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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[821]

Nr. 49.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(13. Fortsetzung.)

20.

Andree setzte die Glocke am Brühlschen Hause in Bewegung.

Der reichgalonnierte Portier erschien.

„Guten Tag, Oehmke! Also die Herrschaft ist zurück! Seit wann denn?“

„Gehorsamer Diener, Herr Andree! Seit gestern nachmittag! Das ging Hals über Kopf, als wir die Depesche bekamen! Freilich in der Hauptsache war ja alles in Ordnung. Auf so etwas hält die Willmers, ihr Feind muß es ihr nachsagen, und wenn sie auch die Herrschaften begleitet hat – sie trennt sich keinen Tag von unserer Prinzessin! – so hat sie doch hier das ganze Personal so gut eingeschult, daß alles wie von der Spule abgerollt wird.“


Vor der Spielwarenbude auf dem Weihnachtsmarkt.
Nach einer Zeichnung von P. Bauer.

[822] „Ja - ja - natürlich. Wissen Sie, Oehmke, ob man mich empfangen wird?“

„Aber ganz sicher, Herr Andree! Herr und Frau Senator haben ausdrücklich betont: für gute Freunde, die zum Haus gehören, wären sie heute schon zu sprechen – nur die Fremden sollte ich abweisen. Ich weiß ja Bescheid: Herr Grimm und die beiden Herren von Tillenbach und Konsul White, der auch schon jeden Tag nachgefragt hat, wann die Herrschaften kämen –“

Andree hörte nicht zu Ende. Er nahm die Treppe im Sturmlauf.

Oben über das Geländer hatte ein schöner Mädchenkopf sich neugierig vorgebeugt und war blitzschnell wieder verschwunden, als der Mann so hastig emporstürmte.

„Dudu,“ befahl Stella dem schwarzen Bürschchen, das oben im Vorzimmer neben einer wundervollen Pflanzengruppe kauerte, „gleich wird ein Herr hierherkommen – den läßt Du in dies Zimmer ein, und sonst niemand außer ihm – niemand, hörst Du, wer es auch sei!“

Stella hatte rasch und erregt gesprochen, sie war des Verkehrs mit dem kleinen Mohren seit Monaten entwöhnt, nahm vielleicht auch an, er könne während ihrer langen Abwesenheit einige Fortschritte im Deutschen gemacht haben. Sie sagte ihm also nicht langsam und deutlich einzelne abgerissene halb englische halb deutsche Sätze vor, wie Gerda es immer that, sondern redete schnell und zusammenhängend mit ihm wie mit jedem intelligenten deutschen Bedienten, dem sie Befehle ertheilen wollte.

Die Folge davon war, daß Dudu kein Wort von dem verstand, was sie zu ihm gesagt hatte. Er lebte aber in zitternder Angst vor „Missie“ Stella, die ihn so willkürlich behandelt, so oft vernachlässigt und zuweilen sehr empfindlich bestraft hatte. Es auszusprechen, daß er ihren rasch und herrisch herausgestoßenen Befehl nicht verstanden hatte, das hätte er nie gewagt. Uebrigens wäre zu diesem Geständniß auch keine Zeit mehr gewesen, denn in der nächsten Minute schon war Stella im anstoßenden Zimmer verschwunden.

Unmittelbar darauf stand Andree, hochathmend von dem raschen Lauf, vor dem Mohren.

Dudu, dem er stets freundlich begegnet war, grinste bei seinem Anblick von einem Ohr zum andern und sagte, wiederholt mit dem Kopf nickend, indem er zugleich mit dem schwarzen Zeigefinger auf die nächste Thür deutete.

„Missie Stella – Missie Stella – in – door!

Andree nickte ihm zu und pochte leise an die bezeichnete Thür.

Im nächsten Augenblick stand sie vor ihm, in Sonnenlicht gebadet, ein Lächeln auf den Lippen.

Er hatte ihr zürnen wollen – wo blieb sein Zorn? Er hatte hundert Fragen, Vorwürfe für sie auf den Lippen – es fiel ihm kein einziges Wort mehr davon ein.

Sie gewahrte es mit einem Blick, daß ihre Gewalt über ihn noch dieselbe war. Fassungslos, wie ein Kind stand er vor ihr, keines Wortes mächtig. Sie reichte ihm die Hand, und er drückte sie gegen seine Augen und Lippen, zuletzt gegen sein Herz. Das schöne Mädchen lächelte träumerisch. Oft hatte sie unterwegs an dies Wiedersehen gedacht, jedesmal mit einem ganz seltsam warmen Gefühl, mit einem Gemisch von Triumph und innerer Bewegung. Sie hatte zu ihrer Mutter damals nach jenem gefühlvollen Abschied gesagt: „Sei ruhig, es hat nichts zu bedeuten, und es wird auch nichts daraus werden!“ und dies war auch heute noch ihre Ansicht, es hatte sich nichts in ihrem Programm geändert. Aber sich von Andree lieben lassen, ganz heimlich, ohne daß eine Menschenseele es ahnte, und dies eine Zeitlang in aller Stille fortsetzen und hundert Mittel und Wege finden, ihn allein zu sprechen, und vor aller Welt Versteck spielen, bis – nun bis es eben zu Ende sein mußte und sich ihrem gewandten Geist ohne Zweifel auch ein Weg zeigte, der zu eben diesem Ende führte … das lockte Stella Brühl, das dachte sie sich reizvoll! Es hatte doch auch vor ein paar Jahren seinen eigenen Reiz gehabt, ihr heimliches Verlöbniß mit Werner Troost, die wenigen verschwiegenen Zusammenkünfte, die geschickt aufgefangenen Briefe! Sie war blutjung damals gewesen und regelrecht verliebt – – jetzt –

Es war eine kinderleichte Aufgabe gewesen, einen Werner Troost zu gewinnen, festzuhalten und nach ihrem Belieben zu lenken; hier, bei Waldemar Andree würde das schwerer halten, aber sie wollte doch sehen – –

Er konnte endlich sprechen, wenn auch nur mit umflorter Stimme, wie erstickt vom Schlagen seines Herzens.

„Stella … wie lange soll meine Probezeit noch dauern? Ich ertrage das nicht länger!“

„Nicht?“ flüsterte sie. „Nun“ – mit einem hörbaren Aufathmen und mit einem raschen Entschluß – „ich auch nicht!“

Er starrte sie an, wie wenn er seinem Glück nicht trauen könne. Er wagte es auch nicht, sie stürmisch in seine Arme zu schließen. Ganz langsam, trunken vor Glück, legte er seine zitternde Hand auf ihr goldenes Köpfchen, bog es leicht zurück und sah ihr tief in die Augen. Ihr leuchtendes Blau war so unergründlich – wie das Meer, hatte er oft gedacht. Aber das hat Untiefen …

Scheu legten sich seine Lippen auf das flimmernde Haar – Eos, seine Göttin, war zu ihm herabgestiegen.

„Hast Du mich lieb und willst Du mir treu sein?“ fragte er ganz leise.

„Ja!“ nickte sie lächelnd. „Ich hab’ Dich bald lieb gewonnen, aber – aber – es sah so treulos aus gegen unsern Toten, ich hab’ dagegen angekämpft, doch nun die lange Trennung! Wie hast Du sie überstanden? Hast Du an mich gedacht?“

„Immer! Immer!“

„Dich nach mir gesehnt?“

„Unbeschreiblich!“

„Mich gescholten, daß ich so lange nicht wiederkam?“

„Ja! Ja!“

Sie hob ihr Gesichtchen zu ihm auf, und er küßte sie auf den Mund. Es war ein Kuß, der nicht enden wollte!

