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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[877]

Nr. 52.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Punschlied.

Die ihr in heimlichen Ecken webet,
Fröhliche gerne fröhlich umschwebet,
Geister geselligen Herdes – herein!
Leise, daß keiner den Zauber gewahre,
Mischet den Trank und wunderbare
Kräfte senket beim Lampenschein
In die dampfende Schale hinein!

Spendet ihr Rum aus tropischer Zone,
Gabe italischer Gluth – die Citrone,
Würze, vom indischen Osten gesandt,
Bringt dann auch Träume südlicher Sonnen,
Bringet dem nordischen Winter die Wonnen
Ewigen Lenzes – zum blühenden Land
Weitet des Hauses engende Wand!

Fesselt die festliche, flüchtige Stunde,
Freier beflügelt das Wort in der Runde,
Lachende Ferne führet empor,
Wieget im Glanze dunkle Cypressen,
Sorgen lasset und Mühe vergessen,
Füllet die Gläser – aus goldenem Thor,
Siehe, schon wandelt die Freude hervor!

Adolf Marquardt. 




[878]

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.
(Schluß.)
23.

Dudu führte Stella Brühls neuen Wagen langsam, langsam vor dem Ausstellungsgebäude auf und ab. Es war ein auffallendes Gefährt: ein ganz hohes Gestell von hellem Holz mit vier gewaltigen Rädern, der Sitz mit blaßgrauem Atlas gepolstert, die Pferde kohlschwarz. Man zeigte einander das Fuhrwerk hier draußen ebenso, wie man einander drinnen die Besitzerin desselben zeigte.

Die vorliegenden dunkeln Augensterne in dem schwarzen Gesicht des Mohrenknaben gingen oft von den Pferdeköpfen ängstlich nach dem säulengeschmückten Eingang des Ausstellungsgebäudes hinüber – Missie Stella spaßte nicht! Sowie sie dort heraustrat, mußte er sofort zur Stelle sein – aber die Pferde durfte er auch nicht stehen lassen, sie hatten sehr viel Temperament und nahmen es schon übel, jetzt im Schritt gehen zu müssen. –

Die Ausstellung war seit ein paar Tagen eröffnet, Stella war jeden Tag da. Die „Eos“ hatte einen kolossalen Erfolg.

Andrees Name war auf aller Lippen. Die Zeitungen brachten ausführliche Besprechungen des Gemäldes, die Kritiker lobten viel und tadelten wenig. Immer war eine große Menschenmenge davor versammelt, es war, wie vorauszusehen, der Hauptanziehungspunkt der ganzen Veranstaltung geworden. Und die Hamburger freuten sich natürlich, daß ein Kind ihrer Stadt, eine junge Schönheit, die sie alle kannten, hier als Göttin, als Morgenröthe zu sehen war, und zeigten sie den zugereisten Fremden mit Stolz. Besonders interessant war es, das Original mit dem Bilde zu vergleichen, und das konnte man jeden Tag thun, denn das Original war sehr oft in der Ausstellung anzutreffen. Ebenso Mynheer van Kuythen, der jedem, welcher es etwa noch nicht wußte, erzählte – laut genug, daß alle Umstehenden es hören konnten, in deutscher, in holländischer und in englischer Sprache: das seien seine Pferde, die da vor den Wagen der Göttin gespannt seien, und der Maler sei wochenlang täglich zu ihm gekommen, um diese herrlichen Modelle genau nach der Natur zu studieren. –

Nun, es war der Mühe werth gewesen! Mit verblüffender Naturtreue waren die schönen Geschöpfe wiedergegeben, sie schienen gleichsam aus dem Gemälde heraus- und dem Beschauer entgegenzuspringen, diese milchweißen Rosse mit den weitgeöffneten rosenrothen Nüstern, die freudig witternd die frische Morgenluft einzogen, mit ihren feurigglänzenden Augen, den flatternden Mähnen und Schweifen und den hoch in die Luft aufsteigenden Vorderhufen! Zu ihren Füßen wallte es in dichtem, weißlichem Qualm, wie Nebel und ballende Wolken – höher hinauf wurde es lichter, immer heller und zarter, bis ein goldigzitterndes Licht aus den wogenden Massen hervorbrach und die Göttin umgab, die „rosenfingrige Eos“, die mit goldenem Zügel ihre Sonnenpferde lenkt und der schlummertrunkenen Erde die Morgenröthe bringt. Hochaufgerichtet steht sie da in ihrem goldenen Muschelwagen; den leuchtenden Nacken, die fein gerundeten Arme läßt das fliegende, leichte Gewand frei, das Morgenlüftchen spielt mit dem üppigen, lose geknoteten Haar – lachend und hinreißend schön fährt sie in die erwachende Welt hinein. Ueber ihrem Haupt ist der Himmel mattrosig, ein einzelner Stern schimmert darin – von dem goldfarbenen Kleide der Göttin aber geht es rechts und links aus wie eine sanfte rothe Gluth, die ihren Wiederschein auf die sich zurückbäumenden Pferdeköpfe wirft!

Ja, ein prächtiges Bild, wer es nur ein einziges Mal gesehen hatte, konnte es wahrlich nicht wieder vergessen!

Nur den Meister, der es schuf, den bekam man nicht zu sehen. Er war doch noch in Hamburg? Jawohl, gewiß, man wußte es ganz bestimmt! Nun also, warum zeigte er sich denn niemals in der Ausstellung?

Stella Brühl, die schöne Eos, hätte wohl darüber Auskunft geben können, aber wenn man sie nach Andree fragte, hieß es immer: „Ja, er ist ein naher Freund unseres Hauses, einem andern würden es ja die Eltern nicht erlaubt haben, mich zu malen! Aber er ist ein wenig sonderbar. Für seine Bilder sucht er die Oeffentlichkeit, für seine Person vermeidet er sie!“

Es lag doch etwas anders! Stella hatte Andree sehr schlecht behandelt. Die Wahrheit zu sagen, sie war seiner sehr rasch überdrüssig geworden, sie hatte sich in ihm getäuscht. Wie anders hatte sie sich das alles gedacht! Anstatt eines anbetenden Liebhabers, der glückselig jede kleinste Gunst von ihr entgegennahm, sich jeder vorübergehenden Gelegenheit, sie einmal für sich zu haben, unendlich freute, hatte sie einen anspruchsvollen, unlenksamen Menschen neben sich, der sie unablässig beobachtete, sie tadelte, mit Vorwürfen überhäufte und die seltenen Augenblicke, die ihnen einmal zum Alleinsein gegönnt waren, dazu benutzte, sie zu quälen und herrisch auf der Aufhebung des Geheimnisses zu bestehen! Himmel, das war ja ein schrecklicher Mensch, dieser Waldemar Andree! Behüte Gott sie davor, sich den jemals zum Mann zu nehmen, mochte sein Gemälde noch so schön, sein Künstlerruhm noch so groß sein! Er würde sie ja tyrannisieren, sie würde keinen selbständigen Schritt mehr thun können, sie würde von jedem Blick, von jedem Lächeln ihm Rechenschaft ablegen müssen, und er würde sie außerdem wie eine Gefangene behandeln ... nichts von Reisen, von wechselndem Aufenthalt, von Vergnügen! – Zu Anfang war es ihr noch gelungen, ihn durch Liebkosungen, durch ein paar zärtliche Worte, ein hingeworfenes Versprechen zu besänftigen. Aber dieser schwerfällige Mensch wünschte nicht nur ein Versprechen zu empfangen – nein, er verlangte auch, daß man es hielt, buchstäblich hielt, und gerieth außer sich, wenn das nicht geschah! Er wiederholte ihre eigenen Worte, er berief sich auf dieselben und verlor alle Selbstbeherrschung, wenn sie erklärte, die Sachlage habe sich inzwischen geändert, und sie könne nun ihr Versprechen nicht einlösen.

Wenn er sich einmal mit ihr zusammen in irgend einer Gesellschaft sehen ließ, mußte sie immer heimlich zittern, daß er eine Scene mache, sie bloßstelle. Das ging nicht, das ertrug sie nicht! Sie wollte leben, wie es ihr und nur ihr gefiel - nicht aber zittern und Rücksichten nehmen oder gar sich fügen! Und das alles bloß, um Frau Andree zu werden? Kein Gedanke! Ja, wenn sich’s noch um den Prinzen Riantzew gehandelt hätte! Da konnte sie sich während der Verlobung vielleicht noch dies und jenes bieten lassen – später, in der Ehe, würde es schon anders kommen!

Als die Ausstellung da war, hatte Andree ihr sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß er nun die Entscheidung wünsche, er wolle endgültig mit ihr und ihren Eltern sprechen, dazu müsse endlich Zeit sein, Ausflüchte lasse er nicht mehr gelten – und wenn Stella erst seine Braut vor der ganzen Welt sein werde, dann werde er auch Mittel finden, sich seine Rechte als ihr Verlobter zu wahren. Es schauderte ihr bei einer solchen Sprache, alles in ihr schrie „nein und tausendmal nein!“ und sie sehnte mit aller Kraft ihrer Seele einen Ausweg herbei.

Sie hatten einander mehrere Tage nicht gesehen, Stella war gesellschaftlich sehr in Anspruch genommen und freute sich dessen. Andree hatte ihr ein paar Mal geschrieben, kurze Briefchen, die seine gequälte Gemüthsstimmung deutlich genug wiederspiegelten. Sie hatte ihm nie geantwortet, sie war zu vorsichtig dazu – schriftliche Zeugnisse können unangenehm werden. –0

Jetzt trat sie, die vielbewunderte „Eos“, unter das Portal des Ausstellungsgebäudes, von fünf oder sechs Herren begleitet, und hielt Umschau nach Dudu. In ihrem knappen braunrothen Sammetpelz, eine hohe schneeweiße Mütze auf dem Kopf, war das junge Mädchen berückend schön, und das leise Gemurmel, das sich hier und da bei ihrem Anblick erhob, erschien nur zu gerechtfertigt. Die Kavaliere stürmten die Stufen herab, um ihren Wagen herbeizuholen, allein Dudu hatte von seinem hohen Sitz aus bereits die weiße Mütze seiner Herrin entdeckt und fuhr in einem geschickten Bogen durch die umherstehenden Gruppen an der Treppe vor. Mit Pferden verstand Dudu umzugehen, es war das einzige Talent, dessen er sich rühmen konnte. –

[879] Als Stella einstieg und sich Zügel und Peitsche reichen ließ, kam hinter dem Wagen ein hochgewachsener Herr langsam des Weges daher und erstieg die ersten zwei Stufen der breiten Vortreppe. Das schöne Mädchen sah ihn nicht, da ihre Verehrer sie umringt hatten und lebhaft auf sie einsprachen – aber er gewahrte sie und blieb stehen, um sie zu beobachten. Sie lachte gerade und neigte sich etwas von ihrem hohen Sitz herab, um zu verstehen, was einer der Herren zu ihr sagte. Dudu war wie ein Aeffchen auf seinen Sitz hinter ihr geklettert und hielt ihr die Zügel hin. Die Vorübergehenden standen still und sahen sich die Scene an, sie tauschten bewundernde Blicke und Gebärden.

Sie neigte die Peitsche leicht gegen die Herren, lockerte die Zügel – und schon stürmte das ungeduldige Gespann mit dem „Götzenbild“ dahin. In Andree stieg die Erinnerung an das erste Mal auf, als er sie so auf der Straße in ihrem Wagen gesehen hatte. Er hatte mancherlei erlebt inzwischen.

Mit einem müden Kopfschütteln stieg er die Stufen vollends empor. Er hatte ja auch das Götzenbild verherrlicht und ging jetzt, es sich anzusehen.

Die Ausstellung war schon ziemlich verödet um diese Zeit. Das wußte Andree, und darum ging er gerade jetzt hin. Es war ihm schlimm zumuthe – er mochte sich nicht angaffen lassen, auch nicht Rede stehen!

Da stand er vor dem Gemälde, und, so zufrieden er damit war – das Herz wurde ihm immer schwerer, je länger er es ansah. Für dies Werk hatte er seine Seele eingesetzt, den Frieden seines Herzens dazugegeben! Denn daß sein Glück, sein wahres inneres Glück nicht in den Händen dieses schönen Mädchens lag, das hatte er sich längst sagen müssen. Er hatte es so oft gehört und gelesen: die Liebe macht blind! Wenn dies doch auch bei ihm der Fall gewesen wäre! Dann hätte er all das, was ihn jetzt bis zur Unerträglichkeit quälte, was ihm Ruhe und Schlaf raubte und ihn gänzlich um sein inneres Gleichgewicht brachte, nicht bemerkt und hätte sich in dem Wahn gewiegt, glücklich zu sein und glücklich zu machen! Aber nun sah er zu seinem Unglück klar und deutlich das Gegentheil, sah Stellas Gleichgültigkeit gegen ihn selbst, ihre Herzenskälte, ihre unersättliche Gefallsucht. Er gewahrte jetzt auch, wie sie ihre Familie tyrannisierte, sie ließ sich ja ganz und gar gehen vor ihm und hielt es nicht mehr für der Mühe werth, wie früher Komödie zu spielen. Auf ihrer Jagd nach Genuß waren ihr die Menschen, gleichviel ob nahe- oder fernstehende, weiter nichts als Mittel zum Zweck, und wenn sie ihr dazu gedient hatten, dann waren sie ihr langweilig und wurden ungeduldig beiseite geschoben. So auch Andree! Er hatte ihrer Eitelkeit gedient, ihre Schönheit Tausenden von Menschen zum Anstaunen übermittelt – nun war es gut, und was aus ihm wurde, war ihr gleichgültig!

Und daß er dies alles durchschaute und doch nicht von ihr los konnte, nicht den Muth fand, es ihr ins Gesicht zu sagen und sich von einer unwürdigen Fessel zu befreien ... das war’s, was ihn am meisten peinigte, was ihn mit brennender Scham erfüllte!

Er hatte sich für einen Charakter gehalten, für einen anständigen Menschen mit festen Grundsätzen – nun wurde er gewahr, daß er als Sklave in den Banden einer Leidenschaft lag, deren er sich schämte, und sein Selbstvertrauen, sein Beruhen in sich, das einen hervorstechenden Zug seines Wesens ausmachte, kam ins Wanken. Sein ganzer Künstlerruhm, seine Zukunft schien ihm unlöslich an dies schöne Geschöpf gekettet, er konnte sich nicht mehr denken, daß er jemals wieder seinen Pinsel in die Hand nehmen sollte, um etwa anderes zu malen als sie! Sie hatte sich seiner künstlerischen Phantasie ganz und gar bemächtigt, an ihre Persönlichkeit knüpfte sich alles, was er künftig Großes und Schönes von seinem Schaffen erwartete – und gegen den Künstler kam der Mensch nicht zu Wort in diesem ohnmächtigen Ringen!

