vorläufig überwog die Freude am Rauchen noch dieses Bedenken, und sie pafften mühsam und erfreut weiter, während sie die Kurmacherei ihres weltgewandten Freundes mit gespitzten Ohren und dem innerlichen festen Vorsatz anhörten, bei erster passender Gelegenheit eine der aufgeschnappten vornehmen Redensarten auch an den Mann – oder besser an die Dame zu bringen!

Ob der sehr gute und starke Kaffee dem biederen Reimann in den Kopf gestiegen war – oder ob Amor allein die Sache zu verantworten hatte – das wird ewig unaufgeklärt bleiben! Jedenfalls begann er plötzlich in einen sehr ernsten Ton zu verfallen, seine Studien – er ließ es mit großer Schlauheit unsicher, ob er Schul- oder Universitätsstudien betrieb – als nahezu beendet anzudeuten, und schließlich richtete er ziemlich unverblümt die Frage an sein reizendes, blondes Gegenüber, ob sie nicht geneigt sein würde, auf einen so wohlsituierten jungen Mann wie ihn ein paar Jahre in Treue zu warten.

Die kleine Schönheit sah ihn zunächst mit großen Augen an und hob dann ihre Näherei einen Augenblick so hoch, daß sie ihr schelmisches Lächeln und die dabei zu Tage kommenden allerliebsten Grübchen erfolgreich vor den Anwesenden verstecken konnte. Dann legte sie ihre Arbeit zusammen, sah mit einer sittsamen, ernsten Miene, die sie sehr niedlich kleidete, ihren jugendlichen Verehrer an, stand auf und sagte: „Wenn Sie einen Augenblick warten wollen, junger Herr, dann will ich meinen Vater rufen – wenn der nichts dagegen hat!“ –

Und damit ging sie aus dem Zimmer und ließ unsere drei Freunde in einer höchst unangenehmen Verfassung am Kaffeetisch zurück.

Die beiden Jüngeren, die ihr Vorbild bei seiner dreisten Liebeserklärung mit offenem Munde angestarrt hatten, bemerkten zu ihrer Bestürzung, daß die erwartete frohe Aussicht auf den väterlichen Segen den armen Reimann in einen wahrhaft entsetzlichen Zustand angstvoller Bestürzung versetzte.

Er versuchte zwar noch den Schein seiner früheren Sicherheit zu retten, indem er mit einem etwas verkümmerten Lachversuch vor sich hinbrummte: „Das ist nicht übel!“ Aber er täuschte weder sich noch seine Freunde.

Endlich brach Fritz das unbehagliche Schweigen. „Kinder!“ begann er leise und sich vorsichtig nach der Thür umsehend, „wollen wir nicht lieber – ?“

„Ja!“ fiel Müller hastig ein, „wollen wir nicht nach Hause gehen? Denke einmal, Reimann, wenn der Alte jetzt kommt!“

„Wenn er grob wird!“ stimmte der zitternde Reimann bei, dessen Kühnheit, sonstigen Liebeserfahrungen entgegengesetzt, vor dem unerwarteten Erfolg in nichts zusammensank.

„Das Schlauste ist, wir gehen!“ setzte er mit etwas erzwungener Gleichgültigkeit hinzu, „es scheint ja ohnehin niemand zu kommen – einerlei wäre mir’s übrigens auch, wenn jemand käme!“

In diesem Augenblick klappte im obern Stockwerk eine Thür, und in groteskem Widerspruch mit seiner soeben geäußerten Ansicht war Reimann blitzschnell mit einem Satz, der seine Befähigung zum Vorturner ewig außer Frage stellte, durch das Fenster hinaus ins Freie gesprungen, wo er so eilfertig die Flucht ergriff, als wenn der Förster mit einem handgreiflichen Glückwunsch ihm schon auf den Fersen wäre!

Die beiden andern folgten ihm stumm und ebenso eilig, – ohne zurück zu sehen, raste das Kleeblatt den holperigen Waldweg entlang und hielt erst in seinem athemlosen Laufe an, als man auch nicht mehr die entfernteste Spur von dem Forsthaus oder auch nur von dem Rauch sah, der über seinem gastfreundlichen Dach sich gegen den Frühlingshimmel kräuselte.

Da standen nun unsere drei Helden, und keiner wagte den andern anzusehen. Fritz und Müller rangen mit den widerstreitendsten Empfindungen und kauten in ihrer Verlegenheit so eifrig junges Laub, als wenn sie keine Sekundaner, sondern – etwas anderes wären!

Reimann fühlte die ganze Schwere des Augenblicks. Er konnte jetzt und hier alle Autorität, allen weltmännischen Ruf in den Augen seiner Genossen einbüßen – hier hieß es einen raschen Entschluß fassen – und er faßte ihn!

„Kinder!“ begann er mit großer Gelassenheit und strich sich das vom Laufe verwirrte Haar aus der Stirn, „das war ja eine tolle Geschichte!“

„Du hattest schöne Angst vor dem Alten!“ bemerke Müller als erstes Zeichen erwachender Rebellion.

„Donnerwetter ja!“ bekräftigte Fritz, „ich dachte aber auch, er würde Dich durchhauen!“

Reimann zuckte höhnisch die Achseln.

„Davor dachtet Ihr, hätte ich Angst gehabt? Blech! Ich merkte nur, daß das Mädel mehr wie gerne ja gesagt hätte – na, und der Alte hätte wohl auch zugegriffen – und so hatte ich es nicht gemeint!“

„Aber –“ begann Müller unüberzeugt.

„Glaubt mir!“ fuhr Reimann nachdrücklich fort, „so wird man geangelt! Und ich hätte dann meine ganze Carriere verdorben – hätte womöglich von der Schule abgehen müssen!“

„Ob Du ihr wirklich so gut gefallen hast?“ erkundigte sich Müller noch immer mit einigen ruchlosen Zweifeln.

Reimann lächelte siegesgewiß.

„Wenn Du das nicht gemerkt hast, Müller – weg war sie – einfach weg! Ihr hörtet doch, sie wollte bloß den Alten um Erlaubniß fragen!“

Diese letztere Thatsache war ja so unleugbar, daß keiner der Genossen sie anzweifeln konnte, und Reimanns Stellung den andern gegenüber schien durch das Abenteuer eher noch an Festigkeit gewonnen zu haben.

Er gratulierte sich innerlich aufs lebhafteste zu seinem klugen Schachzug und fing bereits an, selbst fest überzeugt zu sein, daß er im Forsthaus ein gebrochenes Herz zurückgelassen hätte – für seine siebzehn Jahr doch eine ganz gehörige Leistung!

Mit hochgehobenem Haupt ging er in diesem Gefühl vor den Gefährten her – seinem Selbstbewußtsein war die heutige Krisis anscheinend sehr gut bekommen.

Da theilten sich hinter ihnen die Büsche, und ein hübscher, junger Forstmann mit einem dichten, blonden Schnurrbart, der wühtenden Neid in der Brust der drei Schüler erregte, kam pfeifend, von seinen Hunden begleitet, des Weges.

Er begrüßte die drei Jünglinge sehr freundlich, aber mit einem gewissen überlegenen Lächeln, welches Reimann schon dazu veranlaßte, innerlich zu erwägen, ob er den Kerl nicht „verhauen“ sollte!

[871] „Haben Sie denn auch ordentlich satt bekommen in der Försterei?“ fragte der neue Ankömmling, Reimann mit einem durchbohrenden, aber dabei sehr gutmüthigen, humoristischen Blick betrachtend. „Meine Braut hatte heute Kuchen gebacken – da haben Sie ’s gut getroffen! Sie hätten nur nicht so eilig sein sollen! Na – auf ein ander Mal, junger Herr,“ fuhr er fort, immer noch zu Reimann gewendet, „und wenn Sie wieder einmal vorsprechen, kriegen Sie wieder Kuchen! Ich bin nicht eifersüchtig – nicht mal auf einen so hübschen Schwarzkopf, wie Sie einer sind! Also – Glück auf den Weg!“

Und mit einem wahrhaft satanischen Gelächter, welches ihn als den Eingeweihtesten der Eingeweihten kennzeichnete, nickte der schmucke, junge Mann dem vernichteten Reimann zu und verschwand, wie er gekommen war.

Reimann aber brauchte wenigstens zwanzig Minuten, um sich so weit zu erholen, daß er in tiefster Demuth und unter heiliger Zusicherung seiner sämmtlichen alten Jahrgänge von „Jugendfreund“ und „Guter Kamerad“ seine beiden vormaligen Anbeter auf Stillschweigen vereidigen konnte. Ich muß übrigens hier zu ihrer Ehre bekennen, daß sowohl Fritz wie Müller das tiefste Stillschweigen beobachtet haben – mir ist die Geschichte ganz zufällig bekannt geworden!

Daß Reimanns Ansehen und seine Weltanschauung bei den beiden anderen aber etwas in Mißkredit gekommen sind, das kann ich nicht leugnen – es war auch nicht anders zu erwarten!