„Mein Kleinod! Mein Traum! Liebstes – Schönstes! Wird man Dich mir auch geben wollen? Deine Eltern –“

„Die dürfen’s noch nicht wissen! Es darf’s noch niemand wissen!“ Sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Lippen. „Nein, nein – nicht böse sein! Wir brauchen Zeit! Papa hat andere Pläne mit mir – ich muß ihn langsam vorbereiten, ihn allmählich gewinnen, aber ich werde es, ich werde es! Ich bin sein Lieblingskind, er thut, was ich will. Nur nicht im Sturmlauf – die Eltern sind so gütig mit mir – verdienen sie nicht auch meine Rücksicht? Ach, nur nicht dies finstere, enttäuschte Gesicht! Wir werden einander oft sehen und sprechen, sehr oft, ich verspreche Dir’s, ich kann das schon ins Werk setzen! Sieh mich doch an … Waldemar!“

Er fiel schüchtern von ihren Lippen, sein Name – zum ersten Mal – er war besiegt!

„Mein Stern – wie Du willst! Was Du willst! Aber wann –“

„Laß’ Du mich nur machen! Die Bilder, sind sie fertig?“

„Dein Porträt wohl – die ‚Eos‘ noch nicht ganz –“

„Nun, siehst Du! Ein willkommener Vorwand! Nach Uhlenhorst hinaus können wir jetzt nicht mehr – hier im Hause läßt sich nicht gut ein Atelier herrichten … also muß ich zu Dir kommen! Die Willmers begleitet mich, verlaß Dich fest auf mich, ich richte es alles ein! Sie thut, was ich wünsche, sie hat keinen Willen – wir haben jeden Tag eine lange Sitzung, Du dehnst die Sitzungen aus, wirst nicht fertig mit dem Bilde – und derweilen gewinn’ ich langsam den Papa – und wenn dann die Ausstellung kommt, Dein berühmter Name durch die Welt fliegt –“

„O Liebling! Die Ausstellung haben wir erst zu Ende Januar, vielleicht noch später.“

„Sei doch gut! Sei doch geduldig! Ist’s denn eine so lange Zeit bis dahin? Siehst Du’s denn nicht ein, daß Dein Werk, Dein schönes, geniales Werk, das jedermann bewundert, das Dich auch hier zu dem berühmten Manne macht, der Du ja lange schon außerhalb Hamburgs bist – daß dies nothwendig ist, um meine Eltern umzustimmen? Sie sehen beide viel auf Aeußerlichkeiten, auch die Welt soll berücksichtigt werden, sie wollen Aufsehen erregen – es mag eine Schwäche von ihnen sein, aber sie entspringt doch ihrer übergroßen Liebe zu mir! Und wenn ich sie dazu bringen will, ihre Pläne, die sie mit mir haben, aufzugeben –“

„Was sind das für Pläne?“ Andree zog die Stirn in Falten.

[823] „Was für ein böses Gesicht, Liebster! Wozu Dir jetzt von Dingen erzählen, die doch nicht geschehen werden, die wir beide verhindern wollen?“

Ihr bittendes Gesicht war dem seinen so nahe. Er vergaß alles, heimliche Verlobung und Eltern und Pläne und Mißtrauen … fest, fest schloß er sie an sein Herz, wie wenn er sie vertheidigen wollte gegen eine ganze Welt.

Er hörte es auch nicht, daß, nach einem kaum vernehmbaren Klopfen, die Thür hinter ihm sich aufthat – aber Stella hatte das Klopfen gehört und sah auch die Thür sich öffnen. Sie strebte, mit einer raschen Bewegung von ihm loszukommen – allein er hielt sie noch fester an sich und küßte ihr Haar.

Es wäre auch ohnehin zu spät gewesen! In der geöffneten Thür erschienen Herr und Frau Senator Brühl, Herr Grimm mit Gerda und Konsul White.

Sie sahen es alle – sie mußten es sehen, daß Andree die schöne Stella in seinen Armen hielt und küßte, und daß sie dies offenbar nicht etwa in Ueberraschung duldete, sondern bereitwillig hinnahm.

Erst der plötzliche Ausdruck des Schreckens auf Stellas Gesicht riß den Maler aus seinem Taumel des Entzückens und ließ ihn sich endlich umwenden.

Auch er erschrak flüchtig – um ihretwillen, die soeben noch das heimliche Verlöbniß, das langsame Vorbereiten so stark betont hatte. Gleich darauf aber empfand er ein Gefühl der Erleichterung. Mochte es denn sein! Ihm hatte die Heimlichkeit, das sorgsame Verstecken und Verschweigen keinen Augenblick gefallen, es widerstrebte seinem geraden, offenen Wesen ganz und gar, und nur der Rausch des ersten Kusses, der Zauber von Stellas Blick und Bitte hatte ihn für kurze Zeit darüber hinweggetäuscht. Er war ein selbständiger Künstler mit namhaftem Vermögen, weitverbreitetem Ruf und glänzenden Einnahmen – sollte das den Eltern seiner Geliebten nicht genügen, nachdem sie selbst ihm den unermeßlich großen Schatz ihrer Liebe geschenkt hatte? Andree war weder eingebildet noch hatte er sich durch die allgemeine Bewunderung sonderlich verwöhnen lassen – aber ohne Selbstgefühl war er auch nicht, und so fand er es denn für Herrn und Frau Senator Brühl keineswegs beschämend, daß sie ihn zum Gatten ihrer Tochter machen sollten.

Was ihn jetzt trotz dieser Empfindung weich und bescheiden sprechen ließ, das war sein Gefühl für Stella – war die Ueberzeugung, daß ihm mit ihrer Liebe das höchste Gut, welches das Leben für ihn hatte, zutheil wurde, und das Bewußtsein, daß es für ihn gelte, sich dies Gut erst noch zu verdienen. – Er behielt die schöne Hand in der seinen und blickte dem Senator Brühl fest in die vor Ueberraschung starr gewordenen Augen.

„Ich muß Ihre Tochter vertheidigen, Herr Senator,“ sagte er gelassen, „sie hat gewünscht und ausdrücklich betont, daß unser soeben geschlossenes Verlöbniß vorerst geheim bleiben sollte, solange, bis es ihr gelungen sein würde, nach und nach Ihre und Ihrer verehrten Frau Gemahlin freudige Zustimmung zu gewinnen – ein Plan, dem ich mich sofort in meinem Innern lebhaft widersetzte und den jetzt eine Ueberraschung –“

Er verstummte betroffen, denn er gewahrte in Stellas Augen, die nach der Thür gerichtet waren, einen so funkelnden Zornesblitz, wie er ihn diesen schönen, lächelnden Sternen nie zugetraut hätte. Es war nur eine Sekunde, und Andree sprach auch gleich weiter.

„Was ich bin und habe, das, verehrter Herr Senator, möchte ich in einer von Ihnen festzusetzenden Unterredung darlegen – ich hoffe, es soll keine unwürdige Fassung für Ihr Juwel sein. Wenn ich so kühn bin, die Hand nach dem schönsten Kleinod auszustrecken, das Sie, das Ihre Gattin zu verschenken haben, so bin ich mir dieser werthvollen Gabe wohl bewußt und werde dies durch mein ganzes Leben freudig beweisen. Mein Herz ist so übervoll, und ich kann Ihnen weiter nichts sagen – kann Sie nur bitten, uns Ihr Herz zuzuwenden, Ihr väterliches Gefühl für uns sprechen zu lassen.“

Papa Brühl mußte sich freilich damit begnügen, sein väterliches Gefühl sprechen zu lassen, denn seine Zunge fand keine Worte. Seine runden, starren Augen wanderten von Andree zu Stella, von Stella wieder zu Andree, er schüttelte langsam den Kopf – er konnte nicht begreifen. Seiner Gattin dämmerte eine Ahnung des wahren Zusammenhangs auf. Dies konnte doch Stella unmöglich gewollt haben – dies mußte eine unvorhergesehene Ueberraschung gewesen sein! Das Mädchen hatte ja für diesen Maler eine merkwürdige Vorliebe – die lange Trennung, das Wiedersehen! Unbegreiflich, daß die kluge Stella nicht besser ihre Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte! Es war, um ohnmächtig zu werden! Sie klammerte sich an den nächsten besten Arm, den sie gerade fand – es war Grimms Arm, und dieser Umstand wäre für sie sonst sehr unangenehm gewesen, aber in der großen Aufregung des Augenblicks beachtete sie ihn nicht. Auch Herr Grimm selbst that dies nicht. Er sah ungewöhnlich ernst aus, so, als ob das ganze interessante Schauspiel, zu dem er wider seinen Willen gekommen war, ihn traurig stimme. Einen raschen Blick hatte er auf Gerda geworfen, die plötzlich erbleicht war und sich scheu nach der Thür zurückwandte, als wollte sie wieder davonlaufen; allein Herr Grimm streckte stumm seine Hand nach ihr aus und hielt sie fest.