Jetzt stand er da und starrte die strahlende, lächelnde „Eos“ so finster an, als sei sie sein persönlicher Feind, der ihm ein schweres Leid zugefügt hatte – und das war auch der Fall! Sie hatte ihm einen Zwiespalt seines Wesens enthüllt, den er nie für möglich gehalten hätte, sie hatte aus einem kraftvollen harmonischen Menschen einen haltlosen zweifelnden Grübler gemacht.

Wispernde Stimmen hinter ihm machten ihn auf seine Umgebung aufmerksam. Irgend jemand hier mußte ihn von Ansehen gekannt und seinen Begleitern gezeigt haben – die Art. wie man vorsichtig um ihn herumging und sich bemühte, ihm unauffällig ins Gesicht zu blicken, bewies ihm dies zur Genüge.

Er lächelte ein wenig bei dem Gedanken, wie diese fremden Leute es wohl beurtheilen würden, daß er so tief ins Anschauen seines eigenen Gemäldes versunken gewesen war! Aber nun wandte er sich zum Gehen und trat hier und da an ein Bild heran, um es zu betrachten, fand indessen auch dazu keine Ruhe. Das schöne Gesicht unter der weißen Pelzmütze gaukelte beständig vor ihm her und nahm ihm die fast andächtige Sammlung, mit welcher er sonst Kunstwerke zu studieren gewöhnt war. – Die Fremden wunderten sich, daß er so unglücklich aussehe – ein so namhafter Künstler, der Schöpfer eines solchen Gemäldes!

In den fast gänzlich geleerten Sälen hallte sein fester Schritt laut wieder, als er sich endlich zum Gehen anschickte. Draußen war inzwischen die Sonne verschwunden, graue Wolken hatten sich am Winterhimmel zusammengeballt, ein rauher Wind fegte über den Platz und jagte den nur noch spärlich umherliegenden trockenen Schnee in weißem Wirbel auf. Andree zog fröstelnd den Kragen seines Pelzes empor, aber er ging langsam trotz der Kälte. Was sollte er bei sich zu Hause? Dahin kam er immer noch frühzeitig genug! –

Frau Wiedekamp erwartete ihn auf dem Flur. Es sei ein Herr da gewesen, der ihn habe besuchen wollen. Nicht sein Freund, Herr Hilt, auch nicht der Herr mit den weißen Haaren und dunkeln Augen – sie vergesse immer seinen Namen ... Grimm, richtig! - Grimm! – bewahre, auch der nicht! Ein ganz Fremder, blond, sehr höflich – er habe nicht warten können, auch keine Karte dagelassen, aber etwa um sechs Uhr werde er wiederkommen, Herr Andree möge doch zu Hause bleiben. Der Maler nickte zu allem Ja! Ihm war der blonde, sehr höfliche Herr ungemein gleichgültig – vielleicht irgend ein Kritiker oder Kunsthändler, der wegen der „Eos“ kam!

Die Zeit nach Tisch füllte er mit Lesen und Rauchen aus, das heißt, er hatte von beidem keinen Genuß. Es dunkelte früh, und er ließ von Frau Wiedekamp die Lampen anzünden, um den blonden, höflichen Unbekannten wenigstens gut sehen zu können. Gleich nach sechs Uhr klopfte es denn auch an die Atelierthür. Andree fuhr auf. Das war ja ein so vertrautes Klopfen, das kannte er genau – so pflegten die befreundeten Künstler in Rom bei einander anzuklopfen!

„Avanti!“ rief er unwillkürlich.

Ein schlanker, blonder Herr erschien auf der Schwelle. Im nächsten Augenblick hatte Andree „Hartwich! Kleiner Hartwich!“ gerufen und den Eintretenden stürmisch in seine Arme geschlossen.

Der „kleine Hartwich“ – derselbe, der in Rom Waldemar die Nachricht von dem Unglück in der Via Sardegna gebracht hatte – stand Andree durchaus nicht besonders nahe, sie waren ein paar gute Kameraden gewesen, weiter nichts! Aber in seiner jetzigen Stimmung machte ihm der Anblick des freundlichen, wohlbekannten Gesichtes eine solche Freude, und die schönen unvergeßlichen römischen Zeiten traten ihm dabei so lebhaft ins Gedächtniß, daß er den Ankömmling begrüßte wie seinen besten Freund.

„Nun, Andree, das ist hübsch von Euch, daß Ihr Euch so freut über mich! Gar nicht stolz geworden! Und hättet doch alle Ursache – aber davon später! Wie geht’s Euch denn? Gut, prachtvoll – wie?“

„Hartwich – kleiner Hartwich!“ sagte Andree noch einmal und packte ihn an den Schultern. „Weiß Gott, ob ich mich freue! Welcher gute Wind weht Euch denn so mitten im Winter von unserem gesegneten Rom herauf in dies kalte, frostige Hamburg? Kommt daher, setzt Euch – wartet, ich fache das Feuer im Kamin an, ’s ist im Handumdrehen gethan – römische Leute sind verwöhnt! Hier ist Wein, da sind Cigarren, oder wollt Ihr lieber eine Cigarette? Ihr könnt alles haben!“

„Es scheint so!“ sagte Hartwich munter und schob seinen Sessel dicht an das rasch aufflammende Kaminfeuer. „Riesig gemüthlich habt Ihr’s hier – und eine so feine Einrichtung! Bißchen neu, bißchen nach dem Dekorateur – na, nichts für ungut, ging wohl alles mit Kurierzug. – Nein, nein, nichts zu [880] essen, die Cigaretten sind vorzüglich, und Euer Sherry kann sich sehen lassen. Prosit! Was malt Ihr denn?“

„Nichts vom Malen!“ Andree schob ihm die Weinflasche näher. „Erst habt Ihr zu erzählen! Hier! Trinkt einen vernünftigen Zug, und nun los!“

„Da ist nicht viel zu erzählen! Ich hab’ eine einzige Schwester, die in Berlin Lehrerin war an einer höheren Töchterschule. Na, das ist auch gerade nichts Himmlisches, und mir that das arme Ding oft genug leid, daß sie bis in ihr hohes Alter hinein die höheren Töchter klug machen sollte – sie ist nämlich erst dreiundzwanzig Jahre alt und ganz hübsch, schlägt mir nach – was ist dabei zu lachen? Seh’ ich etwa garstig aus?“

„Gar nicht, kleiner Hartwich! Im Gegentheil!“

„Na, ich wollt’ es auch meinen! Also – ja – sie that mir oft leid, aber was war zu machen? Arm wie ’ne Kirchenmaus ist sie; wenn ich ’mal ein Bild gut los wurde, schickte ich ihr was, aber Ihr wißt, damit sieht’s bei mir faul aus! Also, um es kurz zu machen: Gott hat es mit ihr anders beschlossen gehabt – sie hat in einer befreundeten Familie einen angenehmen, wohlhabenden Kaufmann aus Hamburg kennengelernt, die Leute haben sich ohne meine Erlaubniß ineinander verliebt und werden in drei Tagen heirathen. Na, weil man bloß die einzige Schwester hat und sie sich kindisch freut, bin ich zu ihrer Hochzeit hergekommen – gerade hatt’ ich auch meine ‚beiden Kapuziner‘ verkauft. Besinnt Ihr Euch auf meine ‚beiden Kapuziner‘?“

„Gewiß! Ein tüchtiges Bild – machte Euch alle Ehre.“

„Nun, wenn Ihr es lobt, muß es wahr sein, Ihr versteht was davon und lügt nicht! Aber, Andree, die ‚Eos‘! Ich hab’ sie gesehen – und – Mensch, ich kann auf Ehre nichts weiter sagen als: Donnerwetter!“

„Das ist auch eine Kritik!“ Andree lächelte etwas matt. „Nun sagt, Hartwich, wie steht’s in Rom? Redet – aber redet ausführlich! Mich interessiert schlechthin alles!“

„Von der Kolonie nachher! Zuerst“ – er kramte in einer großen Brieftasche herum und brachte etwas verlegen ein paar in Papier gewickelte welke Blumen daraus zum Vorschein – „Da! Das ist von Werner Troosts Grab! Es sieht dort alles hübsch grün und blühend aus – alles in Ordnung! Der arme Kerl! Wißt Ihr – ich muß noch oft an ihn denken! Jammerschade um ihn!“

„Ja! Jammerschade!“

„Und hier“ – Hartwich nahm einen ziemlich umfangreichen Brief aus der Ledertasche – „hier habt Ihr einen Liebesbrief von Signora Marchini – nämlich sie liebt Euch wirklich. ‚Il mio Signore Andree‘ nennt sie Euch – nie anders! Ich hab’ sie besucht, ehe ich abreiste, um sie zu fragen, ob sie etwas an Euch zu bestellen habe, da ich Euch in Hamburg aufsuchen würde. Da hat sie mir eine lange Geschichte erzählt, sie sei in Pisa bei ihrer Tochter gewesen, sehr lange, und ein Enkelchen sei ihr geboren worden und die Tochter auf den Tod krank gewesen; und wie sie nach monatelanger Abwesenheit zurückgekehrt sei, da habe sie diesen Brief hier gefunden und – und – ja, was weiß ich noch sonst alles! Hier ist jedenfalls der Brief, und sie hat auch noch selbst an Euch geschrieben!“

Andree lachte und schob den Brief in seine Brusttasche.

Dann fing Hartwich an, von Rom zu erzählen, und staunte, wie genau Andree alles wissen wollte. Zuletzt aber erhob er sich.

„Es ist schade, ich möchte lieber bei Euch bleiben – allein mein neuer Schwager könnte mir’s übelnehmen. Er hat mir nämlich ein Theaterbillet geschenkt – so ein französisches Stück – nun muß ich doch hin; es soll ja auch vorzüglich gegeben werden, der Schwager ist ein riesig stolzer Hamburger, lobt alles hier von einem Ende zum andern. Wißt Ihr was? Kommt mit! Was wollt Ihr mit dem angebrochenen Abend anfangen?“

Andree stimmte dem bei – er war so froh, Hartwich zu haben, der ihn auf andere Gedanken brachte – was sollte er allein beginnen? Also ins Theater!

Rasch kleidete er sich um, und draußen nahmen sie sich einen Wagen – es war schon ziemlich spät geworden. Das Wetter war noch rauher als mittags, der Wind blies heftig, und die Fenster des Miethwagens klapperten.

Der kleine Hartwich, vom Wein erregt, plauderte lebhaft, sang ein langes feuriges Loblied auf die „Eos“ und entwickelte seinen neuesten künstlerischen Plan – sprach zwischendurch von seiner Schwester und deren Bräutigam, fragte allerlei über Hamburg und berichtete weiter von Rom.

Das Theater war sehr voll, glücklicherweise fand Andree noch einen Platz neben Hartwich. Er war ein paar Mal mit der Familie Brühl zusammen im Theater gewesen, versprach sich von diesem französischen Stück keinen großen Genuß, da er dies Genre nicht liebte, und gedachte sich durch lebhaftes Geplauder mit seinem römischen Freunde in den Zwischenakten zu entschädigen.

Es sollte aber heute anders werden. – – –

„Der Fall Clemenceau“ von Dumas! Ein vielbesprochenes, aber auch – mit Recht – viel angefeindetes Stück!

Isa, die Gattin des Bildhauers Pierre Clemenceau, ist ein gewissenloses Geschöpf, das in ihren Gemahl wohl verliebt, aber doch, um ihren schrankenlosen Hang zum Luxus befriedigen zu können, auch andern gegenüber nicht unerbittlich ist. Er durchschaut sie, er ist in tiefster Seele gekränkt – empört, aber - sie ist eine blendende Schönheit, sie ist ihm eins mit seiner Kunst, und es braucht lange, lange – es muß zum äußersten kommen, ehe das vernichtende Gefühl seiner verrathenen Liebe, seiner zertrümmerten Existenz voll in ihm aufwacht. Und dann – ermordet er seine Gattin. – –

Der „kleine Hartwich“ gewahrte zu seinem Erstaunen, daß dies Stück, das bis zu einem gewissen Grade auch ihn selber fesselte – es wurde ausgezeichnet gespielt – seinen Freund Andree mächtig zu erregen schien. Aus den geplanten Plaudereien in den Zwischenakten wurde nichts. Schweigend und finster, die Blicke unablässig auf den herabgelassenen Vorhang gerichtet, wie wenn er nicht erwarten könne, daß das Stück weitergehe, saß Andree neben dem Freunde, der dies Benehmen mit der vorherigen herzlichen Freude und liebenswürdigen Zutraulichkeit seines Nachbars gar nicht zusammenreimen konnte. Kopfschüttelnd gab er endlich den Versuch auf, den anderen aus seiner merkwürdigen Versunkenheit zu reißen, und nickte gutmüthig mit dem Kopf, als Andree einmal hastig sagte: „Seid nicht böse – ich bin nicht ganz bei mir selbst – das Stück – das schreckliche Stück – es regt mich auf –“

„Wollen wir nicht lieber fortgehen?“ fragte Hartwich besorgt.

Andree schüttelte heftig den Kopf.

„Ihr seht miserabel aus, mein Alter!“ sagte Hartwich nach Schluß der Vorstellung, als beide Arm in Arm die hell erleuchteten Treppen hinunterschritten. „Was ist’s denn mit dem Stück? ’S ist ein raffiniertes, frivoles Machwerk, und um so ergriffen zu sein, dazu sehe ich keinen Grund! Ihr werdet doch nicht krank werden wollen? Was meint Ihr – soll ich am Ende mit Euch kommen und bei Euch bleiben?“

„Nein – nein – tausend Dank!“ Andree sprach abgebrochen und ließ Hartwichs Arm los. „Mit dem Stück mögt Ihr ja recht haben, aber trotzdem – ich muß allein sein – kann auch nicht mit Euch zu Pfordte kommen, wie wir verabredet hatten – ich wär’ ein erbärmlicher Gesellschafter! Auf morgen, lieber Hartwich – auf morgen! Ihr holt mich ab – wir gehen in die Ausstellung – es muß aber leer dort sein!“

„Hört ’mal, Andree, Ihr gefallt mir ganz und gar nicht!“

„Das will ich Euch glauben!“ Andree lachte kurz und hart auf. „Mir geht es genau ebenso, ich gefalle mir selber nicht!“

„Aber Euch jetzt allein lassen –“

„Thut mir die Liebe! Ich bitte Euch drum! Und nehmt es mir nicht übel!“

„Na, für so dumm braucht Ihr mich nicht zu halten! Auf morgen denn!“

„Ja – auf morgen!“

Durch die kalte Winternacht ging Andree seiner Wohnung zu; der Wind pfiff und heulte ganz tolle Weisen, kein Stern kam zum Vorschein.