Er selbst – Reimann – hat übrigens an seinem ersten Versuch als Don Juan so wenig Geschmack gefunden, daß er vor dem Abiturientenexamen gewiß keinen zweiten machen wird, und bis dahin hat er noch lange Zeit! Eigentlich ist das auch recht gut!




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Die Gicht.

Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch.

„Das Reißen in den Füßen –
Es kömmt vom Lebengenießen!“

So reimt ein altdeutscher Spruch dem vom Zipperlein Geplagten vor, und er hat mit seiner Behauptung zum Theile recht; aber nur zum Theile, wie auch der landläufige Satz, daß die Gicht eine Krankheit der Reichen sei, nur in beschränktem Maße zutrifft. Allerdings ist es eine schon seit alten Zeiten bekannte und feststehende Thatsache, daß Unmaß im Essen und Trinken, Trägheit in der Bewegung und üppige Lebensweise die Entstehung und Ausbildung jener Veränderung des normalen Stoffwechsels im Körper fördert, welche als Gicht bezeichnet wird. Das alte sittenstrenge, ernste Rom unter der zuchthaltenden Republik kannte die Gicht nur wenig; als aber mit dem Verfalle der römischen Sitten der Luxus, die Schlemmerei, der Sinnentaumel ihre Orgien feierten, da gehörte die Gicht zu den häufig beobachteten Krankheiten, und zur Zeit des Kaiserreiches war das damalige Modebad Bajae ebenso stark von gichtbrüchigen Feldherren wie von leichtlebigen Stutzern besucht.

Daß die Gicht nicht bloß die Reichen mehr als die Armen, sondern daß sie auch das männliche Geschlecht weitaus mehr als das weibliche trifft, mag ja gleichfalls darin seinen Grund haben, daß Trinken vorzugsweise eine männliche – Tugend ist. Und wenn darauf hingewiesen wird, daß ganz besonders häufig Männer der hohen Politik und der Wissenschaft die Opfer gichtischer Erkrankung werden, ja wenn ein berühmter Arzt des vorigen Jahrhunderts den Ausspruch thut, daß die Gicht mehr bei Weisen als bei Dummköpfen vorkommt, so läßt sich wohl die Erklärung darin finden, daß Männer von hervorragender gesellschaftlicher Stellung wie solche von wissenschaftlicher Bedeutung oft Gelegenheit zu diätetischen Sünden finden, die Staatsmänner in Gesellschaften bei reichbesetzter Tafel, die Gelehrten am Schreibtisch in der Studierstube, insofern sie nämlich viel zu viel daran sitzen.

Aber nicht bloß die „oberen Zehntausend“ der Gesellschaft werden von der Gicht befallen, sondern auch einfache Handarbeiter: fleißige, nüchtern lebende, körperlich thätige Menschen werden nicht selten gichtbrüchig. Ueppige Lebensweise, allzu reichlicher Genuß von Fleischkost, Uebermaß von geistigen Getränken sind Einflüsse, welche der Entwicklung von Gicht Vorschub leisten, aber diese Krankheit wird auch oft in den Familien durch Vererbung übertragen, oder sie gelangt durch äußere Veranlassungen wie Erkältung, jähen Temperaturwechsel, feuchtes Klima, gewisse Beschäftigungen (namentlich solche, die viel mit Blei in Berührung bringen) zur Entstehung. Wenn die Gicht in England bekanntermaßen außerordentlich verbreitet ist, so kann hierfür nicht allein der dort so häufige Genuß schwerer alkoholreicher Weine wie Madeira, Portwein, Xeres und schwerer Biere wie Ale und Porter verantwortlich gemacht werden, sondern die klimatischen Verhältnisse tragen gewiß auch ihren Theil an der Schuld. Wie wäre es sonst verständlich, daß in Polen, Rußland, Schweden und Dänemark, in Ländern, wo doch gewiß viel Schnaps und Alkohol verbraucht wird, die Gicht selten auftritt?

Die Gicht ist eine Stoffwechselerkrankung, deren Wesen noch nicht vollkommen aufgeklärt ist, die man aber in ihrem Grunde wohl darauf zurückführen muß, daß die Harnsäure, welche im Körper entsteht, sich in diesem anhäuft und zu Ablagerungen an den Gelenken und andern Organen Anlaß giebt. Ob es dabei eine vermehrte Bildung von Harnsäure im Blute oder eine verminderte Ausscheidung derselben durch die Nieren ist, was die Entstehung der Gichtanfälle veranlaßt, ist noch nicht entschieden. Selbst der Thierversuch, welcher an den durch reichliche Harnsäureerzeugung ausgezeichneten Vögeln und Schlangen angestellt wurde, hat keine endgültige Lösung der Frage gebracht. Wir wissen nur, daß die Gicht eine schwere allgemeine Erkrankung ist, bei welcher der normale Stoffwechsel bedeutende Veränderungen erleidet und die Ansammlung von Stoffen, welche Auswürflinge des Körpers sind, begünstigt wird.

Bei diesem Leiden werden fast alle Theile des Körpers ergriffen, jedoch nicht mit einem Schlage, sondern in mannigfacher Reihenfolge, mit wechselnder Abstufung, zu verschiedenen Zeiten. So spricht man von einer akuten, chronischen, inneren Gicht, von örtlicher, versteckter, zurückgetretener gichtischer Erkrankung, von Gelenkgicht, Nierengicht, Herzgicht etc.

Das Charakteristische, auch dem Laien Auffallende ist das Bild der Gichtanfälle, welches sich jedem, der es einmal gesehen oder gar an sich selbst beobachtet hat, tief einprägt. Aber schon bevor es zu diesen Anfällen kommt, bieten die meisten Gichtischen, nämlich alle diejenigen, bei denen die Gichtanlage auf üppiger Lebensweise beruht, in ihrer äußeren Erscheinung und in ihrem Befinden gewisse eigenthümliche Züge. Sie sind gewöhnlich auf der Höhe der Lebensjahre fettleibig geworden; sie haben ein blühendes, scheinbar von Gesundheit strotzendes Aussehen; das Gesicht ist auffallend geröthet, und zuweilen verräth die rothe, mit bläulichen Gefäßen durchzogene Nase, daß sie zu tief und zu oft ins Weinglas gesenkt worden ist. Der Herzstoß ist kräftig, der Puls voll, oft gespannt, die Venen sind strotzend. Im Unterleibe geben sich Erscheinungen von Blutstockung kund (sogenanntes Hämorrhoidalleiden, goldene Ader). Bei stärkeren Muskelanstrengungen, längerem Gehen, Treppensteigen tritt leicht Kurzathmigkeit und Brustbeklemmung ein. Die Verdauung ist oft gestört, nach dem Essen tritt ein Gefühl von Unbehagen ein, zuweilen Sodbrennen, saures Aufstoßen, Gasentwicklung im Magen und in den Gedärmen, Trägheit in der Darmthätigkeit. Unruhiger, von schweren, beängstigenden Träumen gestörter Schlaf, Angstgefühl und Beengung, Herzklopfen und starke Schweiße sind schließlich einige weitere unangenehme Erscheinungen, welche dem Gichtkandidaten die Mahnung geben, daß eine Aenderung der Lebensweise dringend geboten ist, wenn nicht die Katastrophe plötzlich hereinbrechen soll.

Denn plötzlich, ganz unerwartet tritt gewöhnlich der eigentliche Gichtanfall ein, wenn seine Vorboten keine Beachtung, seine Vorzeichen keine Würdigung gefunden haben. Arglos, ohne eine Ahnung von den bevorstehenden stürmischen Scenen, legt sich der scheinbar „blühend Gesunde“ zu Bett – und im Schlafe wird er räuberisch von dem im Dunkel der Nacht heranschleichenden Unhold überrumpelt. Mit einem Schmerzensschrei fährt er vom Lager empor. Ein heftiger brennender oder bohrender [872] Schmerz, zumeist im Gelenke der großen Fußzehe oder in einem andern Fuß- oder Zehengelenke, weckt ihn aus dem Schlafe und steigert sich rasch. Wie mit einer glühenden Zange gepackt, windet sich der Kranke unter dem oft geradezu unerträglichen Schmerze, schreit und jammert, wirft sich im Bette herum, zittert und bebt vor Weh am ganzen Körper. Das betroffene Gelenk ist geschwollen, die Haut darüber geröthet, gespannt und glänzend, die leiseste Berührung desselben, der geringste Druck, schon die leichte Last der Bettdecke steigert die Qual, welche so bedeutend ist, daß selbst ruhige phlegmatische Menschen ganz außer sich gerathen. Starkes Fieber, heftiger Durst, aufgeregter Puls geben dem Krankheitsbilde eine ernste Färbung, und erst in den Morgenstunden tritt einigermaßen Erleichterung ein. Die Schmerzen verschwinden nicht, aber sie werden erträglicher, und der folgende Tag verläuft ruhiger; nur der bedeutend geschwollene, rothe Ballen der kranken Zehe, die Schwellung des ganzen Beines mahnen daran, daß noch nicht alles überstanden ist. In der That – mit Anbruch der Nacht wiederholt sich die Schreckensscene, bis wiederum das Morgengrauen Linderung bringt. Noch mehrere solche böse Nächte folgen einander, geschieden durch ziemlich leidliche Tage, dann fühlt sich der Kranke besser, vielleicht zeitweise ganz wohl. Das Fieber hört auf, der Schmerz nimmt ab, die geschwollene und geröthete Haut schuppt sich. Der so schwer Heimgesuchte athmet wieder frei auf und – vergißt.

