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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 50.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



WEIHNACHT.


Was tönt so wundersamer Klang,
So feierlich Geläute?
Die Glocken rufen das Thal entlang:
’s ist Weihnacht, Weihnacht heute!
0 O juble mit, du Menschenherz!
0 Laß fahren das Leid, vergiß den Schmerz,
0 Geh’ auf in seliger Freude!
0 ’s ist Weihnacht, Weihnacht heute!


Was schlägst du, Herz, so sehnend laut
Und ruhst und rastest nimmer?
Hast doch der Liebe einst vertraut,
Und Liebe waltet noch immer:
0 Zur Erde schwebt der Engel Schar,
0 Das schimmert und leuchtet so wunderbar —
0 Weißt du, was es bedeute?
0 ’s ist Weihnacht, Weihnacht heute!


O Weihnachtszeit, du selige Zeit —
Laß mich in deinen Wonnen
Genesen von allem Erdenleid!
O laß mein Herz sich sonnen
0 In deinem Glanz, du Lichterbaum,
0 Und träumen den süßesten Kindertraum
0 Voll Liebe, Frieden, Freude —
0 ’s ist Weihnacht, Weihnacht heute!

 J. Claus.


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Fröhliche Weihnacht!

Weihnacht! – wie viel umfaßt dies eine Wort an froher lieber Erinnerung, an schöner Gegenwart, wie legt sich von allem menschlich Echten ein guter Klang in den Wunsch, der zum Feste von Mund zu Mund tönt: „Fröhliche Weihnacht!“ –

Der Tag ist versunken in frühe Winterdämmerung, im ungewissen Zwielichtscheine geht es wie eine große Stille durch die Welt, als wollte die Liebe, ehe sie ihr heimliches Reich aufthut, sich erst noch eine kurze Weile auf das Beste besinnen, was sie aus vollem Herzensgrund zu bieten hat – und dann ist er da im Schimmer von tausend und aber tausend Kerzen, der alte traute Weihnachtsabend, die Stunde, wo deutsches Gemüth unter Tannengrün seinen unversieglichen Born erschließt. Da werden die Herzen weit, alte Erinnerungen und neue Freude stellen sich ein, und da kommen auch wir und möchten unseren Lesern nah und fern ein herzliches Wort geben zu dem, was sie bewegt, möchten ihnen allen den schlichten Wunsch zurufen: „Fröhliche Weihnacht!“

Allen gilt unser Wunsch. Im Geiste gehen wir wandern, durch rauschende Städte zum stillen Dorfe, durchs weite Vaterland hinaus zu den Deutschen in der Fremde, übers Weltmeer hinüber; unter dem Dach des Einsamen halten wir Rast und im geselligen Kreis der Familie. Und wo wir einen treffen, dem ein freundlich Geschick Glück, reichliche Mittel zum Helfen beschert hat, da möchten wir ihm die Noth der Zeit weisen, die uns mahnt, daß die rechte Weihnachtsfröhlichkeit auch fröhlich giebt, daß allenthalben zu wirken ist, damit die Sorge in so vielen Herzen leichter, Wohlfahrt und tüchtige Art des Wissens und Strebens im Volke gefördert werde. Und wo einer in rastloser Arbeit sich mühen muß, um sich eine Bahn im Leben zu brechen, da mag uns vergönnt sein, zu sprechen: „Halte Rast auf deinem Wege, Weihnachtsrast, und laß es dich nicht bekümmern, daß im schweren Erwerbe deine Hand hart geworden ist, daß du im Arbeitskleid den Weihnachtsabend feierst! Das Große, was Menschen besitzen, den inneren Werth – den kannst auch du dir geben, und dein Arbeitsgewand steht dir stolz an, wenn das Herz darunter für die Wahrheit, für das Rechte schlägt; darum halte ohne Verbitterung Rast, halte gute Weihnacht! Und kannst du den Deinen keine glänzenden Gaben spenden – gieb ihnen deine gerade Weise, die tüchtige Kraft des Schaffens, den Sinn für reine Sitte, ein Herz fürs Vaterland, und du hast ihnen dein Bestes geschenkt, hast glückliche Weihnacht!“

Weihnachten – es führt die Menschen aus dem Drang des Tages in den abgeschiedenen Frieden des Hauses. Der rasche Strom des Lebens, der sonst brausend die Straßen der Stadt durchfluthet, gleitet heute leiser dahin, und drinnen am eigenen Herd baut sich jene stille Welt auf, die Raum hat auch in der Enge der Städte, in winkliger Stube – die stille Welt der Liebe. Ihr alle, die ihr heute euch losgelöst habt aus der Hast der Arbeit, welche sonst im Gewirr der Straßen und in den lauten Stätten der Gewerbe, im geistigen Ringen der Zeit euch festhält, die ihr nun in der Stille daheim die feierliche Ruhe des Weihnachtsabends durch euer Herz ziehen lasset – seid gegrüßt mit dem Wunsche: „Fröhliche Weihnacht!“ Und wenn euch der Tannenbaum die schweifenden Gedanken entführt, hinaus in den schneeverhangenen Wald, durch die große schweigende Nacht, so duldet, daß wir leise mit euch wandern: wie funkeln die Sterne am Himmel, wie liegt ein heimlicher Zauber über der winterlichen Erde, wie traulich winkt der lichte Schein der Dörfer ins Dunkel hinaus, wie muthet es so behaglich an, indeß wir ihre engen Gassen durchschreiten, einen Blick durch die niedrigen Fenster zu werfen auf den äpfelbehangenen Baum über dem derben Tisch, in den gemüthlichen Kreis, der sich um den Ofen in der Ecke gesammelt hat! Ein stilles Weihnachtsbild ist’s und ein stiller Weihnachtswunsch gehört dazu: „Fröhliche Weihnacht!“

Weihnachten – Fest der deutschen Heimath! Für sie erscheinst du mit dem verlockendsten Reize, umkleidest dich geheimnißvoll mit alten vielhundertjährigen Gebräuchen und ewig neuer Herrlichkeit, mit Tannengrün und Eisgefunkel, und wie du beherrschend und längst erwartet aus der winterlichen Oede draußen eintrittst in die Häuser, da empfängt dich deutsches Lied, und aus Scherz und innigem Gedenken baut sich dein heimathliches Reich. Keiner mag sich deinem Walten entziehen – wem in der Flucht der Jahre das Haar grau geworden ist, der läßt wohl den Blick rückwärts schweifen zu all dem Schönen, was ihm dieser Tag in steter Wiederkehr gebracht hat, und begrüßt dich mit der heiteren Ruhe des Alters; wen du in blühender Kraft findest, dessen Auge wendest du hinaus in die Zukunft, wo er tausend Hoffnungen sich erfüllen sieht, und mit bewegtem Muthe, mit der Lust neuen Wagens giebt er sich deinem Zauber hin, der heute allenthalben herrscht, wo Deutsche wohnen, im Vaterlande und draußen in der Ferne. So viele sind hinausgezogen, um in der Fremde ihren Weg zu suchen. Sie alle werden heute zurückdenken an die Ihrigen daheim, an die Weihnachtstage im Vaterland, wo sie groß geworden sind und in deutscher Art des Geistes und Gemüthes befestigt wurden. Und zu der Wehmuth dieser Erinnerungen mag sich das stolze Gefühl gesellen, daß auch sie dem deutschen Namen Ehre gemacht, daß sie heimische Sitte bewahrt, gearbeitet und gerungen und ein eigenes Glück sich gegründet haben. Wo aber so in fernen Landen deutsches Haus und Herz dem Fest der Heimath eine Stätte aufbehalten hat, da finden auch wir uns ein und sagen mit den Feiernden: „Deutsche Weihnacht – fröhliche Weihnacht!“

Ja – fröhliche Weihnacht überall! Auch dem Einsamen wünschen wir sie, dem keine sorgliche Hand eine Gabe rüstet, dem heute nur das Eine durch den Sinn gehen will, daß es einst anders gewesen ist, ehe von den Lieben eins ums andere sich verlor in den Schatten des Todes, im weiten Meere des Lebens, ehe er selbst vom Boden der Kindheit losgerissen wurde, um nach wechselnden Stürmen endlich auf diesem verlassenen Plätzchen Wurzel zu fassen. Der du heute so als ein Einsamer durch die leeren Gassen schweifst, ausgeschlossen vom Glanze, welcher wie ein Strahl aus verlorenem Kinderparadies durch die Fenster rings zu dir niederfällt; der du allein im dunklen Zimmer auf den Jubel horchst, welcher die Kunde von glücklicherem Dasein zu dir trägt – laß das Haupt nicht schmerzlich sinken, auch für dich ist Weihnacht heute! Laß uns der Dichtung holde Gestalten an dir vorüberführen; Wesen und Werden deines Volkes laß dir zeigen und was menschlicher Geist an rüstigen Waffen sich schmiedet, um die Natur in seinen Dienst zu zwingen – siehe, so wird’s lebendig um dich her und du fühlst dein eigenes Können, fühlst dein Leben unlösbar verknüpft mit dem Ganzen, darin du stehst. Darum lasse das Haupt nicht sinken, sondern schau um dich, Liebe zu erweisen, die dir selbst nicht wurde! Und wie du jetzt mit hellerem Auge aufblickst, der Zukunft entgegen, da grüßen wir dich mit dem Wort: „Fröhliche Weihnacht überall!“

Und frohe Weihnacht walte vor allem in der schönsten Heimstätte des Festes, im trauten Kreis der Familie! Ihr Alten, die ihr, zielbewußt und fest im Handeln, eure Kinder zu frischem, echtem Wesen geleitet habt und heute des gethanen Werks euch doppelt freut, ihr Jungen, die ihr – die Stütze kommender Zeit – zum Feste die rege Kraft so gerne ganz in den Dienst der Liebe gestellt habt – seid uns gegrüßt! Wir stimmen ein in den Wunsch, der im stillen Zusammensein euch auf den Lippen schwebt: es klinge hell durchs Land in alle Ferne hin:
„Fröhliche Weihnacht!“

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Wie ich Großmutter wurde.

Eine Weihnachtsgeschichte von E. Wuttke-Biller.0 Illustriert von Peter Schnorr.

Es ist nicht ganz natürlich zugegangen, daß mir der Himmel diesen reizenden kleinen Bengel, der mich Großmama nennt, einbeschert hat; denn – ich will’s nur gleich gestehen – ich bin ja eine alte Jungfer. Meinen süßen Dani kümmert es freilich nicht, ob meine Würde echt ist. „Aber soll ich meine großmütterlichen Ansprüche vor dem strengen Richterstuhle der Welt nicht rechtfertigen?“ fragte ich meine lieben Kinder. Die Eltern des kleinen Kerls lachten. „Ja, erzähl’s doch den Leuten!“ meinte der glückliche Papa, und die liebe Mama umschlang mich zärtlich. „Ach ja, erzähl’s!“ sagte sie; aber sie sagte es leise – ganz leise.

Ich besitze also die Erlaubniß und so schreibe ich denn.

Es ist nun schon zwanzig Jahre her. Ein dicker gelbgrauer Nebel lag schwer auf der Stadt, die Straßenlaternen brannten trübe und über einer jeden stieg ein Schattenkegel auf. Der Schnee fiel in großen breiten Flocken, die, sobald sie die Erde berührten, ihre zarte Form und glänzende Weiße zu häßlichem Straßenschmutze umwandelten.

Eine feuchtkalte Luft umspannte mit hartem Drucke die Kehle, und zu seinem Vergnügen hielt sich gewiß niemand im Freien auf; heute aber, am 24. Dezember, waren die Straßen noch mehr als sonst belebt. Aus den Schaufenstern strahlte die Pracht der Weihnachtsausstellungen, und die Leute drängten zu den überfüllten Läden hinein und wieder heraus. Wer seine Einkäufe noch nicht beendet hatte, mußte sich beeilen. Regenschirme geriethen in ärgerliche Konflikte. Entschuldigungen von höflichen Leuten wie ungeduldige Ausrufe der Eiligen flogen hin und her; aber wer wollte sich an einem solchen Abend ärgern? Ein jeder versuchte, sich möglichst schnell aus dem Gedränge zu winden und weiter zu hasten. Hinter einigen mit einem feuchten Hauch überzogenen Fenstern glitzerten schon die brennenden Lichterbäume.

Ich saß wohlgeborgen neben meiner Freundin Luise in einem Wagen und uns gegenüber ihr guter Mann. Meine Freunde fuhren zur Bescherung ihrer Mama; doch zuerst sollte ich an dem kleinen Hause auf dem Johannisplatze abgesetzt werden.

„Sei doch nur einmal inkonsequent, Anna, und begleite uns; Mama würde sich so freuen, wenn wir Dich als Weihnachtsüberraschung mitbringen würden,“ bat meine Freundin.

Der vernünftige Ehemann bemerkte dagegen: „Wie kann man seine Freunde mit Bitten quälen! Du weißt längst, daß Fräulein Anna es vorzieht, ihr Weihnachtsfest allein zu feiern; der Geschmack ist nun einmal verschieden.“

„Sie will nur ihren alten Erinnerungen einen Lichterbaum anzünden und das ist sentimental; ich wenigstens nenne diese Laune sentimental,“ grollte Luise.

„Ich überlasse es Deiner Freundschaft, mich sentimental oder eigensinnig oder ein Gewohnheitsthierchen zu nennen, liebstes Herz; jedenfalls wirst Du mich unter allen den lieben Menschea heute abend nicht vermissen.“

Der Wagen hielt. Freund Weber sprang hinaus, um mir behilflich zu sein, die vielen Päckchen, die Luise hinausreichte, ins Haus zu tragen.

„Noch einmal schönen Dank für Eure reizenden Geschenke und viel Vergnügen heute abend! Morgen mittag sehen wir uns bei Professors wieder.“

Luise zog sich mit schmollender Miene zurück. Wie oft sich diese kleine Scene schon abgespielt hatte! Jedes Jahr, nachdem mich meine Freunde mit reichen Gaben überschütteten, wurde sie von Luise aufgeführt.

Bis ich das zweite Stockwerk erreichte, hatte ich, beladen mit den vielen Päckchen, auf den steilen Treppen des altmodischen Hauses beinahe den Athem verloren.

Da oben aber, ans Treppengeländer gelehnt, stand schon einer mit keuchender Brust; es war Daniel Brun, der Gerichtsschreiber, der über mir in einer Dachstube wohnte. Seit bald dreißig Jahren war ich daran gewöhnt, ihn um diese Stunde in derselben Stellung zu treffen; bei seinem verwachsenen Körper fiel ihm das Steigen schwer, heut war er noch dazu mit Paketen beladen.

„Sie wollen sich heut wohl selber großartig einbescheren, Herr Brun?“ fragte ich, indem ich die Vorthür aufschloß.