Frau Wiedekamp war erschrocken, als ihr Miether heimkehrte – die Herren hätten doch noch zu Pfordte gehen wollen, sie habe nichts Rechtes zum Abendessen im Hause – was sie denn noch besorgen könne?

Nichts – durchaus nichts! Es sei ja Wein da, das sei ihm genug, Hunger habe er keinen. Und jetzt war er endlich allein in seinem hübschen Wohnzimmer bei der hell brennenden Lampe. Doch er empfand nichts von Behagen, wie im Fiebertraum kam

[881]

Photographie im Verlage von Gustav Schauer in Berlin.
Stiefmütterchen.
Studienkopf von Tito Conti.

[882] es ihm zuweilen vor, als sei er nicht mehr Waldemar Andree, sondern Pierre Clémenceau! – Umsonst sagte er sich, daß diese Isa nicht in Vergleich gezogen werden könne mit Stella Brühl, daß jene ein Zerrbild sei, ein gewissenloses Weib schlimmster Art, Stella dagegen nur ein verwöhntes, kokettes Mädchen. Immer wieder quälte ihn der eine Gedanke: er hat sie durchschaut und hat sie verachtet, aber er konnte nicht los von ihr, weil sie sein künstlerisches Ideal war, weil ohne sie der Künstler ebenso rettungslos zu Grunde gegangen wäre, wie es der Mensch schon war! Dein Bild ist es, das Du gesehen hast!

Seine Ideen machten immer denselben Rundgang – das konnte er nicht mehr ertragen. Er sprang auf und begann auf und abzugehen, er leerte ein paar Gläser Wein – vielleicht machte das ihn müde, vielleicht konnte er dann schlafen.

Als er seinen Rock ablegte, fiel etwas daraus schwer zur Erde. Ja so, der Brief der guten Signora Marchini! Den wollte er doch lesen, vielleicht brachte der ihm andere Gedanken!

Die würdige Frau schrieb höchst verwirrt in einem sehr fehlerhaften Italienisch und in unleserlicher Schrift: Versicherungen ihrer Zuneigung und ihres treuen Gedenkens – Erinnerungen an Werner Troost, den sie nicht vergessen könne – Berichte über das Aussehen seines Grabes, das sie oft besuche - Erzählungen von der langen, schweren Krankheit ihrer Tochter in Pisa und von dem reizenden Enkelchen – alles das ging bunt und kraus durcheinander, unb Andree hatte Mühe, daraus klug zu werden. Zuletzt kam noch eine Nachschrift. Der einliegende Brief sei zuerst nach Rom an ihre Adresse gekommen, dann ihr nach Pisa nachgeschickt worden, habe sie dort verfehlt, sei wieder nach Rom zurückgegangen und habe dort lange, lange Zeit gelegen – nun schicke sie ihn ihrem lieben Signor Andree, er sei ja Signor Troosts bester Freund gewesen und werde schon Bescheid wissen. Der Briefumschlag habe so entsetzlich ausgesehen von dem vielen Hin- und Herschicken, daß sie es nicht habe ansehen können, und so habe sie ihn durch einen neuen ersetzt. Gelesen habe sie natürlich kein Wörtchen, Signor Andree dürfe ganz ruhig sein – sie könne nicht einmal ein gedrucktes deutsches Wort lesen, geschweige denn ein geschriebenes.

Andree verstand von dem allem nichts. Was war das für ein Brief? Worüber sollte er, als Werner Troosts bester Freund, Bescheid wissen? Er betrachtete kopfschüttelnd den weißen Briefumschlag, zuletzt riß er ihn auf. Es konnte sich um Werners kleine Hinterlassenschaft handeln. ... Er sah eine zierliche, feste Damenhandschrift, und er las, daß die Dame Werner Troost sein Wort zurückgab, daß sie ihm sagte, sie habe sich in ihrem Gefühl für ihn getäuscht, sie sei ein Kind gewesen, das nicht gewußt habe, was Liebe sei – und ihre Eltern hätten ganz bestimmte Pläne mit ihr.

Datiert war der Brief vom Anfang des April. – Waldemar hatte ganz gedankenlos begonnen, ihn zu lesen, ohne eine Ahnung, wer die Schreiberin war. Dann aber, in jähem Erschrecken, wurde es ihm plötzlich klar: Stella allein konnte die Schreiberin sein. Es war kein langer Brief – und doch brauchte Andree eine lange Zeit, bis er ihn drei-, viermal durchgelesen hatte.

Gottlob, daß Werner Troost ihn nicht mehr erhalten hatte, daß er schon friedlich unter den aufgehäuften Blumenkränzen schlummerte, als dieser Brief für ihn eintraf!

Und sie, die vorgegeben hatte, Werner Troost unendlich zu lieben, sein Andenken nicht vergessen zu können – sie, die all ihre launenhafte Kälte gegen Andree mit ihrer treuen Liebe zu diesem Toten entschuldigt, die ihm hundertmal betheuert hatte, Werner sei ihres Herzens einziges Glück gewesen, und man müsse darum Geduld mit ihr haben – ihr Zeit lassen – –

Es wurde ihm dunkel vor den Augen – er drückte den Brief in der geballten Faust zusammen und glättete ihn dann wieder sorgsam – seine Gedanken schweiften zu Pierre Clémenceau zurück ... es stieg etwas Beengendes, Fürchterliches in ihm empor – dann machte er eine Gebärde des Abscheus, als quäle ihn ein Versucher, den er mit Gewalt fortweisen müsse.

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Wenige Tage später hatte man sich in gewissen Kreisen Hamburgs sehr zu wundern. Waldemar Andree, der bedeutende Künstler, der Schöpfer der „Eos“, die man mit Recht als das weitaus schönste Gemälde der diesjährigen Ausstellung pries, hatte ganz plötzlich die Hansestadt verlassen. Einem aus Rom eingetroffenen Freunde, Hartwich mit Namen, der einige Zeit in Hamburg verweilen wollte, hatte er Auftrag gegeben, seine Ateliereinrichtung aufzulösen und zu verkaufen und etwaige Anfragen bezüglich der „Eos“ zu beantworten. Hilt war empört, daß man nicht ihn mit diesem Vertrauen beehrt harte, mußte sich aber den gegebenen Verhältnissen fügen. Frau Wiedekamp wußte von nichts, konnte auf alle Fragen nur mit dem Kopf schütteln und betonen, Herr Andree sei ein sehr nobler Miether gewesen, da er ihr das volle Quartal bezahlt habe. Hartwich wußte einiges mehr, sagte aber nichts – er war Andree recht nahe getreten in diesen wenigen Tagen, und sie hatten sich versprochen, im Briefwechsel miteinander zu bleiben.

Der einzige, der ganz genau in die Dinge eingeweiht war, war Herr Grimm.

Ihn hatte Andree am Tage nach jenem Theaterabend besucht, bleich und verstört, und ihm allein hatte er umfassende Mittheilungen gemacht. Als der ältere Freund Einblick in Andrees Gemüthsverfassung gewonnen hatte, war sein einziger Rath der gewesen: alles stehen und liegen lassen und schleunigst abreisen! Kein Wiedersehen, keine Aussprache mehr herbeiführen – Herr Grimm ahnte nichts Gutes, wenn er in seines Freundes finstere Augen sah – er selbst wolle der schönen Stella ihren Brief an Werner Troost übermitteln, und sie werde sich, klug wie sie sei, den Zusammenhang zwischen diesem Brief und Andrees Abreise leicht deuten können.

So ernstlich war Grimm um seinen Freund besorgt, so sehr fürchtete er ein vielleicht durch den Zufall herbeigeführtes Zusammentreffen Stellas mit ihm, daß er ihm nicht von der Seite wich und sich sogar über Nacht bei ihm einquartierte. Auch mit Hartwich wurde Grimm bekannt, und sie fanden entschiedenes Wohlgefallen an einander. Sie athmeten beide erleichtert auf, als der Bahnzug den Freund entführte, obgleich der ältere Mann sich mit schwerem Herzen sagte, er werde Andree unendlich vermissen.

Herrn Grimms Mission der schönen Stella gegenüber war rasch erledigt. Sie sah ein wenig betroffen aus beim Anblick des Briefes, der sie eine zeitlang so ernstlich beunruhigt hatte, aber schließlich hatte sie doch wieder erreicht, was sie gewollt: sie war frei! Herr Grimm konnte nicht umhin, angesichts dieser bewundernswürdigen Kaltblütigkeit der jungen Dame anzudeuten, daß ihre Lage Andree gegenüber eine bedenkliche, ja gefahrvolle gewesen sei, und daß sie es nur der Vorsicht seiner Freunde zu danken habe, wenn eine aller Voraussicht nach ungewöhnlich schlimme Wendung vermieden worden sei. Ihr reizendes rosiges Gesicht wurde um einen Schatten blässer, und die schönen Lippen zuckten ein wenig – sie erwiderte aber kein Wort auf diesen in sehr ernstem Ton gehaltenen Ausspruch und entließ Herrn Grimm in verbindlichster Haltung.

Die „Eos“ blieb noch ein paar Wochen in der Hamburger Ausstellung, dann wurde sie für einen außerordentlich hohen Preis nach Philadelphia verkauft.




24.

Mehr als zwei Jahre sind seitdem vergangen.

Herr Bernhard Grimm hat mit seiner Pflegetochter Gerda eine schöne Reise durch ganz Italien gemacht und zeigt ihr jetzt Berlin, das sie bisher nur auf der Durchreise kennengelernt hat.

Sie wandern Arm in Arm durch den Thiergarten, der im schönsten Herbstschmuck prangt. In der Nähe des Goethe-Denkmals, das sie beide aufrichtig bewundert haben, finden sie eine Bank und lassen sich darauf nieder.

Herr Grimm ist sehr nachdenklich – Gerda ist es nicht. Sie spricht unbefangen und heiter. Eine strahlende Schönheit ist nicht aus ihr geworden, wohl aber ein sehr hübsches, frisches Mädchen mit wundervollen dunkelgrauen Augen.

Da ihr Begleiter fast kein Wort redet, schiebt sie ihre Hand leicht unter seinen Arm und fragt leise: „Onkelchen, sind Sie mir denn so schrecklich böse?“

„Dummes Kind!“ entgegnet er unwillig. „Wie kann ich denn böse sein? Ich möchte nur wissen, ob Du überhaupt niemals heirathen willst!“

„Können Sie mich gar nicht rasch genug los werden, Onkel? Ich bin ja noch nicht neunzehn Jahre alt.“

[883] „Wenn auch! Du hast eine Art, Dich gegen die Männer zu benehmen, die einem den ganz bestimmten Verdacht ...“

„Nein, nein!“ unterbricht ihn Gerda und wird roth. „Sprechen Sie nicht zu Ende, Onkel, wenn Sie mich lieb haben – bitte! Ich bin zufrieden, wenn ich bei Ihnen sein darf, ich kann mir kein –“

Sie stockt, denn sie will keine Unwahrheit sagen.

„Nun?“ wirft Herr Grimm ein.

„Nein – nichts!“ sagt sie kleinlaut und senkt die Wimpern.

Er zeichnet mit seinem Stock Figuren in den Sand.

„Wieviel Heirathsanträge hast Du eigentlich schon bekommen?“

„Schon? Zwei und einen halben, denn zum dritten ließ ich es nicht kommen!“

„Und wieviele hättest Du noch haben können?“

„Gott, Onkelchen, wie soll ich das wissen? Keinen – denke ich!“

„So? Nun, ich denke etwas anders darüber!“

Gerda findet das Gespräch nicht nach ihrem Geschmack.

„Ich weiß nicht, weshalb Sie mich so früh verheirathen wollen, Onkel! Wenn ich an Stellas Ehe –“

„Stellas Ehe!“ Herr Grimm brauste ganz so jugendlich zornig auf wie früher. „Daß sich Gott erbarme! Nein, die kann man nicht zum Muster aufstellen! Das Vorspiel war auch danach! Der eine verliebt sich in ein schönes Gesicht und wittert dazu noch ein ungeheures Vermögen – der andere – vielmehr die andere strebt nach Stellung und Rang und will eine Rolle spielen in der Welt! Das sind die Bedingungen, unter denen diese prinzliche Ehe zustande kam – na, und da ist sie denn gut ausgefallen! Er hat von seinem Bruder, der die ganze Geschichte widerwillig genug zugab, nur eine sehr mäßige Apanage, und von dem ungeheuren Reichthum, den er sich erträumt hat, ist kaum der zehnte Theil Wirklichkeit geworden ... dafür hat er eine Gattin, die das Leben so zu genießen versteht und so bedeutende Ansprüche macht, daß sie in dieser Kunst höchstens von ihm selbst, dem Prinz-Gemahl, überboten wird – und so ist das allerdings eine kreuzunglückliche Ehe – Klagen hier und Vorwürfe dort – und das Ende vom Lied wird sein, sie lassen sich scheiden, und die unvergleichliche Stella heirathet den geistvollsten aller Männer: Kuno, Ritter von Tillenbach!“

„Onkel!“ rief Gerda empört.

„Bleib’ sitzen, fahr’ nicht so wild in die Höhe, mein Kind! Wollen sehen, wer recht behält! Die Sache ist leider einfach genug: Stella braucht ungeheuer viel Geld und einen sehr dummen, sehr bequemen Mann – das hat sie jetzt beides nicht, allein Du kannst Dich darauf verlassen, sie wird es bekommen!“

„Aber Kuno nimmt doch keine Stellung in der Welt ein!“

„Der Name einer geschiedenen Prinzeß Riantzew giebt schon einen gewissen Glanz – nimm die schönen Millionen des Papa Tillenbach hinzu, und das Ergebniß ist nicht schlecht!“

„Nein, Onkel Grimm, ich glaube es wirklich nicht!“

„Dann laß es bleiben, dummes kleines Mädchen, die Zukunft wird es ja beweisen!“

„Papa und Mama sind außer sich, daß Stella so entsetzlich viel Geld braucht und dennoch so unglücklich lebt!“

„Papa und Mama haben sich den prinzlichen Schwiegersohn so sorgfältig eingebrockt, daß sie sich nicht wundern sollten, wenn er ihnen jetzt schwer im Magen liegt!“

„Es muß jetzt schlimm zu Hause sein! Wie gut, daß Wolfgang in Kiel untergebracht ist und daß ich bei Ihnen bin, Onkel!“

„Wer weiß, wie lange noch!“

Gerda rückte ein Stückchen von ihrem Pflegevater ab und besah sich ihn von der Seite.

„Sie sind ganz anders wie sonst, Onkel! Was haben Sie nur?“

„Was soll ich denn haben? Nichts, mein Täubchen!“

„Doch!“ Gerda wurde unruhig. „Sie haben irgend etwas im Sinn! Müssen wir denn hier immerfort sitzen bleiben? Die Sonne scheint mir gerade auf den Kopf!“

„Mach’ Deinen Sonnenschirm auf, liebes Kind!“

Herr Grimm bemühte sich, unbefangen zu sprechen, aber es gelang ihm nicht recht. Sein Stock, mit dem er noch immer Figuren in den Sand zeichnete, fiel ihm plötzlich aus der Hand, und er bückte sich, gleichzeitig mit Gerda, um ihn aufzuheben.