Indessen, der erste Anfall bleibt höchst selten der letzte. Dafür sorgt nicht nur die gichtische Anlage, sondern der Gichtkranke selbst. Hat er die Vorläufer der Krankheit nicht beachtet, so gedenkt er des „Zipperleins“ selbst auch nicht mehr, sobald das „Zippern“, das Zucken in dem Fuße aufgehört hat. Die alte schädliche, aber liebgewordene Lebensführung wird wieder aufgenommen und die vom Arzte vorgeschriebene Diät beiseite gesetzt. Allein pünktlich nach einem Jahre stellt sich der vergessene, unliebsame Gast wieder ein, und dem neuen Anfalle folgen in kürzeren oder längeren Zwischenräumen andere, welche zuweilen mehrere Gelenke ergreifen, sodaß der Kranke vollständig überwältigt wird und, jeder Bewegung unfähig, ans Bett gefesselt bleibt. Das beginnende Frühjahr und der endende Herbst sind die bevorzugten Jahreszeiten, in denen zumeist die Gichtrückfälle eintreten, in immer kürzeren Pausen; nur der Sommer bringt einige Zeit der Erholung und Befreiung.

Hat die Gicht den chronischen oder dauernden Charakter angenommen, dann sind die schmerzhaften Erscheinungen weder so heftig noch so regelmäßig mehr wie früher; die Anfälle verlieren an Schärfe, die Geschwulst und die Röthe an den betroffenen Gelenken entwickeln sich langsamer – aber damit ist nichts besser geworden. Im Gegentheile, das Allgemeinbefinden und das örtliche Leiden verschlimmern sich. Die Geschwulst in den Gelenken verschwindet nicht mehr nach dem Anfalle, sondern sie bleibt zurück und nimmt eine andere Gestaltung an. In der weichen, teigigen Anschwellung tauchen verschiedene feste Körperchen auf, und es kommt zur Bildung der harten Gichtknoten, welche die Gelenke schmerzhaft, schwer beweglich machen und ihre Gestalt verkrüppeln. So werden außer den Fußgelenken die Handgelenke, die Kniee, die Hüft-, Ellbogen-, Schulter- und Wirbelgelenke betroffen, und das Ende ist eine allgemeine Steifigkeit, welche nicht nur die Arbeitsfähigkeit und das Bewegungsvermögen des unglücklichen Opfers beeinträchtigt oder gänzlich aufhebt, sondern dieses auch äußerlich in einen Krüppel verwandelt. Welch elender Anblick, wenn aus dem aufrecht und stolz einherschreitenden Lebemann von ehemals ein auf Stöcke sich stützender, gebückten Ganges mühsam einherschleichender Siecher geworden ist!

Mit diesen äußeren Veränderungen verbindet sich eine Verschlechterung der Ernährung und des Gesammtbefindens. Die Körperfülle, welche durch das Wohlleben entstanden war, ist geschwunden, das reichliche Fettpolster verloren gegangen; die blühende Farbe des Gesichtes hat einer fahlen Blässe Platz gemacht; die Muskelkraft ist rasch erschlafft; eine allgemeine Schwäche giebt sich kund und statt froher übermüthiger Laune, wie sie der Wein und der Lebensgenuß erzeugte. herrscht Mißstimmung, Unmuth, Reizbarkeit und Ueberdruß. Störungen des Blutkreislaufes, Beeinträchtigung der Verdauung, ein schleichendes Fieber tragen weiter dazu bei, die Kräfte des Organismus zu mindern, seine Widerstandsfähigkeit zu untergraben. Er ist ein recht unglücklicher, bemitleidenswerther Mensch, der Gichtbrüchige mit seinen mannigfachen Qualen, und es ist ein herzlich schlechter Trost für ihn, wenn man ihm sagt, daß er mit all seinen Leiden ein hohes Lebensalter erreichen kann.

Weitaus tröstlicher ist der Gedanke, daß es wenige Krankheiten giebt, bei denen eine planmäßig geregelte, zielbewußt dem Einzelfalle angepaßte Diät so günstige Ergebnisse zeitigt, wie dies beim Beginne des gichtischen Leidens möglich ist, und daß hier die Willenskraft des Kranken lohnende Erfolge zu erreichen vermag. Mehr als alle Heilmittel aus der Apotheke bewirkt hier die genaue Vorschrift und das haarscharfe Einhalten vernunftgemäßer Lebensweise, mehr als die lateinische Küche bringt der streng angeordnete Speisezettel zu Wege.

Da der weitaus größte Theil der Gichtischen sein Uebel sich dadurch zugezogen hat, daß er, um mich gelinde auszudrücken, ein Mißverhältniß zwischen Nahrungszufuhr und Stoffverbrauch bestehen ließ, sei es, indem er zu viel, zu üppig, zu reichlich sich nährte, oder daß er zu wenig Bewegung und Muskelthätigkeit entfaltete – so ist es vornehmstes und wichtigstes Gebot kluger Vorsicht, bei den ersten Anzeichen des Zipperleins auf einen Ausgleich jenes Mißverhältnisses hinzuwirken, die Zufuhr möglichst einzuschränken, den Verbrauch angemessen zu steigern. Nicht nur der Gichtkranke, sondern jeder zur Gicht Geneigte, erblich mit Gichtanlage Behaftete, muß Mäßigkeit als Losung auf die Fahne seiner Lebensführung schreiben.

Jener englische Arzt, welcher seinen durch Wohlleben gichtkrank gewordenen Patienten den Rath gab, sie möchten, wenn sie sich wohl befinden wollten, für ihren täglichen Lebensbedarf nur einen Schilling (eine Mark) ausgeben und zwar einen solchen, den sie sich selbst durch körperliche Arbeit verdient hätten, hat so ziemlich das Richtige getroffen. Indeß ist es weder nöthig, noch auch nützlich, daß der Gichtkranke von einem Extrem ins andere springt, von einer alle Genüsse in vollen Zügen schlürfenden Lebensweise plötzlich zu den härtesten Entbehrungen übergeht. Man muß nicht zu herbe und zu schwer durchführbare Prüfungen auferlegen.

Die Ernährung muß nach solchen Grundsätzen geregelt werden, daß die Säurebildung in den Körpersäften möglichst gemindert, die Ausscheidung der Harnsäure dagegen thunlichst gefördert und beschleunigt werde. Es ist aber durch physiologische Beobachtungen festgestellt, daß reichliche stickstoffhaltige Nahrung, träge Lebensweise und Mangel an körperlicher Bewegung die Harnsäureanhäufung im Körper steigert.

Jedes Uebermaß der Nahrungsmittel ist darum zu meiden und nur so viel zu gestatten, als der einzelne nach seiner Körperbeschaffenheit, seiner Größe, seinem Alter und seiner Beschäftigung für die Erhaltung des Stoffbestandes bedarf. Der Arzt soll, unter Berücksichtigung der Einzelverhältnisse, dem Gichtischen genau vorschreiben, wie viel er essen darf. Aber auch genau, was. Die Kost soll eine gemischte sein, aus thierischen und pflanzlichen Speisen zusammengesetzt, jedoch mit Vorwiegen der letzteren. Der Genuß von Fleisch, Eiern, Milch und Fetten braucht nicht, wie manche Aerzte dies verlangen, gänzlich vermieden, er soll nur eingeschränkt werden. Wenn freilich die Ernährung bei Gichtischen gelitten hat und Siechthum sich kund zu geben beginnt, dann ist gerade eine ausgiebige Zufuhr von Eiweißstoffen, besonders von Fleisch nothwendig. Grüne Gemüse, besonders Spinat, Spargel, Wurzelgemüse, Salat, sowie frische Früchte, welche an pflanzensauren Alkalien reich sind, wie z. B. Kirschen und Erdbeeren, sind sehr empfehlenswerth, da diese pflanzlichen Nahrungsmittel, wie die Erfahrungen an den Pflanzenfressern erweisen, die Säfte alkalisch machen und dadurch die Harnsäure in das günstigste Lösungsverhältniß bringen. Hingegen sind Kohlenhydrate, stärkemehl- und zuckerhaltige Stoffe, also besonders Mehlspeisen, Kartoffeln, Süßigkeiten, vom Speisezettel der Gichtischen zu verbannen, weil dieselben eine starke Säurebildung im Magen und im Darme befördern.