„An so ’nem Abend will man doch nicht gern mit leeren Händen heimkehren, Fräulein Möller,“ entgegnete er, höflich den Cylinder abnehmend; er trug stets einen Cylinder. „Wir einsamen Leute wollen auch unser Weihnachten feiern. Sie bringen sich ja ebenfalls einen heiligen Christ nach Hause.“

Mir lag nichts daran, die Unterhaltung zu verlängern, denn ich wünschte noch allerhand Vorbereitungen zu treffen. Unser Gespräch dauerte niemals lang; ein paar Worte über das Wetter oder eine flüchtige Frage nach seiner Gesundheit, wenn das Pfeifen aus der verkümmerten Brust mich peinlich – ich möchte sagen unästhetisch – berührte, das war alles. Allein gegen seine sonst so bescheiden zurückhaltende Art trat heute der Schreiber näher.

„In unserm Hause werden nicht alle Leute glückliche Feiertage haben; der Ullmann“ – er deutete mit dem Finger nach oben – „hat seine Entlassung bekommen.“

„Nun, die hat der Mensch gewiß auch verdient; er ist ja dem Trunke ergeben.“ Ich sprach abweisend, hart und ließ die Vorthür nicht aus der Hand. Wenn Daniel Brun auf mein Mitleid rechnete, hatte er falsch spekuliert. Der Statist da oben mit seiner kupferigen Nase erregte stets mein Mißfallen. Sein Weib, das in schmutzigen, schleppenden Röcken die Straße fegte, war vor Jahresfrist gestorben; seit der Zeit führte der Mann sein einziges Kind, ein theaterhaft aufgeputztes Mädchen, stets selbst an der Hand; er schien demselben große Liebe zu erweisen, aber trotzdem mochte ich weder ihn noch das Kind leiden.

„Wenn der Mensch einmal so tief gesunken ist, kommt er nie wieder herauf; solchen Leuten ist nicht zu helfen,“ fügte ich streng hinzu.

„Ja, leider, leider!“ – in Bruns Stimme zitterte ein tiefes Mitgefühl. „In letzter Zeit soll er sogar zu den Proben betrunken gekommen sein.“

„Gute Nacht, Herr Brun!“

Ich wollte die Vorthür schließen, aber das bucklige Männchen trat abermals näher.

„Das Kind – wissen Sie – Cillchen, möchte doch gern seine Weihnachtsbescherung haben. Es versteht ja noch nichts von all dem Jammer. Das Bäumchen ist auch schon geputzt …“

Ich fiel ihm herb ins Wort. „Für solch unnöthige Dinge hat der Mann noch Geld? Da muß die Noth aber nicht groß sein.“ – Und ich schloß unsanft die Thür.

Ich glaubte, etwas von einer „sittlichen Entrüstung“ zu spüren, und fand es „abgeschmackt“ von Daniel Brun, mir die Weihnachtsstimmung mit seiner traurigen Geschichte zu verderben. Aber meine gute Laune hatte durch den Gerichtsschreiber nur vorübergehend gelitten. Sobald ich die Lampe angebrannt und mein Straßenkleid mit einem molligen Schlafrock vertauscht hatte, ergab ich mich mit Eifer den Vorbereitungen zu meinem Weihnachtsabend, und jede Erinnerung an den verwachsenen Schreiber wie an die Familie des Statisten war ausgelöscht.

Bei meinem Alleinleben hatte sich in mir ein gewisses Raffinement des Genießens ausgebildet; ich bereitete nicht nur jede Speise aufs vorzüglichste zu – mein Auge verlangte zugleich eine geschmackvolle Anordnung des Eßtisches; es war mir zur Gewohnheit geworden, ihn auch für mich allein stets mit Sorgfalt zu decken. Der Salat, den ich schon angerichtet hatte, der kalte Aufschnitt, die Butter, das Weißbrot – alles war erster Güte. Auch eine Büchse mit Gänseleberpastete stellte ich geöffnet hin; ich hatte sie wie auch die kleine Schale des feinsten Konfektes, die großen gelben Nüsse und den Nürnberger Lebkuchen soeben von meinen Freunden erhalten. Das Wasser in dem kleinen Theekessel von blankem Kupfer summte bald, und ich brauchte nur

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In der Weihnachts-Kindervorstellung.
Nach einer Zeichnung von Heinrich Lefler.

[841] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [842] noch die Lichter an dem Christbäumchen anzuzünden. Alle erhaltenen Geschenke hatte ich zierlich darunter ausgebreitet, und von meinem Platz am Eßtische konnte ich die hübsche Bescherung anschauen. Selbst für geistige Nahrung war ich besorgt gewesen; der neueste Roman sollte nach dem Abendessen mich unterhalten. Alles war vorbereitet; ich goß den Thee auf, warf einen prüfenden Blick über meine kleine Tafel und nahm Platz.

Menschenscheu war ich nicht; im Gegentheil, ich lebte äußerst gesellig, und ein stiller Abend in meinem Heim gehörte zu den seltenen Genüssen. Ich gratulierte mir, dem Drängen der Freunde widerstanden zu haben. Ein Weihnachtsabend mit massenhaft aufgebauten Geschenken, die man anschauen und bewundern mußte, erregte in mir stets einen gewissen Widerwillen der Uebersättigung; dazu die in heißen Zimmern zusammengedrängten, laut schwatzenden Menschen, das Nöthigen an der mit Gerichten überladenen Tafel – und gar der Kinderlärm! Das alles war nicht nach meinem Geschmack. Mit welchem Behagen konnte ich hier mein Mahl verzehren. Das Tannenbäumchen, ohne das wir Deutschen nun einmal kein Weihnachten zu feiern vermögen, verbreitete einen lieblichen Wald- und Wachsduft. „So ein Lichterbaum ist verkörperte Poesie,“ dachte ich und knackte eine Nuß.

Da war mir’s auf einmal, als trippelten über mir Kinderfüßchen, als hörte ich ein jauchzendes Kinderstimmchen. „Das muß Cillchen sein!“ überlegte ich und horchte. Im nächsten Augenblick schalt ich meine Einbildung. Ueber mir wohnte ja nicht der Statist Ullmann, sondern der Schreiber Brun.

Aber ich wurde den Gedanken an das kleine Mädchen nicht wieder los. Ich sah das blondköpfige rosige Ding, wie es um den Baum herumtanzte und mit den dicken Patschhändchen nach dem Zuckerwerk langte; dabei schauten mich die Aeuglein so bittend an … Wer hat geseufzt? Ich blicke mich erschreckt um. Nein, wär’s möglich, daß ich selbst geseufzt hätte? Nun, das ist arg! Ich leide doch sonst nicht an sentimentalen Anwandlungen. Das Weihnachtsbäumchen ist schuld an solchen einfältigen Phantasien. Ich stehe auf und lösche die Lichter behutsam aus. „Möchte nur wissen, was ich mit einem Kinde anfangen sollte!“ – ich beginne das Geschirr abzuräumen – „reich bin ich nicht; meine Einnahmen reichen gerade aus, daß ich ein recht angenehmes und sorgenfreies Leben führen kann.“ Aber wenn man in eine Einbildung hineingerathen ist, wird man sie schwer gleich wieder los; es ist mir noch immer, als höre ich das kleine Mädchen da oben schwatzen. Ich muß stehen bleiben und horchen. Natürlich – alles nur Einbildung.

Der zweite Theil des Abends soll nun beginnen; ich drehe meinen bequemen Lehnsessel so, daß der Lampe Schein gerade auf das Buch fällt, das ich jetzt zur Hand nehme. Die Füße in Pelzpantoffeln auf der gestickten Fußbank, spinne ich mich so recht behaglich ein; das Schälchen mit Konfekt steht so, daß ich von Zeit zu Zeit ein wenig Marzipan naschen kann. Von der Johanniskirche tönt die neunte Stunde; auf der Straße scheint der Lärm sich allmählich zu verlieren, und der Wind singt leise im Schornstein. Der von dem Roman gehoffte Genuß tritt aber leider nicht ein; enttäuscht klappe ich das Buch zu. Das sind ja nur Figuren und keine Menschen; der Abwechslung halber hat sie der berühmte Verfasser einmal in altdeutsches Kostüm gesteckt, doch mit ihren modernen Empfindungen und Gedanken passen sie nicht in diese Tracht. Die Hand mit dem geschlossenen Buche liegt im Schoße; meine Gedanken nehmen ihren eigenen Weg. Ich sehe die Stube, wie sie vor einundzwanzig Jahren eingerichtet war.

Es ist mein Geburtstag. In der „guten“ Stube steht der mit einem weißen Damasttuch überhangene Tisch, auf dem die bescheidenen Gaben ausgebreitet sind; eine selbstgebackene Torte, mit siebzehn Lichtchen umsteckt – die Anzahl meiner Jahre – krönt die Mitte, und obwohl man damals mit Blumen noch nicht verschwenderisch war, fehlt’s doch nicht an Hyazinthen und Veilchen. Unruhig gehe ich im Wohnzimmer umher; die Mutter huscht noch mit irgend einem vergessenen Paketchen geheimnißvoll durch die Stube – meine Schwester überblickt noch einmal den gedeckten Eßtisch. Alles ist bereit, nur die Hauptperson, mein Bräutigam, fehlt noch; ich erwarte ihn mit brennender Ungeduld.

Mein Bräutigam war Schriftsteller und wurde als aufgehender Stern gefeiert. Unsere Verlobung war nur den nächsten Freunden bekannt: die Veröffentlichung derselben hing von dem Erfolge eines Romans ab, an dem Eduard Tausig noch arbeitete.

Diese Arbeit schien ihn völlig in Anspruch zu nehmen; es gab Abende, an denen er ganz in Gedanken dasaß und kaum ein Wort mit uns wechselte. Mutter sagte dann entschuldigend, daß Dichter nun einmal wunderliche Leute seien und daß ich mich in seine Launen fügen müsse. Mich aber machten diese Launen nur ärgerlich, ungeduldig, zornig. An anderen Tagen zeigte sich Eduard dafür lebendig, geistreich und entzückte unseren kleinen, ihm andächtig lauschenden Kreis. Dann war ich stolz, von einem so ausgezeichneten Manne geliebt zu werden, ich sah mich als die Frau eines gefeierten Dichters und träumte, einst an seinem Ruhme theilnehmen zu dürfen.

Wie ich nun so erwartungsvoll auf jeden Laut von draußen horche, wird die Klingel gezogen – scharf, hastig, laut – wie es seine Art war. „Eduard ist da,“ rufe ich der Mutter zu, die nun eilig die Lichtchen um den Kuchen anzuzünden beginnt, und ich laufe in den Flur ihm entgegen.

Dort aber steht ein junger Mensch, der Sohn der Wirthin Eduards – bleich und verstört steht er da, und ohne jedes vorbereitende und mildernde Wort ruft er mir mit heiserer Stimme entgegen: „Herr Tausig hat sich eben in seiner Stube erschossen!“

Ich wurde nicht ohnmächtig, denn ich begriff die Worte nicht; ohne zu wanken kehrte ich in die Stube zurück, die von den Lichtern im Tagesschein eigenthümlich beleuchtet wurde; aber als ich der Mutter sagen wollte, was geschehen sei, versagte mir die Sprache, ich war wie erstarrt.

Nachdem ich endlich so weit zur Besinnung gekommen war, um den Schlag, der mich so unvorbereitet getroffen hatte, zu begreifen – weinte ich nicht Thränen des Schmerzes, sondern Thränen des Zornes. Ich war empört; Eduards Selbstmord, dessen Ursache für mich nie aufgeklärt worden ist, erschien mir als ein Akt der Feigheit; ich konnte ihm nicht vergeben, daß durch ihn auch mein Name plötzlich im Munde aller Leute war; daß er meine Jugend schwer getroffen und meine Zukunft zerstört hatte. Jetzt erst fühlte ich, daß ich ihn gar nicht geliebt; mein Stolz und Ehrgeiz hatten die Wunden empfangen, nicht mein Herz. Jedes Wort der Theilnahme wies ich schroff zurück, ich wollte nicht beklagt sein. Und als ich mich wieder in Gesellschaften zeigte, waren meine Wangen nicht bleich, und ich ging nicht mit niedergeschlagenen Augen, sondern mit stolz erhobenem Haupte einher. Ich sprach mehr als früher, kokettierte und lachte mit den Herren und flocht in meine Unterhaltung satirische Bemerkungen ein; man unterhielt sich mit mir, doch einen Verehrer fand ich nicht. Von den Flügeln der Psyche war der schillernde Staub abgestreift; ich war auf dem besten Wege, eine verbitterte alte Jungfer zu werden. Da bot sich mir die Gelegenheit, eine reiche alte Dame auf Reisen zu begleiten, und später fand ich eine ähnliche Stellung in England. Als ich nach elf Jahren, nach dem Tode meiner Mutter und Schwester, mit einem kleinen ersparten Kapital zurückkehrte, hatte ich das kleinstädtische Wesen völlig abgestreift, und an Welt- und Menschenkenntniß bereichert, trat ich wieder in den Kreis der Jugendfreunde ein. Ich fand dieselben Menschen wieder – nur äußerlich verändert; doch fühlte ich mich ihnen jetzt überlegen. Ich hatte gelernt, in verschiedenen Sprachen mich zu unterhalten, von meinen Reisen und Erlebnissen wußte ich mit Humor zu erzählen, mein Aussehen war so frisch, daß niemand an mein Alter glauben wollte. Bald wurde ich der Mittelpunkt eines geselligen Kreises – überall gesucht und mit Freuden empfangen.

Bei mäßigen Ansprüchen konnte ich mein Leben ganz nach meinen Wünschen gestalten. Den Sommer verlebte ich meist auf Reisen; während des Winters verkehrte ich viel in Gesellschaft und genoß Theater und Konzerte. Die kleinen häuslichen Arbeiten – ein Dienstmädchen hielt ich mir nicht – fand ich für meine Gesundheit sehr zuträglich. Ich musizierte gern, las die neuesten Romane und richtete die altmodischen Stuben meiner Mutter, die ich bezogen hatte, nach meinem Geschmacke ein. Meine Freunde beneideten fast mein Talent, das Leben in der angenehmsten Weise zu genießen, und ich selbst fühlte mich äußerst behaglich.

Die Aufforderung, meine Zeit einigen wohlthätigen Vereinen zu widmen, schlug ich dagegen grundsätzlich ab und erklärte lächelnd, daß ich dazu weder Geschick noch Neigung besäße.

Freilich vermochte ich nicht, mich der Theilnahme für meine Freunde zu entziehen, sobald sie von Krankheit oder Unglück betroffen wurden; doch versuchte ich, sobald wie möglich diese mich störenden Gedanken los zu werden. „Wo hätte man noch eine [843] freie Stunde, wenn man den Kummer anderer Leute zum eignen Kummer erheben wollte? Ich habe auch mein Theil gehabt und bin damit fertig geworden. Die Hauptsache ist, daß man sich mit frischer Luft und kaltem Wasser gesund erhält; sie sollten sich an meiner Lebensweise ein Beispiel nehmen!“ – War mein Mitgefühl aber einmal mehr als sonst in Anspruch genommen, so beruhigte ich mich mit der Phrase, daß man, um glücklich zu leben, ein Stück gesunden Egoismus besitzen müsse – –

Was mir da alles für Gedanken durch den Kopf geschossen waren! Ich bildete mir ein, den Schlüssel zu den alten Erinnerungen in das Meer der Vergessenheit versenkt zu haben, und doch hatten sie sich wie Gespenster zu mir hereingeschlichen.