Konsul White versuchte, überlegen zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Er hatte heute in aller Frühe ein herrliches Bukett auserwählter Blumen ins Brühlsche Haus geschickt, er hatte vorgehabt, sich in den allernächsten Tagen offiziell um die schöne Stella zu bewerben – sicher, sich keinen Korb zu holen. Und nun dies! Er hatte einen Konsulatsposten in Kanton angeboten bekommen, sehr hoch besoldet, hatte ihn natürlich ausschlagen wollen, da er lieber im Lande bleiben und sich redlich nähren wollte. Wie gut, daß er den Posten noch nicht endgültig abgelehnt hatte! Es war ihm sehr nach China zu Muthe, nachdem man ihm jetzt in Europa unvermuthet so übel mitgespielt hatte. –

„Stella, mein liebstes Kind!“ begann Frau Brühl endlich mit unsicherer Stimme. Dies lange Schweigen war bedrückend – mehr noch, es war lächerlich. Stella mußte jetzt etwas sagen, daher begann Frau Senator in furchtsamem Tone: „Stella, mein liebstes Kind –“

„Schon gut, Mama!“ Stella hatte sich aufgerafft, es mußte etwas geschehen, sie sah es ein. Ihre helle Stimme klang eigenthümlich hart und spröde. „Ich hatte allerdings meine Gründe, unsere Verlobung geheim zu halten, und ich habe sie noch. Ich bitte daher Euch, meine lieben Eltern, Sie, Herr Grimm, und Sie auch, Herr Konsul White, gegen jedermann vorerst zu schweigen, bis ich selbst dies Schweigen aufheben werde! Habe ich Ihr Ehrenwort, Herr Grimm? Herr Konsul White?“

„Ja!“ entgegnete Grimm kurz.

„Das meine zu geben, fällt mir nicht schwer,“ sagte Konsul White in seinem rollenden Englisch-Deutsch, und jetzt gelang es ihm auch, ein überlegenes Lächeln fertig zu bringen, „denn ich kam zu Ihnen, um Abschied zu nehmen – ich habe einen Konsulatsposten in Kanton angenommen.“

Stella lächelte gleichfalls überlegen. Dieser Abschied und dieser Posten in Kanton standen in seltsamem Gegensatz zu dem kostbaren Bukett von heute früh und zu dem Billet mit unzweideutigem Inhalt, welches dasselbe begleitet hatte. Die beiden sahen einander in die Augen und lächelten. Ihnen ging es wie den römischen Auguren – sie konnten sich gegenseitig nichts weismachen! –

„Viel Glück auf den Weg also und guten Erfolg unter den Chinesen!“

Damit reichte Stella dem englischen Herrn die Hand, er küßte sie mit einer respektvollen Verbeugung, sprach noch ein paar höfliche Worte zu den übrigen Anwesenden und war gleich darauf vom Schauplatz verschwunden.

Wieder eine beklommene Pause. In Andree wallte es zornig auf. Sein großes, allmächtiges Glücksgefühl drohte in einer ganz unwürdigen Situation unterzugehen. Er begriff auch Stella nicht. Wozu nun aufs neue ein Geheimniß? Wozu die Ihrigen zu einem Ehrenwort verpflichten, über das Geschehene zu schweigen, anstatt in den nächsten Tagen schon die Verlobung zu veröffentlichen, die Karten herumgehen zu lassen? – Er suchte ihrem Blick zu begegnen, allein dieser Blick irrte am Boden hin und vermied es, sich treffen zu lassen.

Und die Eltern? Immer noch stumm, als hätten sie seine warmen und ehrlichen Worte gar nicht gehört! Er warf den Kopf zurück und biß sich in die Lippen.

„Ich darf wohl endlich um eine Antwort bitten!“ sagte er zuletzt in mühsam beherrschtem Tone.

[824]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.
Vor dem Tanz.
Nach dem Gemälde von O. Piltz.

[825] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [826] Herr Brühl räusperte sich unbehaglich.

„Sie können es uns – hm – von unserem Standpunkte als Eltern aus – hm – nicht verargen, wenn wir erstaunt – mehr als das – wenn wir geradezu erschreckt sind! Unsere Tochter Stella – hm – die Pläne, die wir an dieses Kind knüpften – die großartigen Hoffnungen, zu denen ihre Erfolge überall uns berechtigen – hm – dies alles so plötzlich, so gänzlich unvorbereitet den Todesstoß empfangen zu sehen – ist – ganz abgesehen von – ja – ich weiß wahrhaftig nicht – wenn indessen Stella sich für Sie entschieden hat – und wir alle Zeugen waren – so – selbstredend muß absolutes Geheimniß bewahrt bleiben –“

Hier fing Brühl einen lebhaft ermuthigenden Blick Stellas auf und fuhr nachdrücklich fort:

„Absolutes Geheimniß muß bewahrt bleiben! Ich mache dies zur ausdrücklichen Bedingung! Daß wir, Stellas Eltern, uns dieser Bedingung zuerst unterwerfen, versteht sich von selbst. Konsul White geht in kurzer Zeit nach China, und mein Freund Grimm hat sein Ehrenwort gegeben, das Geheimniß zu bewahren – daß er unverbrüchlich Wort zu halten versteht, weiß ich“ – hier kam seine Stimme ein wenig ins Schwanken – „und ich bin überzeugt, er wird seine ganze Autorität einsetzen, um auch Gerda, die leider gleichfalls Zeuge dieser – dieser – Scene gewesen ist, zum Schweigen zu veranlassen! Somit wären denn alle Betheiligten über diese Sache durchaus einverstanden, und es bleibt –“

„Sie verzeihen, wenn ich Sie unterbreche!“ sagte hier Andree mit Nachdruck. „Sie befinden sich in einem Irrthum, wenn Sie annehmen, daß alle Betheiligten über diese Sache durchaus einverstanden sind. Ich, einer der Hauptbetheiligten, wie Sie mir zugeben müssen, bin dies nicht, und ich erlaube mir die bestimmte Frage an Sie, an Ihre Frau Gemahlin und an Stella: warum soll unsere Verlobung fürs erste ein Geheimniß bleiben?“

Sein Ton war sehr energisch, beinahe drohend. Stella Brühl fand jetzt schon bestätigt, was sie bei sich gedacht hatte: dieser Mann war kein Werner Troost, den man beliebig gängeln konnte, der blindlings in alles willigte, sobald er sich nur von Stella geliebt glaubte!

Herrn Brühl mißfiel Andrees Art höchlich. Ziemte es sich für einen Mann, der doch schließlich bloß ein Maler war – wenn auch ein guter! – für einen Mann, den eine Stella unbegreiflicherweise mit ihrer Liebe begnadigt hatte, so zu reden, so herausfordernd aufzutreten und Gründe zu verlangen?

Der stolze Vater hob majestätisch sein Sperberhaupt und kniff die Augen zusammen.

„Ich denke, es wäre an Ihnen, Herr Andree, sich dem Beschluß der Familie hier zu fügen. Sie sprachen vorhin den Gedanken aus, daß Sie sich vollauf des Glückes, das Ihnen zutheil werden soll, des großen Opfers, das wir, die Eltern, zu bringen haben, bewußt seien. Ich erlaube mir, zu bemerken, daß in Ihrer soeben zu Tage tretenden Art und Weise nichts von diesem Bewußtsein zu beobachten ist.“

Andree warf einen Blick auf Stella und faßte sich mit einiger Mühe.