Von Wichtigkeit ist die strenge Enthaltsamkeit gegenüber alkoholhaltigen Getränken. So schwer es den meisten Gichtkranken fallen mag, sie dürfen durchaus keinen Wein und kein Bier trinken. Diejenigen, welche außerordentlich viel von diesen Getränken zu sich zu nehmen pflegten, müssen sich durch allmähliche Verminderung der Menge davon entwöhnen – aber dann muß das Verbot strenge durchgeführt und unbeugsam aufrecht erhalten werden. Da wir alle schwache Menschen sind, welche der Versuchung nur zu leicht unterliegen, so ist es besser, dieser aus dem Wege zu gehen, und darum soll jeder Gichtische das Gasthaus und die [873] Kneipe meiden, den Festschmäusen und Tafelfeiern sorgfältig ausweichen. Eine einzige Abirrung von dem Pfade der Mäßigkeit, welche hier die größte Tugend ist, hat leicht die bittersten Folgen. Es mag als Aufmunterung für schwankende Naturen hier noch die Thatsache hervorgehoben werden, daß das Auftreten von Gicht bei Personen, welche weder Wein noch Bier trinken, zu den größten Seltenheiten zählt.

Aehnlich wie der Genuß von Wein und Bier wirkt auch der von Kaffee und Thee auf den Stoffwechsel insofern ungünstig ein, als diese Getränke den Stoffverbrauch verlangsamen. Der Gichtkranke soll darum nur wenig Kaffee und Thee und dann nur in recht verdünntem Zustande trinken. Nur wo Schwächeerscheinungen auftreten, Reizmittel geboten erscheinen, wird man auch bei Gichtkranken starken Kaffee anwenden, aber nur als Arzneimittel, ebenso unter solchen Verhältnissen einen schweren Wein wie Portwein, Champagner, oder ein starkes Alkoholgetränk wie Cognak, Arrak, Rum. Doch ist es Sache des Arztes, dies zu verordnen.

Ein Getränk, vor welchem die meisten an Gicht leidenden Genußmenschen eine gewisse Scheu haben, ist ihnen besonders zuträglich, nämlich ein gutes, reines Trinkwasser. Durch vermehrtes Wassertrinken wird der Stoffumsatz im Körper beschleunigt, der Harnstoff in größeren Mengen ausgeschieden, der Verbrauch der Körperbestandtheile vermehrt und so die Bekämpfung der Gichtanlage wesentlich unterstützt. Noch bedeutsamer ist die Wirkung jener Mineralwässer, welche reich an Alkalien, besonders an kohlensaurem Natron, sind, Bestandtheilen, von denen wir wissen, daß sie die Ausscheidung der Harnsäure bedeutend fördern. Solche alkalische Säuerlinge wie das Wasser von Bilin, Fachingen, Gießhübel, Krondorf sollte der Gichtkranke jahraus jahrein trinken, um stetig und allmählich auf beschleunigte Ausscheidung der Harnsäuremassen zu wirken. Leider haben diese Tafelwässer noch immer den einen Uebelstand, daß sie zu theuer sind, als daß sich auch der minder Bemittelte ihren dauernden Gebrauch gestatten könnte.

Wem es die Verhältnisse erlauben, der wird am besten daran thun, einige Wochen des Sommers der Durchführung einer systematischen Brunnen- und Badekur an jenen Quellen zu widmen, welche sich seit langer Zeit eines berechtigten Ansehens als Heilmittel gegen Gicht, und zwar selbst gegen die schwersten Formen derselben, erfreuen, so Karlsbad, Marienbad, Kissingen, Homburg, Wiesbaden. Unter den Mineralbädern habe ich auch die Moorbäder sehr wirksam gegen die örtlichen Beschwerden und Folgezustände der Gicht gefunden. Die Kuren an den Heilquellen selbst haben den Vortheil, daß sie außer zur Verwerthung des Mineralwassers auch zu vielfacher Körperbewegung in frischer guter Luft Gelegenheit und Antrieb geben, ein Umstand, welcher für Hebung des Stoffwechsels von einschneidender Wichtigkeit ist. Denn wie träge, bequeme Lebensweise die Entwicklung der Gichtanlage fördert, so spielt fleißige Muskelübung und regelmäßige Körperbewegung eine hervorragende Rolle bei der Bekämpfung dieses Uebels, indem dadurch die Säftebewegung befördert und so verhütet wird, daß sich ein Uebermaß von Harnsäure im Körper anhäuft. Fleißiges Spazierengehen oder, wo dieses nicht möglich ist, entsprechende Muskelbewegung durch Gymnastik und Turnen sind für den Gichtkranken auch deshalb von Werth, weil dadurch bedeutende Fettleibigkeit verhindert, die Verdauungsthätigkeit gefördert und der Trägheit der Darmfunktion entgegengearbeitet wird.

Ob und wann die Massage, das jetzt so häufig gebrauchte und ebenso häufig mißbrauchte Modemittel, bei Gicht angezeigt ist, kann nur der Arzt durch die Beobachtung des jeweiligen Falles entscheiden. Dem Arzte allein steht auch die Anwendung der Mittel zu, welche im Gichtanfalle zur Linderung der Schmerzen nothwendig erscheinen. Die marktschreierisch in den Zeitungen angepriesenen „unfehlbaren“ Geheimmittel gegen Gicht aber rühre man nicht an! Denn von der Wirksamkeit dieser Mittel, wie z. B. der bekannten Gichtketten, steht nur eines fest: daß ihr Nutzen ein entschieden großer für ihre – Erfinder ist.




Vom Weihnachtsbüchertisch.

Bücher für die Jugend.

Aus „Allerlei aus Hendschels Skizzenmappen II“.

Wenn man die Erscheinungen der Jugendliteratur übersieht, welche der Büchermarkt zu Weihnachten gebracht hat, so berührt wohlthuend das Bestreben, der Jugend Gutes auch in guter Ausstattung zu geben. „Für die Kleinsten“ bietet der Verlag von W. Effenberger (Stuttgart und Leipzig) 8 lose Bildertafeln, die eine Fülle von Gegenständen wiedergeben und, da sie natürlich gezeichnet sind, zur ersten Uebnng des Anschauungsvermögens bei den Kindern sich als sehr geeignet erweisen dürften. In demselben Verlag sind in neuer und – was nicht unwesentlich ist – „unzerreißbarer“ Ausgabe die „Goldenen Reime für die Kinderstube“ herausgekommen; sie wurden schon voriges Jahr an dieser Stelle besprochen: der kindliche Ton der Verschen, die außerordentliche Frische der Farbendruckbilder zeichnen sie aus. – „Erzählungen von Chr. Löhr“ hat Cornelie Lechler in neuer Auswahl herausgegeben. Ein reicher Bilderschmuck nach E. Klimsch und Oskar Pletsch macht für die kindliche Phantasie diese einfachen ansprechenden Geschichtchen lebendig. – Aehnliche Vorzüge wie die erwähnten Schriften für die Kleinen und Kleinsten zeigt „Gustav Weises Bilderwelt“, die „aus Haus und Hof, aus Wald und Feld“ 400 getreue Abbildungen in Farben enthält; ferner „Unsrem kleinen Guck-in-die-Welt“ und „Struwwelpeter der Jüngere“ von J. Trojan, illustriert von F. Flinzer (Stuttgart, Weise). – Ein etwas höheres Alter der Kleinen setzen zwei Bücher voraus, welche der Verlag von Wiskott in Breslau ausgegeben hat: „Die Welt vom Fenster aus“, mit Gedichten von Johannes Trojan und Illustrationen von J. Kleinmichel, und „Eine Thierschule in Bildern von Fedor Flinzer und Versen von Victor Blüthgen“; namentlich die letztere, ein hübsches Seitenstück zum „Struwwelpeter“, wird durch ihren drolligen Inhalt Anklang finden. – In schönstem Gewande schließt sich die poetische Gabe an, welche Daniel Sanders „für die fröhliche Jugend“ bestimmt hat (Berlin, Lüstenöder). Hauptsächlich sind bekannte Märchen in flüssigen Reimen behandelt, ein Abschnitt aus der Thierfabel des Reineke Fuchs sogar in dramatischer Form. Die Bilder von Hans Looschen begleiten den Text aufs beste. – Von tüchtigem Sinn für das, was von gesunder Unterhaltungslektüre für die Heranwachsenden gefordert werden muß, zeugen die neuesten Veröffentlichungen der „Universalbibliothek für die Jugend“. Der Inhalt der einzelnen Bändchen ist mit Verständniß ausgewählt, die Bilder, die überall beigegeben sind – nach Zeichnungen von Lefler, Kleinmichel, Bergen, Herger – sind ansprechend. Wir heben hervor die beiden Sammlungen von Liedern, Spiel- und Neckreimen, die O. M. Seidel in „Mutter und Kind“ und „Spiel und Scherz“ zusammengetragen hat; ferner G. H. v. Schuberts „Neuen Robinson“ und eine Auswahl von Erzählungen desselben Verfassers in der Bearbeitung durch B. Schlegel; weiter die „Kindermärchen“ und „Jugendmärchen“ von Aurelie, die „Skalpjäger“ nach Mayne Reid von A. H. Fogowitz. Besonderen Werth hat die nunmehr erschienene zweite Folge von Andersens Märchen in der Auswahl und Uebersetzung von Poestioni.