Da fiel ein Schatten auf den sonnenbeschienenen Weg. Als Gerda aufsah, stand Waldemar Andree vor ihr.

Sie fuhr mit einem leisen Schrei empor – sie machte keinen Versuch, zu sprechen, die Stimme würde ihr versagt haben. Aber ihre Augen sprachen – das konnte sie nicht verhindern.

„Nun?“ fragte Herr Grimm nach einer kleinen Weile, und seine Stimme schwankte. „Gelungen? Achte nicht auf mich, mein liebes Kind!“ fuhr er lachend fort, während ein feuchter Glanz in seine Augen trat, den er durch eine rasche Bewegung mit der Hand vergeblich zu verbergen suchte. „Ich bin vor Freude fast verrückt geworden!“

Andree nickte ihm zu.

„Wir haben Ihre Tochter erschreckt, lieber Freund, wir hätten es uns doch anders überlegen sollen! Er wollte Sie mit mir überraschen, Fräulein Gerda – und nun kommen Sie – setzen Sie sich – so!“

Gerda hatte sich inzwischen gefaßt, sie konnte ruhig sprechen und die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin an Andree richten.

„Ich komme aus Kairo!“ sagte dieser, und man glaubte ihm den Orient aufs Wort, so dunkelgebräunt sah er aus. „Ich habe lange, lange Zeit hindurch nichts thun können, bin auch nicht gesund gewesen – nun, das haben meine schriftlichen Berichte Ihrem Onkel erzählt – aber seit einiger Zeit habe ich wieder angefangen zu malen, und mir scheint, es geht wieder. Und Sie, Fräulein Gerda?“

„O, die!“ fiel Onkel Grimm ihm ins Wort und zwinkerte schelmisch mit den Augen. „Schöne Geschichten sind es, die sie anrichtet! Schickt die ehrenwertesten Freier heim –“

„Onkel! Um Gotteswillen!“

„Nun – ist’s nicht die Wahrheit? Und ist nicht Andree ein alter Freund, der die Wahrheit wissen muß? Ja, ja, sehen Sie sich nur dies wunderliche Mädel recht genau an, mein Lieber!“

Andree sah es sich in der That recht genau an, außerordentlich genau! Er war nicht sonderlich überrascht, sie so hübsch zu finden – er hatte in der letzten Zeit in Hamburg jedesmal bei ihrem Anblick im stillen gedacht, daß sie sich ungemein zu ihrem Vortheil entwickle – aber diesen Ausdruck in den Augen, diesen sehnsüchtigen träumerischen Blick ... nein, den konnte sie damals nicht gehabt haben, er hätte ihm auffallen müssen!

Er ließ sich aber nichts von seinem innern Erstaunen merken, sondern sprach sehr heiter, erkundigte sich nach seinem würdigen Freunde Hafis, dem „Zauberer“, und erfuhr, daß dieser, gleich Frau Müller, alt und bequem werde, dabei seien aber die beiden liebenswürdig und fügsam, so daß Gerda, die das uneingeschränkte Regiment im Hause führe, es leicht habe. Schließlich fragte er lachend: „Erinnern Sie sich noch, Fräulein Gerda, wie wir das Kaninchen jagten?“

„Ob ich mich erinnere!“ Sie ging auf seine Fröhlichkeit ein. „Wissen Sie, wie wir den Schrank umzingelt hatten und mit Onkels Stock hinunter fuhren, und Hafis beutegierig um den Aufenthaltsort des Kaninchens herumschlich?“

„Ganz recht! Und dann, wie ich Sie mit Dudu im Garten traf – was ist denn aus Dudu geworden?“

„Onkel Grimm hat ihm eine hübsche Stelle verschafft bei einem reichen, kinderlosen Ehepaar, das sehr gütig gegen ihn ist – Onkel hatte in seinem eigenen Haushalt keine Verwendung für ein Mohrchen. Dudu liebt mich noch immer und besucht uns von Zeit zu Zeit. Viel Deutsch hat er aber nicht dazugelernt!“

Herr Bernhard Grimm sah mit nachdenklichen Augen auf die beiden, die so munter miteinander plauderten.

„Wollen wir jetzt gehen?“ fragte er nach einer kleinen Weile. „Die Sonne brennt hier wirklich auffallend heiß.“

Gerda legte ihren Arm in den seinen, sie schlenderten langsam weiter.

„Und Du fragst gar nicht, wie es kam, daß ich Dich mit Andree überraschen konnte?“ sagte Grimm vorwurfsvoll. „Junge Frauenzimmerchen sind doch sonst neugierig!“

„Ich bin eben ein Ausnahme-Frauenzimmerchen,“ meinte Gerda lächelnd, „mir genügt es vorderhand, daß Herr Andree [884] da ist. Aber, um Ihnen einen Gefallen zu thun, Onkel: wie kam es denn?“

„Nun also, Du kleiner Bösewicht: als Du gestern abend mit Stephanie Sommer – eine Hamburger Bekanntschaft, lieber Andree, die hierher nach Berlin übergesiedelt ist – im Deutschen Theater saßest, da überfiel mich dieser Mann im Centralhotel – das heißt, er hatte mir eine Karte geschrieben, ich war auf sein Kommen vorbereitet, und da dachte ich mir’s aus, Dich mit ihm zu überraschen!“

„Das ist Ihnen so außerordentlich gut gelungen, Onkel, daß ich fürchten muß, ich hab’ mich ganz dumm benommen.“

Andree sagte nichts dazu. Er sah in die tanzenden goldenen Lichter, die der Sonnenschein durch das reiche, bunte Herbstlaub warf, und lächelte still vor sich hin. Er war wortkarger und ernster geworden in diesen zweieinhalb Jahren, er hatte zuviel für sich gelebt und es verlernt, sich andern mitzutheilen.

Desto lebhafter war Gerda jetzt im Bestreben, ihr „dummes Benehmen“ bei der Ueberraschung wieder gut zu machen, sie erzählte angeregt von einer herrlichen Darstellung des „Prinzen von Homburg“, die gestern im Deutschen Theater gegeben worden sei, und fügte hinzu, daß Stephanie Sommer sie heute abend zu Kroll mitnehmen wolle.

„Schön!“ sagte Herr Grimm, ohne den mindesten Einspruch zu erheben. „Dann kommt Andree für den Abend zu mir, und wir können uns aussprechen!“

So geschah es denn auch. Gerda ging zu Kroll, und die beiden Freunde saßen bei einer Flasche Wein zusammen und sprachen sich aus.

„Wie ist Ihre Stimmung, Andree?“ fragte Grimm und legte seine Hand leicht auf das Knie des andern. „Sie haben mir nur äußerliche Thatsachen berichtet, und ich verdenke Ihnen das gar nicht. Jetzt aber – ich denke, Sie halten meiner Freundschaft für Sie diese vertrauliche Frage zu gute!“

„Natürlich thue ich das!“ entgegnete Andree ruhig. „Es hätte mich gewundert, wenn Sie mich dies nicht gefragt haben würden. – Zuerst war nichts mit mir anzufangen, ich war wie zerbrochen an Leib und Seele und hatte alles Zutrauen zu mir verloren – als Mensch, weil ich mich durch eine wunderschöne Form hatte betrügen lassen, ohne nach der Seele zu fragen, die darin wohnte – und als Künstler, weil ich die feste Ueberzeugung hatte, fortan nichts mehr schaffen zu können. So bin ich planlos herumgereist, fand aber keine Ruhe – auch in Rom nicht, an Werner Troosts Grab. Er kam mir sehr beneidenswerth vor, daß er da unten schlafen durfte, daß ihm Kummer und Enttäuschung erspart geblieben waren. Immer dachte ich freilich nicht so weich und elegisch: oft bin ich hart und verbittert gewesen, der Anblick der Menschen machte mich dann fast krank, sodaß ich wochenlang irgendwo hoch oben im Gebirge einsam saß, um nur kein fremdes Gesicht zu sehen, keine Stimme zu hören. Ich wurde auch körperlich krank – nun, das schrieb ich Ihnen ja – es war eine schwere Zeit, die Erinnerung kam immer wieder und quälte mich, so sehr ich auch dagegen ankämpfte.

Endlich trat eine Art von Krisis ein. Ich meinte, ein solches Leben nicht weiter tragen zu können, und aus Trotz, aus halber Verzweiflung fing ich wieder zu malen an. Ich saß damals hoch oben in Norwegen. Dort trafen mich Ihre Briefe – es war sehr gut, daß Sie mir von Stella berichteten. Sie hatten Furcht, wir könnten zufällig irgendwo zusammentreffen, das war unnütz, denn die Weltstädte und Luxusbäder, die sie liebt, hat mein Fuß nicht betreten; es war aber gut, daß ich von ihr erfuhr, ich wußte, es war die lautere Wahrheit, was Sie mir schrieben, und ich fing an, sie wunderbar gut zu ertragen – ich hatte Aehnliches vorausgesehen.

So ist’s allmählich, allmählich besser mit mir geworden – meine Arbeit hat mir geholfen. Freilich, eine ernste, ich möchte sagen, eine mühevolle Arbeit! Ich habe das Schöne oder Eigenartige, was die Natur mir bot, getreulich wiedergegeben, es waren zumeist dunkle, melancholische Vorwürfe, aber aus meiner Seele heraus hab’ ich nie Lust gespürt, etwas frei zu schaffen – niemals – bis – wunderbarerweise – heute!“

Herr Grimm unterbrach den Redenden mit keinem Wort, er sah ihn nur gespannt von der Seite an.

„Was dachten Sie sich eigentlich, als Sie diese Ueberraschung mit mir und Gerda in Scene setzten?“ fragte Andree plötzlich, anstatt seine Beichte fortzusetzen.

„Mein Gott“ – Grimm war ein wenig verlegen – „ich wollte sie erfreuen – wohlgemerkt, ‚sie‘ klein geschrieben! Ich wollte sehen, ob –“

„Ob was?“

„Ob ich richtig gerochen oder vielmehr richtig kombiniert hatte –“

„Und warum das?“

„Ich deutete es Ihnen ja schon im Thiergarten an – Gerda ist ein wunderliches Geschöpf, sie hat ein paar Anträge zurückgewiesen, die jedes andere Mädel an ihrer Stelle mit Freuden angenommen haben würde.“

„Und Sie schließen daraus?“

Grimm schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Was ich daraus schließe, mein Lieber, das geht Sie ganz und gar nichts an!“

„Nicht?“ fragte Andree leise.

Herr Grimm fuhr herum und starrte seinem Gast eine Weile in die Augen. Dann ließ er sich mit einem Seufzer in seinen Sessel zurücksinken.

Andree lächelte ein wenig, aber seine Augen blickten sehr ernst dazu.

„Zeit lassen!“ sagte er dann gedankenvoll vor sich hin, mehr zu sich selbst, als zu seinem Freunde.

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Sie blieben dann noch mehrere Tage in Berlin zusammen – Andree war unzertrennlich von Herrn Grimm und seiner Pflegetochter. Er that nicht das, was man „den Hof machen“ nennt. Er schmachtete Gerda nicht mit Blicken an, schickte ihr keine Blumen und machte keinen Versuch, mit ihr Vielliebchen zu essen. Aber es war eine Veränderung in seinem Wesen, und Gerda merkte dies sofort. Ihn hatte es mit tiefer Rührung erfüllt, als Herr Grimm ihm angedeutet hatte, was er freilich selbst schon zu ahnen meinte: die Thatsache, daß dies junge, reine und gute Wesen eine tiefere Neigung für ihn hege. Andree hatte ein gutes Gedächtniß – jetzt besann er sich, und ihm fiel manches ein, was dafür sprach und ihn mit einer Art staunender Freude erfüllte. Und daß ihm gerade bei Gerdas Anblick zum ersten Mal wieder seit langer Zeit eine eigene künstlerische Idee kam – freilich eine, die er schon in Rom gehabt, die ihm inzwischen immer wieder aufgetaucht war – das hielt er für das beste Zeichen, und er fing an, zu hoffen, daß es, außer seiner Kunst, doch noch ein volles menschlich warmes Glück für ihn geben könne.

Er wollte aber diesem Glück Zeit lassen. langsam zu reifen, er wollte nichts überhasten – Schritt für Schritt wünschte er seinem Ziel nachzugehen.

Er hatte sich schon alles überlegt. Um Weihnachten, wenn die Prinzessin Riantzew, wie bestimmt war, in Paris sein würde – man sprach davon, daß von dort aus die ersten Schritte zur Lösung ihrer Ehe eingeleitet werden sollten! – dann wollte Andree nach Hamburg herüberkommen und im Hause seines Freundes Grimm um Gerda werben; vorsichtig und bedächtig wollte er zu Werke gehen. –

So kam der Tag heran, der Herrn Grimm und seine Pflegetochter wieder nach Hamburg zurückführen sollte. Andree wollte noch ein paar Tage in Berlin bleiben, da der kleine Hartwich sich dort ein Stelldichein mit ihm geben sollte.

Diesmal hat Andree ein herrliches Bukett für Gerda bestellt – – das ist er ihr schuldig, es ist ja der Abschied!

Sie hält die Blumen in der Hand, als sie sich im Wartesaal des Hamburger Bahnhofs treffen; ihr junges Antlitz ist heute nicht ganz so rosig und blühend wie sonst, aber die schönen Augen leuchten geheimnißvoller denn je. Andree kann den Blick nicht von ihr lassen, er verfolgt jede Bewegung der anmuthigen Gestalt und kann es nicht glauben, daß er sie jetzt nicht mehr jeden Tag sehen soll.

Herr Grimm, dem Andree etwas von seinem Plan zu Weihnachten verrathen hat, blickt auf die beiden und unterdrückt ein Lächeln. Er mahnt sehr eifrig zum Einsteigen, obgleich es noch viel zu früh ist.

Wie er aber mit Gerda allein im Wagen sitzt, erblickt er mit einem Mal draußen auf dem Perron einen ihm wohlbekannten [885] Schiffsreeder, denselben, der ihm einst Hafis geschenkt hat – springt mit der Behendigkeit eines Jünglings wieder aus dem Wagen, windet sich durch das Gedränge und klopft seinem Bekannten auf die Schulter, um sich dann in ein lebhaftes Gespräch mit ihm zu vertiefen.

Andree steht inzwischen auf dem Trittbrett und hat die Hand auf die halboffene Thür gelegt, Gerdas Gesicht ist ihm sehr nahe. Sie reden beide kein Wort. Sie hat seine Blumen zu ihrem Gesicht emporgehoben und athmet den Duft der Rosen ein. Er kann sie aber auf diese Weise nicht gut sehen, und darum nimmt er ihr ohne weiteres mit einer ungeduldigen Gebärde die Blumen aus der Hand und legt sie auf den Rücksitz.