Aber daran war nur schuld, daß mich das Buch langweilte. Ich nahm es auf, um noch einen Blick hineinzuwerfen – doch es lohnte nicht, mit dem Lesen von neuem zu beginnen, es hatte schon zehn Uhr geschlagen, und ich liebte es nicht, bis spät in die Nacht aufzubleiben.

Da wurde draußen die Klingel gezogen, gerade wie vor einundzwanzig Jahren – scharf, hastig, ungestüm. Ich fuhr mit jähem Schrecke auf. Es war mir, als hätte ich seit jenem furchtbaren Tage die Klingel nie mehr so laut, so grell ertönen hören.

Ehe ich mir den Wachsstock angebrannt hatte, wurde das Klingeln schon wiederholt, nur noch heftiger, noch ungeduldiger. „Ich komme schon,“ rief ich und war überzeugt, daß es in unserm Hause brenne. Vor der Thür stand Daniel Brun – bleich und verstört, gerade wie damals der junge Mensch, der mir den Tod meines Bräutigams zu melden kam.

„Entschuldigen Sie, daß ich Sie so spät noch störe“ – jedes Wort kam schwer aus seiner keuchenden Brust und doch ersparte er sich keines, um mich nicht zu erschrecken. „Ich war schon unten beim Hausmann und habe ihn nach dem Arzte geschickt.“

„Ich dachte schon, es wäre Feuer.“

„Nein, ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht ein Hausmittel für Herzkrämpfe haben – oder wenigstens eine warme Tasse Thee – der arme Mann oben ist sehr übel dran.“ Und leiser setzte er hinzu: „Der Ullmann wird’s wohl nicht mehr lange treiben.“

Natürlich erstarrte ich bei dieser Nachricht nicht wie vor einundzwanzig Jahren; doch mein Denken – wenn auch minder tief berührt – war ungefähr das gleiche. Meine Lebenshoffnungen wurden durch das Sterben des Statisten freilich nicht vernichtet; aber mein Behagen war gestört, meine Nachtruhe bedroht, und das empörte mich. Nicht das Unglück meines Mitbewohners stand vor meiner Seele, nur die Folgen desselben, soweit sie meine Kreise störten.

„Der Mensch hat seine Gesundheit durch das Trinken ruiniert,“ rief ich laut. „Es ist empörend, daß er nicht einmal nach dem Tode seiner Frau sich gebessert hat.“

„Es mag wohl sehr schwer sein, eine böse Angewohnheit wieder abzulegen, Fräulein Möller. Es mag dazu eine große sittliche Kraft gehören.“

„Nun, er hätte doch an sein Kind denken sollen; aber wahrscheinlich ist’s für das arme Kind nur ein Glück, wenn’s in andre Hände kommt.“ – Ich sprach gegen meine sonstige ruhige Art erregt und wunderte mich zugleich, daß ich mich von Verhältnissen, die mich im Grunde gar nichts angingen, zu so lebhaftem Unwillen fortreißen ließ.

Daniel Brun entgegnete mit seiner klaren Stimme, deren Wohlklang ich zum ersten Mal empfand: „Gegen sein Kind ist der Ullmann immer gut gewesen, das muß man ihm lassen; Cillchen hat’s an nichts gefehlt. Jetzt wird er sie freilich vor Noth nicht mehr schützen können, und das hat ihn vollends krank gemacht; er ist ganz zerknirscht und geistig wie körperlich in einem recht trostlosen Zustande. – Aber ich muß doch gleich wieder hinauf. Verzeihen Sie nur, Fräulein Möller, daß ich Sie so spät noch beunruhigt habe; ich dachte, eine Tasse warmen Thees würde ihm den Krampf erleichtern – der Doktor ist ja an so ’nem Abend auch nicht gleich bei der Hand. Aber wenn Sie keinen Thee mehr haben, Fräulein Möller …“

Ich fiel ihm fast ärgerlich ins Wort: „Sie können sich doch denken, Herr Brun, daß ich eine Tasse Thee kochen werde; in ein paar Minuten ist sie fertig; ich bringe sie gleich selbst hinauf.“

Es schien ihn zu freuen, daß ich seine Bitte erfüllte; wenigstens kam mir’s so vor. –

Ach, was für ein Elend predigten die kahlen Wände der niedrigen Dachstube! Was für eine bittere Noth war hier heimisch! Und ich, nur eine Treppe tiefer, hatte nie etwas davon erfahren, weil – nun weil ich nichts davon erfahren wollte.

Der unglückliche Mann stand trotz der kalten Winternacht am offnen Fenster, an das er sich mit einer Hand klammerte, mit der andern tastete er angstvoll umher; bald strich er sich durch das wirr herabhängende Haar, bald versuchte er, die ohnehin lose Jacke aufzureißen, denn es fehlte ihm an Luft. Die mageren ausgehungerten Glieder klapperten vor Kälte, trotzdem litt er nicht das wärmende Tuch, das Brun mit unermüdlicher Ausdauer ihm über die Schulter zu hängen versuchte. Mit stets steigender Qual rang sein keuchender Athem nach Luft, eine furchtbare Seelenangst lag in seinem hilfesuchenden Auge. Aber sobald er meine Gegenwart merkte, war er bemüht, sich zusammenzunehmen; er zog die Jacke zusammen und fing an, eine Entschuldigung zu stammeln. Doch gleich begann wieder das Keuchen der schwerarbeitenden Brust und die Hand fuhr von neuem krampfhaft umher. Es war eine schreckliche, eine hoffnungslose Pein.

Der Anblick traf mich ins Herz; zum ersten Mal stand ich dem Elend in seiner ganzen Furchtbarkeit gegenüber, und meine Anklagen verstummten. Indeß versuchte Daniel Brun mit großer Ausdauer und Geschicklichkeit, dem Kranken ein paar Tropfen Thee einzuflößen und während dieser Bemühungen zugleich des Mannes Seelenqual zu beschwichtigen. Seine Augen schienen eine Fülle des Mitleids und erbarmender Liebe auszuströmen, seine Worte aber waren auch an mich gerichtet oder doch für mich bestimmt, wie ich bald bemerkte; er war bemüht, den Kranken durch seinen Zuspruch zu ermuthigen und die wahrscheinlich kurz zuvor ausgesprochenen Selbstanklagen desselben zu entkräften, zugleich jedoch wollte Brun mir beweisen, daß der Arme meiner Theilnahme gar nicht so unwürdig sei, wie es wohl den Anschein habe, und daß neben dem traurigen Laster, das zu bekämpfen der Mann nicht mehr die Kraft besaß, seine Seele für edle Regungen nicht unzugänglich wäre. Ich fühlte in dieser Stunde, wie gewaltig der Einfluß eines Geistlichen sein muß, der es versteht, mit dieser hingebenden, alles begreifenden Menschenliebe wie Daniel Brun zu einem verzweifelten Menschen zu reden.

Der Kranke schien ihn zu verstehen; öfter nickte er wie bestätigend; einmal aber kam’s ganz laut aus seiner heiseren Kehle: „Wie sind Sie so gut! Gott vergelt’s Ihnen!“

Dreißig Jahre hatte ich mit Daniel Brun in demselben Hause gewohnt, und doch war mir niemals eingefallen, daß der bucklige Schreiber in dem abgetragenen Röckchen ein guter, ein edler Mensch sein könne; er erschien mir stets als ein viel zu unbedeutender Gegenstand, um meine Gedanken länger als für einen flüchtigen Augenblick mit ihm zu beschäftigen. Jetzt schämte ich mich darüber, ja mir traten die Thränen in die Augen, und wenn ich nur Zeit gefunden hätte, an mich selbst zu denken, ich wäre mir diesem Manne gegenüber klein und jämmerlich vorgekommen. Wie war’s nur möglich, daß ich erst jetzt den bedeutenden Kopf des unscheinbaren Schreibers bemerkte! Mir war, als werde ein Vorhang vor meinen Blicken weggezogen, und nun erkannte

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Weihnachten im Forsthaus.
Nach einer Zeichnung von L. Blume-Siebert.

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Weihnachtsglocken.
Nach einer Zeichnung von Erdmann Wagner.

[846] ich das große Herz und die geläuterte schöne Seele, die in diesem elenden Körper wohnte.

Da ließ sich draußen ein müdes Stimmchen hören, das weinerlich „Papa, Papa“ rief, und kleine Fäuste schlugen an die Thür. Der Kranke fuhr auf, seine Seelenangst schien sich zu steigern; des Kindes Stimme war für ihn die Stimme des anklagenden Gewissens. „Lassen Sie das Kind nicht herein!“ stieß er angstvoll hervor. „Ich kann Cillchen jetzt nicht sehen – barmherziger Gott, sei mir gnädig und erspar’ mir, daß ich in dieser Stunde auch noch das Kind sehen muß!“

„Beruhigen Sie sich nur, Herr Ullmann,“ mahnte Brun. „Fräulein Möller wird Cillchen mit hinunternehmen.“ Und sein Blick traf mich, bittend und zugleich befehlend; wenigstens wußte ich, daß ich diesem Blicke gehorchen mußte.

Schon war ich vor der Thür; ich hob das weinende und sich sträubende Kind auf den Arm und trug es die schmale Treppe hinunter, während Brun, sich weit über das Geländer beugend, uns mit seinem kleinen Studierlämpchen leuchtete.

Ich war nicht gewohnt, mit Kindern umzugehen; laut und heftig schreiende Kinder waren mir besonders verhaßt, heut aber fand ich die rechten Worte, das kleine Mädchen zu beruhigen; ein Bonbon verstärkte die Wirkung, und bald hatte sich Cillchen auf dem Sofa, wo ich sie gebettet, in Schlaf geweint. Eine Puppe, die sie nicht aus der Hand gelassen hatte, drückte sie auch jetzt noch zärtlich an ihr Herzchen.

Ich rückte den Lehnstuhl an das Sofa, denn ich erwartete, noch einmal hinaufgerufen zu werden; deshalb hatte ich auch die Vorthüre nicht abgeschlossen, vor fremden Eindringlingen war man ja in dem Hause sicher. Aber Stunde auf Stunde verkündete die Johanniskirche, und niemand kam, mich zu holen.

Allmählich kehrten meine Gedanken von den soeben empfangenen Eindrücken zu den eigenen Verhältnissen zurück. „Natürlich werde ich morgen Migräne haben und muß bei Professors absagen lassen; eine gestörte Nacht taugt für mich nicht. Es ist auch wirklich eine recht peinliche Lage; ich bin wahrhaftig nicht abergläubisch, aber angenehm ist es nicht, gerade diese Nacht in der Nähe eines Sterbenden zu verleben.“

Mein Blick fiel auf Cillchen; nun, da sie des häßlichen Theaterputzes entledigt war, sah ich erst, was für ein liebliches Geschöpf das kleine Mädchen war. Die blonden, von Thränen feuchten Härchen schmiegten sich um das blasse Gesichtchen; von Zeit zu Zeit wurde der kleine Körper noch von Schluchzen durchbebt und das Mündchen verzog sich, als wollte es wieder weinen. Etwas von dem Zauber, der von einer reinen Kinderseele ausgeht, schlich sich in mein Herz. Armes Wesen, dachte ich, was für einer traurigen Zukunft schläfst Du ahnungslos entgegen!

Ohne daß ich’s bemerkte, war ich endlich auch eingenickt; bei einem Geräusch schreckte ich auf, es wurde leise an die Thüre geklopft, und Daniel Brun trat in die Stube.

Ich sah’s ihm gleich an, daß er aufs äußerste erschöpft war, schob ihm einen Sessel hin, und ohne ihn erst zu fragen, ob er etwas bedürfe, lief ich hinaus, goß Wasser in den Theekessel, that Thee in die Kanne und stellte alles Nothwendige auf ein Brettchen, das ich in das Zimmer trug.

Diesen Mann zu erquicken machte mir eine Freude, an die ich vor wenigen Stunden noch nicht geglaubt hätte. Anna Möller, morgens vier Uhr in einer kalten Winternacht bemüht, einem buckligen Schreiber in ihrem Wohnzimmer einen Imbiß zu bereiten! Und das auch noch mit Vergnügen! Nein, so was hätten mir meine besten Freunde nicht zugetraut!

Er saß da, den ernsten Blick meist auf das schlafende Kind gerichtet; meinen Eifer schien er wohl zu bemerken, doch war er zu erschöpft, um sich nach seiner bescheidenen Art gegen diese Vorbereitungen zu sträuben. Erst nachdem er einen Schluck heißen Thee, in den ich etwas Rum gegossen, über die bleichen Lippen gebracht hatte, deutete er nach dem Kinde hin und sprach: „Cillchen ist nun ganz verwaist.“

„Sie wollen sagen, daß der Mann gestorben ist?“ rief ich erschrocken, obgleich ich den Ausgang erwartet hatte.

„Der Arzt hat mir gleich mitgetheilt, wie es kommen werde,“ fuhr er fort. „Wenn der Herzkrampf noch länger andauere, oder wenn er sich nach ein paar Stunden wiederhole, dann werde es mit ihm aus sein. Eine Weile war er nun ein bißchen ruhiger geworden; auf einmal aber schrie er auf – nein, Fräulein Möller, es hätte nichts genützt, Sie noch einmal hinauf zu bemühen. Er hat auch nicht lange mehr gelitten; es kam ein Herzschlag, und er war erlöst.“ Dann blickte er wieder nach dem Kinde. „Wenn nur die ersten Tage vorüber wären; es wird schwer sein, Cillchen zu trösten; sie hat sehr an dem Vater gehangen.“

„Jetzt müssen Sie noch ein Glas Wein trinken, Herr Brun,“ bat ich. „Sie brauchen wirklich eine Stärkung. Was haben Sie auch in dieser Nacht mit dem fremden Manne alles durchlebt!“

„Mir ist der Mann nicht so fremd wie Ihnen, Fräulein Möller; wenn man so einsam lebt wie ich, kümmert man sich um die Menschen, mit denen man durch Zufall näher in Berührung kommt. Cillchen und ich, wir sind schon lange gute Freunde; ich habe ihr ja auch ein Bäumchen geputzt; und während sich das Kind an den Lichtern und dem bißchen Spielwerk erfreute, trat der schreckliche Zustand bei dem Manne schon ein.“

Erst nach einer Weile nahm er in anderem Tone die Unterhaltung wieder auf; sein Blick wanderte mit einer Art kindlicher Neugierde durch die Stube. „Es ist vielleicht keine passende Gelegenheit, das auszusprechen, Fräulein Möller, aber sehen Sie, ich habe mir immer gewünscht, einmal in diese Stube zu kommen, in der Sie wohnen. – Eine sehr schöne Einrichtung“ – er nickte befriedigt – „gebildet und geschmackvoll, gar kein unnöthiger Prunk; aber ganz anders, als es hier bei der seligen Frau Mutter gewesen ist. Sie müssen einen sehr feinen Geschmack besitzen, Fräulein Möller.“

„Wenn Sie soviel Werth auf die Einrichtung legen, Herr Brun, dann haben Sie Ihr Zimmer wohl auch nach Ihrem Geschmacke eingerichtet?“

Das Abgespannte in seinen Zügen hatte sich verloren; ich schob ihm ein mit schottischer Marmelade bestrichenes Weißbrot hin; die Nahrung, vielleicht noch mehr meine unerwartete Freundlichkeit, thaten ihm sichtlich wohl, auch schien’s ihm ganz recht, einmal mit jemand von den eigenen Angelegenheiten zu reden; seine matten Augen belebten sich.