Für die reifere Jugend fließt eine reiche Quelle von Unterhaltung und Belehrung in Spemanns illustrierten Zeitungen für Mädchen und Knaben, im „Kränzchen“ und im „Guten Kameraden“. Der letzte Jahrgang der beiden Jugendzeitschriften, der sich den früheren durch Mannigfaltigkeit des Stoffs und Sorgfalt der Illustrationen ebenbürtig an die Seite stellt, liegt als eine willkommene Weihnachtsgabe in zwei stattlichen Bänden vor. Anzureihen ist das „Deutsche Jugend-Album“ von Julius Lohmeyer (Hamburger Verlagsanstalt), das gute Beiträge aufweist und namentlich auf bunte Gestaltung der Bilder zu halten scheint, darin aber gelegentlich über das Ziel hinausschießt. – Diejenigen unserer jungen Freunde, welche sich gern mit der Welt der Erfinder und Entdecker beschäftigen, finden vielseitige Anregung in dem „Neuen Universum“, das sich heuer mit seinem 12. Jahrgang eingestellt hat. – Ins Reich bunter Phantasie führen die „Reisen und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen“, bearbeitet von E. D. Mund, der ewig zauberkräftige „Lederstrumpf“, nach Coopers Erzählung frei bearbeitet von Oskar Höcker, und „Im wilden Westen“, 4 Erzählungen aus Nord- und Südamerika von Friedrich J. Pajeken, die sich durch besondere Anschaulichkeit auszeichnen. Diese Schriften sind im Verlag von Effenberger in Stuttgart erschienen und mit schönen Farbendruckbildern nach Franz, Offterdinger und Bergen geschmückt. – Eine Geschichte, die im Hinblick auf die Erwerbung Helgolands durch Deutschland besonderes Interesse erwecken wird, ist „Der Seekadett [874] von Helgoland“ von Oskar Höcker, mit vielen Abbildungen von A. von Rößler (Leipzig, Hirt und Sohn). – Im nächsten Jahre werden vier Jahrhunderte vergangen sein, seit Christoph Kolumbus Amerika entdeckte, und überall rüstet man sich, eine würdige Feier dieses in seinen Folgen unabsehbaren Ereignisses zu veranstalten. Es ist daher dankenswerth, daß jene große Zeit der Entdeckungen auch in der neuerschienenen Jugendliteratur eingehende Schilderung erfahren hat.

Aus „Allerlei aus Hendschels Skizzenmappen II“
Auf der Eisbahn.

C. Falkenhorst hat in seinem Buche „Aus der Zeit der Entdeckung Amerikas“ eine Reihe von Erzählungen geboten, die schon durch ihre Ueberschriften – „Mit Christoph Kolumbus“, „Unter Cortez’ Fahnen“, „Im Goldlande Peru“ – ihren Schauplatz verrathen. Diese Geschichten, flüssig und mit reichem Wissen geschrieben, sind ganz dazu angethan, in Form anziehender Lebensschicksale zu belehren. Ernsteren Charakter trägt „Das Jahrhundert der Entdeckungen in Biographien für die gebildete Jugend“ von Prof. Dr. Theodor Schott. Hier werden in trefflicher Weise jene kühnen Entdecker des 15. und 16. Jahrhunderts geschildert, die der alten Welt eine neue erschlossen haben; ein Schlußkapitel giebt eine Uebersicht über die weitverzweigten Einwirkungen jener Ereignisse auf Leben und Anschauung der alten Kulturvölker; die Zeittafel, die dem Buche angehängt ist, erleichtert die Lektüre. Beide Werke, sowohl das von Falkenhorst als das von Schott, sind mit guten Illustrationen versehen und in jedem Betracht empfehlenswerth. – Wohl nicht ausschließlich für die Jugend bestimmt, aber doch auch für sie geeignet ist ein anderes Werk von C. Falkenhorst, „Schwarze Fürsten“ (Leipzig, Ferd. Hirt und Sohn). In Anlehnung an die Geschichte einzelner hervorragender Herrscher im Sudan, in Ost- und Westafrika entwirft Falkenhorst eine Art Geschichte des dunkeln Erdtheils, soweit man von einer solchen sprechen kann. Das auf Grund der besten Quellen gearbeitete, auch mit Illustrationen versehene Buch führt von einer ganz neuen Seite in das Verständniß der gegenwärtigen Bewegungen auf dem afrikanischen Kolonialgebiet ein.

Krankenpflegerin.

An junge Mädchen wenden sich zwei gemüthvoll geschriebene Sammlungen von Erzählungen, die „Blumen am Wege“ von Julie Ludwig und „Auf Irrwegen“ von Clementine Helm, ferner „Die Cousinen“ (Stuttgart, Gustav Weise), in denen die Verfasserin, T. von Heinz, Gestalten von ansprechender Lebenswahrheit geschaffen hat. Für denselben Leserkreis ist bestimmt „Maienzeit, Album der Mädchenwelt“ (Stuttgart, Union, Deutsche Verlagsgesellschaft), ein auch in der Illustration äußerst elegant ausgestattetes Buch mit Beiträgen namhafter Autoren wie Bodenstedt, Blüthgen, Greif, Lingg, Seidl u. a. Schon diese Namen bürgen für den geistigen Gehalt des Werkes und empfehlen es überall da, wo man dem Worte folgt: „Der Jugend das Beste!“


II. Romane, Novellen, Gedichte.

Auf dem Felde der erzählenden Litteratur haben wir unsern Lesern zunächst mit einigen Bekannten aufzuwarten. Wir haben ihnen die Mittheilung zu machen, daß die beiden großen und mit so lebhaftem Beifall aufgenommenen Romane, mit welchen die „Gartenlaube“ ihren Jahrgang 1890 schloß und den folgenden eröffnete: „Sonnenwende“ von Marie Bernhard und „Eine unbedeutende Frau“ von W. Heimburg nunmehr auch in Buchform erschienen sind. Die illustrierte Ausgabe von W. Heimburgs Gesammelten Schriften nimmt daneben ihren rüstigen Fortgang, und bereits liegen 4 Bände, „Aus dem Leben meiner alten Freundin“, „Lumpenmüllers Lieschen“, „Kloster Wendhusen“, „Ursula“, „Ein armes Mädchen“ und „Das Fräulein Pathe“ enthaltend, fertig vor. Ferner möchten wir nicht unterlassen, die illustrierte Ausgabe von Marlitts Romanen und Novellen, welche vollständig erschienen ist und deren 10 stattliche Bände in elegantem Leinwandkasten dargeboten werden, in Erinnerung zu bringen. – Mit einem wohlvertrauten Namen, aber lauter neuen Gaben tritt ein anderes Bändchen hervor: „Gewagt und gewonnen“, Erzählungen und Novellen von E. Werner. Es sind zwei größere und vier kleinere Arbeiten, die gewiß alle im Kreise der Familie ihre angenehmen Stunden bereiten werden. – Ebenfalls den Gartenlaubelesern wohl bekannt ist Hans Arnold mit seinem frischen Humor. Das „Große Reinmachen“, welches wir im vorigen Jahrgang veröffentlichten, hat sich mit vier andern niedlichen Geschichtchen vergesellschaftet und bildet mit ihnen ein hübsches Bändchen, das unter dem Titel „Einst im Mai und andere Novellen“ bei A. Bonz u. Co. in Stuttgart erschienen ist. Als einen Beweis für die unverwüstliche Anziehungskraft, welche Hans Arnolds schriftstellerische Art ausübt, darf man es betrachten, daß eben jetzt auch zwei frühere Sammlungen Arnoldscher Erzählungen, „Fünf neue Novellen“ und „Der Umzug und andere Novellen“, eine zweite Auflage erlebt haben. – Hugo Rosenthal-Bonin hat „Erzählungen des Schiffsarztes“ geschrieben. Sie sind ein neues Zeugniß für den gewandten Plauderton des Verfassers, der viel gesehen hat und das Gesehene gut zu verwerthen weiß. – Ihre gemüthvolle Art, Schicksale zu schildern, hat Marie von Ebner-Eschenbach von neuem in ihrer Novelle „Margarete“ (Stuttgart, Cotta) bewiesen. – Von eigenartigem Reiz ist die poetische Erzählung „Aniligka“ von dem bekannten, vor ein paar Jahren verstorbenen Nordpolfahrer Emil Bessels. Ein unfreiwilliger neunmonatiger Aufenthalt bei dem gänzlich von aller Kultur abgeschnittenen Eskimovölkchen von Jta auf Grönland hat in dem Gelehrten den Dichter geweckt und ihn angetrieben, ein Bild aus dem Leben und Treiben, Fühlen und Denken dieser weltabgeschiedenen Menschenkinder poetisch zu gestalten. Das Werkchen ist nach dem Tode des Verfassers von Otto Baisch herausgegeben worden.