„Können Sie es mir wirklich so sehr verargen,“ fragte er in bedeutend milderem Tone, „wenn ich die Gründe wissen möchte, die es mir verbieten sollen, der Welt, der ganzen Welt mein Glück zu verkünden? Gerade weil ich Stella liebe, weil ich unsagbar stolz auf sie bin, schmerzt es mich mehr, als ich sagen kann, wenn es mir verwehrt wird, mich öffentlich zu meiner Liebe zu bekennen!“

Ich glaube, das Geständniß von meines Kindes Liebe zu Ihnen,“ nahm die Mama das Wort, „sowie der Umstand, daß wir, die Eltern, dieser Verbindung, falls das Kind darauf besteht, nicht entgegen sind, dürfte Ihnen fürs erste genügen. Die Pläne, welche wir mit meinem Kinde verfolgten …“

„Welcher Art sind diese Pläne?“ warf Andree von neuem dazwischen.

Frau Molly lächelte diplomatisch und geheimnißvoll. „Man darf das wirklich nicht so ohne weiteres verkünden – es wäre voreilig und indiskret. Sie müssen sich genügen lassen, zu glauben, daß wir, die Eltern, schweren Herzens diese langgehegten, uns liebgewordenen Pläne aufgeben werden, sobald wir die feste Ueberzeugung gewonnen haben, daß in der That meines Kindes Neigung Ihnen allein gehört. Bis wir zu dieser Ueberzeugung gelangen und bis es uns gelingt, leise und allmählich die geknüpften Beziehungen zu lockern – bis dahin müssen Sie sich unseren Bedingungen unterwerfen, deren erste völlige Geheimhaltung ist; ich verlange dies mit voller Bestimmtheit von Ihnen – ich, als Mutter! Und Brühl, als Vater. verlangt es auch – nicht wahr, Brühl?“

„Ohne alle Frage! Ich verlange es gleichfalls mit – voller Bestimmtheit!“

Stella war im stillen mit ihren Eltern zufrieden. Namentlich ihre Mutter hatte gut und diplomatisch gesprochen. Frau Molly war keine begabte Frau, aber sie besaß ein Talent: das einer geradezu wunderbaren Fühlung mit Stella, ihrem Lieblingskinde. Sie brauchte die Tochter kaum anzusehen, so verstand sie auch schon deren Gedanken. Instinktiv fühlte sie es heraus, was Stella unangenehm war oder was sie sich wünschte – und als ihr Kind sofort von der Geheimhaltung des Verlöbnisses gesprochen hatte, da begriff Frau Brühl augenblicklich, daß die kluge Stella sich eine Hinterthür offen zu halten wünschte, für den Fall, daß sie einmal andern Sinnes würde. Was ohne öffentliches Aufsehen geschehen war – und eine Verlobung der berühmten Stella Brühl würde immer Aufsehen machen! – das konnte auch ohne jede Schwierigkeit in der Stille wieder gelöst werden, falls sich nicht alles fügen wollte. Freilich, etwas sickerte bei solchen Angelegenheiten immer aus dem Privatleben in die Oeffentlichkeit durch, und auf Stella blickten viele beobachtende Augen. Immerhin war es besser so, als wenn der ganze große Apparat mit Verlobungsanzeigen, Brautvisiten, Gesellschaften und so weiter in Scene ging. –

Also, Stella war zufrieden, und wenn jetzt Andree noch sein Wort gab, das er ohne Zweifel ernstlich halten würde, dann ging es ihr wiederum nach Wunsch – sie hatte die heimliche Verlobung, die sie gewollt hatte, denn die wenigen, welche um das Geheimniß wußten, störten sie nicht, ja, es war ihr sogar nicht einmal unangenehm, daß Grimm und Gerda davon erfahren hatten. Grimm hatte eine große Vorliebe für Andree, und Gerda schwärmte für ihn. Aber er gehörte ihr und ihr allein, das wollte sie ihnen bündig beweisen! Jetzt galt es nur noch, Andree sein Wort abzuschmeicheln – nun, das würde ihr schon gelingen!

Sie schob ihr weiches Händchen fester in seine Linke und lehnte sich leicht an seine Schulter.

Er sah zu ihr herab –0

Welch beredter bittender Blick! „Mir zuliebe!“ stand darin zu lesen, und „Ich liebe Dich – ist Dir denn das nicht das Werthvollste?“

Er kämpfte noch mit sich, aber Stella wußte schon, daß sie gesiegt hatte. Als sie leise flüsternd fragte: „Nun, Waldemar?“ da kannte sie im voraus seine Antwort.

Er that einen Schritt den Eltern entgegen und sagte gedämpft: „Ich unterwerfe mich um Stellas willen, obgleich es mir sehr, sehr schwer wird und ich gegen meine bessere Ueberzeugung handle. Ich bitte Sie, kürzen Sie meine harte Prüfungszeit ab, so rasch Sie nur können!“

Er führte die Rechte der Mutter an seine Lippen und schüttelte dem Vater die Hand. Einen Segen oder einen Glückwunsch empfing er von Stellas Eltern nicht. Sie standen ihm auch innerlich so fern, daß er beides nicht vermißte. – Was er dagegen vermißte, war ein warmes oder herzliches Wort seines Freundes Grimm. Er konnte sich den Gesichtsausdruck nicht erklären, mit welchem dieser ihm stumm die Hand drückte und sich vor Stella förmlich verbeugte. Und als Andree sich nun zu Gerda wandte mit einem freundschaftlich scherzhaften: „Auf gute Freuudschaft, meine liebe, kleine Schwägerin!“ und den Arm leicht um sie legte, da zitterten des seltsamen Kindes Lippen und helle Thränen standen in ihren Augen! Sie machte sich rasch von ihm los und drückte sich fest gegen Onkel Grimm, als müsse sie bei ihm Schutz finden. Und Grimm verstand sie und sagte halblaut: „Ja, komm’, Kind, wir sind hier überflüssig!“

Damit zog er Gerdas Hand durch seinen Arm und ging mit ihr davon.

*               *
*

[827] Die vier Zurückbleibenden empfanden kein Gefühl der Erleichterung, als die beiden gegangen waren – nun war der Kreis ganz klein, auf die allernächsten Angehörigen beschränkt, aber es gab kein vertrauliches Band zwischen ihnen, daher war ihnen dies Beisammensein peinlich.

Umsonst versuchte Andree, jenes grenzenlose Glücksgefühl, das ihn vor kaum einer halben Stunde überwältigt hatte, zurückzugewinnen, es gelang ihm nicht. Er war erzürnt über sich selbst – was war denn geschehen? Stella hatte ihm gestanden, daß sie ihn liebe; daß ihre Eltern ungern ihre Einwilligung geben würden, daß sie sich lieber einen andern Schwiegersohn gewünscht hätten, wußte er ja schon vorher. Was gingen ihn denn auch die Eltern an? Er hatte kein herzliches Gefühl für sie – es that ihm leid, aber er konnte sich nicht dazu zwingen!

Die heimliche Verlobung war zwischen ihm und Stella schon zuvor beschlossen gewesen, die Sache hatte ihm widerstrebt, aber er war doch darauf eingegangen. Nun wußten es zufällig ein paar Personen mehr, und gerade ihm würde alles jetzt bedeutend leichter gemacht werden als früher; Stellas Angehörige wußten, daß er ihr Verlobter war, sie brauchten daher beide keine Heimlichkeiten auszusinnen und Unwahrheiten zu sprechen. – Dennoch, trotz der zum Vortheil veränderten Lage, dies schwere Herz!

Die Welt mit ihrem kalten, prosaischen Hauch hatte sein heiß aufwallendes Gefühl gedämpft, die Schwingungen seiner erregten Seele hatten nicht in Ruhe ausklingen können, eine schrille Disharmonie hatte sie durchkreuzt. Er blickte auf das liebreizende Geschöpf an seiner Seite. Da stand sie, sein Abgott, sein künstlerisches Ideal, sie, nach der seine Seele lange Zeit in jeder Stunde stürmisch verlangt hatte – und sie war seine Braut! Narr, dreifacher Narr – warum bist Du denn jetzt nicht überschwänglich glücklich?