„Sie können selbstverständlich andere Ansprüche machen wie ich, darum würde Ihnen meine Stube vielleicht ärmlich erscheinen; aber ich muß gestehen, daß ich mich sehr wohl darin fühle. O, ich habe auch meinen Luxus, Fräulein Möller! Ich besitze eine kleine, doch, wie ich mir schmeichle, recht gewählte Bibliothek, und meine Augen sind, Gott sei gedankt, noch so leidlich. Wenn ich abends vom Bureau komme, brenne ich mir Feuer an, und wenn das Täßchen Thee fertig ist, dann ist’s unterdeß in dem Zimmerchen auch hübsch warm geworden. Da komme ich mir so zufrieden wie ein König vor – ich meine natürlich einen Märchenkönig, Fräulein Möller, denn ob die wirklichen Könige sich so glücklich fühlen wie ich, bezweifle ich. Ich bin ja von Jugend auf gewohnt, meine Ansprüche zu beschränken, und darum ist mir manche Entbehrung leicht geworden. Für Bücher habe ich freilich immer eine ganz besondere Neigung [847] verspürt; aber bei meiner Kränklichkeit und den geringen Mitteln meiner Eltern war das Studieren von vornherein ausgeschlossen. Na – und daß sich jemals ein junges Mädchen in mich verlieben würde“ – ein Lächeln zuckte um den feingeschnittenen Mund – „nein, daß ich mir so was einbilden könnte, das trauen Sie mir gewiß nicht zu. Aber mir ein Ideal zu schaffen und es, natürlich ganz aus der Ferne, anzubeten – das hat mir ja niemand gewehrt. Und ich war dabei vor Enttäuschungen sicher – beinahe sicher. Und so hat sich mit der Zeit mein Leben recht angenehm gestaltet. Auf dem Bureau sind die Herren ausnehmend freundlich und rücksichtsvoll mit mir, und ich thue doch nur meine Pflicht. Ja, wenn ich nicht eine recht einfältige Eigenschaft besäße, könnte ich mich wirklich sehr zufrieden fühlen. Jeder vernünftige Mensch wird sich sagen, daß die Welt nun einmal nicht vollkommen sein kann, und das sage ich mir selbst auch vor; aber wenn ich was Schlechtes höre, besonders wenn mir das Gemeine näher tritt, sehen Sie – das ist mir ganz unerträglich. Ich kann den Zustand nur mit einem körperlichen Schmerz vergleichen, wie wenn man sich recht empfindlich schneidet oder stößt. Doch ich darf nicht undankbar sein; wenn ich einem besonders guten, feinfühligen Menschen begegne oder von einer guten That höre, oder wenn einem meiner Bekannten ein Glücksfall begegnet – es kommt ja auch so was vor, Fräulein Möller – dann fühle ich mich gleich ganz neubelebt. Sie werden mich vielleicht auslachen, daß ich bei diesen Dingen immer nur von meinem körperlichen Befinden rede; aber das ist’s eben, daß seelische Zustände solchen Einfluß auf mein Befinden haben; gerade in letzter Zeit hatte ich viel darunter zu leiden. Freilich, was waren meine Leiden gegen die des unglücklichen Mannes, der fast stumpf von all dem Elend geworden ist! Ja, Fräulein Möller, es giebt Zeiten, wo einem die Armuth recht drückend wird. Wenn ich nur das Kind dem Elend entreißen könnte!“ – Ein tiefer Schmerz malte sich in seinen vergeistigten Zügen, und liebevoll strich seine magere Hand über die Decke, unter der das Kindchen schlummerte. „Cillchen ist ein ungewöhnlich gescheites Ding, man sollte es gar nicht glauben, was das Kind für Einfälle hat; das versteht’s, einem Menschen die Langeweile zu vertreiben; so ein verständiges Geschöpf trifft man nicht alle Tage, Fräulein Möller!“

„Aber lieber Herr Brun, Sie können doch unmöglich daran denken, das Kind in Pflege zu nehmen?“

Er schüttelte traurig den Kopf. „Nein, Fräulein Möller, ein solches Glück ist einem einsamen alten Manne versagt; allein eine Frau, die noch keinen Beruf hat und die keine Pflichten abhalten und der das Herz auf dem richtigen Flecke sitzt“ – auf einmal richtete er seinen Blick mit einem eigenthümlichen Ausdruck auf mich; in seiner Seele schien ein Gedanke zu erwachen – „es ist ein schöner Lebensberuf, so eine Waise zu erziehen, es ist die herrlichste Aufgabe, die einer Frau werden kann.“

Unter seinem Blicke krampfte sich mein Herz zusammen, als ob eine gewaltige unsichtbare Hand danach fasse; mir wurde ordentlich Angst vor der Macht dieses Auges, denn ich hatte ihn verstanden, und unwillkürlich, um mich seinem Einflusse zu entziehen, stand ich auf und trat in den Schatten.

„Ein solches Kind zu erziehen, Herr Brun, würde jeder Frau, deren Leben in bestimmte Bahnen eingeengt ist, große Opfer auferlegen. Mir wenigstens würden diese Opfer zu groß erscheinen. Was sollte mich auch veranlassen, fremder Leute Kind, das durch ein unglückliches Verhängniß in meine Wohnung gekommen ist, zu behalten? Ich müßte den Umgang mit meinen Freunden sofort aufgeben …“

„Nur beschränken, Fräulein Möller, nur beschränken!“

„Ach, wie wollen denn Sie das beurtheilen?“ fuhr ich auf. „Meine Freunde, meine Reisen, alle meine Vergnügungen müßte ich einfach aufgeben! Glauben Sie, daß ich ein Krösus bin?“

„Aber Sie würden mehr, als Sie aufgeben, dafür eintauschen, Fräulein Möller.“

„O ja, da haben Sie ganz recht; schlaflose Nächte, Sorgen und Mühen würde ich dafür eintauschen – und schließlich läge auf mir noch eine schwere Verantwortung; wer weiß, was aus dem Kinde wird, es kann ja geistig und körperlich erblich belastet sein.“

„Um so größer ist die Gefahr für Cillchen, und um so höher würde Ihr Verdienst sein, sie aus dem Sumpfe in eine reinere Atmosphäre versetzt zu haben.“

„Ach gehen Sie! Ich glaube, Sie legen es darauf an, mich zu quälen, Herr Brun.“ – Wer mir gesagt hätte, daß ich mit einem Schreiber in diesem Tone verhandeln würde!

„Aber Fräulein Möller, ich spreche doch nur aus, was Sie selbst viel besser fühlen und denken. Und nachdem Gott Sie einmal zu dem Amte berufen hat, können Sie sich der Verantwortung ja gar nicht mehr entziehen.“

„Wie wollen Sie das beweisen?“ rief ich hart und laut. Das Kind bewegte unruhig die Händchen, aber es erwachte nicht.

„Sie saßen hier behaglich in Ihrer Stube, Fräulein Möller, und feierten nach Ihrer Art das Weihnachtsfest; und Sie dachten gewiß nicht mehr an die Ullmanns, als ich Sie zu dem armen Manne um Hilfe rief. Aber nicht wahr, es wäre Ihnen doch nicht möglich gewesen, diese Hilfe nicht zu gewähren? Und ebenso wenig konnten Sie abschlagen, das Kind unter Ihren Schutz zu nehmen.“

„Ja, für ein paar Stunden – ein paar Tage.“

„Freilich, so denken Sie jetzt. Aber glauben Sie denn, daß Sie, wenn Sie das Kind fortgegeben, ins Waisenhaus geschafft haben, befriedigt wie bisher weiterleben können? Nein, Fräulein Möller“ – und seine Stimme erhob sich – „von heute an werden Sie sich an jedem Abend fragen: wofür lebe ich eigentlich? Ist es denn ein würdiger Lebenszweck, nur für meine eigene Person zu schaffen und zu sorgen? Ist es denn eine Lebensaufgabe, meine guten Freunde zu amüsieren? Und von heute an wird Ihr Leben Ihnen schal und öde und unbefriedigend vorkommen. Und denken Sie nur, wenn Sie einmal hörten, daß Cillchen auf abschüssige Bahnen gerathen wäre! – Fräulein Möller, wollen Sie diese Verantwortung auf sich nehmen? Könnte Ihre Reue jemals gut machen, was Sie in dieser Stunde zu thun unterlassen haben?“

„Ach, reden Sie nicht weiter!“ rief ich heftig. „Ich bin selbstsüchtig, ich will’s offen bekennen: allein wie soll ich mich von heut auf morgen ändern? Ich bin nicht imstande, mein Leben, so wie ich es zu führen gewohnt bin, eines fremden Kindes wegen aufzugeben. Ein solches Opfer übersteigt meine Kräfte.“

„Ja, Opfer verlangt so ein Kind, das ist wahr, – recht viele, recht große Opfer; aber wie kann es auch diese Opfer belohnen! Es ist ein Kapital, das sich zu hundert Prozent verzinst. Was für Herrlichkeiten in so einer Menschenknospe schlummern, davon haben Sie noch gar keine Ahnung, Fräulein Möller; wenn sich jedoch Blatt nach Blatt entfaltet, bis die junge Seele in ihrer ganzen Pracht vor ihnen steht – dann, Fräulein Möller, werden Sie es selbst einsehen, daß in dieser Stunde sich Ihnen das größte Glück geboten hat, das einem Menschen zu theil werden kann.“

Aber noch immer sträubte sich mein Herz. „Daß dieses Kind zu dieser Stunde und unter diesen Verhältnissen zu mir gekommen ist, verpflichtet mich zu nichts,“ sagte ich hart.

Er stand auf. „Ich habe von einem Glück gesprochen, Fräulein! Glauben Sie vielleicht, daß dieses Glück, das Sie heute von Ihrer Thür fortgewiesen haben, ein zweites Mal wiederkehren wird?“

Und darauf ging er geräuschlos, wie er gekommen war; ich sah ihn nicht gehen, denn ich stand am Fenster und starrte in das Dunkel hinaus. Die Straße war ganz leer; da und dort schimmerte durch den Nebel eine müde Flamme in den Laternen; kein Schritt nah und fern, alles still; aber in meinem Herzen tobte ein leidenschaftlicher Kampf. Es war, als ob feindliche Gewalten meine Seele zerreißen würden. Doch eines war mir jetzt schon klar: Meine Ruhe, mein Behagen, alle Lebensfreude, [848] die ich bisher genossen – alles war vernichtet; unmöglich konnte ich so weiterleben. Ich klammerte mich an meine Selbstsucht und rief: „Rette du mich! Ich will nicht! Ich kann es nicht thun!“ – Gott allein weiß, wie schwer dieser Kampf gewesen ist. Und wie ich noch mit gerungenen Händen am Fenster lehne, erhebt sich vom Sofa her ein dünnes Stimmchen: „Papa!“ Dann lauter und herrischer: „Papa! Papa!“ Cillchen hat sich aufgesetzt und guckt sich erschreckt in der fremden Umgebung um.

Da bin ich auch schon neben ihr und umschlinge das kleine Wesen mit meinen Armen und sage ihm süße Trostworte, bei denen es sich beruhigt und wieder sanft einschläft.

Ich aber blieb an seinem Lager auf den Knien. Von draußen klang das Festtagsgeläute herein, das jubelnd die Geburt des Christkindes verkündete. Ja, auch mir war ein Christkind geboren worden; unwillkürlich faltete ich meine Hände und blickte fast andächtig auf das blasse Gesichtchen meiner kleinen Tochter. Die Selbstsucht war gestorben und die Menschenliebe zum Leben erwacht. Ein heiliger Friede hatte sich in mein Herz gesenkt. – –

Als am andern Morgen meine Aufwartefrau erschien, schickte ich sie hinaus und ließ Herrn Brun bitten, das Frühstück bei mir einzunehmen. Cillchen auf dem Arme, ging ich ihm entgegen in der Absicht, ihm mitzutheilen, daß das Kind in mir eine zweite Mutter gefunden habe; aber die Stimme versagte mir und ich brachte kein Wort hervor. Doch merkwürdigerweise verstand mich Daniel Brun auch ohne Worte. „Fräulein Möller,“ sprach er, „darf ich mir eine große Gunst ausbitten? Darf ich wagen, Ihre Hand zu küssen?“

So, nun ist meine Geschichte zu Ende.

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Wie? Ich soll weiter schreiben? Aber was wäre da noch zu erzählen? Von mir habe ich gerade genug gesprochen. Doch von Dir, mein Cillchen, könnte ich erzählen … das willst Du mir nicht erlauben? Aber ich werde mich von meiner eignen Tochter nicht tyrannisieren lassen! Das sollte mir einfallen! Die Geschichte muß doch noch einen richtigen Schluß bekommen, und da sie mit meinem Enkel anfängt, scheint mir, daß Dir darin auch ein Platz zukommt. – Du bist davon nicht überzeugt, Cillchen? Ich soll nicht einmal sagen, daß Du jedes Opfer tausendfältig vergolten hast, daß Du … Ja, wenn Du mir den Mund zuhältst, kann ich freilich nicht reden. – Aha – das also erlaubst Du mir: von Daniel Brun soll ich sprechen, von unserem besten Freunde. – Ach, Kinder, da fällt mir ein, als ich heute nachmittag an seinem Grabe war, lag noch kein Kranz darauf. Ihr werdet mir doch am Weihnachtstage zum ersten Male nicht vergessen haben, sein Grab zu schmücken! – So – das beruhigt mich; Dein Professor hatte eine Abhaltung, früher hinzugehen, und er wollte sich’s doch nicht nehmen lassen, Dich an das Grab zu begleiten, ehe Ihr zu mir zur Bescherung kämet. Ja, meine theuren Kinder, ihn, der mich von der Selbstsucht zur Liebe erweckt und durch Dich zur stolzesten Großmama gemacht hat, Daniel Brun, dürft Ihr niemals vergessen! – Komm her, Dani! das ist sein Bild; Du mußt mit den kleinen Patschhänden nicht gleich so derb zugreifen, mein Junge; aber sieh Dir sein Bild an, Dani! Das war ein guter, ein sehr guter Mann. Wenn Du erst groß geworden bist, wird Deine Mutter Dich belehren, warum wir Daniel Bruns Andenken heilig halten und seinen Namen segnen.




Mummenschanz der deutschen Weihnacht.

Von Dr. Alexander Tille.0 Mit Zeichnungen von Werner Zehme.