Gerda schüttelt den Kopf und wendet sich ab – ihr sind die Thränen nahe, und das soll er doch nicht sehen.

„Mignon!“" sagt er ganz leise und nimmt ihre Rechte in seine beiden Hände. Und plötzlich ganz unvermittelt und ohne jedes vorbereitende Wort:

„Gerda – haben Sie mich lieb?“

Antworten kann sie jetzt nicht – das Glück macht sie stumm – aber er muß sie auch ohne das verstanden haben, denn er steigt rasch zu ihr in den Wagen, nimmt ihr Gesichtchen in seine beiden Hände und sieht ihr lange in die Augen. Dann zieht er sie an sein Herz, und so, glückselige Thränen vergießend, sagt Gerda es ihm ganz scheu und leise, daß sie ihn geliebt habe all diese Jahre hindurch.

Als Herr Grimm endlich auf eine dringende Mahnung des Schaffners hin einsteigt, findet er zu seinem großen Erstaunen noch einen dritten Reisenden darin - einen Reisenden, der gar keine Zeit für ihn hat und selbstsüchtig, wie alle glücklich Liebenden, ganz in seine eigenen Angelegenheiten vertieft ist. Aber Gerda macht eine Hand frei und reicht sie ihm: „Lieber, lieber Onkel Grimm!“

„Mein gutes Kind!“ erwidert er gerührt – dann, seine Weichheit rasch abschüttelnd: „Mir scheint, ich bin hier sehr überflüssig, aber, Kinder, daraus wird nichts! Mich werdet Ihr nicht los! Und wenn Ihr nicht in Hamburg leben wollt – ich ziehe mit Euch!“

Der Schaffner schlägt dröhnend die Wagenthür zu, und der Zug braust in den dämmernden Herbstabend hinein. Er führt drei Glückliche mit sich.


Sylvesterträumen.

Die zwölfte Stunde! Sie jubeln und schrei’n,
Und ich bin einsam und allein
Und denke vergangener Tage.
Die Jahre wechseln, mein Leben dorrt —
Das alte Bangen nimmt keins mit fort,
Das ich im Herzen trage.

Es ist noch die alte Stube genau;
Und in der Stube die alte Frau,
Die lebte zwölf Monde weiter.
Und er schon drüben, und ich noch hier —
Wann reichst du wieder die Hände mir,
Mein alter treuer Begleiter?

Ich lebe gern; mich freut die Welt,
Die Sonne, die mir den Tag erhellt,
Schneeflocken und Lenzerwachen;
Manch gutes Auge in mein’s wohl blickt —
Daß ich die deinen dir zugedrückt,
Dämpft ewiglich Lust und Lachen.

Sie merken’s der alten Frau nicht an,
Wie die so gar nicht vergessen kann,
Und was sie treibt in Gedanken:
Ich bin wie der ruhelos suchende Wind,
Im Straßenlärm ein irrend Kind,
Wie Wein, der nicht kann ranken.

Ein neues Lahr — und Glockengeläut —
Und was sich liebt, sitzt beisammen heut
Und feiert sein Glück, das große.
Mir wiegen die Glocken mein Herzeleid,
Sie schwingen wie einst in schwerer Zeit —
Ich halte dein Bild im Schoße.

Und was der alte Kasten da faßt,
Die Locke grau und die Briefe verblaßt,
Das haucht dein Leben lebendig;
Und die Züge da grüßen mich herzvertraut –
Viel klarer mein feuchtes Auge schaut
Deine letzten Blicke beständig.

So will ich sitzen und denken dein,
Von allen fern — doch nicht allein.
Ich will dich fassen und halten,
Will fühlen, wie mich dein Hauch umweht
Und wie durch die arme Seele geht
Der ewigen Liebe Walten.
 Victor Blüthgen.


[886]

Für das Rothe Kreuz.

Internationale Ausstellung für das Rothe Kreuz, Armeebedarf, Hygieine, Volksernährung und Kochkunst in Leipzig.

Bald werden es dreißig Jahre sein, daß in Genf die kleine Schrift Dunants „Un souvenir de Solferino“ erschien, in welcher das auf den Schlachtfeldern des italienischen Krieges zu Tage getretene Elend der Verwundeten und Kranken geschildert wurde. Die Schrift war ein Aufruf an die Menschlichkeit der civilisierten Völker, nutzlose Härten des Krieges zu mildern und das Los der verwundeten Krieger zu lindern. Was Dunant aussprach, das fühlten Millionen in ihren Herzen; denn Europa hatte gerade zwei große Kriege mit ihrem furchtbaren Elend geschaut, und jenseit des Oceans war der große Secessionskrieg ausgebrochen. Der Ruf verhallte darum nicht ungehört, und bereits am 22. August 1864 wurde in Genf die sogenannte Genfer Konvention abgeschlossen – die internationale Uebereinkunft, durch welche die vom Kriege unzertrennlichen Uebel nach Möglichkeit gemildert und laut welcher alle, die sich mit der Pflege der Verwundeten befassen, als neutral erklärt werden. Seit jener Zeit weht über Lazarethen im Kriege die weiße Fahne mit dem rothen Kreuze. Das rothe Kreuz auf weißem Grund ist das Zeichen der Neutralität und ein Symbol der Samariterliebe geworden.

Aber nicht allein Regierungen sollten fortan ihre Sanitätskolonnen unter den Schutz des rothen Kreuzes stellen, die menschenfreundliche Bewegung ergriff weite Volksmassen. Unter allen Völkern bildeten sich Vereine zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger, überall wurde von Privaten die „nationale Organisation der internationalen Hilfe“ geschaffen. Mit Stolz können wir sagen, daß diese vom edelsten Geiste durchdrungene Vereinsbildung in keinem Lande eine so große Verbreitung gefunden hat wie in Deutschland.

Bevor noch die Genfer Konvention unterzeichnet wurde, rief das Königreich Württemberg im Dezember 1863 den ersten Pflegeverein ins Leben. Diesem Beispiele folgten in den Jahren 1864 bis 1868 andere deutsche Staaten. Männer und Frauen wetteiferten in den Vorbereitungen zu dem Liebeswerk in dem nächsten Kriege, der Deutschland so bald aufgedrungen werden sollte und in dem nicht nur die deutschen Waffen so glorreich bestanden, sondern auch die deutsche Liebe sich so glänzend bewährt hat. Der Krieg, aus dem Teutschland verjüngt hervorging, war der erste, in welchem die organisierte freiwillige Krankenpflege ihre Triumphe feierte. 4431 freiwillige Krankenpfleger und 1703 Pflegerinnen sind von der Heimath nach dem Kriegsschauplatze entsendet worden, um oft unter eigener Lebensgefahr Verwundete, Kranke und Erschöpfte zu retten; die freiwillige Krankenpflege ergänzte die Lücken der staatlichen Sanitätskolonnen, und wiederholt geschah es, daß staatliche Lazareth-Reservedepots aus den Depots der freiwilligen Krankenpflege gefüllt werden mußten. Seit jener Zeit ist es klar geworden, daß man auch im nächsten Kriege der freiwilligen Krankenpflege nicht würde entbehren können, und man ging in den langen Jahren des Friedens mit allem Eifer daran, die Organisation zu vervollkommnen und mit der Heeresverwaltung in richtige Fühlung zu treten. Für den Fall der Mobilmachung des deutschen Heeres ist auch die Mobilisierung der deutschen Vereine vom Rothen Kreuz vorgesehen, und sie werden fortan ein Glied in dem wohlgefügten Ganzen des Heeres bilden.

Wir leben im Frieden und hoffen, daß er uns noch lange erhalten bleibe, aber Europas Völker stehen kampfbereit in voller Rüstung da und das Gespenst des Krieges will vom Horizonte nicht weichen. Darum muß auch die Liebe zu ihrer aufopferungsvollen Thätigkeit gerüstet sein, ja es werden an sie weit höhere Anforderungen als früher gestellt werden; denn wenn jetzt der Krieg ausbrechen sollte, so würden gewaltigere Heere in furchtbareren Waffen mit einander ringen.

Ein ergrauter Kriegsmann, welcher die Schrecken des Krieges aus eigener Anschauung kannte, der kürzlich verstorbene sächsische Kriegsminister von Fabrice, war es auch, der gelegentlich einer Kochkunstausstellung zuerst den Gedanken aussprach, daß man im Frieden eine Ausstellung für die Zwecke des Rothen Kreuzes und für die Verpflegung der Truppen veranstalten möchte, und als der Gedanke in Leipzig aufgenommen wurde, stimmte ihm Moltke noch in den letzten Tagen seines Lebens bei.

Die deutschen Gastwirthe hatten früher Ausstellungen für Kochkunst veranstaltet, später wurden dieselben dadurch erweitert, daß man bei ihnen auch die Fragen der Volksernährung, die Hygieine der Nahrung, die Lebensmittelpflege etc. in Betracht zog. Die Ausstellungen gewannen hiedurch an Bedeutung; der Kreis erweiterte sich immer mehr, es wurden die Fragen der Massenernährung, der Truppenspeisung herangezogen. Männer der Wissenschaft und des Krieges fanden neue Gesichtspunkte, und so reifte der Gedanke zu einer eigenartigen Ausstellung, die im Februar nächsten Jahres in den Räumen des Krystallpalastes zu Leipzig stattfinden wird. Ihre genaue Bezeichnung lautet: „Internationale Ausstellung für das Rothe Kreuz, Armeebedarf, Hygiene, Volksernährung und Kochkunst“; das sind scheinbar ganz verschiedene und doch mit einander zusammenhängende Gebiete, von denen ein jedes in der Gegenwart eine Fülle brennender Fragen bietet. Von seiten der Sachverständigen und der Regierungen begegnet man denn auch der geplanten Ausstellung mit dem größten Wohlwollen und sucht sie nach Kräften zu fördern, und in der That ist sie ein gemeinnütziges Werk im vollen Sinne des Wortes.

Wir erachten es darum auch als eine Pflicht der Presse, dieses Werk zu unterstützen, indem wir weitere Kreise, namentlich die Industriellen, auf dieselbe aufmerksam machen. Mit der Ausstellung ist eine Reihe von Preisausschreibungen verbunden, bei denen die regste Betheiligung erwünscht ist. So hat die Königin Carola von Sachsen einen hohen Ehrenpreis gestiftet für eine hervorragende Leistung auf dem Gebiete der freiwilligen Krankenpflege im Kriege, insbesondere für eine Zusammenstellung von Ernährungs- und Kräftigungsmitteln für die Verwundeten und Erkrankten während der Schlacht und unmittelbar nach derselben, einschließlich hierzu gehöriger Herrichtungs- und Erwärmungsapparate. Das ist eine Aufgabe von höchster Bedeutung. Es ist ja bekannt, daß der Soldat während der Schlacht immer nichts und nach der Schlacht in der Regel nichts zu essen erhält. Der im Kriege Verwundete befindet sich darum in doppelt schlimmer Lage, er ist bereits vor der Verwundung durch Märsche, Anstrengungen im Kampfe erschöpft; der Krankenpfleger kommt somit in die Lage, zunächst diese Erschöpfung heben zu müssen, wenn er das Leben des Verwundeten retten will - und leider fehlte es in den letzten Kriegen nur zu oft an den nöthigen Kräftigungsmitteln, da ja die gewöhnliche für den gesunden Soldaten bestimmte Nahrung, wenn sie auch vorhanden war, für den Verwundeten sich nicht eignete.

Ein fernerer Umstand, welcher der Leipziger Ausstellung eine besondere Bedeutung verleiht, ist der, daß sie keineswegs eine Ansammlung von Schaustücken darstellen wird, sondern daß auf ihr sämmliche Einrichtungen genauen Prüfungen unterworfen werden. So wird sich in den weiten, über 15 000 qm fassenden Ausstellungsräumen ein überaus reges Treiben entwickeln.

Für den einen Tag sind Massenspeisungen, für den andern ist ein großes Konkurrenzkochen in Aussicht genommen; an einem andern Tage wird auf allen Maschinen nur fleischlose Kost hergestellt, um zu zeigen, wie wohlschmeckend und hoch an Nährwerth auch die fleischlose Kost ist und wie weit dieselbe für die menschliche Ernährung dienstbar gemacht werden kann. Zu einer anderen Zeit werden unter Berücksichtigung der in den Handel kommenden Surrogate Kakao und Chokoladen gekocht. Man wird auf verschiedenen Apparaten zu gleicher Zeit die guten und gefälschten Produkte zubereiten und den Besuchern der [887] Ausstellung Gelegenheit geben, sich vom Unterschied durch Kosten selbst zu überzeugen. Der Bereitung billiger Volksnahrung, der Herstellung von Fischspeisen als Volksnahrungsmittel wird wieder ein besonderer Zeitabschnitt gewidmet werden.

Ebenso soll die freiwillige Krankenpflege praktisch geübt werden und eine starke Abtheilung von Felddiakonen in ihren vorschriftsmäßigen Uniformen dauernd in der Ausstellung anwesend sein. Auch eine Sanitätswache wird nicht fehlen und täglich werden Vorträge über die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen gehalten werden.

Mit großem Sachverständniß hat das Komitee der Ausstellung bei der Ausarbeitung des Planes einigen wichtigen Tagesfragen eine besonders bevorzugte Stellung angewiesen.

So wird z. B. eine internationale Brotausstellung angestrebt, damit gerade dem wichtigsten Nahrungsmittel die vollste Beachtung geschenkt werde. Da auch das Bäckergewerbe unter dem Drucke der immer weitere Ausdehnung annehmenden Fälschung zu leiden hat, sollen, um den Unterschied dieser Surrogate im Gegensatz zu anderen Fabrikaten genau zu kennzeichnen, neben den aus guten Stoffen bereiteten auch solche von Surrogaten hergestellt werden.

Eine besondere Gruppe in der Ausstellung ist für die Fische vorbehalten. Auch hierin wird das Richtige getroffen. Der Nahrungswerth des Fischfleisches wurde zu lange unterschätzt. Außerdem fehlten uns für die billigeren Seefische Versandvorkehrungen, sodaß man wegen des hohen Preises im Binnenlande nur eine Auswahl von Fischsorten auf der Tafel Hochgestellter und Bemittelter antraf. In der letzten Zeit hat sich in dieser Beziehung vieles geändert. Der Staat unterstützt die Hochseefischerei, es ist für bequeme und rasche Beförderung der frischen Ware Sorge getragen worden, die verschiedensten Fischsorten sind bereits zu billigen Preisen auf unseren Märken vertreten, und so muß man durch Beispiel und Belehrung immer mehr dahin wirken, den Fisch zum Volksnahrungsmittel zu machen. Entsprechend den Zielen der Ausstellung soll bei diesem wichtigen Nahrungsmittelzweige auch auf andere Gesichtspunkte Rücksicht genommen werden, so z. B., welche konservierten Fische für die Armee im Felde und in der belagerten Festung als Nahrung sich empfehlen.