Und Stella selbst? Sie sah Waldemars beobachtenden Blick von der Seite, und sie bemühte sich, ihr gewohntes strahlendes Lächeln um ihre Lippen zu zwingen. Es kam denn auch, dies Lächeln, aber es hatte nichts recht Natürliches. Papa und Mama Brühl hatten sich diskret zum Fenster begeben, so weit als möglich von dem neuen Brautpaar entfernt, sie kehrten demselben den Rücken zu und flüsterten sehr eifrig mit einander. Das junge Paar fing schließlich auch an, zu flüstern, aber es kam nur zu einsilbigen Fragen und Antworten. Andree hatte die Hand seiner Braut gefaßt, er führte sie von Zeit zu Zeit an seine Lippen, und ihr Haupt war leicht an seine Schulter gelehnt. Sie verabredeten die nächste Sitzung, und Stella meinte, Mama werde wohl dazu mitkommen. Er berichtete ihr seine Bekanntschaft mit dem Holländer van Kuythen und schilderte dessen schönes Viergespann. Stella that manche Zwischenfrage und interessierte sich allem Anschein nach sehr für jede Einzelheit seiner Kunst; sie verspreche sich in jeder Hinsicht viel von der Ausstellung, die werde und müsse etwas Entscheidendes herbeiführen. Sie ahnte nicht, welch prophetisches Wort sie damit aussprach!

Schließlich wandte sich Frau Brühl vom Fenster zurück und bedauerte sehr höflich, Andree heute keine Einladung zum Essen zutheil werden lassen zu können. Sie seien heute, den Tag nach ihrer Ankunft, noch gar nicht recht eingerichtet, die lange Abwesenheit habe, trotz der Vortrefflichkeit der Willmers, alles aus dem Geleise gebracht, man müsse auch das Auspacken der guten Toiletten selber überwachen, dergleichen könne man unmöglich den Leuten überlassen, und ohne Zweifel werde die Familie selbst heute nur nothdürftig abgespeist, die ganze Maschine sei ins Stocken gerathen und die Dienerschaft werde außer stande sein, eine einigermaßen genießbare Mahlzeit zusammenzustellen.

Andree pflichtete all diesen Auseinandersetzungen höflich bei, erhielt eine Einladung zum Essen am folgenden Tage und die Zusicherung, daß Stella übermorgen vormittag mit der Frau Senator zur Sitzung bei ihm im Atelier erscheinen werde, dann empfahl er sich, und es hielt ihn niemand zurück.

Auch Stella nicht, trotzdem sie ihm beide Hände zum Abschied reichte und ihm dann die Lippen zum Kuß bot. Die Eltern schärften ihm noch einmal strengste Bewahrung des Geheimnisses ein, und nun schied er. Sehr langsam, wie ein im Traum Wandelnder, ging er die Treppe herab, die er vor kurzem so eilig emporgestürmt war. Er mußte flüchtig daran denken, wie er bei seinem ersten Besuch im Brühlschen Hause Gerda und Wolfgang auf eben dieser Treppe im Handgemenge mit dem Sohn des Portiers angetroffen hatte, und dabei fiel ihm ein, wie seltsam sich Gerda eben gegen ihn benommen hatte. Auch Grimm –00

Auf der untersten Stufe angelangt, hörte er von oben her ein klägliches Winseln ertönen, das durch das ganze Haus schallte. Dann verstummte es mit einem Male, und eine schwere Thür wurde dröhnend zugeworfen. Danach blieb alles still. Andree war die Stimme bekannt vorgekommen, er dachte aber nicht weiter darüber nach. –

Die schöne Stella hatte Dudu für seine so schwerwiegende Unachtsamkeit geohrfeigt, ihn dann in eines der oberen Zimmer eingesperrt und auf einen Tag zum Hungern verurtheilt. –0




21.

Indessen war Herr Bernhard Grimm mit seinem Pflegekinde nach dem andern Flügel des Hauses hinübergegangen.

Gerda weinte nicht mehr. Aber sie athmete stoßweise, und ihr junges Gesicht war so finster wie eine Wetterwolke. Herr Grimm hatte sie bei der Hand genommen wie ein kleines Mädchen, das man noch leiten muß, und sah sie zuweilen mit einem raschen, prüfenden Blick von der Seite an. –

Oben in dem gemüthlichen Wohnzimmer kam ihnen Hafis entgegen. Er begrüßte zuerst den Hausherrn, dann stieß er mit dem Kopf zärtlich an Gerdas Knie, wozu er laut spann. Frau Müller war bei den Blumen thätig gewesen, ihre Wirthschaftsschürze war ganz naß vom eifrigen Begießen, und sie hatte die Hände voll abgeschnittener Schößlinge und Ranken. Ihr faltiges Gesicht hellte sich auf, als sie Gerda gewahrte, die ihr etwas gezwungen zulächelte. Die Alte schlich sich dicht an das junge Mädchen heran und flüsterte mit geheimnißvollem Augenzwinkern: „Heut giebt’s Schildkrötensuppe, Gerdachen! Was Delikates!“ – Grimm sollte es nicht hören, stellte sich auch taub, schmunzelte aber behaglich.

Gerda blieb mitten im Zimmer stehen und schaute sich darin um, als sehe sie es zum ersten Mal. Ihre Augen wurden feucht. Wie traulich war es hier, wie heimathlich! Und hier sollte sie ihr Heim haben! Was hätte aus ihr werden sollen, wenn sie jetzt und immer im andern Flügel dieses Hauses hätte bleiben müssen, bei den Ihrigen, die doch die Ihrigen nicht waren! Sie hatte die Empfindung, als könnte sie es jetzt gar nicht mehr ertragen, bei ihren Eltern, bei ihrer Schwester zu leben. Ja, wo hätte sie bleiben sollen, wenn Onkel Grimm nicht gewesen wäre! –

Ihr dankbares Herz strömte über. Sie legte ihren rechten Arm um ihres Pflegevaters Hals und streichelte mit der Linken Frau Müllers runzlige Wange. Dann hob sie Hafis vom Boden empor und nahm ihn auf den Arm. Der „Zauberer“ drückte die Augen halb zu und schnurrte aus Leibeskräften.

„Onkelchen, ich bin so glücklich, daß Sie mich zu sich genommen haben!“ sagte sie tiefathmend. „Und Frau Müller ist auch immer so gut zu mir und Hafis auch!“

„Ja, wir finden alle drei, daß sich’s jetzt zu vieren doch noch besser lebt als vorher, nicht wahr, Frau Müller?“ fragte Herr Grimm gutlaunig.

„Na ja, Herr Grimm!“ gab die Alte zurück. „Aber jemand anders als Fräulein Gerda hätte es auch nicht sein dürfen, das hätten Hafis und ich nicht erlaubt – wie, Hafis?“

Die Perserkatze blinzelte verständnißvoll mit den Augen.

Frau Müller ging, um nach ihrer delikaten Schildkrötensuppe zu sehen, und Herr Grimm zog Gerda neben sich auf das Sofa. „Das heißt, wenn Du lieber auf Dein Zimmer gehen willst, dann lauf’ nur!“

„Nein, danke Onkel, ich möchte bleiben!“

Sie hatte Hafis auf dem Schoß behalten und streichelte gedankenvoll sein seidenglänzendes Fell.

„Sie freuen sich auch nicht, Onkel, nein?“ fragte sie nach einer Weile.

„Nein, ich freue mich auch nicht! Ich habe Andree liebgewonnen, und es wäre mir sehr leid, wenn er unglücklich werden sollte.“

[828] „Ich hab’ es gleich gewußt, daß er sich in die Prinzessin verlieben wird, Onkel!“

„Kind, es ist für einen Mann von Schönheitssinn schwer, für einen Künstler aber, der für den Schönheitssinn sozusagen ein Monopol hat, fast unmöglich, sich nicht in Stella zu verlieben.“

Gerda seufzte.