Nicht selbst als Neuigkeit, aber in einem neuen Gewande bieten sich Hackländers „Namenlose Geschichten“. Mit hübschen Illustrationen von Fritz Bergen ist der immer noch anziehende Roman des fruchtbaren Erzählers von Carl Krabbe in Stuttgart neu aufgelegt worden. – Ein bewegliches Bild aus den nationalen Kämpfen in Böhmen entwirft uns Anton Ohorn in seiner Erzählung „Das deutsche Lied“ (Berlin, Hans Lüstenöder). Schon um seiner vaterländischen Tendenz willen verdient diese warmherzige Dichtung bei allen Deutschen in und außer dem Reiche Beachtung. –

Albert Trägers Gedichte haben sich längst einen Platz nicht bloß in der Litteratur, sondern auch im Herzen unseres Volkes erobert. So darf es uns nicht überraschen, daß die Sammlung seiner Poesien bereits in 17. Auflage erscheint, ein Anzeichen von Volksthümlichkeit, das in unserer heutigen, der Lyrik abgeneigten Zeit doppelt schwer wiegt. – Daniel Sanders

„– bietet zur Auswahl dar
Soviele Sprüche wie Tag im Jahr.“

Proben dieser Sprüche, die sich durch gesunde Lebensmoral und oft schlagende prägnante Form auszeichnen, haben unsere Leser im Laufe dieses und des letzten Jahres kennengelernt. Ihrer 366 sind nun in einem Bändchen vereinigt und geben einen trefflichen Mentor auf dem Lebenswege, sofern nur die eine Bedingung erfüllt wird, die der Verfasser im Sinne hat, wenn er schreibt:

„Weisheitssprüche? Wohl! Doch seht,
Alle bleiben eitel Schwätzen,
Wenn ihr nicht die Kunst versteht,
Sie in Thaten umzusetzen.“

„Wieder gut sein.“

Eine Nachlese von Dichtungen Friedrich Theodor Vischers bietet uns der Sohn des Verstorbenen gesammelt unter dem Titel „Allotria“ dar. Poetisches und Prosaisches ist hier vereinigt; das meiste ist schon gedruckt, aber oft an verborgener, wenig zugänglicher Stelle. Am dankbarsten wird man dem Herausgeber für die Ausgrabung der reizenden Erzählungen „Freuden und Leiden des Skribenten Felix Wagner“ und „Cordelia“ sein, welche Vischer einst als dreiundzwanzig bis vierundzwanzigjähriger Jüngling schrieb. Aber auch die „Epigramme aus Baden-Baden“ und manche andere Blüthe Vischerschen Humors und Vischerscher Satire treffen wir in dem Buche beisammen, das von allen Verehrern dieser markigen Dichter- und Denkernatur freudig begrüßt werden wird.


III. Geschichte. Literaturgeschichte. Gemeinnütziges.

Welch hoher Bildungswerth der eingehenden Beschäftigung mit der Geschichte – im weitesten Sinne dieses Wortes – innewohnt, das braucht an dieser Stelle nicht hervorgehoben zu werden. Wir möchten hier nur auf ein Werk hinweisen, das uns besonders geeignet erscheint, in den Familien als Grundlage für diese eschäftigung zu dienen. Es ist dies K. F. Beckers Weltgeschichte, welche in einer dritten durch Professor Wilhelm Müller neu bearbeiteten und bis auf die Gegenwart fortgeführten Auflage zu erscheinen begonnen hat. Was das Werk für den angedeuteten Zweck vorzugsweise empfiehlt, das ist die volksthümliche, knappe Darstellungsweise, die geschickte übersichtliche Gruppierung und die Beförderung einer klaren Anschauung durch zahlreiche Abbildungen und Karten.

[875] Daß man immer mehr bestrebt ist, das Verständniß für Leben und Werke unserer klassischen Dichter in die weitesten Kreise zu tragen, ist eine erfreuliche Erscheinung. Als ein neuer Schritt in dieser Richtung ist mit Dank eine Schrift von Dr. Karl Heinemann zu begrüßen, die den Titel führt: „Goethes Mutter, ein Lebensbild nach den Quellen“ (Leipzig, Artur Seemann). Nachdem durch die Veröffentlichungen der Goethe-Gesellschaft in Weimar die köstlichen Briefe der Frau Rath bekannt geworden waren, mußte es sich als eine verlockende Aufgabe darstellen, nun im Anschluß besonders an diese neugewonnenen Quellen ein Lebensbild der Mutter Goethes zu entwerfen. Dr. Heinemann hat diese Aufgabe in anziehender Weise gelöst, er hat es verstanden, die anmuthige Gestalt der Frau Rath mit ihrem echten Herzen und ihrem klugen Geiste, mit der Regsamkeit ihrer froh bewegten Phantasie in liebenswürdiger Frische vor uns hinzustellen. Ein guter Bilderschmuck, der zum Theil bisher Unbekanntes bietet, verleiht dem Buche einen Reiz mehr. – Diesem neuen Werke schließen wir zwei andere an, die, längst eingebürgert im deutschen Volke, in neuer Auflage erschienen sind, nämlich „Goethes Leben und Werke“ von Lewes, autorisierte Übersetzung von Dr. Julius Frese, 16. Auflage, durchgesehen von Ludwig Geiger; und „Schillers Leben und Werke“ von Emil Palleske, 13. Auflage. Es ist nicht nöthig, die bekannten Vorzüge dieser beiden Biographien noch einmal hervorzuheben. Nur das sei erwähnt, daß das Buch von Lewes durch einzelne Veränderungen, die es erfahren hat, wesentlich gewonnen haben dürfte. Ludwig Geiger hat mit sachkundiger Hand Ueberflüssiges gestrichen, Uebertreibungen gemildert, zahlreiche Irrthümer verbessert, und dabei ist doch der ursprüngliche Charakter der Darstellung nicht verwischt worden.

Morgentoilette.

Auf den Tisch der Hausfrau gehört ein Buch, das zwar einen sehr nüchternen Titel führt, das aber nichts desto weniger für ein sehr ideales Gut ficht, für unsere Gesundheit als die Grundlage jedes ersprießlichen Menschendaseins. Es ist „das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung“ von C. Falkenhorst (Leipzig, Ernst Keil’s Nachfolger). Von Plan und Anlage des Buches haben wir unseren Lesern schon früher Kenntniß gegeben (Nr. 20 d. J.). Wir empfehlen hier wiederholt diesen nützlichen Berather auf einem weiten und wichtigen Gebiete der Gesundheitspflege. – Ebenfalls ein nützlicher Berather, aber ein erheblich vielseitigerer, ist Spemanns „Schatzkästlein des guten Raths“. Für die Kenner früherer Auflagen sei bemerkt, daß die neueste (6.) Auflage in einem Kapitel über die Erziehung und in einer reichen Fülle von Illustrationen vollständig neue Zuthaten erhalten hat.


IV. Prachtwerke

Die Zahl der Erscheinungen auf dem Gebiete der illustrierten Prachtwerke ist dieses Jahr eine nicht unbedeutende. Im pietätvollen Gedächtniß an den verstorbenen großen österreichischen Dichter sei hier zunächst die vortrefflich ausgestattete Prachtausgabe von Hamerlings „König von Sion“ erwähnt, welche nunmehr vollständig vorliegt (Hamburg, Verlagsanstalt). Zwei namhafte Künstler, Adalbert von Roeßler und Hermann Dietrichs, begleiten die großartige Dichtung mit ihren malerischen Schöpfungen, welche sich des bedeutenden Vorwurfs, den sie sich genommen, vollkommen würdig erweisen.

Jenem wichtigen Gedenktag, welchen die Welt im nächsten Jahre begehen wird, ist Rudolf Cronaus „Amerika“ gewidmet (Leipzig, Abel und Müller). Diese Festschrift auf die vierhundertjährige Jubelfeier der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus schildert, wie die seit den ältesten Zeiten geahnte und prophezeite Neue Welt endlich aufgefunden und durch unermüdliches, rastloses Vorwärtsstreben, unter furchtbaren und blutigen Kämpfen Schritt für Schritt errungen wurde. Die bildliche Ausstattung, welche nicht nur sehr reichhaltig, sondern auch in hohem Grade interessant ist, stammt zu einem großen Theile ebenfalls von Rudolf Cronau, welcher ja bekanntlich mehrjährige große Reisen in Amerika gemacht und sich den Lesern der „Gartenlaube“ wiederholt als ein genauer Kenner der Neuen Welt erwiesen hat. Von dem Werke ist der erste Band erschienen, welcher bis zu der Eroberung Mexikos durch Ferdinand Cortes herabreicht. – Eine hervorragende Erscheinung aus dem Gebiet der Geschichte ist ferner die „Geschichte des preußischen Staates“ von Dr. Ernst Berner (München, Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vormals Friedr. Bruckmann). Der Text ist hier nicht, wie manchmal bei derartigen Unternehmungen, bloß erläuternde Zugabe zu den Bildern, sondern hat selbständige Bedeutung; die Illustrationen sind nach Auswahl und Ausführung zum weit überwiegenden Theil vorzüglich und unterstützen durch ihre Fülle wesentlich das Bemühen des Autors, von dem Entwicklungsgang des preußischen Staates uns eine eigene Anschauung zu geben.