Beachtenswerth ist eine andere Aufgabe, die in der Gruppe „Armeebedarf“ behandelt werden soll und für deren Lösung ebenfalls ein Preis ausgeschrieben worden ist: die Versorgung der Truppen mit gutem Trinkwasser. Die Frage verdient um somehr in den Vordergrund gestellt zu werden, wenn man berücksichtigt, welchen Einfluß das Wasser, insbesondere das Trinkwasser, aus den fast täglich seinen Aufenthalt wechselnden Soldaten ausübt und wie manche Massenerkrankung auf den schädlichen Einfluß des Trinkwassers zurückzuführen ist. Wenn nun auch die Versorgung mit gleichmäßig gutem Wasser unter diesen Verhältnissen eine nicht zu lösende Aufgabe bleiben wird, so dürfte doch ein Präparat, welches in gleichen Verhältnissen jedem Wasser beigemengt werden kann, demselben einen annähernd einheitlichen Charakter verleihen. Dieses Verfahren würde die oft in dem Wasser ungleich auftretenden mineralischen Bestandtheile ebenso wie die schädlichen organischen Beimengungen und die durch dieselben bedingten verschiedenen Einflüsse auf den menschlichen Körper wesentlich ausgleichen. In dieser Gruppe werden auch Filterapparate und Reagentien für Wasseruntersuchungen vorgeführt, wie sie im Felde Verwendung finden.

Wir schließen hiermit die Reihe der Beispiele aus der Fülle der Aufgaben, welche die Leipziger Ausstellung zu lösen oder der Lösung näher zu bringen beabsichtigt. Das Gesagte dürfte genügen, um den Leser in den Geist der Ausstellung einzuführen. Die Kochkunst gilt in ihr als Anziehungsstück für die große Masse Schaulustiger; denn das Komitee will auch einen Ueberschuß erzielen, um denselben gemeinnützigen Vereinen überweisen zu können. Soweit sich bereits jetzt übersehen läßt, wird das hohe Ziel dank der regen Betheiligung des In- und Auslandes erreicht werden. Gilt es doch, durch diese Ausstellung die Bestrebungen zu fördern, welche darauf gerichtet sind, des Volkes Wohlfahrt im Frieden zu mehren und die Härten des rauhen Krieges zu mildern. C. Falkenhorst.     


Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Das Aluminium.

Item hat’s einen Stein secundi ordinis, das klein magisterium, auch weiße Tinctura genannt, allwelcher die wunderliche Krafft hat, eine materiam, wo kein Sylber darinnen ist, in pur rein Sylber zu verwandeln.“ Dieser zweite Lehrsatz der alchimistischen Träumereien hat durch die neuere Chemie in gewisser Hinsicht seine Bestätigung gefunden. Vor uns liegt, metallisch und silberglänzend, dargestellt aus der weißen Tinktura, das „Silber aus Lehm“. Freilich, Silber ist’s nicht, sondern das heute so viel genannte, dem Silber täuschend ähnliche Aluminium, das sich dem Aussehen nach von dem Silber nur durch einen ins Blaue spielenden Farbenton unterscheidet. Seine hervorragende Eigenschaft ist jedoch das geringe Eigengewicht, welches es vor allen andern beständigen Metallen voraus hat.

Das Aluminium gehört zu den auf der Erde am weitesten verbreiteten Stoffen, thatsächlich finden wir es überall „auf der Straße“; in jedem Stück Ackererde, im Lehm und Thon ist es enthalten, ferner im Feldspath, im Schmirgel, im Alaun und in einer Menge anderer Mineralien. Einige der letzteren gehören sogar zur besseren Gesellschaft, denn es zählen darunter der Rubin, Turmalin, Saphir, Granat und Corund.

Freilich merkt man diesen strahlenden Steinen ihre Verwandtschaft mit dem verachteten Erdenklos nicht an. Noch weniger wird man vermuthen, daß sie das undurchsichtige Metall Aluminium enthalten; ebensowenig wie man es dem Kochsalze unserer Hausfrauen ansieht, daß es – in ähnlicher Weise – aus einem silberähnlichen Metalle, dem Natrium, und dem giftigen, zerstörenden Gase, dem Chlor, besteht.

Die chemische Freundschaft, welche das Aluminium mit verschiedenen Stoffen geschlossen hat, um die genannten Verbindungen zu bilden, ist eine so innige, daß es der ganzen List des Chemikers bedurfte, um diese Freundschaft zu trennen und das Aluminium für sich abzuscheiden. Dies Kunststück gelang zuerst im Jahre 1827 dem Göttinger Professer Wöhler. Dieser stellte zunächst durch Ausscheidung anderer Stoffe eine Verbindung von Aluminium mit Chlor dar, brachte das pulverförmige Gemenge mit dem vorhin erwähnten metallischen Natrium zusammen und glühte das Gemisch mit Kohlenpulver. Seine Vermuthung, daß das Natrium alles Chlor an sich reißen und das Aluminium als Metall ausscheiden würde, fand Wöhler bestätigt. Allmählich gelang es ihm auch, das anfänglich nur in sehr feinen Kügelchen ausgeschiedene Alumimum zu größern Stücken zu vereinigen.

Nachdem so die Möglichkeit der Darstellung des metallischen Aluminiums erwiesen war, bemühte sich in den fünfziger Jahren der französische Gelehrte Saint-Claire Deville, eine fabrikmäßige Gewinnung desselben ausfindig zu machen. Unter reichlicher Unterstützung des Kaisers Napoleon III., der seine Gardekürassiere mit Aluminiumpanzern zu bekleiden hoffte, erreichte er es wirklich, in der Anlage zu Juvelle Aluminium in größeren Mengen darzustellen. Allein der Preis des Fabrikates, der sich auf 2000 Franken für das Kilo stellte, gestattete keine weitgehende Verwendung. Die hohen Kosten aber entstanden aus dem zu diesem Verfahren erforderlichen Natrium, von welchem das Kilo etwa auf 300 Franken zu stehen kam. Da aber zu 1 Kilo Aluminium etwa 3 Kilo Natrium verwendet wurden, so ist der Gesammtpreis wohl erklärlich.

Zwar machten Netto, Castner und Webster Fortschritte in der Richtung auf eine billigere Gewinnung, indem sie leichter zu verarbeitende Verbindungen des Aluminiums wählten und auch verbesserte Oefen anwandten; doch wurde dadurch an den bisherigen Verhältnissen wenig geändert.

Die große Wendung in der Aluminiumfabrikation, die es ermöglichte, das Kilo des Metalls nunmehr zu 8 Mark (nach der neuesten uns vom Neuhausener Aluminiumwerke zugegangenen Nachricht sogar zu 5 Mark) herzustellen, wurde erst dadurch angebahnt, daß Héroult das zuerst von Bunsen im kleinen ausgeführte elektrolytische Verfahren an die Stelle des bisherigen rein chemischen setzte und für das Großgewerbe ausbildete. Die wunderbare Kraft der Elektricität, die imstande ist, das Wasser in seine Elemente Wasserstoff und Sauerstoff zu zerlegen, ist auch geeignet, den Thon in seine Bestandtheile zu trennen. Wenn es denselben mit Millionen von Schwingungen in der Sekunde durchzittert, so scheidet sich auch der metallische Theil aus dem Thone ab. Gleichzeitig liefert der elektrische Strom auch die Wärme, welche das Rohmaterial zur Gewinnung des Aluminiums zum Schmelzen bringt, sodaß es in großen Stücken gewonnen wird.

Die hervorragendste Fabrik zur Darstellung des Aluminiums ist zur Zeit diejenige der Aluminium-Industrie-Aktien-Gesellschaft in Neuhausen in der Schweiz. Die zum Betriebe erforderliche Kraft liefert der Schaffhausener Rheinfall, dem die Gesellschaft in der Sekunde 20000 Liter Wasser entnehmen darf, die bei einem Falle von 20 Metern Höhe gegen 4000 Pferdekraft liefern können. Von dieser Kraft wird zur Zeit etwa die Hälfte von Turbinen aufgenommen und durch Dynamomaschinen in elektrische Energie verwandelt. Die erzeugte Elektricitätsmenge scheidet geheimnißvoll in aller Stille täglich 800 Kilo Aluminium aus. Das einzige Geräusch, welches bei dieser Arbeit entsteht, ist das sanfte Schnurren der umgehenden Dynamomaschinen und das Schleifen der Drahtbürste auf den Kupferringen.

In der Neuanlage zu Neuhausen befinden sich zwei größere und eine kleinere Dynamomaschine, die von je einer Turbine von 600 bezw. 300 Pferdekraft betrieben werden.

[888]

In Vertheidigung.
Nach dem Gemälde von F. Vinea.

[889] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [890] Man kann sich von der Größe der ersteren Dynamos – der bis jetzt größten Gleichstrommaschinen der Welt – eine Vorstellung machen, wenn man bedenkt, daß der Ring für die Magnete ohne die Wickelung 12000 Kilo wiegt. Er hat 3,60 Meter äußeren Durchmesser und liegt wagerecht über der Turbine. Die inwendig liegende Trommel hat 2,43 Meter Durchmesser und ist auf der verlängerten Turbinenachse angebracht. Im Vergleich zu den gewöhnlichen Dynamos mit senkrecht umgehender Trommel, wie sie zum Betriebe von Kraft- und Lichtmaschinen verwendet werden, liegt hier ein wahrer Riesenapparat vor.

Elektrischer Apparat zur Herstellung des Aluminiums.

Um unseren Lesern eine Vorstellung zu geben, wie die Umwandlung des Rohmateriales und die Ausscheidung des Aluminiums vor sich geht, verweisen wir auf unsere Abbildung. Rechts an der Figur sieht man zwei Kupferseile, die mit Plus (+) und Minus (-) bezeichnet sind; sie kommen von der Dynamomaschine und sind von dem elektrischen Strome durchflossen. Der Plusdraht biegt sich nach oben und ist mittels vier Litzen in einen Kupferring geleitet, der einen Kohlencylinder (Graphit oder Gaskohle) umschließt. Letzterer ist in einem mit Kohle ausgefütterten Schmelzofen der Höhe nach durch ein Handrad verstellbar. Auf dem Boden des Schmelzofens befindet sich ein Metallstopfen, der mit dem anderen, dem Minusdrahtende verbunden ist. Der Ofen ist mit Thonerde angefüllt. Setzt man nun die Drahtleitung mit der Dynamomaschine in Verbindung, so durchstreicht der Strom die Leitung und den Ofen. Auf dem Wege von dem Kohlencylinder (+) zum Metall (-) wird die Thonerde vom Strome getroffen, sie wird zunächst geschmolzen und damit die Möglichkeit herbeigeführt, daß sowohl die Abscheidung des Aluminiums als auch das Zusammenfließen desselben erfolgen kann. An der linken Seite des Ofens befindet sich eine Abstichöffnung zum Ablassen des fertigen Aluminiums.

Mittels einer ähnlichen Methode wird auch die Legierung des Aluminiums mit verschiedenen Metallen, insbesondere die Legierung mit Kupfer, die sogenannte Aluminiumbronze, gewonnen. Um letztere haben sich die Gebrüder Cowles sehr verdient gemacht.

So einfach das Verfahren sich ansieht, so war doch der Weg bis zu dessen Durchführung ein sehr schwieriger und mühevoller, und die tüchtigsten Metallurgen haben sich um die Lösung dieser Aufgabe bemüht, die ihre ganz besonderen, eigenthümlichen Schwierigkeiten bot. Der Erfolg ist der, daß das Aluminium nunmehr eine achtungswerthe Stellung in der Reihe der Metalle einnimmt und je länger je mehr einnehmen wird.

Einige Eigenschaften, den metallischen Glanz und das geringe Eigengewicht, haben wir schon erwähnt. Das Aluminium wiegt ziemlich genau nur ein Drittel des Eisens; daher wird man es zu solchen Zwecken verwenden, die geringes Gewicht erfordern. Es hat einen vorzüglichen Klang, läßt sich leicht schmelzen (bei 700° Celsius), ist unempfindlich gegen trockene und feuchte Luft, behält also Glanz, und Politur. Schwefelwasserstoff, der bekanntlich das Silber sofort schwärzt, übt keinen Einfluß aus auf Aluminium. Zudem läßt es sich in der Kälte wie in der Wärme schmieden und walzen, es läßt sich stanzen, drücken und löthen. Infolge dieser Eigenschaften ist das Aluminium zu einer unzähligen Menge von Geräthschaften verwendbar. Auch für Küchengeschirre ist es empfohlen worden, weil es neben dem geringen Gewichte die gute Eigenschaft habe, von organischen Säuren, als Essig, Weinsäure, Säure von Früchten u. dergl., nicht an gegriffen zu werden, und weil etwa sich bildende Aluminiumsalze verhältnißmäßig unschädlich seien. Die Versuche darüber haben indessen zu einem abschließenden Ergebniß noch nicht geführt, sodaß vorderhand noch Vorsicht geboten ist.

Es wurde uns zu weit führen, wenn wir alle Fälle der Verwendung des Aluminiums aufzählen wollten; wir beschränken uns darauf, noch den ausgedehnten Gebrauch für kunstgewerbliche Gegenstände zu erwähnen, von deneb die Ausstellung in Frankfurt eine reiche Auswahl bot.

Eine weitere wichtige Verwendung hat das Aluminium in Form der erwähnten Aluminiumbronze gefunden. Dies Rohmaterial ist außerordentlich beständig und kann durch Bearbeitung auf die Härte und Festigkeit des Stahles gebracht werden. Bei der leicht ausführbaren Schmelzung dient die Aluminiumbronze zu solchen Maschinenteilen, an welche besonders hohe Forderungen bezüglich der Festigkeit gestellt werden, wie Zahnstangen, Knetmaschinen, Hebewerke, Schiffsschrauben und dergleichen. Drähte von Aluminiumbronze leiten die Elektricität sehr gut, rosten nicht, sind leicht und stark; daher sind diese Drähte auch zu Seilen für Aufzüge aller Art zu empfehlen.

Die feinsten Meßinstrumente und Gradeintheilungen, wie sie für die Marine und die Astronomie gebraucht werden, fertigt man vorzugsweise aus Aluminiumbronze, weil sich die Ringe mit den Kreiseintheilungen nicht ungleichmäßig ziehen, sondern stets unverändert bleiben. Dies ist aber für genaue Messungen eine unerläßliche Bedingung. Einige der Aluminium-Kupferlegierungen zeichnen sich durch ihre Aehnlichkeit mit Gold besonders aus.