„Es heißt so oft, die Liebe verwandle und veredle die Menschen, Onkel! Glauben Sie, daß Stella auch veredelt werden könnte?“

„Wenn sie es verstände, wahr und wahrhaftig zu lieben, dann wäre das immerhin möglich!“

„Aber das trauen Sie ihr nicht zu?“

„Nein Gerda, leider nicht! Ich bin aber nicht unfehlbar, ich kann mich täuschen, und ich wünsche, es möchte der Fall sein!“

Man hörte eine Zeit lang keinen anderen Laut in dem hübschen, altmodischen Zimmer als das Tick-Tack der Uhr auf dem Kaminsims und die tiefen, regelmäßigen Athemzüge von Hafis, der auf Gerdas Schoß eingeschlafen war.

„Onkel!“ begann sie endlich etwas zaghaft.

„Was denn?“

„Darf ich Sie um etwas bitten?“

„Immerzu!“

„Richten Sie es doch so ein, daß wir niemals oder doch nur ganz ganz selten nach dem Vorderhause kommen, wenn das – das Brautpaar da ist! Ich kann mich so schlecht verstellen, und Stella freut sich dann.“

„Hm!“

„Sie wollen nicht, Onkelchen?“

„So oft es sich thun läßt, will ich Dir den Gefallen erweisen. Aber immer wird sich’s nicht vermeiden lassen, und dann bitt’ ich mir’s aus, daß mein Töchterchen meiner Erziehung Ehre macht und sich hübsch zusammennimmt. Der Mensch ist zu vielen Dingen da, unter anderem auch dazu, daß er sich beherrschen lernt, und jemehr er diese schwere Kunst schon in ganz jungen Jahren übt, um so besser ist es für ihn, und um so leichter kommt er durchs Leben. – Wirst Du Dir Mühe geben?“

„Ja Onkel!“

„‚Ja Onkel!‘ Und ein Gesicht dazu, als wenn ich Dir den Vorschlag gemacht hätte, aufs Schafott zu steigen. Himmel! Wer wird denn gleich so die Flügel hängen lassen! Hafis würde Dich ja auslachen, wenn er nicht schliefe – denn er kann lachen, hast Du’s noch nie gesehen? – Und noch eines kann ich Dir zum Trost in Deinem Leid sagen, mein Kind: warte ab! Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“

„Wie soll ich das verstehen, Onkel?“

„Wenn Du solch ein thörichtes kleines Frauenzimmer bist, daß Du das nicht ’mal weißt, dann kann ich Dich nur auf die Zukunft vertrösten; ich hoffe, die wird es Dir praktisch vormachen, und dann erinnere Dich gefälligst unseres jetzigen Gesprächs! Jetzt fort mit Dir, und bis Mittag wird gelernt, verstanden? Nicht dagesessen und ins Blaue gesehen und ‚ach Gott!‘ geseufzt und über Dinge nachgedacht, die nicht mehr zu ändern sind, wenigstens vorläufig nicht, – und die Dich eigentlich noch gar nichts angehen, junger Naseweis! Der Walter Scott wird aufgeschlagen und drei Seiten ‚Jungfrau vom See‘ übersetzt, für morgen zur englischen Stunde – und fließend muß es gehen und mit Ausdruck! Bei der Schildkrötensuppe sehen wir uns wieder!“

Gerda hatte zu allem „ja!“ genickt und lief ganz gehorsam in ihr Zimmer. Ein freundliches, sonniges Mädchenstübchen war es, mit buntgeblümten Vorhängen und hell bezogenen Möbeln. Es sah sehr sauber und aufgeräumt aus – Gerda, die daheim von niemand überwacht worden war, neigte ein wenig zur Unordnung, allein das litt Onkel Grimm nicht; in dem Punkt war er streng, er erschien zuweilen ganz unerwartet, um Nachschau zu halten, und er konnte ernstlich schelten, wenn nicht alles an Ort und Stelle lag.

Also die „Jungfrau vom See!“ Es war Gerda nicht danach zu Muth, aber das half nun alles nichts, es mußte gethan werden. Wirklich, sie hätte sich viel lieber müßig hingesetzt und „ach Gott!“ geseufzt, denn das Herz war ihr unglaublich schwer, und die Thränen waren bereit, wieder hervorzubrechen – aber sie hatte es Onkel Grimm versprochen, und sein Wort muß man halten!

Sie trug sich einen Stuhl an den Tisch, holte das englische Wörterbuch, den „Walter Scott“ und ihr Vokabelheft herbei und vertiefte sich mit Eifer in die Arbeit! –0

Dasselbe that auch Waldemar Andree, als er heimkam. Unverweilt schlüpfte er in seinen Arbeitsrock, schloß das Atelier hinter sich zu und kramte in seiner Skizzenmappe herum; er wollte ein neues Bild anfangen, irgend ein Motiv – gleichviel, welches. Nur nicht stillsitzen und nachdenken oder so thun, als wenn man lese, und eine halbe Stunde lang auf eine und dieselbe Seite starren!

Er traf auf seine verschiedenen vergeblichen Mignonversuche und warf sie unmuthig beiseite. Solch ein Lieblingsgedanke von ihm, und nicht auszuführen! Nein, ohne Modell, bloß aus der Phantasie heraus entschieden nicht auszuführen! Und doch wieder diese unfaßbare, dunkle Idee, als könnte er es doch! –

Ein paar Bildchen von Werner Troost fand er vor – er hatte ihn ja oft gezeichnet, auch einige Male mit farbigen Stiften, das waren aber immer nur flüchtige kleine Studien gewesen; auch das Bild, das er Stella einmal gebracht, war nicht viel mehr gewesen als das. Jetzt kam es ihm plötzlich, er wolle ein ordentliches Porträt von seinem verstorbenen Freunde malen, ein lebensgroßes Brustbild. Und nicht etwa für Stella sollte dies sein! Nein, für sich selbst, als Eigenthum wollte er es haben. Er fühlte es ganz deutlich: jetzt mehr denn je mußte er sich mit Werner Troost beschäftigen, nun, da er dessen Wunsch erfüllt hatte und wirklich sein Erbe geworden war!

Mit brennendem Eifer ging er ans Werk. Wie ihm gleich der erste Umriß gelang! Er trat zurück und lächelte. Zwischendurch sagte er sich’s immer wieder vor: Verlobt! Mit Stella Brühl verlobt! Er sah auf seine Hand, auf den Finger herab, den der Ring schmücken sollte! Der Ring? Ob Stella es sich wünschen würde, einen zu haben? Er hatte noch nicht mit ihr darüber gesprochen. Man würde den Ring selten tragen dürfen, die Verlobung sollte ja ein Geheimniß sein!

Auf dem Wege nach seiner Wohnung hatte er ein kostbares Bukett für seine Braut bestellt und für den nächsten Morgen in ihr Haus beordert. Was konnte er ihr sonst schenken? Er sann angestrengt darüber nach. Sie besaß viel Schönes – es mußte etwas ganz Besonderes und sehr Kostbares sein, wenn es ihr Freude machen sollte. Morgen, ehe er zum Essen ins Brühlsche Haus ging, wollte er einen berühmten Hamburger Juwelier besuchen uud sich dort die Sachen ansehen. Vielleicht hatte der Mann etwas Passendes.

Und übermorgen sollte die Sitzung sein, sollte Stella hierherkommen! Andree blickte sich prüfend in seinem Atelier um. Es war ja ein schöner Raum, er sah aber immer noch etwas kahl aus. Seine frühere Ateliereinrichtung, die wohlverpackt einstweilen in Rom geblieben war, hatte anders ausgesehen. Was für prachtvolle Sachen hatte er dort gehabt! Er mußte wenigstens in aller Eile ein paar Gobelins, orientalische Decken, hübsche Vasen und Trinkgefäße besorgen, um die nackten Wände etwas zu schmücken – in einer Stadt wie Hamburg, in der soviel Schätze aufgespeichert waren, würde sich dergleichen ja mit Leichtigkeit auftreiben lassen.