Die reizenden Vignetten und Vignettchen, welche in diese Weihnachtsbücherschau eingestreut sind, stammen von der Hand des unseren Lesern gewiß wohlbekannten A. Hendschel. Der Born seiner Skizzenmappen ist noch immer nicht erschöpft, obwohl der Maler bereits seit acht Jahren tot ist. Für diese Weihnachten stellte sich der zweite Band von „Allerlei aus A. Hendschels Skizzenmappen“ ein (Frankfurt a. M., M. Hendschel) und die mitgeteilten Proben aus dem Werke zeigen mehr als alle Worte, welch köstliche Ueberraschungen darin verborgen sind.

In Todesängsten.

Lose Kunstblätter, in schön ausgestatteten Mappen vereinigt, erscheinen verhältnißmäßig zahlreich auf dem Weihnachtsmarkte. Voran nennen wir hier die „Bildermappe für Kunstfreunde“, welche nicht weniger als fünfzig der vorzüglichsten Holzschnitte aus der „Gartenlaube“ in sich begreift. Man erkennt aus dieser stattlichen Sammlung erst recht, welchen Schatz von Kunstwerken man allmählich in seinen Gartenlaubebänden sich aufstapelt. – Ein sinniger Gedanke, in ein stattliches, nur für seinen zarten Charakter allzu pomphaftes Gewand gekleidet, tritt uns entgegen in den „Blumenmonden“. Es sind dies zwölf Blumenbilder, welche Carl Graf Brandis nach der Natur photographiert und welche Felix Dahn im Verein mit seiner Gattin und seiner Schwester mit dichterischen Begleitsprüchen versehen hat. Das schöne Werk (Wien, R. Lechner) wird nicht bloß eine stolze Zier für den Gabentisch bilden, es wird auch manche kunstgeübte Hand zur Nacheiferung reizen. – Eine andere Prachtmappe vereinigt eine Reihe neuerer Schöpfungen von Münchener Künstlern, Lichtdrucke nach Originalen, welche dem Prinzregenten Luitpold von Bayern als Ehrengaben zu seinem siebzigsten Geburtsfeste überreicht wurden. „Aus Münchener Ateliers“ heißt der Titel des Werkes (München, Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vormals Friedrich Bruckmann), und es umfaßt Beiträge der hervorragendsten Meister aus der Isarstadt, wie Beyschlag, Defregger, Diez, Grützner, H. Kauffmann, F. A. Kaulbach, Lenbach, Max, Oberländer, Uhde u. a. Vorzüglich ist auch das äußere Mappenbild von Bruno Piglhein, welches das „Münchener Kindl“, einen köstlichen braunen, schwarzgelockten Jungen, in zärtlicher Gemeinschaft mit dem mächtigen bayerischen Löwen darstellt. – Emanuel Spitzer ist unsern Lesern ein alter Bekannter. Erst kürzlich haben wir ja ein prächtiges Bild, „Damenkapelle“, gebracht. Diese und eine ganze Anzahl weiterer ähnlich humorvoller Kompositionen finden wir beisammen in dem reizenden Emanuel Spitzer-Album (München, Photographische Union), einer wirklich herzerquickenden Sammlung. – C. W. Allers, der Humorist mit dem Zeichenstift, hat sich diesmal „Unsere Marine“ zum Gegenstand erkoren. In fünfzig Blättern (Verlag von C. T. Wiskott, Breslau) führt er uns durch alle Höhen und Tiefen des Lebens unserer Blaujacken und schildert sie unter Bevorzugung der komischen Seiten mit jener verblüffenden Realistik, die diesem Künstler eigen ist. Auch manches wohlgelungene charakteristische Porträt läuft mit unter. – Eine besonders glänzende Erscheinung auf dem Kunstmarkte ist aber ein anderes Werk desselben Künstlers, sein „Capri“ (München, Franz Hanfstängl Kunstverlag A.-G.). Nicht nur hat Allers selbst darin sein Bestes gegeben, auch die Art der Vervielfältigung und die Ausstattung stehen hier auf einer Höhe, wie sie wohl noch selten erreicht worden ist. Der ganze Zauber jenes zwanglosen Künstlerlebens auf der wunderbaren Insel liegt über dieser Schöpfung ausgebreitet – ein Hauch köstlicher unverkümmerter Naturfrische weht uns aus den prächtigen Blättern entgegen.

Mit den Wonnen des Frühlings umspielt uns das schöne Buch „Im Mai“, Frühlingslieder und Bilder von deutschen Dichtern und Künstlern (München, Bruckmann). Eine Auswahl des Schönsten, was Lenzeszauber in den Herzen deutscher Dichter geweckt und gestaltet hat, Gedichte von Goethe, Eichendorff, Geibel, Uhland, Hoffmann von Fallersleben, Leuau, Roquette, Heine, Arndt u. a. verbindet sich mit stimmungsvollen Schöpfungen moderner Künstler zu einem harmonischen Accord, der erquickend durch die Seele des Lesers und Beschauers klingt. Eine Festgabe ersten Ranges ist ferner eine neue illustrierte Prachtausgabe von Shakespeares „Sommernachtstraum“ (Leipzig, C. F. Amelang). Professor Edm. Kanoldt und W. Volz haben in ihren Kompositionen zu dem altvertrauten Dichtwerke wirklich Meisterhaftes geleistet.

Zum Schluß nach so viel Kunst und Schönheit sei noch eines Werkes gedacht, welches das Seinige dazu beitragen will, den Sinn für Kunst und Schönheit an der Hand der Geschichte zu bilden. Wir meinen die „Denkmäler der Kunst“, jenes altberühmte Sammelwerk, das schon vor einem Menschenalter entstanden, neuerdings aber durch Lübke und Lützow durchgesehen und bis auf die Gegenwart fortgeführt worden ist (6. Auflage, Stuttgart, Paul Neff). Kunstgeschichtliches Anschauungsmaterial pflegt sonst eine theure Sache zu sein; es ist deshalb ein im Interesse der allgemeinen Volksbildung freudig zu begrüßender Schritt der Verlagshandlung, daß sie den Preis der neuen Auflage wesentlich herabgesetzt hat; mancher Private und manche kleine Bibliothek wird sich jetzt dieses Werk erwerben können, welches sie bisher entbehren mußten.

[876]

Blätter und Blüthen.

Larnaka auf Cypern. (Zu dem Bilde S. 861.) Ein trübseliger Name, „Larnaka“! Denn das Wort bedeutet „Särge“. Aber dieser Name giebt uns doch zugleich ein Stück Geschichte der Stadt. Aus den Marmorsärgen früherer reicherer Bewohner haben die heutigen ihre dürftigen Mauern gebaut, auf den Trümmern alten Glanzes stehen armselige Hütten.

Das alte Kition, auf dessen Stelle das heutige Hafenstädtchen von Larnaka liegt, – die eigentliche Stadt befindet sich eine Viertelstunde landeinwärts – war eine namhafte Siedelung. Phönizier hatten sie gegründet, und sie blieb beständig ein Hauptsitz derselben, auch als griechische Händler und Gewerbetreibende die Insel Cypern überflutheten. Heute ist es nur noch die Reede, welche der Stätte einige Bedeutung erhält, Larnaka ist der Haupthafen- und Handelsplatz der Insel geblieben, obgleich auch hier die Untiefe vom Strande so weit ins Meer geht, daß die Schiffe draußen bleiben müssen. So ist Larnaka, und zwar das Hafenstädtchen, auch der Sitz des britischen Oberkommissars und der fremden Konsuln. Ihre stattlichen Wohnungen treten stolz aus der Häuserreihe am Strande hervor und geben mit den Palmen und Cypressen, Oelbäumen und Rebenranken ein malerisches Gesammtbild. Ein Stückchen daraus hat unser Künstler festgehalten; wir stehen an der Eingangshalle zu einem schloßartig ins Meer hinausgebauten Hause, und eine orientalische Schönheit, von ihren Lieblingen, den Tauben, begleitet, erhöht den romantischen Reiz der Landschaft.

Fensterbilder. Ein freier Blick durchs Fenster hinaus in die frische herrliche Natur – er wird immer das erquicklichste bleiben für ein gesundes Gemüth. Aber leider leider giebt es der menschlichen Behausungen gar viele, denen ein solcher Ausblick versagt oder besser: verbaut ist, durch deren Fensteröffnungen das Auge nicht hinausschweifen kann auf Feld und Flur, auf Wälder und Berge, deren einzige Aussicht lediglich auf – Leidensgenossen geht. Da kommt denn der Mangelhaftigkeit unserer nun einmal nicht zu ändernden Wohnungsverhältnisse die menschliche Erfindungskraft zu Hilfe. Sie ersetzt die wasserhellen Scheiben durch farbige, welche dem Sonnenstrahl allerlei unterhaltsame Lichter entlocken und dem Innenranm das Gepräge traulicher Abgeschlossenheit verleihen. Oder aber sie malt gleich die Bilder auf die Scheiben, welche die Welt draußen zu bieten nicht imstande ist. Eine richtige Glasmalerei ist nun aber eine theure Sache, und die wenigsten wären in der Lage, sich ihr Heim mit solchen zu schmücken; gerade die große Masse derjenigen, welche die äußeren Bedingungen des Lebens in die engen Straßen der Städte bannen, sie könnten sich nie diesen Ersatz für eine farbenfreudige Umgebung verschaffen, wenn es nicht ein Verfahren gäbe, welches die künstlerische Wirkung eines Glasgemäldes ganz oder doch annähernd zu erreichen vermag. Es sind die sogenannten „Diaphanien“, deren Herstellung im wesentlichen darauf beruht, daß farbige, durch Tränken mit einer bestimmten Art von Firniß durchscheinend gemachte Bilder auf eine oder zwischen zwei Glasplatten geklebt werden. Die Firma Grimme und Hempel in Leipzig hat diese Technik der Diaphanien auf eine in der That überraschende Höhe gebracht.