Wer am Weihnachtsabend einmal mit offenen Augen durch die Straßen unserer Städte wandelt und seine Blicke nicht nur nach den vom Lichterbaum hell erleuchteten Fenstern schweifen läßt, sondern auch in die düsteren Hausflure, in die Höfe der Häuser und in die Schattenwinkel der Straßen blickt, der kann noch hier und da zwei vermummten Gestalten begegnen, welche immer nur in einem kleinen Kreis von Häusern, oft nur in einem einzigen Haus, ja in einem einzigen Stockwerk die Runde machen. Das ist der Knecht Ruprecht und der Heilige Christ. Irgend ein näherer Bekannter oder Verwandter des Hauses ist unter dieser Hülle verborgen, und wer es auch sei, er übt gern das Amt, eine übermüthige Kinderschar ein wenig einzuschüchtern und dann durch Gaben wieder zu lautem Jubel zu begeistern. An der Thür der Wohnung erhält er den großen Sack eingehändigt, mit dem er drinnen die Kinder erst schrecken, dann erfreuen soll; die Thür zum Bescherungszimmer öffnet sich, und ein sprachloses Entsetzen bemächtigt sich der Kleinen bei dem gruseligen Anblick des gefürchteten Pelzmannes, und selbst das freundliche Aeußere des Heiligen Christ, der in weißem Gewande erscheint und einen rosafarbigen oder gar goldenen Gürtel trägt, kann dies nicht mindern. Verlegen sagen die Kinder auf die Frage, ob sie auch beten können, ihre Sprüchlein her, das eine wischt dabei eifrig mit dem Schwamme auf der neuen Schiefertafel, das andere bricht im Eifer einem Bleisoldaten beide Beine ab, und die kleine Schwester versucht vergebens, der neuen Puppe die Kapuze über die Aermel zu streifen. Die Frage nach der Folgsamkeit der Kinder wird von den Eltern bejahend beantwortet, und nun befiehlt der Heilige Christ seinem struppigen Begleiter, den Sack zu öffnen und seine Gaben auszuschütten. Mit einigem Widerstreben thut er’s. Kaum rollen die ersten Aepfel und Nüsse auf der Diele hin, da stürzt sich auch schon die ganze Kinderschar darauf. Denn diese Aepfel aus Knecht Ruprechts Sacke schmecken ja weit besser als die andern, die auf dem Bescherungstische ausgebreitet liegen. Die Aepfel und Nüsse ziehen die Aufmerksamkeit der Kinder völlig von den beiden vermummten Gestalten ab, die sich unbemerkt entfernen, meistens noch einige Ruthen zurücklassend.

Christkind und „Hans Trapp“.

Ein seltsames Paar! Die Vereinigung dieser beiden Gestalten zu treuen Genossen kann fast wie ein Scherz der Sittengeschichte erscheinen. Und doch ist sie schon Jahrhunderte alt, und wenn auch gegenwärtig der Heilige Christ weit hinter dem Knecht Ruprecht zurücktritt, so ist doch auch er ein nothwendiges Stück der kleinen Aufführung.

Einstens, in vorgeschichtlicher Zeit, als die heidnische Religion noch uneingeschränkt unter den Germanen herrschte, da waren in der Julzeit bereits Vorführungen üblich, über deren näheres Wesen uns freilich jede Kunde fehlt, bei denen aber sicher eine Reihe von Göttern auftrat. Ihre segnenden Umzüge waren es, welche der Flur im kommenden Jahre Fruchtbarkeit verliehen. An scenische Darstellungen ist dabei nicht zu denken. Am wahrscheinlichsten ist es wohl, daß der festlich geschmückte Priesterzug, der die Gottheiten darstellen sollte, begleitet von größeren Volksmassen über die winterlichen Fluren hinzog. Einer aus diesem Kreise ist uns in dem Knecht Ruprecht des Volksbrauches übrig geblieben; welcher, das sagt schon der Name. „Hruodberaht“, der „Ruhmesglänzende“, ist ein Beiname des deutschen Gottes Wuotan, den die Nordländer Odhin nennen, ein Name, der auch bei uns noch in Ortsnamen und Bergnamen, in „Wodans Jagd“ und im „Wüthenden Heer“ fortlebt.

Der Heilige Christ ist nun aber keine Gestalt, welche die Kirche etwa dem volksthümlichen Pelzmanne entgegengesetzt hätte, sondern nur eine Gestalt des kirchlichen Christspieles, das schon früh üblich war und in dem ausschließlich Gestalten der christlichen Ueberlieferung vorkamen. Joseph spielte dabei die Rolle des Spaßmachers. In dieses Spiel nahm dann die Kirche in späteren Zeiten auch den Knecht Ruprecht des Volksglaubens auf, wohl nur, um ihn langsam zum christlichen Heiligen umzubilden und

[849]

Christkindel in Schlesien.

[850] dadurch unschädlich zu machen. Während dieses Verfahren aber sonst vielfach von Erfolg begleitet war, sind an der urwüchsigen Gestalt des Knechtes Ruprecht alle Umwandlungsversuche gescheitert. Er ist der alte rauhe Geselle geblieben, der er seit Jahrhunderten gewesen war, und überragt an Bedeutung heute sogar den Weihnachtsmann, als dessen Diener er eigentlich gelten soll.

Der Klapperbock.

Aber der Knecht Ruprecht ist bei weitem nicht der einzige Rest heidnischer Bräuche, wenn er auch derjenige ist, welcher sich der größten Verbreitung erfreut. Neben ihm steht noch eine ziemliche Anzahl anderer Gestalten, welche natürlich mit ihm verwandt sind und in denen bald dieser bald jener Zug des gemeinsamen Urbildes erhalten geblieben ist. Das Volk hat den Ursprung dieses Mummenschanzes längst vergessen und eine ganze Reihe örtlicher Sagen geschaffen, welche Namen und Wesen der Spukgestalt bald so bald anders erklären. Für die Erklärung der Sache sind diese ohne Bedeutung. Um so sorgfältiger aber hat man auf alle die kleinen Züge zu achten, welche den Spukgestalten anhaften. Denn diese sind die Steinchen, aus denen man sich das Mosaikbild des germanischen Himmelsgottes wieder einigermaßen zusammensetzen kann.

Erscheinen von diesem Gesichtspunkte aus all die Formen des Mummenschanzes der Weihnacht höchst bedeutungsvoll für die Wissenschaft der germanischen Mythologie, so ist doch ihre Bedeutung damit noch nicht erschöpft. Wo ein jahrhundertelanger, lebendiger Verkehr mit einem Stamme anderer Mundart alle Eigenthümlichkeiten der Sprache verwischt hat, wo fremdes Recht, fremde Tracht, fremde Anlage der Häuser und Höfe eingedrungen sind, wo selbst die alten Kinderlieder durch neue verdrängt wurden, da geben diese Gestalten und ihre Namen dem Ethnologen oft die einzigen Fingerzeige, in welcher Richtung er nach der Herkunft einer kleinen Gemeinschaft zu suchen hat.

Im Elsaß geht das Christkind herum und kündigt seine Gegenwart schon von weitem durch den Klang einer Glocke an. Es wird meist durch ein erwachsenes Mädchen dargestellt, das in langem weißem Gewande und wallendem blondem Haar auftritt. Das Gesicht ist weiß geschminkt, und auf dem Kopfe trägt es eine goldene Krone, auf der mehrere Wachslichter brennen. Es hat einen Korb mit Zuckerwerk am Arme, in der andern Hand die erwähnte Glocke. Freundlich spricht es die Kinder an, und schon kommen, gelockt von den süßen Gaben, die Kleinen herbei, die sich erst vor Verlegenheit hinter der Mutter zu verbergen suchten – da tönt vor dem Fenster Kettengerassel, die Fensterflügel thun sich auf, und herein steigt die bis über die Ohren vermummte Gestalt des „Hans Trapp“. Er ist in ein Bärenfell gehüllt, hat das Gesicht mit Ruß geschwärzt und trägt einen langen schwarzen Bart, der ihm bis auf den Gürtel niederwallt. In der Hand führt er ein Geräth, das mehr einem Besen als einer Ruthe ähnelt. Mit diesem droht er der Kinderschar, die sich ängstlich verkrochen hat. Mit Grabesstimme fragt er, wer nicht artig gewesen sei, und geht auf die Unartigen los, die zitternd und zagend in den Rockfalten der Mutter ihre Zuflucht suchen. Doch das Christkind bittet für sie: die Kinder versprechen Besserung und erhalten aus dem Korbe Zuckerwerk zum Geschenke.

In Schwaben tritt das Christkind als weißgekleideter Engel auf, prüft und beschenkt die Kinder. Sein Begleiter ist der „Pelzmärtel“, der auch „Pelzmichel“, „Grale“ oder „Butzegrale“ heißt. Er ist vermummt, oft ganz in Erbsenstroh gehüllt, sein Gesicht ist rußig, sein Leib mit einer Kette umwunden und sein Rücken trägt einen Korb, während die Rechte einen Stock führt. Bisweilen trägt er noch eine Pelzmütze, an der Schellen klingen. Auch in Schlesien erscheint das Christkind im weiten weißen Schleier, eine Krone auf dem Haupte, eine Laterne in der Hand, und singt mit seinem langbärtigen, sacktragenden Begleiter ein Weihnachtliedchen. In der ehemaligen Grafschaft Ruppin heißt der Heilige Christ „Christmann“ oder „Christpuppe“. Er ist weiß gekleidet, mit Bändern geschmückt und führt eine große Tasche. Neben ihm reitet ein vermummter Knecht einen künstlichen Schimmel, und beide sind von „Feien“ d. h. von als Weiber verkleideten Gestalten mit geschwärzten Gesichtern, umgeben.

Der Habersack.

Im Erzgebirge ist der Heilige Christ stellenweise durch Petrus verdrängt worden, der mit „Ruprecht“, „Rupperich“ oder „Semper“ umherzieht. Petrus tritt zuerst ins Zimmer, fragt die Kinder nach ihren Kenntnissen und ruft dann dem Genossen. Dieser tritt herein und spricht: poem>Ich komme geschritten, Hätt’ ich ein Pferdlein, so käm’ ich geritten. Ich hab’ wohl eins im Stalle stehn, Aber es kann nicht über die Schwelle gehn.</poem>

Auf niederdeutschem Boden heißt der Knecht Ruprecht selbst oft „de hèle Christ“, in Mecklenburg nennt man ihn „rù Clas“ (rauher Nikolas); ähnliche Namen trägt er in der Altmark, in Braunschweig, Hannover, Holstein. Zuweilen führt er einen langen Stab und einen Aschenbeutel und hat Glocken oder Schellen am Kleide. Mit dem Aschenbeutel schlägt er die Kinder, welche nicht beten können, und heißt deshalb auch „Aschenclas“.

Im Niederlande Böhmens erscheint der „Rumpanz“ im Gefolge des Heiligen Christ; in einzelnen Dörfern Niederösterreichs die „Budelfrau“. Im südwestlichen Theile Niederösterreichs tritt der heilige „Niglo“ auf und neben ihm „Krampus“ als Schreckmann. Betend harren die Kinder der beiden. Jetzt tönt das Glöcklein, und sie fangen an zu singen:

Hearei, hearei, Hear Niglo,
goar gua’de Kinder sain jo do,
de beden gearn, de lernen gearn,
de biden ’n halig’n Niglo,
er soll earna was beschearn.

Die Thür geht auf und der heilige Niglo mit Stab und hoher Mütze tritt herein und spricht:

G’lobt sei Jesas Christas,
'n Himlssögn bringt mit hear do
da Godasstab und Ring dös halich’n Niglo.

[851] Darauf antworten die Kinder mit zitternder Stimme:

Miar griaßen Dih, o halicher Mann,
und beden alle Dag Dih an
in alle Ewigkeit, Amen!

Nun tritt Niglo an den Tisch heran, läßt jedes Kind beten und sich seine Gebet-, Schul- und Schreibbücher zeigen. Wehe dem, welches seine Bücher nicht in Ordnung hat oder das beim Beten stottert. Der schwarze Krampus, mit einem Pelze angethan, steht mit glühenden Augen und langer, rother Zunge und mit einer großen Kette vor der Thür, die Befehle seines Herrn zu vollziehen. Zum Schlusse küßt jedes Kind den Ring des heiligen Niglo.

Hatten wir es bisher immer mit Gestalten zu thun, in denen wenigstens die christliche Färbung nicht zu verkennen war, so giebt es andrerseits auch eine ziemliche Menge von solchen, welche ohne jede Spur der Verchristlichung heute noch fortbestehen. Hierher gehört der „Bär“, der in einigen Gegenden Deutschlands erscheint und von einem in Erbsenstroh gehüllten Burschen dargestellt wird, welcher eine Ruthe führt und es mit seinen Züchtigungen namentlich auf die erwachsenen Mädchen abgesehen hat. An ihn schließen sich dann noch eine Reihe Vermummungen, bei denen wie oben bei dem „Christmann“ ein künstliches Pferd eine Rolle spielt, sei es nun als „Schimmel“, „als spanischer Hengst“, als „Klapperbock“ oder „Julbock“.

Der „Schimmel“ erscheint in Bergkirchen, Kreis Minden, und der „spanische Hengst“ in Bassum im Hannöverschen. Beide Thiere sind nahe Verwandte und gute Freunde des „Klapperbocks“ auf der Insel Usedom. Hier treten drei Personen auf, die zusammen „der Ruprecht“ heißen. Die eine trägt Ruthe und Aschensack und ist gewöhnlich in Erbsenstroh gehüllt. Die zweite trägt den Klapperbock, eine Stange, an der vorn ein Widderkopf aus Holz befestigt ist und die im übrigen von einer Bockshaut verdeckt wird. Die untere Kinnlade des Kopfes ist beweglich. An ihr ist eine Schnur befestigt, welche durch die obere Kinnlade und den Schlund läuft, so daß die beiden Kinnladen klappernd zusammenschlagen, sobald der Träger die Schnur zieht. Dieser Klapperbock stößt die Kinder, welche nicht beten können. Der dritte Genosse endlich erscheint als Reiter auf einem Besen.

In Dänemark heißt dieser Klapperbock „Julbock“ und darf in keiner Weihnachtsstube fehlen.

Ilsenburg im Harz ist die Heimath des „Habersack“. Hier nimmt ein unternehmender Bursche eine gabelförmige Stange vor die Brust und klemmt einen stumpfgekehrten alten Besen nebst einem Hut dazwischen, so daß das Ganze wie ein Kopf mit zwei Hörnern aussieht. Den Träger selbst verbirgt ein langes Laken. In dieser Gestalt tritt er dann in der Weihnachtsstube auf, zum Schrecken der Kleinen und zur Freude der Größeren, die sich mühen, zu ergründen, wer wohl in der Vermummung verborgen sein mag, bis auch hier der Mummenschanz in eitel Weihnachtsfreude sich auflöst.




Am Kinderspieltisch unserer Voreltern.

Von Hans Boesch.0 Mit Abbildungen alter Spielwaren im germanischen Museum von K. Zinn.

Puppen und geharnischter Ritter
aus dem 14. Jahrhundert.

„Der klein Hausrath und Puppending,
Wiewol es ist gar schlecht und gring,
Von Bley gemacht oder von Erdt,
Halten’s die Kinder doch gar werth,
Thun es auch wie ein Schatz bewahren
Und wie fein Gold zusammensparen.“
 (Flugblatt aus dem Jahre 1620.)