Die blaßgoldene Novembersonne lugte ins Atelier und traf die „Eos“. Ja, das war ein gelungenes Werk, das würde ihn groß machen, er hatte es aus seiner Seele heraus gemalt! Und auch mit Stellas Porträt war er zufrieden! Das süße Gesicht! Und jetzt war sie sein eigen! War er nicht ein glückseliger Mann?

Die nächste Fortsetzung folgt in Nr. 51, da Nr. 50 ausschließlich dem Weihnachtsfeste gewidmet ist.



[829]

Nach einer Skizze von E. M. Hiemann gezeichnet von E. Limmer.


In der Hutzenstube.[1]

Das ist in eisiger Winterzeit.
Im Gebirge das Städtchen liegt tief verschneit,
Durch die nächtliche Gasse weht kalt der Wind,
Da huscht es auf eiligen Füßen geschwind
Mit dem Klöppelkissen unter dem Arm
Herein in den Raum so traulich und warm,
In die Hutzenstube.

Da sitzt der Mägdelein fröhlicher Kreis,
Sie regen die zierlichen Hände mit Fleiß,
Wie im Takte schlagen die Klöppel an –
Wer wohl am flinksten klöppeln kann?
Im alten Ofen die Flamme surrt,
Auf der Bank am Fenster das Kätzlein schnurrt
In der Hutzenstube.

Nun pocht es am Laden – herein, herein!
Das mögen die Burschen, die losen, sein;
Und bald zu der Klöppel emsigem Gang
Erschallt der Harmonika fröhlicher Klang,
Dann lacht es und singt es und scherzt in der Rund
Bis nah zur mitternächtlichen Stund’
In der Hutzenstube.

Im engen Stübchen in stiller Nacht
Wird machnes Kunstwerk fertig gebracht;
Das schmücket dereinst ein Prunkgewand,
Doch arm bleibt, die es geschaffen, die Hand:
Die trägt die zierlichen Spitzen nicht,
Die einst sie geklöppelt bei müdem Licht
In der Hutzenstube.

Doch froh ist das Herz und leicht ist der Sinn –
Du Reichthum der Welt, fahr’ immer dahin!
Was nützt die köstlichste Spitze am Kleid,
Wenn das Beste dir fehlt – Zufriedenheit.
O du emsige Hand, o du lachender Blick,
Es wohnt auch für dich ein bescheidenes Glück
In der Hutzenstube.
 Anton Ohorn.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Kindererinnerungen an Weimar.

Von Lina Schneider.

Niemals höre ich die Nachtigall schlagen, niemals bringt mir der Frühlingshauch den Duft von Veilchen und Schlüsselblumen, niemals flammt mir der Weihnachtsbaum seinen seligen Lichterglanz, ohne daß ich deiner gedenke, du geliebte Heimathsstadt Weimar! Weit und breit, im Norden und im Süden, habe ich die Welt gesehen, so wie bei dir war es nirgends. Lange Jahre sind vergangen, seit ich mit den Gefährtinnen der Kindheit im Schatten deines Parkes spielte. Wenn ich jener Tage gedenke, dann fühle ich, wie anders wir damals waren als die Kinder der Jetztzeit. Man ließ uns Mädchen hinaus ins Freie, ließ uns träumen, die Natur genießen! Es bleibt in uns Weimaranerinnen durchs ganze Leben ein Zug von Schwärmerei, von oft mißverstandener Einfachheit und Naivetät, ein alles beherrschender Zug von Treue und Anhänglichkeit an die Heimath – fast wie bei den Schweizern. Die wahre, echte Liebe zu der schönen, weltabgeschiedenen und doch so geistestüchtigen Heimath, der heimliche Stolz, von jener berühmten Scholle Erde zu stammen, giebt dem Charakter sein bestimmtes Gepräge, der Seele ihren Flug, dem Herzen seine Stetigkeit! Sei gesegnet, du mein Weimar!

Kindererinnerungen an Weimar haben mich durch mein ganzes Leben begleitet bis heute. Als ich ein kleines Mädchen war, so am Ende der dreißiger, im Anfang der vierziger Jahre, [830] da lebte die Erinnerung an die großen Unsterblichen, die in Weimar gewirkt hatten, noch mit persönlicher Kraft in allen Herzen. Das und jenes hatte der Herr „Geheimderath“ zu einem seiner Beamten, zu einem seiner Arbeitsleute gesagt. Wahr oder erfunden, das wurde nicht untersucht, es ging von Mund zu Mund. Die noch in frischem Angedenken lebende Gestalt Goethes trat durch hundert kleine, jetzt für das große Gesammtbild seiner Wesenheit nebensächliche Züge für uns damals in lebensvolle Erscheinung. Ein kleiner verwachsener Tapezierer, Werner mit Namen, der sich rühmte, des Herrn „Geheimderath“ Kanapee in dessen Hause neu aufgepolstert und dabei mit Excellenz in Knüttelversen gesprochen zu haben, war ein vielbegehrter Arbeiter in den Familien. An Schiller mahnten nur wenige volksthümlich gewordene persönliche Erinnerungen; er war schon zu lange tot, die Familie war weggezogen. So kam es, daß er nur in der Verklärung, aber auch in der persönlichen Entfremdung des Dichters unter uns lebte.

Wir kleinen Mädchen athmeten damals ganz die Luft der alten Zeit; zusammen mit uns besuchten Herders und Wielands schöne Enkelinnen die Fiege’sche, später die Schulze’sche Schule. Herders Enkelin, Jenny Aulhorn, blieb die ganze Kinderstudienzeit hindurch meine Schulnachbarin, Bianka Wieland war meine kleine Gefährtin bei Herstellung der hübschen, kleinen Handarbeiten, die wir Kinder anfertigten, auch beim Spinnen, das damals noch mehr gepflegt wurde als heutzutage. Wenn zur Weihnachtszeit Bianka und ich uns mit den Fenstervorsetzern gegen die neugierigen Blicke ihres ernsten Papas, des Sohnes von Wieland, verbarrikadiert hatten, wenn sie selbst mit dem von uns Kindern vielbeneideten Rosenantlitz zu leiser Rede sich zu mir neigte, da erlebte ich Märchen. Der Großpapa konnte ja jeden Augenblick herausschreiten aus dem Bild, an der Wand; der freundliche Mann mit dem schwarzen Sammetkäppchen schien sich über unser Geheimthun zu freuen, und ich war ihm ja keine Fremde! Denn wie liebte ich die unverstandenen Werke des „Großpapa“!

Kein Schulkind hat je wieder so eifrig den „Goldnen Spiegel oder die Könige von Scheschian“ gelesen als Bianka und ich. Ich möchte es auch, aufrichtig gesagt, keinem mehr anrathen. Wir aber lasen das Buch unter persönlicher Ermuthigung der freundlichen Augen; weil es uns wahrscheinlich im Bücherschrank zuerst in die Hände gefallen war. Tili und Alibanda nannten wir uns damals, ich weiß nicht mehr, aus welchem Grunde. Biankas Wangenrosen sind leider früh verblüht. Als ich nach längerer Abwesenheit mein geliebtes Weimar wieder einmal besuchte, fand ich sie nicht mehr unter den Lebenden. Auch Weimar selbst hatte sich so sehr verändert, es war so viel größer und moderner geworden. Ich erkannte es zuerst kaum wieder.

Ich erzähle alle die kleinen Erinnerungen an die Kinderzeit im Enkelkreise der berühmtesten Männer meiner Vaterstadt aus dem Gedächtniß; kaum kann ich eine Jahreszahl bestimmen, wann dies oder jenes geschah, mir erscheint auch die ganze Zeit heute wie ein Märchen voll Glanz und Glück, und ich forsche nicht nach der Zeitenfolge der kleinen Begebnisse.