Einen ausgedehnten Gebrauch macht man neuerdings von dem Aluminium als Reinigungsmittel für Metalle. Lange waren die vorzüglichen Eigenschaften des unter dem Namen Mitisguß eingeführten Eisengusses bekannt, welcher sich durch Weichheit, Festigkeit und vor allem dadurch auszeichnete, daß er keine Blasen und undichte, unreine Stellen zeigte, an welchen beim gewöhnlichen Eisenguß meist kein Mangel ist. Diese vorzüglichen Eigenschaften verdankt der Mitisguß einem kleinen Zusatze von Aluminium. Dieser bildet, dem schmelzenden Gußeisen eingerührt, mit dessen schädlichen Verunreinigungen sofort eine dünnflüssige Schlacke, welche an die Oberfläche steigt und entfernt werden kann. In ähnlicher Weise wird auch Kupfer gereinigt.

Es ist natürlich, daß die guten Eigenschaften und der gute Ruf des Aluminiums auch oft zu Mißbräuchen führen: man lasse sich deshalb durch den Namen nicht bestechen, denn schon muß der Name „Aluminium“ für Dinge Reklame machen, die mit Aluminium nichts zu thun haben.

August Hollenberg.


Die Musik und der Volkswitz.

Die Musik, in heiteren wie in trüben Stunden die treue Begleiterin des Menschen bis hin aus Grab, hat auch den denkenden, nicht nur den empfindenden Volksgeist immer lebhaft beschäftigt. Ein gut Theil seiner im Sprichwort niedergelegten Lebensweisheit knüpft an Musik und musikalische Begriffe an, um einen Gedanken kurz und anschaulich in Worte zu fassen.

Es muß dem Manne aus dem Volke etwas vollste Genugthuung gewähren, wenn es ihm das Urtheil abnötigen soll: „Da liegt Musik drin!“ Daher bezeichnet er auch in vielen Gegenden unseres deutschen Vaterlandes das Glas Bier mit geriebenem und eingezuckertem Brot als „Eine mit Musik“; und mit dem stolzesten Bewußtsein erfüllt es jeden, der auf seine Tasche klopfen und sagen kann: „Hier sitzen die Musikanten“. Weiß er doch, daß diese damit jederzeit zu haben sind, ja daß „Gold und Silber und die gangbaren Werthpapiere“ meist noch leichter Herz und Sinn zu rühren imstande sind als die feinste Musik; und das: „Wo du nicht bist, Herr Organist, da schweigen alle Flöten“ entspringt dem ganz gleichen Gedanken.

Schlimme Erfahrungen in dieser Richtung erzeugten auch früh das Wort: „Wo man mit goldnem Horn bläst, da geht das Recht flöten“ oder „Für Geld geigt man selbst in Rom zum Tanz!“

Aus Erwägungen ähnlicher Art ging das Sprichwort hervor: „Bezahlen wir die Musik, so wollen wir auch tanzen!“ Aber diese Forderung wird doch nicht immer erfüllt, denn: „Was die Fürsten geigen, müssen wir tanzen!“

Die Geige ganz besonders giebt dem Volksgeist zu einer ganzen Reihe von Weisheitssprüchen Veranlassung. Dem im Glück oder auch nur in Hoffnung Schwelgenden „hängt der Himmel voller Geigen“, und wer allzugründlich ins Glas geschaut hat, „der sieht den Himmel für eine Baßgeige an“; der erzürnte Vater oder Lehrmeister aber will seinen Buben prügeln, „daß er den Himmel für einen Dudelsack halten soll“, und ein Betrunkener erscheint „voll wie ein Dudelsack“. Mit höhnender Ironie droht man wohl auch, einen zu hauen, daß er „die Englein im Himmel pfeifen hört“.

Daß selbst im Alter noch das Herz erglühen kann, bezeugt das Sprichwort: „Alte Herzen bezieht man auch mit neuen Saiten“, und wenn jugendlicher Uebermuth meint: „Das Alte klappert und das Neue klingt“, so wird ihm die wohlverdiente Zurechtweisung: „Die Jungen fiedeln, wie ihre Alten die Geigen gestimmt haben“.

„Oft muß man spielen, wie die Geige will“, entschuldigt sich der Bauherr, der gerne einen Prachtbau aufgeführt hätte, aber nur ein bescheidenes Haus fertig stellte, denn:

„Das Bauen wär’ eine feine Kunst,
So einer das Geld dazu hätt’ umsunst.“

[891] Aus dem wimmernden Klang des Sterbeglöckleins, das ihm schwermüthig ans Ohr tönt, hört das Volk nichts als die Worte heraus: „Bezahle! Bezahle!“, als eine Mahnung, sein Schuldbuch mit seinem Herrgott in Ordnung zu bringen.

Die Glocken haben überhaupt zu einer Menge tiefsinniger Sprüche angeregt. „Je höher die Glocken hängen, desto heller sie klingen“ ruft den Hochstehenden zu, ihre Reden stets so einzurichten, daß sie auch werth sind, weit gehört zu werden. Andererseits aber heißt es: „Wenn die Glocke von Leder ist und der Klöppel ein Fuchsschwanz, dann hört man die Schläge nicht weit.“

Die große Mannigfaltigkeit der Lebensinteressen wird ausgedrückt in den Sprichwörtern: „Dieselben Glocken läuten zur Hochzeit und zum Grabe“ und „Die Glocke ruft zur Kirche, geht aber nicht selbst hinein.“

Ebenso harmlos wie wahr ist es, wenn das Volk sagt: „Glocken und Narren läuten gern“ oder ein andermal: „Jeder meint, was er im Sinne hat, das läuten alle Glocken“. Und zur Vorsicht ermuntert das Wort: „Wie die Glocken am Klange, so erkennt man den Fuchs (oder Wolf) am Gange.“

Nicht weniger häufig als die Glocken werden Lied und Gesang bildlich verwendet. „Die Vögel, die früh singen, erhascht abends die Katze“, ruft warnend die Mama den übermüthigen Kindern zu, wenn sie im Ausbruch ihrer Freude keine Grenze finden können, und wohl ihnen, wenn sie sich’s auch für spätere Zeiten merken, wo sie längst der Kinderstube und dem Vaterhause entwachsen sind, wenn sie auch das andere nicht vergessen: „Süßer Gesang hat schon manchen Vogel bethört“. Süßer Gesang und gleißnerische Rede haben schon manchen in Netze verstrickt, in denen er elendiglich umkam. – Dem zaghaften Anfänger, der den Beginn der Studien verzögert, aus Furcht, damit nicht zu stande zu kommen, ruft das Sprichwort zu: „Singe, so lernst du singen!“, und es tröstet ihn: „Ein Geiger muß viel Saiten zerreißen, ehe er ein Meister wird!“; allein zugleich muß er hören: „Ein kurzes Lied ist nur bald gesungen“. Heißt es nun weiter: „Neue Lieder singt man gern“ und: „Ein gut Lied mag man dreimal singen“, so wird der, welcher das alles beherzigen soll, doch wohlthun, sich an den Satz zu erinnern:

„So gut kein Lied,
Man wird fein müd!“

Eine der weisesten Lebensregeln hält uns der Spruch vor: „Wenn man das Lied zu hoch anfängt, so erliegt man im Singen.“ Wie manches Leben ist nur deshalb rettungslos in Trümmer gegangen, weil es „zu hoch angefangen“ wurde!

Von wem es heißt: „Er kann weder singen noch sagen“, der steht gewiß recht niedrig in der Werthschätzung seiner Mitmenschen. Allein :

„Vom Singen und Sagen
Läßt sich nichts zu Tische tragen,“

das hat das Volk auch erfahren, und so läßt es sich zu der Behauptung verleiten: „Jedermann singt das Liedlein dem Loch unter der Nase zulieb!“, und noch deutlicher: „Wes Brot ich esse, des Lied ich singe“. Schon etwas verblümter klingt: „Die Orgel pfeift, so man ihr bläst“; und als Gegengewicht gegen das eben Ausgesprochene wird gesagt: „Liedlohn schreit zu Gott im Himmel!“ und jedem gerathen: „zu singen, wie der Schnabel gewachsen ist“, das heißt, wie es ihm ums Herz ist und nicht, wie es der Magen vorschreibt. Denn „Keine schönere Konkordanz, als wenn Herz und Mund zusammenstimmen.“

Daß die Welt mit Spielleuten und Sängern mitunter recht üble Erfahrungen gemacht hat, beweisen manche Sprichwörter. „Gute Singer, gute Schlinger“ meint das eine, ein anderes weiß: „Singen will Gläserspringen“, denn „Singen und wenig schlingen macht dürren Hals“. Wo daher einer stolpert, da „liegt ein Spielmann begraben“: der Spielmann, der im Leben oft strauchelte, muß nach der Meinung dieser scherzhaften Redensart auch noch im Grabe zu Fall bringen.

Beachtenswerth scheint die Aufforderung: „Wer nicht singen kann, mag pfeifen“, denn „Manches wird besser gepfiffen als gesagt“, durch Pfeifen verbrennt man sich nicht leicht den Mund, wohl aber durch ein vorschnelles Wort.

Einige alte volksthümliche Wendungen:

„Wer ein Amt kriegt, ändert sich drum,
Lunge und Leber kehren sich ihm um!“

und „Die Aemter sind Gottes, die Amtleute des Teufels“, haben unter den Musikern schon früh die entsprechende Veränderung erfahren: „Wem der Herrgott einen Taktstock in die Hände giebt, den will er zum Halunken machen!“

Nicht gerade treffend ist das Wort: „Ein Kantor gäbe einen guten Küchenmeister!“, denn etwas Gutes ißt und trinkt jeder gern, warum sollen die Kantoren eine Ausnahme machen? Noch aus alter Zeit stammt der Reim: „Geiger und Pfeifer sind keine Scherenschleifer“, er entstand damals, als die Musikanten seßhaft und für „ehrlich“ erklärt wurden und trotzdem manche geneigt waren, sie nicht viel höher zu stellen wie die umherwandernden und „unehrlichen“ Scherenschleifer.

Einen bewährten, für jeden nützlichen Rath enthält der Satz: „Wer flöten will, muß nicht nur blasen, sondern auch fingern.“ Denn mancher wäre nicht flöten gegangen, wenn er nicht nur den Mund, sondern auch die Hände gerührt und tüchtig „gefingert“ hätte.

„Am Gesang kennt man den Vogel“, sagt man wohl und will dadurch zur Vorsicht mahnen, damit man nicht einen harmlosen Singvogel zu hegen vermeint und hintennach einen nichtsnutzigen Schmarotzer gepflegt hat. Schwer ist der Rath zu befolgen: „Tanze, wenn das Glück dir pfeift“, weil dieses nur zu oft seine Melodie pfeift, ohne daß wir es merken; und mancher tanzte in dem Glauben, das Glück pfeife ihm, um zu spät einzusehen, das Unglück habe zu seinem Tanz den Ton angegeben.

In der Zeit, in welcher die Sackpfeife zu den beliebten und weit verbreiteten Volksinstrumenten gehörte, ist das Sprichwort entstanden: „Die Luft bläst die Sackpfeife auf und die Hoffart den Narren“. Wird damit dem Hochmuth ein Wink gegeben, so gilt den Lehrern und allen Erziehern, welchen Kinder zur Heranbildung für einen bestimmten Beruf anvertraut sind: „Nicht aus jedem Holz kann man Pfeifen schneiden“.

Zu den Instrumenten, welche von früh an dem Volke mächtig imponierten, gehören die Pauken und Trompeten.

Die Pauke ist unzweifelhaft eins der ältesten Instrumente, vielleicht in dem Bestreben erfunden, den Donner nachzuahmen, der über den Häuptern der Menschen grollend dahinzieht und Angst und Schrecken verbreitet. Und derjenige, welchem das mit seinem Instrument wirklich gelang, konnte wohl auch für sich ein Gefühl der Ehrfurcht erwecken. Die Pauke wurde daher früh als Zeichen der Macht angesehen. Alle obrigkeitlichen Verordnungen und Befehle wurden im alten Aegypten unter Paukenwirbel verkündet und das Instrument hieß „Nagaret“ von „Nagar“ – „Befehl“. Der Statthalter einer Provinz erhielt neben einer Fahne eine Pauke, dem Könige wurden 45 Pauken voran getragen, und je mehr die Paukenschläger sie zu bearbeiten verstanden, desto gewaltiger war die Wirkung auf die sich vor dem Herrscher im Staube beugenden Unterthanen. Später trat dann die Trompete hinzu, und im Mittelalter waren beide Instrumente derartig in Gunst gelangt, daß der Glanz der fürstlichen Höfe sich namentlich nach der geringeren oder größeren Anzahl der Trompeten und Pauken bemessen ließ. Jede nur einigermaßen bedeutsame Verrichtung der Mächtigen der Erde wurde unter Trompeten- und Paukenschall vorgenommen. Er begleitete nicht nur die wichtigen Staatshandlungen, sondern auch die Ausfahrten, den Gang zur Kirche – wie den zur Tafel und in den Ballsaal. Das „Mit Pauken und Trompeten“ wurde deshalb bald eine beliebte Redensart und ist es noch heutigen Tages; allein sie findet seltsamerweise hauptsächlich nur noch auf jene Unternehmungen Anwendung, die mit Glanz begonnen werden, aber elendiglich enden. Der Kandidat, der mit gehobenem Bewußtsein und mit siegessicherer Zuversicht ins Examen geht, fällt „mit Pauken und Trompeten“ durch! Der Bewerber um einen Sitz im Reichstag, der mit den hochtrabendsten Ankündigungen seine Wähler zu gewinnen sucht und seinen Gegner schon vernichtet zu haben meint, unterliegt mit „Pauken und Trompeten“ und „mit Pauken und Trompeten“ kracht das Aktienunternehmen zusammen, aus dem die goldenen Berge von selbst aufsteigen sollten.

Daß hiemit die Zahl der von der Musik hergeleiteten Sinnsprüche noch lange nicht erschöpft ist, gestehen wir gern zu; allein wer weise ist, der folgt der Lehre:

„Von einem guten Lied soll man nicht alle Strophen singen.“

Dr. August Reißmann.     


[892] 0


Blätter und Blüthen.

An des Jahres Wende. Die letzte Hand am Werke eines Jahres! Wir fügen diese Nummer zu ihren vorausgegangenen Schwestern, und mit ihr ist wieder ein „Gartenlaubeband“ vollendet, der neununddreißigste!