Diese Landschaftsbilder, Frucht- und Blumenstücke, Wappen, Genrescenen, Porträts, Idealfiguren, welche durchweg von tüchtigen Künstlern entworfen sind, wirken so zart, so ausgeglichen in Licht und Schatten, so voll in den Farben, daß es eine wirkliche Lust ist, sie anzuschauen. Dabei ist der Preis immer noch ein solcher, daß auch der bescheidene Geldbeutel ihn zu erschwingen vermag. Wir können diese Diaphanien als eine anmuthige Zierde des Heims allen empfehlen, insbesondere aber denen, die in der Aussicht aus ihrem Fenster Befriedigung nicht finden können.




III. Quittung. 0Für die darbenden Weber im Glatzer Gebirg

gingen ferner ein: R. A. in Hannover, als treue Abonnentin der „Gartenlaube“ 2 Mk.; R. v. H. in Wien (5 Fl. ö. W.) 8 Mk. 75 Pf.; J. J. in G. 10 Mk.; Von einer fröhlichen Taufe in Iker 5 Mk. 30 Pf.; Aus St. Petersburg (10 Rubel) 24 Mk. 10 Pf.; L. T. (Schweiz) 20 Mk.; P. T., Dresden 5 Mk.; Emil Seiboth in Lommatzsch 5 Mk.; H. Schwenke in Frankenberg 6 Mk.; Minna in Radebeul 10 Mk.; Henry u. Emma G ..... in New-York 100 Mk.; Frau Isidor Schloß in Frankfurt a. M. 4 Mk.; A. M. in Stotel 10 M. 20 Pf.; C. Gebser in Hannover 10 Mk.; Wilhemina Pfeiffer in Philadelphia 10 Mk. 30 Pf.; Luise Leonhardt in Schwarzenberg 3 Mk.; Anna Haasengier in Halle a. S. 10 Mk.; Aus der Kohlenstraße, Leipzig 60 Pf.; Zwei Schwestern aus Dresden 15 Mk. 5 Pf.; K. Spuller in Hamburg 8 Mk.; Meta in B. 3 Mk.; Rob. Eichler in Chemnitz 5 Mk.; M. M. in Metz 10 Mk.; Elise Thiel in Cölln b. Meißen 1 Mk.; Abonnent Schich, P. Ass. in Cölln b. Meißen 1 Mk.; H. v. R. in Königsberg i d N. 15 Mk.; Bureau-Personal von Klein, Schanzlin u. Becker in Frankenthal 27 Mk.; O. Sch.; Bethany, W. Va. (5 Dollar) 20 Mk. 61 Pf.; A. S. in Straßburg i. Els. 14 Mk.; Elfriede Holtzheimer in Schneidemühl 3 Mk.; Gesammelt in der Männerriege des Remscheider Turnvereins durch Friedr. Gockel 10 MK.; W. u. St. in Elberfeld 3 Mk.; Familie H. in Tellingstedt 4 Mk. 5 Pf.; Frau S. und Töchterchen aus München 5 Mk.; „Simmerling“ 4 Mk. 5 Pf.; Reinders, Bettenwarfen, Ostfriesland 5 Mk.; Poststempel „Oldersum“ 20 Mk.; „Zwei Schwestern aus Ostfriesland“ 4 Mk.; Privatschule in Westerhauderfehn 7 Mk.; Ritter, Naumburg a. d. S. 5 Mk.; Von Schülern der Schule GalsdonJoneiten 4 Mk. 35 Pf.; N. N. aus Barmen 3 Mk.; F. S. in Siegen 8 MK.; F. Saßnick in Berlin, N. 5 Mk.; Von B. in Bremen 12 Mk.; Aug. Sommerfeld in Danzig 5 Mk.; Frau B. Möring in Hamburg 20 Mk.; H. Walther, Postpraktikant in Langenschwalbach 5 Mk.; Mohrenberg, Postassistent in Dresden 3 Mk.; C. O. in Nürnberg-Lichtenhof 3 Mk. 75 Pf.; Frau Riemann, Gelsenkirchen 3 Mk.; J. J. Bickel in Stuttgart 3 Mk.; G. Mosig, Commis, Jauer 1 Mk.; O. P. in Schivelbein 5 Mk.; Frau Dr. Kurz in Singhofen (gesammelt im Freundeskreise zu Michlen) 8 Mk.; Eine im Ruhestande lebende alte Lehrerin in Breslau 3 Mk.; X. in Nierstein a. Rh. 5 Mk. 05 Pf.; N. N. in Memel 1 Mk.; Von den Pinkebrüdern in Teterchen 5 Mk.; Frau verw. Steueraufseher Goldhan in Zwenkau 3 Mk.; Von einem Karlsruher Gymnasiasten 2 Mk. 74 Pf.; Von E. Z. in Roßwein 3 Mk.; Von Rudi und Geschwistern in Sorau (Niederlausitz) 4 Mk.; F. W. in Jena 5 Mk.; Ed. Göbel in Blasewitz-Dresden 10 Mk.; Frau B. F. in B. 25 Mk.; A. F. in L. 5 Mk.; M. H. D., Neu-Ulm 25 Mk.; „Von Einer, die oft hungern muß“, Postst. Dresden-N. 50 Pf.; E. Leonhardt in Grimma 3 Mk.; A. C. 48, Zittau, 1 Aktie der österr. Nordwestbahn nom. fl. ö. W. 200 Silber, 349 Mk. 20 Pf.; A. G. in Berlin 3 Mk.; P. B. in Naumburg a. d. S. „Dankopfer für glückliche Erreichung gesteckter Ziele“ 10 Mk.; Gesammelt am Biertische bei Weixelbauer in Elsterberg i. V. 9 Mk.; Frau H. K. in Bremen 10 Mk.; W. Effenberger, Verlagsbuchhändler in Stuttgart 5 Mk.; M. B. in Schöningen 3 Mk.; Bahnhofinspektor Ettenberger in Ehingen a. D. 5 Mk.; Fanny Fesenmayer in Donaueschingen 10 Mk. Diese Quittung ergiebt die Summe von 1027 Mark 60 Pfennig. – Gesammtergebniß: 5147 Mark 18 Pfennig.

Hiermit schließen wir unsere Sammlung für die darbenden Weber im Glatzer Gebirg und danken allen, die uns geholfen haben, in unserem Theile an der Linderung jenes Nothstandes mitzuarbeiten. Zugleich machen wir allen gütigen Gebern die Mittheilung, daß wir die Summe von

5147 Mark 18 Pfennig

an die Kontrolkommission von Vertrauensmännern in Reinerz haben abgehen lassen, mit der Bestimmung, daß von dieser Summe ein Theil zu Prämien für solche Weber verwendet werde, welche zu einer andern Berufsart übergehen, der andere Theil unmittelbar an Bedürftige zur Beseitigung augenblicklicher Nothlage, sei es in baar oder in Gestalt von Naturalien, zur Vertheilung gelange. Steht ja doch der harte Winter wieder vor der Thür, welcher Armuth und Elend so bitter verschärft und zum Wohlthun reichliche Gelegenheit geben wird! Wir hoffen, auf diese Weise im Sinne aller freundlichen Spender gehandelt zu haben, und können nur wünschen, daß ein segensreicher Erfolg das Werk der Barmherzigkeit kröne.

Leipzig, im Dezember 1891. Die Redaktion der „Gartenlaube“. 




Inhalt: Ein Götzenbild. Roman von Marie Bernhard (14. Fortsetzung). S. 857. – Winter. Bild. S. 857. – Larnaka auf Cypern. Bild. S. 861. – Aus der Wendei. Schilderung von Th. Gampe. S. 864. Mit Abbildungen S. 864, 865 und 867. – Junge Gäste. Skizze von Hans Arnold. S. 868. Mit Bild. S. 869. – Die Gicht. Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch. S. 871. – Vom Weihnachtsbüchertisch. S. 873. Mit Abbildungen S. 873, 874 u. 875. – Blätter und Blüthen: Larnaka auf Cypern. S. 876. (Zu dem Bilde S. 861.) – Fensterbilder. S. 876. – III. Quittung für die darbenden Weber im Glatzer Gebirg. S. 876.




Nicht zu übersehen!

Mit der nächsten Nummer schließt das vierte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).

manicula Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefern wir incl. Porto für 30 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir mit der Bestellung in Briefmarken einzusenden.
Die Verlagshandlung.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.