Es liegt ein eigenartiger Zauber in dem Spiel des Kindes. Alle Keime seines Wesens, alle kleinen und großen Züge seines Charakters offenbaren sich in den Stunden, da es sich in glücklicher Selbstvergessenheit ganz dem Spiele dahingiebt. Mit einer geradezu allmächtigen Phantasie schafft es die unscheinbarsten Dinge zu den großartigsten Herrlichkeiten um, ein Holzklötzchen zur geliebten Puppe, eine Wasserlache zum glänzenden See, einen Wegrain zur stolzen Festung, und unberührt von des Daseins glatter Nüchternheit, wiegt es sich selig in dem goldenen Paradies der Illusion. Unglücklich das Kind, das nicht spielen kann! Es ist arm, bettelarm, und wenn seine Eltern über die Schätze Golkondas verfügten, es darf des Tagelöhners Kind beneiden, dessen Spielzeug mit Pfennigen bezahlt ist.

Ja, Kinderspiel – ein Kinderspiegel! Aber wie das Spiel des Kindes Seele spiegelt, so ist das Kinderspielzeug ein Spiegel der Kultur einer Zeitepoche. Wie oft hat man nicht schon die überfeinerte Kultur der Gegenwart mit der Ueberfeinerung unserer Kinderspielwaren illustriert! Und wenn wir einen Gang an den Kinderspieltischen unserer Vorväter vorbei machen, werden wir noch auf manche Beispiele für diesen verwandten Entwicklungsschritt der allgemeinen Lebenshaltung der Großen und der Spielwaren der Kleinen stoßen.

Solange es Kinder giebt, hat es auch schon Spielwaren gegeben. In der Urzeit waren sie allerdings von sehr einfacher Art, dafür aber auch von größter Billigkeit; die allgütige Mutter Natur war es, die sie in bunten Kieseln, schillernden Käfern, farbenprächtigen Blumen dem Kinde umsonst spendete. Wohl bald haben indessen die Menschen, als sich ihr Formensinn entwickelte, die menschliche Gestalt, thierische Figuren, die Geräthe des täglichen Gebrauchs im kleinen nachgebildet und den Kindern in die Hand gegeben, welche sich damit auf dieselbe Weise beschäftigten, wie sie es von den Eltern sahen. Das alte deutsche Sprichwort: „Die Buben haben Lust zu reiten und zu kriegen, die Mädchen zu Docken und zu Wiegen“, ist unzweifelhaft von jeher bestimmend gewesen für die Wahl des Spielzeugs der Knaben und Mädchen.

Wenn wir freilich aufzählen sollen, was sich an uraltem Spielzeuge erhalten hat, so kommen wir etwas in Verlegenheit, aber ohne unsere Schuld; es sind vielmehr die Kinder selbst dafür verantwortlich, die vor Jahrtausenden ebenso zerstörungslustig oder, zarter ausgedrückt, „wißbegierig“ gewesen sind wie die heutigen Kleinen, die ihr Spielzeug gar zu gern auseinander nehmen, um zu sehen, wie es wohl inwendig ausschaue. Indessen, ganz ohne solche Reste sind wir doch nicht.

Zur Zeit, in der die Bewohner des heutigen Schlesiens die Bearbeitung des Eisens noch nicht kannten, Geräthe und Waffen vielmehr aus goldglänzender Bronze fertigten, also einige Jahrhunderte vor Christi Geburt, da unterhielten sich dort die Kinder mit Klappern in Gestalt von Birnen, von Gänsen und Enten, die aus gebranntem Thone hergestellt waren, im Innern einige Steinchen enthielten und durch eingeritzte Striche oder durch Bemalung ein gefälliges Aeußere erhalten hatten. Und in der merkwürdigen, 2000 Jahre alten Kulturstätte zu Hallstatt im Salzkammergute wurden kleine Thiere aus Bronze gefunden, Ochsen mit großen geschweiften Hörnern, Hirsche mit mächtigen Geweihen, welche wir uns recht gut als Spielzeug denken können, obgleich die Forscher in ihnen Weihegeschenke sehen. Vielleicht sind sie sogar beides zugleich? Opferten doch die Mädchen der Römer, wenn sie erwachsen waren, ihre Puppen der Venus.

Die Puppe, die Docke ist entschieden das vornehmste aller Spielzeuge. Die tiefbetrübte Mutter im heißen Nillande, die ihres Herzens Liebling verloren, wußte demselben keine kostbarere Gabe, keine, die ihm beim erhofften Wiedererwachen mehr Freude hätte machen können, mitzugeben als die so zärtlich geliebte Puppe!

Im sonnigen Indien drückten schon im Alterthume die kleinen Hindumädchen Puppen aus werthvollem Materiale, aus Elfenbein, an ihr braunes Herzchen; und die kleinen Griechinnen gar spielten bereits mit Gliederpuppen, welche die Frau Mama zusammen mit allerhand anderen Figuren genau wie in der Gegenwart auf dem Markte gekauft hatte.

Auch im Mittelalter war die Docke das Hauptspielzeug der Mädchen; sie wird von den althochdeutschen und mittelhochdeutschen Dichtern am häufigsten unmittelbar als Spielzeug angeführt oder zu Vergleichen herangezogen. Aber die kleinen Mütterchen begnügten sich nicht mit ihren lieben Kindchen, die sie aufs prächtigste herausputzten, um mit ihnen Staat zu machen; sie mußten auch allen den Hausrath haben, der zur Pflege eines Kindleins nothwendig war.

Vor allem eine Wiege, in welcher mit melodischem „Eia popeia“ das Puppenkindchen sorgfältig eingeschläfert wurde. Dann mußte die liebe Kleine doch auch spazieren gefahren werden! Und welch nobles Gespann das Dockenwägelchen hatte! Zwei lebendige Mäuschen waren demselben vorgespannt, wie Hugo von Trimberg in seinem „Renner“ um 1300 berichtet.

Eine Anzahl aus weißem Thone gebrannter Puppen, gepanzerte Reiter, Wickelkinder, Puppengeschirre wurden im Jahre 1859 in Nürnberg unter dem Straßenpflaster herausgegraben, ein Fund, der einen interessanten Einblick in das Spielzeug der Kinder im 14. Jahrhundert gewährt und von dem wir einige Proben in unserer Anfangsvignette abgebildet haben. Die kreisrunde Vertiefung, welche die eine dieser Puppen zeigt, war zur Aufnahme des Pathenpfennigs bestimmt.

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Salon des 17.–18. Jahrhunderts aus einem Puppenhause.

Das Seitenstück zur weiblichen Puppe ist der Dockenmann oder der Dockenhansel, dem auch wohl ein Dockengaul zur Verfügung stand. Auch mit diesen spielten die Mädchen gern; Fischart, der große Satiriker, weiß wohl, warum: „Und was ist’s Wunder,“ sagt er, „daß die Weiber so fein wissen, mit ihrem Ehegetrauten umbzugehen, demnach sie es doch von Jugend auf mit Docken und Poppen also gewöhnen, daß sie nachgehends in der Ehe auch solche Poppenspiel mit ihrem Ehegepaarten üben.“

Die Kinder waren im Mittelalter noch nicht so anspruchsvoll wie heute; gefärbte Eier, kleine, aus Holz geschnitzte und bemalte Vögel, mit Erbsen gefüllte Blasen, kleine bewegliche Windmühlen, aus Thon gebrannte Pfeifen in mancherlei Thiergestalt waren dankbar begrüßte, hochwillkommene Geschenke. Die Knaben tummelten ihre Steckenpferde, ließen die aus Papier oder Pergament gemachte Windmühle lustig vom Winde drehen und spielten mit besonderer Vorliebe mit Schussern oder Marbeln, zu welchem Zwecke sie sich Gruben an den Straßen aushöhlten. Schon im 17. Jahrhundert jammerten die Mütter, daß die schweren Steinkügelchen den Knaben die Kleider zerreißen:

„Die Schnellkuglen gfallen den Buben,
Schnelln sie artlich nach den Gruben,
Pflegen ihre Röck’ so voll zu laden
Daß es den Kleidern bringt viel Schaden.“

Waren die Knaben größer geworden, so gingen sie wohl auch mit dem Blaserohre auf die Vogeljagd.

Ein kunstvolleres Spielzeug des Mittelalters beschreibt die Aebtissin Herrad von Landsberg in einer Handschrift des 12. Jahrhunderts. Es war freilich nur solchen Knaben erreichbar, welche in der Wahl ihrer Eltern recht vorsichtig gewesen waren, denn es diente bei der Erziehung von Prinzen und Söhnen hoher Adliger als Vorbereitung zu den ritterlichen Uebungen. Es bestand aus zwei geharnischten Gliederpuppen, die mit Schild und Schwert bewaffnet waren und die man durch Ziehen an Schnürchen mit einander kämpfen lassen konnte. Kaiser Maximilian, der letzte Ritter, hatte als Kind ein ähnliches Spielzeug, doch waren es hier zwei stolze Ritter hoch zu Roß. Die Kunstsammlungen des österreichischen Kaiserhauses bewahren zwei solcher Figuren noch im Original. Es sind Ritter in Rennharnischen des 15. Jahrhunderts, in Bronzeguß ausgeführt und auf Rädern stehend. Man steckte ihnen kleine Stäbchen als Lanzen in die zu diesem Zwecke durchlöcherte Hand und rollte sie dann durch Stöße aufeinander zu, so daß die Stäbchen an den Tartschen zersplitterten.

Puppengalawagen aus dem 18. Jahrhundert.

Wie bei Kaiser Maximilian, dem mächtigsten Förderer des Turnierwesens, so deutet auch bei einem anderen deutschen Fürsten das Spielzeug des Kindes auf die Liebhaberei des Mannes hin. Der jagdliebende Kurfürst August von Sachsen wußte dem zwölfjährigen Kurprinzen zum Christgeschenke nichts Besseres und Schöneres zu geben als eine Jagd. Je vier Sauen, Hirsche, Hirschkühe, Rehe, Füchse, Hasen und Wölfe, verfolgt von 24 Hunden, 6 Jägern zu Fuß und 7 Reitern, denen 10 Pferde und ein Maulesel zur Verfügung standen, sowie ein Schlitten, also ein Jagdzug von 77 Stück, bewegten sich auf dem Schlosse zu Torgau im Jahre 1572 über den Weihnachtstisch des Prinzen Christian, der dann später auch richtig ein leidenschaftlicher Jagdfreund wurde. Die beiden Prinzessinnen, 10 und 5 Jahre alt, erhielten eine außerordentlich reiche Kücheneinrichtung, in welcher namentlich das Zinngeschirr vorzüglich vertreten war, u. a. durch 71 Schüsseln, 40 Bratenteller, 36 Löffel, 106 Teller, 28 Eierschüsseln etc. Von sonstigem Hausgeräthe sind zu erwähnen: Schränke, Tische, Stühle, Nähkissen, eine Wiege aus Draht, Badewannen, Schreibzeuge, Barbierbecken, ferner ein kleiner Hühnerhof.

Um den fürstlichen Kindern aber auch den Ernst des Lebens zu Gemüthe zu führen, hatte der Heilige Christ zwei Ruthen mitgebracht. Alle diese Dinge hatte Herr Bürgermeister Hieronymus Rauscher in Leipzig besorgt.

Stall und Keller aus einem Puppenhause von 1639.

Den Kindern war mit der Zeit das Weihnachtsfest, an dem sich alles freuen sollte und man sogar die Hausthiere und Sperlinge bewirthete, ohne Leckereien und ohne Spielzeug undenkbar geworden, wenn es auch natürlich im bürgerlichen Hause nicht so hoch herging wie im fürstlichen Schlosse und die Christgeschenke im ersteren zum großen Theile aus Gebrauchsgegenständen bestanden, welche der Herr Papa oder die Frau Mama ohnedies hätten kaufen müssen. So bekamen z. B. die neun Kinder des Christoph Löffelholz v. Colberg in Nürnberg zu Weihnachten 1619 von ihrer Mutter – der Vater war im Januar gestorben – neben einigen Leckereien vor allem Kleidungsstücke und Toilettengegenstände, darunter die sechzehnjährige Anna Sabina schwarzatlasene Zöpfe und ein Spartrühlein, welch letzteres überhaupt damals als Christgeschenk eine große Rolle spielte. Dem vierzehnjährigen Wolf hatte das Christkind u. a. ein halb Dutzend Fatzenedlein (d. s. Sacktücher), eine Schlange in einem Büchschen, ein Messer und ein Wachsstöckchen (beide wiederholen sich auch meist bei den andern Kindern), sowie einen Hirsch von Backwerk beschert; das Backwerk des zwölfjährigen Mathias hatte die Form einer Laute, und statt des Messers hatte er ein Schreibzeug, Papier, rothe Tinte und eine Pfeife erhalten, mit welcher er der Mutter gar arg die Ohren vollgeblasen haben mag. Einen Seiltänzer um sechs Kreuzer hatte u. a. der elfjährige Johannes bekommen. Ganz besonders reich war das siebenjährige Bärbelein, wohl der Mutter Liebling, beschenkt worden. Es hatte gar zwei Messerlein, eine große Puppenwiege nebst Einrichtung, dann einen Hänslabuben (Dockenhansel, männliche Puppe), Schreibzeug, Lineal, Einmaleins, Psalter, Gebetbuch, ein Spinnrädchen, dann an [853] Puppengeschirr eine Küchenschüssel, Häfen, Krüge, Schalen, Flaschen, Becken und silberne Löffel erhalten. Die kleine fünfjährige Maria Salome war mit ihrer Docke, dem Wägelchen dazu, ihrem Katechismus, den Griffeln und einer Schachtel wohl ebenso zufrieden. Auch der ganz Kleinen vergaß das Christkind nicht; stolz zeigte die dreijährige Anna Marie ihr Armkörbchen, ihren Hanselbuben, Geige und Tafel, und das Nesthäkchen, die zweijährige Katharina, unterhielt sich prächtig mit ihrer Docke, beruhigte sie mit der Kinderklapper und schaute fleißig in ihr Spartrühlein, ob denn der Kreuzer sich immer noch nicht vermehrt habe.

Puppenzimmer aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges.