Unser Auge ruht nachdenklich auf der stattlichen Bändezahl, die da aufgereiht vor uns steht in unserem Zimmer. Was hat sie uns nicht alles zu sagen! Sie erzählt von kühnem Entschluß und zähem Ausharren, von eifriger Arbeit und frohem Schöpferdrang, von tapferem Ringen und auch von manch schönem Siege. Sie erhebt uns, sie erweckt in uns Gefühle der Genugthuung, daß uns soviel gelingen durfte; sie flößt uns Hoffnung und Muth ein auch für die Zukunft – die alten Sterne, welche über der „Gartenlaube“ nun neununddreißig Jahre gestrahlt, werden ihr auch künftig treu bleiben. Und sie macht uns wieder bescheiden – sie läßt uns fragen: ist der Band, den wir heute abschließen, um ihm bald neben dem von 1890 seinen Platz auf dem Bücherbrette anzuweisen, ist er auch würdig seiner Vorgänger, sind wir den alten Sternen treu geblieben, die bisher der „Gartenlaube“ vorangeleuchtet?

Auf solche Frage selbst die Antwort „ja“ zu geben, wäre vermessen. Wir können nur sagen: wir glauben, den alten Sternen treu geblieben zu sein, wir glauben, festgehalten zu haben an den alten Grundsätzen, wir glauben, fortgeschritten zu sein in der Richtung, welche die Vergangenheit uns vorgezeichnet hat. Und daß wir dies glauben, dazu haben neben den Stimmen unseres eigenen Innern auch die Leser uns das Recht gegeben. Auch sie sind uns treu geblieben durch alle die Jahre her, auch sie haben durch ihre stetige unveränderliche Theilnahme uns in dem Vertrauen bestärkt, daß wir thatsächlich nach wie vor auf dem rechten Wege sind.

So legen wir denn ruhig festen Sinnes die letzte Hand an das Werk dieses Jahres!

Und wenn jetzt diese Nummer hinauswandert in die Welt, wenn unsere Freunde draußen im Vaterlande und in allen Erdtheilen sie erhalten, sie lesen und dann dem nunmehr fertigen Bande zugesellen, wenn dieser Band seine Stelle einnimmt an der Seite seiner Vorgänger, mögen dann auch unsere Leser mit freundlichen Gedanken vor der Reihe stehen, welche sie sich gesammelt haben und aufbewahrt als einen lieben Familienbesitz. Mögen sie umweht sich fühlen von den Geistern ernster Arbeit und fröhlicher Erholung, welche in diesen Blättern gebannt sind, mögen sie mit zufriedenem Herzen der Fülle dessen gedenken, was sie im Laufe der Jahre aus diesem Quell an Wissen und Genuß geschöpft haben. Dann verbindet uns ein starkes geistiges Band, das auch ferner die Probe halten wird, das sich nicht lockert, sondern nur um so fester sich knüpft von Jahr zu Jahr! Die Redaktion.     

In Vertheidigung. (Zu dem Bilde S. 888 und 889.)

„Mädchen mit stolzen
Höhnenden Sinnen
Möcht’ ich gewinnen –“

heißt es im Soldatenlied. Aber Schelminnen wie die, welche hier der Italiener Vinea auf die Leinwand brachte, so verteufelt hübsche und verzweifelt lachlustige Florentinerinnen, wie gewinnt man die? … Mit dem gewöhnlichen Sturmangriff sicher nicht, den schlagen die blitzenden Augen und lustigen Lachmündchen ohne weiteres ab. Man muß es mit Zierlichkeiten versuchen, die zugleich den allerfeurigsten Herzenszustand offenbaren.

„Kühn ist das Mühen –“

jawohl, denn mit Guitarrespielen Eindruck machen wollen, wenn man es nicht gelernt hat, ist ein kühnes Wagestück –

„Herrlich der Lohn!“

Sehr unwahrscheinlich! … Doretta hält sich verzweifelt die Ohren zu, der Krug aber im Händchen der bildschönen Luisella wippt gerade so unternehmend, als ob er sehr rasch mit Wasser gefüllt und einem allzu Kühnen ins Gesicht geleert werden könnte. Und der alte dicke Hauptmann, durch dessen weinschweren Schädel soeben diese Erwägung zieht, blickt wohlgefällig schmunzelnd auf das Blitzmädel und ihre entschlossene Haltung herab. Es steht sehr zu fürchten, daß der feindlichen Macht am Ende nichts übrig bleiben wird, als die Belagerung aufzuheben und auf ehrenvollen Rückzug zu denken. Denn leider, leider! Die Mädels sind schlau und wissen nur zu gut, daß unter allen Umständen schließlich

„Die Soldaten
Ziehen davon!“ Bn.     

Die Langschläferin von Grambke. Gelegentlich der Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte in Halle veröffentlichte Professor Ebstein die Geschichte einer Langschläferin, welche im Vergleich zu den anderen Fällen von Langschläfern sich durch einige seltsame Umstände auszeichnet und auch die Aufmerksamkeit weiterer Kreise verdienen dürfte.

Die Kranke ist die 28jährige Tochter eines Landmannes in Grambke, unweit von Bremen. Sie hat schon wiederholt an Schlafsucht gelitten, zum ersten Male im Jahre 1878. Sie litt an Melancholie, welche mit einem längeren, öfter ununterbrochenen Schlafe endete. Nach dem Erwachen war sie völlig gesund, bis sie im Jahre 1880 infolge des Todes einer Freundin wieder melancholisch wurde. Auf diese Verstimmung folgte ein 30 Wochen dauernder Schlaf. Die Kranke erwachte auch aus diesem gesund. Weder ihre Intelligenz noch ihr Gedächtniß hatte gelitten und sie ging mit Interesse ihren häuslichen Geschäften nach. Nur das Denken strengte sie etwas an.

Im Januar 1886 ereignete sich der dritte Anfall von Schlafsucht, aus welchem die Kranke bis jetzt nicht erwacht ist. Um jene Zeit wurde sie wegen eines leichten Falles schreckhaft und fing an zu schlafen. Während sie auf Stechen und Kneifen der Haut nicht reagiert, zeigt sie einen guten Geschmacks- und Geruchssinn, hat Durst- und Hungergefühl und giebt dasselbe durch Gähnen kund. Wird dieses dadurch gestillt, daß man ihr Speisen in den Mund einführt, so liegt sie wieder mit geschlossenen Augenlidern still da. Auch ihre Wahrnehmung scheint nicht ganz unterdrückt zu sein. Sie soll die Schritte ihrer Mutter, von der sie mit Sorgfalt überwacht wird, erkennen und einmal bei Erzählung von etwas Traurigem geweint haben. Während des Schlafes hat sie einmal Keuchhusten und einen Grippeanfall durchgemacht; dank der Leichtigkeit, mit der sie ernährt werden kann, wurde sie aber nicht mager, sondern hat im Gegentheil Fett angesetzt.

Eine Entfettungskur wollte bei ihr nicht gelingen, denn sie ißt reichlich; bekommt sie nicht genug, so fängt sie furchtbar zu gähnen an, wirft die Betten weg und wird unruhig. Sie zeigt auch zeitweise einen Widerwillen gegen gewisse Speisen; so konnte sie z. B. neuerdings kein Brot essen. Flüssige Nahrung wie Milch und Suppen verhindert nicht die beim Hungern auftretenden Gähnkrämpfe. Man hatte einmal versucht, sie einen Tag fasten zu lassen, um sie dadurch zu erwecken. Sie bekam aber infolgedessen so heftige Gähnkrämpfe, daß man von diesem Erweckungsmittel absehen mußte. In den ersten Jahren waren ihre Glieder steif, jetzt sind sie schlaff geworden und folgen mit Leichtigkeit jeder Bewegung; überhaupt scheint der Schlaf nunmehr weniger tief zu sein. Das Wesen der räthselhaften Schlafsuchterscheinungen ist bis jetzt nicht völlig aufgeklärt. Wir verweisen in Bezug darauf unsere Leser auf die Artikel über den Schlaf, die im Jahrgang 1880 unseres Blattes erschienen sind. *     

Der „Gartenlaube-Kalender“. Als Führer durchs neue Jahr und traulicher Gesellschafter in einsamen Stunden bietet der „Gartenlaube-Kalender“ sich dar. Er giebt Antwort auf alle Fragen, die man an einen Kalender stellen kann, und bringt daneben eine Fülle von Unterhaltungsstoff. Da finden wir drei Erzählungen, allen voran wieder etwas von W. Heimburg, „Großvaters Stammbuch“, eine Fortsetzung der niedlichen Skizzen „Aus meinen vier Pfählen“; die beiden andern Novellen stammen von Stefanie Keyser und A. G. v. Suttner. E. Hellmuth schildert die Entdeckung Amerikas durch Columbus, ein Ereigniß, das in einem Kalender für 1892 nicht unerwähnt bleiben durfte. Franz Bendt macht uns mit der neuesten Entwicklung der Elektrotechnik bekannt, Dr. Schäfer giebt Anleitung zur Pflege der Hand, während Schmidt-Weißenfels wieder die Ereignisse seit dem Erscheinen des letzten „Gartenlaube-Kalenders“ vor uns vorüberziehen läßt. Wer Zeit und Lust hat, kann sich an der Hand unseres Kalenders eine Geheimschrift ausklügeln, andere werden mit Begierde nach der Tabelle greifen, in welcher für alle der Landwirthschaft schädlichen Thiere Vertilgungsmittel aufgeführt sind. Zwischen dieser ernsteren Speise stecken eine Menge lustiger Scherze, nützlicher Winke, interessanter Mittheilungen, hübscher geschmackvoller Bilder, kurzum, es findet jedermann in jeder Stimmung etwas für sich in dem „Gartenlaube-Kalender“.



Inhalt: Punschlied. Gedicht von Adolf Marquardt. Mit Abbildung. S. 877. – Ein Görtenbild. Roman von Marie Bernhard (Schluß). S. 878. – Stiefmütterchen. Bild. S. 881. – Sylvesterträumen. Gedicht von Victor Blüthgen. Mit Abbildung. S. 885. – Für das Rothe Kreuz. Internationale Ausstellung für das Rothe Kreuz, Armeebedarf, Hygieine, Volksernährung und Kochkunst in Leipzig. Von C. Falkenhorst. S. 886. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Das Aluminium. Von August Hollenberg. S. 887. Mit ABbildung S. 890. – In Vertheidigung. Bild. S. 888 und 889. – Die Musik und der Volkswitz. Von Dr. August Reißmann. S. 890. – Blätter und Blüthen: An des Jahres Wende. Mit Bild. S. 892. – In Vertheidigung. S. 892. (Zu dem Bilde S. 888 und 889.) – Die Langschläferin von Grambke. S. 892. – Der „Gartenlaube-Kalender“. S. 892.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.
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An unsere Leser!

Mit dieser Nummer schließt der neununddreißigste Jahrgang der „Gartenlaube“. Für den neuen, den vierzigsten, haben wir bereits umfangreiche und sorgfältige Zurüstungen getroffen. An Erzählungen sind vorgesehen:

Weltflüchtig. Roman von Rudolf Elcho. – Ketten. Roman von Anton v. Perfall.

Der Kommissionsrath. Von Rudolf Lindau.
Freie Bahn! Roman von E. Werner.
Onkel Christians sieben Lieben. Von Malvine v. Dorsner.
Lolas Töchter. Von Leo Hildeck. – Sein Minister. Von E. Merk.
Das schöne Limonadenmädchen. Von E. M. Vacano.
Der Klosterjäger. Eine Berchtesgadener Geschichte von Ludwig Ganghofer.

Endlich hat uns W. Heimburg ein neues Werk,Mamsell Unnütz“, in Aussicht gestellt.

Unserer alten Uebung getreu, werden wir auch im neuen Jahre eifrig bemüht sein, in Bild und Wort, in Poesie und Prosa, in Ernst und Humor vor allem das zu pflegen, was im deutschen Familienkreise das Gemüth anzuregen, den Geist zu erfrischen geeignet ist; wir werden fortfahren, allen vernünftigen Reformbestrebungen und Unternehmungen werkthätiger Menschenliebe, die jeden Deutschen angehen, unsere weitwirkende Förderung zu leihen und durch belehrende Aufsätze aus allen Wissensgebieten den Bildungsschatz unseres Volkes zu bereichern und an einem gesunden Fortschritt mitzuarbeiten. Die Reihe von Artikeln, welche für die Entschädigung unschuldig Verurtheilter eintraten, werden wir fortsetzen, bis das Ziel erreicht ist; wir werden fortfahren, den Aberglauben in jeder Gestalt zu bekämpfen und mit der Fackel der Aufklärung in alle dunkeln Abgründe des Lebens zu leuchten. Des weiteren hoffen wir, eine Anzahl anderer, zum Theil schon länger vorbereiteter Artikel über „Erfinderlose“, „Weltverbesserer“, über „Legenden des Chauvinismus“ u. s. f. in dem kommenden Jahre unseren Lesern vorlegen zu können. Die Verbreitung geschichtlicher Kenntnisse, die Nutzbarmachung aller neuen Erfahrungen auf dem Felde der Technik, der Naturwissenschaften, der Medizin soll unsere stetige Sorge sein. Von den zahlreichen Mitarbeitern, welche uns bei diesem Werke unterstützen, nennen wir

J. H. Baas. Anton Bettelheim. Hans Boesch. Carl Brandt. Carl Braun-Wiesbaden. H. Brugsch-Pascha. V. Chiavacci. C. Cranz. Friedr. Dornblüth. Ernst Eckstein. Carl Euler. Rob. Franceschini. Livius Fürst. Rudolf von Gottschall. Cornelius Gurlitt. Max Haushofer. L. Heck. Friedr. Helbig. Woldemar Kaden. E. Heinr. Kisch. Rudolf Kleinpaul. Paul Lindenberg. Bruno Meyer. M. Wilh. Meyer. Carl Mühling. Ädolf und Carl Müller. Heinrich Noé. Johannes Proelß. A. Reißmann. W. H. Riehl. Schmidt-Weißenfels. Ed. Schulte. Alex. Tille. Rudolf Virchow. Carl Vogt.

Die schönen Kunstblätter, welche wir seit Anfang dieses Jahres jedem Hefte der „Gartenlaube“ beilegten, haben sich eines so lebhaften Anklanges bei unseren Lesern zu erfreuen gehabt, daß wir darin nur einen Sporn erblicken können, auf dem begonnenen Wege fortzufahren und womöglich noch Höheres und Besseres zu leisten als bisher. Zu diesem Zwecke alle Vervollkommnungen unserer hochentwickelten Illustrationstechnik heranzuziehen, wird auch künftig unser Bestreben sein.

Indem wir uns somit der zuversichtlichen Hoffnung hingeben, daß auch dem neuen Jahrgang überall im deutschen Hause ein freundlicher Empfang zu theil werde, rufen wir unsern Lesern den herzlichen Gruß zu:

„Glück auf zum neuen Jahre!“

 Leipzig, im Dezember 1891.

 Die Redaktion der „Gartenlaube“.


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Das neue Jahr.
Nach einer Zeichnung von Ad. Hering.