Ebenso praktischer Natur waren die Festgeschenke, welche Herr Lucas Friedrich Behaim seinen Angehörigen spendete und über welche er als gewissenhafter Hausvater sorgfältig Buch führte. Die drei Kinder, ein Mädchen von 71/2 und zwei Knaben von 61/2 und 11/2 Jahren, erhielten am Weihnachtsfeste des Jahres 1622 verschiedene Ellen Zeug, Borten, Knöpfe, 100 Nadeln, Faden, „Häcklein und Schleiflein“ (Haken und Oesen), Stiefel, Pantoffel, Schuhe, einen Schurz, einen Schulkorb, Gesangbücher, eine Tafel, eine goldene Haarhaube u. a. Für allerlei „Dockenwaar“ hatte Herr Behaim 6 fl. 33 Kr. aufgewendet. Die Gesammtausgaben für das „Kindleinbescheeren“ beliefen sich auf 68 fl. 28 Kr., wovon die Frau des Hauses die Hälfte bar erhalten hatte. Die unruhige schwere Zeit gestattete einen solchen Aufwand nicht alle Jahre; er betrug 1623 noch 42 fl. 54 Kr., 1626 gar nur 14 fl. 3 Kr. Im Jahre 1625 durften die Kinder zum ersten Male selbst den berühmten Nürnberger „Kindlesmarkt“ besuchen, auf dem sich die Bewohner ganz Frankens und der angrenzenden Länder schon vor Jahrhunderten mit den Herrlichkeiten versahen und zum Theil heute noch versehen, mit welchen sie ihre Kinder zu Weihnachten erfreuen und überraschen wollen. Ein Kapital von acht Kreuzern erhielten die Kinder zusammen für ihre Einkäufe. Als im Jahre 1647 die fünf Enkelein des Herrn Behaim zum ersten Male sich dieses Vergnügen erlauben durften, bekam jedes derselben vom Großpapa sechs Kreuzer; so gut hatten es die Eltern nicht gehabt. Leider zählt Herr Behaim die einzelnen Spielsachen nicht auf, die er für seine Kinder, später für seine „Eniglein“ gekauft hat; es heißt nur immer für „Dockenwaar“ so und soviel. Nur hie und da macht er eine Ausnahme; so 1624, in welchem Jahre die Buben einen Wagen mit zwei Pferden, die Puppe Sabinens ein neues Brüstlein um 15 Kreuzer bekam; es dürfte also eine ganz respektable Puppe gewesen sein. Im Jahre darauf erhielt jeder der Knaben eine Brettleinsgeige, eine Karbatsche und die zehnjährige Sabine u. a. – schrecklich, aber wahr! – ein Paar Zöpfe um einen Gulden!

Zinnernes Puppenschiff aus dem 17. Jahrhundert.

Die Kinder anderer reicher Patrizierfamilien, namentlich Nürnbergs und Augsburgs, besaßen aber auch geradezu fürstliche Spielzeuge, die sogenannten Puppen- oder Dockenhäuser, um die sie wohl manche Prinzessin beneidet haben dürfte. Heutzutage ist ein Kind recht froh, wenn ihm das Christkindchen ein Puppenzimmer, ein andermal eine Puppenküche bescheert; jenen standen gleich ganze Häuschen zur Verfügung, welche vom Keller bis zum Dachboden in einer Reihe von Stockwerken alle die Räume enthielten, welche in den Häusern ihrer begüterten Väter üblich waren.

Schlaf- und Kinderzimmer aus dem Puppenhause von 1639.

Keller, Stall, Waschküche, Badezimmer, Hausflur, Treppenhaus, Kaufladen, Speisekammer, Küche, Mägde- und Schlafkammern, Wohn-, Prunk- und Kinderzimmer, alles war vertreten und aufs sorgfältigste und genaueste ebenso eingerichtet und ausgestattet wie ein Patrizierhaus jener Zeit. In den schön getäfelten und bemalten Zimmern findet sich vom eingelegten und geschnitzten, reich mit Leinwand gefüllten Schrank, dem Stolz der Hausfrau, bis zum Vogelkäfig, von dem Himmelbette mit dem spitzenbesetzten Betttuch und dem mit Einsätzen versehenen Kissen bis zur Mausfalle, vom Spinett bis zu den Kinderspielwaren – Schaukelpferd, Brettspiele, Spielkarten, Klappern, Puppengeschirr, Bälle – alles, was man sich nur denken und wünschen kann. Kein Wunder, daß manche der glücklichen Mädchen, die einen solchen Schatz ihr eigen nannten, damit spielten, bis sie Bräute wurden.

Ein solches „Spielwerk“ kam manchmal über 1000 Gulden zu stehen. Ihre Kostbarkeit ist wohl die Ursache, daß sich noch so manches Puppenhaus – das germanische Museum in Nürnberg besitzt allein vier – erhalten hat; vielleicht wirkte dazu auch der Umstand mit, daß die Kinder eben nur sehr selten mit diesem theuren Spielzeug sich unterhalten durften. Wenigstens ist es so den Kindern des Herzogs Albrecht V. von Bayern gegangen, der 1558 ein [854] Dockenhaus fertigen ließ, es aber dann nicht den Kindern überließ, sondern in seiner weltberühmten Kunstkammer aufstellte. Es hatte neben dem Stall noch ein Wagenhaus mit verschiedenen Fuhrwerken, einen Lust- und einen Thiergarten, ein Tanzhaus, in welchem sich die Paare lustig drehten, und eine reich ausgestattete Kapelle. Ueber ein Puppenhaus, das eine Nürnbergerin, Anna Köferlin, 1631 eingerichtet hatte, giebt ein altes Flugblatt Nachricht. Es war vorzüglich ausgestattet:

„Das wann ich sollt erzählen all’s
0Was darinnen zu sehen,
Dieses Papier wäre gleichfalls,
0Zu weng, muß selbst gestehen.“

Es war auch ganz besonders reich mit Musikinstrumenten versehen, hatte eine Bibliothek und eine Rüstkammer. Das Flugblatt giebt auch den tiefern Sinn eines solchen Puppenhauses zu verstehen, welches zur Belehrung und zugleich zur Nacheiferung dienen soll:

„So schaut nun an das Kinderhaus,
Ihr Kinder, inn und außen,
Schauts an und lernet bevoraus,
Wie ihr einmal sollt hausen.“

Küche aus dem Puppenhause von 1639.

Im selben Jahrhundert war in Nürnberg von Gottfried Hautsch (geb. 1634, † 1703), einem in mechanischen Künsten wohlbewanderten Meister, ein anderes großartiges Spielzeug gefertigt worden, das viel Aufsehen erregte. Nach den Zeichnungen des berühmten Ingenieurs Vauban hatte Hautsch 1660 für den Dauphin von Frankreich eine Schar von etlichen hundert silbernen Soldaten, sowohl Reitern als Musketieren, ausgeführt, welche die gewöhnlichen Exerzitien gar artig machten, sich links und rechts wendeten, die Glieder verdoppelten, das Gewehr senkten, anschlagen, Feuer gaben und sich retirierten. König Ludwig XIV. soll mit Bezug auf diese Leistung gesagt haben: „Man müsse es denen Teutschen lassen, daß sie einen gar guten Verstand hätten.“ Höchst schmeichelhaft!

Mit der Herstellung von Soldaten beschäftigte sich auch der Vater des im Jahre 1695 geborenen berühmten Thiermalers und Kupferstechers Joh. Elias Ridinger. Ein Augsburger Bürger kaufte von ihm ganze Kompagnien der aus Papiermasse gefertigten 6 bis 7 Zoll hohen Figuren: Kürassiere, Dragoner, Husaren, mit vollständiger Feldequipage, mit Kutschen, Sänften, Proviantwagen u. s. w.

Nürnberg und Augsburg waren überhaupt hervorragende Fabrikationsorte für Spielwaren. In ersterer Stadt kommt schon 1400 ein Dockenmacher Ott und 1465 ein Dockenmacher H. Meß urkundlich vor.

Ein Schriftsteller vom Ende des 17. Jahrhunderts schreibt: „Es sind aber wegen Verfertigung fast unzählbarer artig, künstlich und wohlgemachter Spiele und Dockenwaren insonderheit die Augsburger und Nürnberger berühmt, welche fast die ganze Welt damit anfüllen.“

Zinnsoldaten aus dem 18. Jahrhundert: Preußische Husaren und Dragoner.

Der „Nürnberger Tand“ bestand also zu großem Theile aus Spielzeug, an dessen Herstellung beinahe alle Handwerke sich betheiligten. Die Goldschmiede fertigten solche aus Silber, die Bildschnitzer und Drechsler aus Holz. Andere Stücke wurden aus Alabaster oder Tragant gefertigt oder von Wachs bossiert: „und absonderlich von selbigen mancherley Thier und Geflügel, der Natur fast ganz gemäß mit rauen zarten Häutlein überzogen und mit Federn sehr artig bekleidet. Derjenigen Docken zu geschweigen, so nach jeder Landesart mit allerley Gezeug von Sammt und Seiden bekleidet, ja sogar die neuesten Moden von Kleidungen und Aufputz des Frauenzimmers durch dergleichen angekleidete Docken aus Frankreich nachzuahmen weit und breit versendet werden. Ja es ist fast kein Handwerk, welches dasjenige, was es groß zu machen gewohnet, nicht auch öfters als kleines Modell und Dockenwerk zum Spielen verfertiget.“

Außer den Spielsachen, die in Nürnberg selbst gefertigt wurden, sind von dieser Stadt als dem Hauptstapelplatz für Spielwaren auch die in Berchtesgaden, Oberammergau und Sonneberg geschnitzten Holzspielzeuge in alle Länder Europas wie der fremden Welttheile vertrieben worden.

Holzpuppen: Kosak aus dem Befreiungskriege und Soldat der französischen Republik.

Der Name Nürnberg hat deshalb für die Jugend auch einen ganz besonders guten Klang, denn „durch Puppen und Docken kann man aus der zarten Jugend locken, was man will, denn um dieselben zu erlangen, thun sie auch das, wozu sie offt weder durch glatte Liebkosungen, noch rauhe Worte und Drohungen zu bringen gewesen; durch dergleichen Spielwerke kann man dero Gemüth und Liebe gewinnen, daß sie sich nach Willen und Gefallen führen und regieren lassen.“

Es ist ganz unmöglich, alle die Hunderte von Spielwaren einzeln aufzuführen, die von Nürnberg außer den schon genannten oder abgebildeten zu Ende des vorigen Jahrhunderts zur Versendung kamen, um den Weihnachtstisch von Millionen von Kindern zu schmücken.

Und so will ich die Geduld der freundlichen Leser nicht länger mehr durch solche „Dockenwaar“ und „Puppending“ auf die Probe stellen, sondern mich mit den Schlußworten des am Eingange erwähnten Flugblattes empfehlen:

„Und daß ich Euch nicht mehr aufhalt,
So geht, und nehmt mit, was Euch gfallt,
Acht nicht zu kindisch und zu toll
Diß Kinderspiel. Gehabt Euch wohl!“

[855]

Weihnachtsgeplauder.

Von
Emil Peschkau.

In der Mitte der Wohnstube auf dem großen runden Tische steht der Christbaum. Gold- und Silberfäden, Sterne und Glaskugeln blitzen und flimmern aus dem grünen Gezweig, aber die Lichter sind bereits verlöscht. Die Bescherung ist längst vorüber, und nun sitzen wir im Speisezimmer um den festlich gedeckten Tisch herum – Papa, Mama, die Großmutter und „wir“, die Freunde des Hauses. In den Tannenduft, der traulich herüberweht, mengt sich schon das Aroma eines kräftigen Punsches, „Onkel Rath“ hat bereits sein Bedürfniß, jemand leben zu lassen, gestillt, und nun wird weiter geplaudert, bald fröhlich, bald ernst, über die Kleinen, die Großen und wieder die Kleinen, und es ist, als ob die Lichter immer noch leuchteten und der wundersame Zauber kein Ende finden sollte.

„Ja, die Kinder – die Kinder!“ sagt die Großmutter mit einem wehmüthigen Lächeln. „Als ich so an die acht Jahre war, da schrieb ich dem Christkind ein Briefchen, es möchte mir doch eine Feder bringen, mit der man – schön schreibt. Ich machte nämlich ganz abscheuliche Kratzfüße, und so oft wir Schreibstunde hatten, gab es auch immer ein paar Klapse. Und das Christkind hatte ein Einsehen – ich bekam die Feder wirklich, und von dem Tag an schrieb ich besser und immer besser. Es war ja natürlich eine ganz gewöhnliche Feder, aber der Glaube daran gab mir die Sicherheit, die mir bis dahin gefehlt, ich empfand keine Angst mehr, wenn ich ans Schreiben ging, und so hat sich die Feder bewährt sammt den übrigen: denn unter dem Christbaum lag nicht bloß eine einzige, sondern gleich eine ganze Schachtel voll. Es war eine schöne, schöne Zeit … und wie das alles wieder auflebt, wie man’s vor Augen sieht, wie man’s wieder fühlt! Ja, man wird eben wieder jung, wenn die Weihnacht da ist, und darin liegt der wundersame Zauber dieses Festes.“

„Aber nicht der ganze Zauber, liebe Großmama,“ entgegnet der Vater. „Du vergißt die kleinen Leute, die nicht jung zu werden brauchen. Was uns diese Zeit so köstlich macht, das ist das Gefühl für die Familie und die Freunde, dem wir uns ein paar Tage lang ganz überlassen. Wir denken nur mehr an unsere Lieben und zumeist wohl weniger an das, was wir von ihnen empfangen werden, als an das, was wir ihnen schenken. Und daß eben all unser Denken sich in diesen Tagen oder Stunden nur darauf richtet, darin liegt der Zauber des Christfestes.“

Papa hat noch nicht ausgesprochen, da wird schon der alte Doktor unruhig, und ironische Blicke zucken über das graubärtige Gesicht.

„Weihnachtsgeschenke!“ fällt er ihm ins Wort. „Darüber ließe sich auch ein Kapitel reden! Ist es immer die Liebe, die giebt? Ist nicht auch das Weihnachtsfest schon zu einer leeren Form erstarrt, oft nur zu einer lästigen Verpflichtung? Was mich betrifft, so würde ich gegen ein und das andere aufrichtige, herzliche Wort gern auf viele der Geschenke verzichten, die mir ins Haus geschickt werden. Und dann ist es doch einmal so: mit dem besten Herzen kann man etwas recht Dummes schenken!“

Dieser Meinung ist nun freilich Mama nicht – sie schüttelt nachdrücklich den Kopf und wir lachen. Dann wird eine Weile hin und wider gestritten, wem es besser gelinge, sich in die Herzen der anderen hineinzudenken – dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht – und endlich erzähle ich eine Geschichte von bestraftem … Weihnachts-Egoismus.

Es ist die Geschichte einer Spieluhr, die mir zu meinem größten Entsetzen einmal als „Christkindl“ ins Haus kam und die nun als lästiges Möbel verstaubt in einem Winkel stand. Da verfiel ich auf den Gedanken, sie wieder als Weihnachtsgeschenk zu verwerthen, und klopfte in einer befreundeten Familie vorsorglich an. Ich brachte das Gespräch darauf, wie hübsch das sei, eine Spieluhr, wie man sich durch diese Melodien jeden Augenblick aus einer unangenehmen Stimmung in eine freuudliche bringen lassen könne u. s. w. u. s. w. Man gab mir auch recht, man begann sich für Spieluhren lebhaft zu interessieren, und am Weihnachtstage, als ich gerade daran war, frohen Muthes meinen „Rumpelkasten“ einzupacken, kam ein Dienstmann und brachte mir als Geschenk der Familie – eine Spieluhr. So kommt es, daß ich jetzt glücklicher Besitzer von zwei solchen „Rumpelkästen“ bin.

Meine Geschichte wird mit Lachen aufgenommen, und dann füge ich ernster hinzu, daß ich trotz des Spieluhr-Attentats den Jungen, dem das Geschenk bestimmt war, herzlich lieb habe, daß ich nur schenken wollte, in der Hoffnung, wirklich Freude zu machen, und daß das Schenken eben eine schlimme Sache sei, wenn man zu denen gehört, die sich ihren Taglohn sauer erwerben müssen.

Jetzt nickt der alte Doktor und plötzlich schwindet das ironische Blitzen aus seinem Gesicht.

„Weil wir schon am Geschichtenerzählen sind,“ sagt er, „will ich auch eine zum besten geben. Ihr dürft nicht glauben, daß ich nicht mit Euch empfinde, daß nicht in mir auch die Jugend wieder auflebt an diesem Tage – daß ich fühllos bin für die Poesie des Familienlebens, die zu Weihnachten ihren Zauber am mächtigsten entfaltet. Hört, was mir vor vielen Jahren einmal an einem Weihnachtsabend begegnet ist. Ich war recht verdrossen und unwirsch an diesem Abend. Die Christbäume hinter den Fenstern, die einsamen Straßen, die leeren Wirthshäuser – alles ärgerte mich, und nach Hause wollte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, als müßte ich in meiner Stube erfrieren. Lieber weiter in dem rieselnden Schnee, hinaus auf die Landstraße, weiter, immer weiter! Ich dachte an meine armen Eltern, die damals einen Buben hatten und kein Geld, während ich heute Geld hatte und keinen Buben. Warum war ich denn so einsam geblieben? Warum besaß ich keine Familie? Warum hatte ich dieses Glück nicht gefunden? Und wie ich so weiter stürmte, sah ich plötzlich vor mir in dem leisen Schneegeriesel einen kleinen Burschen, wie er sich vom Wege aufraffte und weiter lief. Ein armseliges dünnes Röckchen hatte er an und ein zerlumptes Wolltuch um den Kopf gewickelt. Noch nie hatte ich das menschliche Elend so empfunden wie in diesem Augenblick, da ich das arme Kerlchen so mutterseelenallein durch den Schnee laufen sah. Aber wohin wollte er nur? Er hatte die Straße verlassen, und da stand doch nirgends ein Haus? Rasch entschlossen folgte ich ihm und dann – dann stand plötzlich ein schrecklicher Gedanke vor mir, ein unglaublicher Gedanke. Ich hörte das Rauschen des Flusses und ich fragte mich, ob es denn möglich sei, daß ein Kind an Selbstmord denke. Zugleich aber fing ich doch auch an, zu laufen und … es war wirklich so. Er stand schon zwischen den Weiden im Wasser, als ich ihn am Genick packte … er wollte ‚in den Himmel‘. Und als ich ihm dann ein gehöriges Wetter machte, wie er denn seiner Mutter so etwas anthun könne, da sagte er weinend, daß er ja keine Mutter habe und auch keinen Vater und daß es seinem Herrn ohnedies schlecht genug gehe, denn der habe sechs Kinder und könne ihnen nicht einmal ein Bäumchen kaufen … Na, ich habe dann das Meinige gethan für die Leute. Für das Kerlchen war es freilich zu spät, es wurde krank, und ein paar Monate nachher ist es doch in den Himmel gekommen. Aber seit diesem Tage ist mir Weihnachten mehr als ein Familienfest, mehr als ein Tag des Zurückträumens, und ich denke, es wäre alles besser, wenn die Christbaumkerzen das ganze Jahr leuchteten, wenn sie ihren Schein aus den engen Stuben hinaus in die weite Welt verbreiteten. Ich bleibe nicht zurück und ich weiß ja, daß Ihr alle das Eure thut, aber es giebt so viele, die tausendmal mehr thun könnten und dabei noch immer ganz behaglich als „Egoisten“ zu leben vermöchten …“

Der Doktor schweigt und blickt in sein Punschglas. Mama aber wendet sich rasch zu ihm – sie hat Thränen in den Augen, als sie spricht:

„Sie haben recht mit allem, was Sie gesagt haben.“

Und dann wird gesammelt und eine kleine Expedition, bestehend aus dem Doktor, Papa und meiner Wenigkeit, rüstet sich aus, um noch irgendwo draußen … Christbaumkerzen anzuzünden …

Das war unser letztes Weihnachtsgeplauder und so hat es geendet.

[856]

Blätter und Blüthen.

In der Weihnachts-Kindervorstellung. (Zu dem Bilde S. 840 und und 841.) Glückliche Weihnachtszeit – glückliche Kinderzeit! Noch voll von den Wonnen des Bescherabends hat sich das kleine Volk hier versammelt, um am zweiten Feiertage das wunderschöne, furchtbar lustige Zauberstück anzusehen, wo Hanswurst allen Prügeln glücklich entwischt, dafür selbst aber unzählige austheilt als treuer Knappe seines unglücklichen, in einen Bären verwandelten Prinzen, welcher dann schließlich durch die Weihnachtsfee entzaubert und mit einer entzückenden kleinen Prinzessin vereinigt wird. Ein Feen- und Puppenreich thut sich als Hintergrund auf. Blumentempel und Christbäume, Wasserfälle, von elektrischem Licht bestrahlt, und ein solches Gewimmel von Tänzerinnen, Tirolermädchen, Pierrots, Nixen und Elfenkindern, daß man mit zwei Augen unmöglich alles sehen kann, selbst wenn sich der Vorhang unter dem stürmischen Beifallsgeklatsche wieder und wieder hebt. Und stets von neuem das Schlußbild zeigt, welches das Ganze krönt, den Weihnachtsbaum, von schwebenden Engeln umgeben. „Wunderschön!“ steht auf allen Gesichtern geschrieben. Die kleine Schwärmerin in der dritten Reihe starrt mit stummer Begeisterung dem Vorübergerauschten nach, ihre redselige Nachbarin aber muß den gehabten Eindrücken schleunigst Luft schaffen. Zwar ist’s nur „ein Kleiner“, an den sie ihr Entzücken ausströmt, aber immerhin besser als gar niemand! Er scheint auch die angethane Ehre voll zu würdigen, während sein älterer Bruder durch selbständigen Nach-Applaus als Kunstkenner höherer Ordnung sich darstellt. Und selbst das kleine dumme Baby, welches mütterliche Zärtlichkeit ungeachtet seiner noch nicht vollendeten zwei Jahre mit ins Theater nahm, es streckt doch auch die Aermchen aus und ruft „Nomal!“ Auch die Logen theilen durchaus die Ansicht des Parketts – Dichter und Darsteller haben einen vollen Erfolg zu verzeichnen. Was aber die in der vorderen Loge stehende Mutter sich denkt: daß das Publikum wohl das Sehenswertheste an der ganzen Geschichte sei, das scheint auch dem Künstler eingeleuchtet zu haben, der uns in dem liebenswürdigen Bild das „Beste von der Sache“ getreulich überlieferte. Bn.     

Der Cottasche Musenalmanach, der unter so günstigen Sternen wieder belebt wurde und der sich im Fluge die Gunst des Publikums erobert hat, tritt abermals seine Weihnachtswanderung an in verführerisch anmuthigem Kleide und vornehmer Ausstattung. Am Eingange grüßt Paul Heyses gefeierter Name über einer ergreifenden Novelle, „Vroni“. An die Erzählung in Versen „Die Hexenmühle“ von Otto Roquette schließen sich kleinere Stücke lyrischer Epik an. Es ist unmöglich, jedes einzelne aufzuführen, und indem wir Namen wie Lingg, C. F. Meyer, Dahn für sich selber sprechen lassen, erwähnen wir aus dieser Gruppe nur noch ein Bild von schönster Stimmung, „Das öde Haus“ von Max Haushofer, und das von echter Volksweisheit eingegebene „Wettrennen“ von Carl Weitbrecht. Wie erst sollen wir all den andern Abtheilungen gerecht werden! Schack, J. G. Fischer, Paulus, Bodenstedt, Carmen Sylva, Kalbeck, Hecker, Rittershaus, Gottschall, Widmann, Greif, Milow, A. Stern, Silberstein, Fulda und andere sind durch würdige Beiträge vertreten. Hopfen schreibt einen Brief voll tiefer Sehnsucht an die geliebte Frau, Richard Weitbrecht eine köstlich schalkhafte Epistel über „Rembrandt als Erzieher“. Ein glücklich gegriffenes Bildchen von J. Proelß ist „Bin halt vergnügt“, und Jensen weiß einem halbvergessenen Kinderlaut, „Belia“, tiefen Sinn abzugewinnen. Hier ist „Sicilien in Sicht“, ein echter, prächtiger, visionärer Lingg, und dort winkt eine süße, an der Sonne versöhnender Dichtung gereifte Frucht, das „Maienfest“ von Isolde Kurz. Wie eigenartig gemüthvoll die Sonette von Schneegans, wie wahr und warm „Aus der Wandermappe“ von Ebers! Und nicht zu vergessen der Bilderschmuck, worin diese schönheits- und gehaltreiche Jahresausstellung deutscher Dichtung prangt, sechs Kunstbeilagen, vorzügliche Reproduktionen einer mit feinem Geschmack getroffenen Auswahl von Werken hervorragender Maler. So vereint sich eine Fülle des Schönen und Herzerfreuenden in Wort und Bild und giebt die köstliche Gewähr, daß es um den Sinn für die Gaben der Musen noch nicht so schlimm bestellt sein kann in Deutschland, wie grämliche Zeichendeuter behaupten wollen.

Auf der Weihnachtsmesse. (Zu unserer farbigen Kunstbeilage.) Ja, der Mann kennt seine Leute! Als die beiden schmucken Bauerndirnen auf seinen Stand zukamen, mit neugierig suchenden Augen die Herrlichkeiten seines Reiches musternd und doch mit dem Ausdruck der Unschlüssigkeit und Befangenheit im Gesicht, da hat er sofort gewußt: Aha, die suchen nichts für sich, auch nichts für Mutter und Geschwister, nicht einmal für den Vater – nein, die suchen etwas für einen – nun, von dem man halt nicht reden darf. So greift er denn mit Gewandtheit unter seinen Schätzen dasjenige heraus, was unter sothanen Umständen die größte Aussicht auf Absatz hat. Just eben setzt er die Schönheit und Vorzüge eines buntbemalten Porzellanpfeifenkopfes mit beredten Worten und verständnißvollem Schmunzeln auseinander, und fast scheint es, als ob er mit dem hübschen Mädchen, dank dem Zureden der erfahreneren Freundin, darüber handelseins werden sollte. Dann verschwindet die stattliche Tabakspfeife rasch im Tüchlein neben der Essigflasche – am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages aber steht einer draußen auf dem Dorfe unter seiner Hausthür und raucht aus einer nagelneuen Pfeife – kalt! Denn über den Gedanken an die liebliche Spenderin hat er wahrhaftig das Ziehen vergessen!

Weihnachtsglocken. (Zu dem Bilde S. 845.) Es ist auch eine Art „Lied von der Glocke“, was der Künstler auf unserem Bilde zusammenkomponiert hat, ein Lied von der Weihnachtsglocke, oder besser gesagt: von den Weihnachtsglocken. Denn verschieden wie ihre Gestalt ist ihre Sprache; eine andere Glocke ist es, die hoch vom Thurme die Beter zum hellerleuchteten Gotteshause ruft, während draußen Knecht Ruprecht seinem geheimnißvollen Werke nachgeht, eine andere, die vom einsamen Kapellchen in die winterliche Waldeinsamkeit hinaustönt, daß die Thiere des Forstes staunend zu lauschen beginnen. Und wieder eine andere Glocke ist es, die mit ihrem feinen fröhlichen Silberstimmchen den Kleinen das lange lange mit brennender Ungeduld erwartete Zeichen giebt: Klingelingling! Jetzt ist der große Augenblick da, wo die Thür des Bescherungszimmers sich aufthut und alle Geheimnisse des Christkinds sich entschleiern. Nun stürmen sie die Treppe hinauf, so rasch die kleinen, vor innerer Erregung zitternden Beinchen sie tragen, und in ihrem Herzen jubelt es – Klingelingling!

Der Heidenapostel. (Zu unserer doppelseitigen Kunstbeilage.) Sie mußten von kühnem Glaubensmuth getragen sein – jene ersten Sendlinge des Christenthums im heidnisch-germanischen Land, die im beginnenden Mittelalter, unter steter Bedrohung durch die rauhe Treue der Deutschen gegen ihre angestammten Götter, unentwegt die neue Botschaft verkündigten, deren friedliche Töne so ganz anders klangen als die Heldenmären von kriegerischem Streit und Sieg und Festgelag der alten Götter. Wie verschieden diese beiden Welten waren, die sich da berührten und nicht ohne bitteren Kampf einander gegenübertreten konnten, und welcher davon der Sieg zufallen mußte – das hat die Hand unseres Künstlers zu scharfem Ausdruck gebracht. Während der Alte auf erhöhtem Sitze mit feindlicher Miene das Bild an sich vorüberziehen läßt, welches das Weihnachtsevangelium vor ihm entrollt, während er düsteren Sinnes gegen den Zauber sich wehrt, welcher doch auch für ihn in dieser Botschaft liegt, und seinem väterlichen Glauben neue Treue gelobt, sind die andern schon gewonnen. Zutraulich haben sich die Enkelkinder des Alten dem fremden Manne genähert und horchen erstaunt auf seine Worte, indeß ihre Eltern mehr und mehr gefesselt werden von der ernsten Begeisterung des Apostel, von der Hoheit dessen, was er zu ihnen redet. Die Zukunft spricht aus diesem Bilde: die Söhne und Töchter, die Enkel verlassen den Glauben der Ahnen, und eine neue Lehre schickt ihnen ihre Sterne zum Geleite auf dem Lebensweg, zum Lichte einer neuen Zeit.




Inhalt: Weihnachten. Gedicht von J. Claus. Mit Abbildung. S. 837. – Fröhliche Weihnacht. Mit Streubildchen. S. 838. – Wie ich Großmutter wurde. Eine Weihnachtsgeschichte von E. Wuttke-Biller. S. 839. Mit Abbildungen S. 839, 843, 846 und 847. – In der Weihnachts-Kindervorstellung. Bild. S. 840 und 841. – Weihnachten im Forsthaus. Bild. S. 844. – Weihnachtsglocken. Bild. S. 845. – Mummenschanz der deutschen Weihnacht. Von Dr. Alexander Tille. S. 848. Mit Abbildungen S. 848, 849 und 850. – Am Kinderspieltisch unserer Voreltern. Von Hans Bösch. S. 851. Mit Abbildungen S. 851, 852, 853 u. 854. – Weihnachtsgeplauder. Von Emil Peschkau. Mit einer Vignette. S. 855. – Blätter und Blüthen: In der Weihnachts-Kindervorstellung. S. 856. (Zu dem Bilde S. 840 und 841.) – Der Cottasche Musenalmanach. S. 856. – Auf der Weihnachtsmesse. S. 856. (Zu unserer farbigen Kunstbeilage.) – Weihnachtsglocken. S. 856. (Zu dem Bilde S. 845.) – Der Heidenapostel. S. 856. (Zu unserer doppelseitigen Kunstbeilage.)



manicula 0 Hierzu die Kunstbeilagen „Auf der Weihnachtsmesse“. Von L. Blume-Siebert und
„Ein Heidenapostel verkündet den alten Deutschen das Weihnachtsevangelium“. Von A. Zick.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaction von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.