Meine Eltern wohnten Ende der dreißiger, anfangs der vierziger Jahre in der Großen Windischengasse bei einem Fräulein Spangenberg. Hinter dem Hause lag ein Garten, der durch ein Holzstaket auf ziemlich hoher Steinmauer von der Straße getrennt war. Auf morscher Treppe stieg man zu einem Altan hinauf, der die Aussicht auf diese Straße, damals Esplanade, jetzt Schillerstraße genannt, hatte. Das Haus bewohnten mehrere Familien, aber es war allen untersagt, in den Garten zu gehen, auch meinen Geschwistern. Ich allein hatte mir die Erlaubniß erbettelt, erschmeichelt, erlistet. Ueber den Altan neigte ein alter Birnbaum seine Zweige tief, tief herunter; dort saß ich oft versteckt und las. Die ganze linke Seite des Gartens begrenzte ein hohes Haus mit vielen Fenstern, wenigstens hielt ich es damals für sehr hoch. Flieder- und Holunderbüsche unseres Gartens reichten bis zu den Parterrefenstern des bewunderten Hauses hinauf, dessen Eingang auf der Esplanadenseite lag. Das war der Grund, daß mir das Haus immer geheimnißvoll erschien. Aus den geöffneten Fenstern drang öfters der Ton von Menschenstimmen, zuweilen zeigte sich auch auf kurze Zeit ein Gesicht an den Scheiben, aber nie konnte man von unserer Seite irgend jemand das Haus betreten sehen.

Auf halber Höhe meiner stillen, grünen Blätterwiege, in der ich versteckt träumte, befand sich, nahe der Straße, an jenem hohen Hause ein sehr kleines Balkönchen, von Holzpfeilern gestützt, die in den Boden unseres Gartens eingerammt waren. An warmen Sommertagen führte man einen alten, fast gelähmten Herrn auf den kleinen Balkon, damit er sich daselbst sonne. Der alte Herr hieß Völcker – seine nächsten Verwandten wohnen noch in Weimar –; Fräulein Spangenberg, unsere Wirthin, hatte ihm das Anbringen dieser luftigen Freistatt in ihrem Garten erlaubt, weil er sonst zu wenig Luft und Sonne genießen könne.

An einem schönen Frühlingstage lag ich wieder, von Bienen umsummt, von Blüthenduft umwogt, hinter meinem grünen Blätterschleier, als der alte Herr herausgeführt wurde. Aber nicht der Diener allein trat mit ihm ins Freie, ihm folgte ein junges Mädchen, fast nicht größer als ich, welches ihm das Kissen und die hohe Fußbank rückte und dabei mit fester, wenig kindlicher, aber doch sehr wohlklingender Stimme den alten Herrn neckend schalt. Ich höre sie noch, diese Stimme, obwohl ein halbes Jahrhundert zwischen heute und damals liegt. Neugierig lugte ich durch meine Zweige, deren Rascheln dem jungen Mädchen nicht entging. Mit großen, blitzenden Augen sah sie zu mir herauf, lehnte sich mit beiden Armen auf das Geländer des Balkons und fragte, als ob sie alles Recht der Erde zu dieser forschenden Frage habe:

„Was thust Du da oben?“

Scheu und leise antwortete ich: „Ich lese.“

„Was liest Du denn?“

„‚Gumal und Lina‘!“ Es war das ein damals viel gelesenes Werk des Pfarrers Lossius.

„Das ist dummes Zeug, das mußt Du nicht lesen; komm’ herunter, ich hole Dir ein anderes Buch.“

Sie hatte kein einziges zärtliches Wort zu mir gesagt, hat dies überhaupt in den leider nur zu kurzen Jahren unseres Zusammenlebens nie gethan – aber von diesem Augenblicke an hing mein Herz an ihr. Es war etwas Gebieterisches, Fremdartiges, Vornehmes, Selbstbewußtes in ihr, das mich vollständig in ihre Nähe bannte. Sie hätte mit mir thun können, was sie wollte. Ich stieg vorsichtig meine gebrechliche Holztreppe herab – noch in diesem Augenblick erinnere ich mich, wie sehr ich das Knarren des grauen, morschen Holzes vermied – und harrte unfern des Balkönchens, was sich begeben würde. Sie war verschwunden, kam aber nach wenigen Augenblicken zurück und warf mir ein Buch zu mit den Worten: „Da hast Du ein Buch vom Großpapa! Komm morgen wieder!“

Ich hob das Buch auf. Es war der erste Band von Goethes Werken mit den Gedichten. Zum ersten Mal hielt ich diesen Schatz in der Hand. Schillers und Goethes Werke waren damals noch sehr theuer und nicht in jeder Familie heimisch. Es hat einige Zeit gedauert, ehe ich erfuhr, daß der Unsterbliche noch mehr Werke geschaffen hat als das kostbare, das ich jetzt in Händen hielt. –

Das war der Anfang einer tiefen und reinen Kinderfreundschaft. Sie war einige Jahre älter als ich; ich arm, sie reich; ich sehr einfach, sie sehr selbstbewußt. Wir sahen uns täglich, heimlich und offen, wie es eben ging. Wenn sie mir vom Balkon herab, oder aus den über unsern Holunderbüschen liegenden Küchenfenstern ihres großmütterlichen Hauses, oder beim Herumstreifen an all den ihr vertrauten, durch Goethes Fuß geweihten Plätzen des Parks, oder gar einmal im Garten des großväterlichen Hauses vorerzählte, wie schön es bei Großpapa gewesen sei, kam es mir natürlich nicht in den Sinn, zu überlegen, ob sie bei Goethes Tod schon so groß gewesen sei, daß sie noch eine klare Erinnerung an das Leben mit ihm haben könne. Kinder fragen nicht, wann jemand geboren, noch wann ihnen ein geliebtes Wesen gestorben. Ihnen genügt die Thatsache des Seins und des Gewesenseins. Wie für sie das Leben mit Großpapa, so war mir das Leben mit ihr ein Traum, ein Märchen. Mit ihr habe ich Goethes Gedichte zuerst gelernt, der Reihe nach, ohne Auswahl, aber mit einer Liebe und Begeisterung ohnegleichen. Ich fürchtete mich vor ihrem Urtheil über mein „Deklamieren“, wie wir es stolz nannten, mehr als einige Jahre später vor dem Eckermanns, der an meiner jungen Goethebegeisterung seine Freude hatte und, trotz seiner grämlichen Einsamkeit in einem Garten nahe beim sogenannten „Goldbrunnen“ am Fuße des Ettersberges, sich die Besuche der [831] schüchternen Goetheverehrerin ebensogern gefallen ließ wie unser späterer Nachbar, der alte Rath Ludecus. Wie viel danke ich diesen beiden Männern!

Sehr bald hatte mich meine kleine Freundin in ihrer schnellen, fast, befehlenden Weise gefragt: „Wie heißt Du?“ Ich aber wagte lange nicht, die gleiche so natürliche Frage an sie zu richten. Sie hieß Goethe, das war mir genug. Einmal, in Großpapas Garten, – es muß damals mit unserem Besuch desselben eine besondere, geheime Bewandtniß gehabt haben, denn ich erinnere mich, daß wir nicht, wie es sich gehört, zur Thür hineingekommen, sondern von der Rückseite über Zaun und Mauer hineingeklettert waren – unter dem Pflücken von Veilchen, die wie ein blauer Hauch die Wiesen bedeckten, fragte ich sie um ihren Namen. Seit jenem Tage umduftet es mich stets wie Veilchen, wenn ich den Namen Alma höre.

Nie bin ich in ihrem Hause gewesen, sie selten in dem meinen. Wir verabredeten uns auch nicht, uns zu treffen, aber wir sahen uns überall; sommers im Garten unter Holunderbüschen und Flieder, im Winter auf dem Schwansee beim fröhlichen Schlittschuhlauf, da

Das Denkmal von Goethes Enkelin Alma im Goethehause zu Weimar.

natürlich seltener als in der sonnigen Zeit.

Ich weiß nicht, ob dies Zusammenleben ein oder zwei Jahre währte. Ich weiß nur, daß ich, als es wieder einmal Sommer wurde, Alma immer weniger sah. Sie war sehr groß geworden und erschien mir in ihrer neuem Haarfrisur und in den längeren Kleidern sehr fremd. Ich habe das Gefühl lange Jahre nicht los werden können, als ob sie, trotz immer herzlicher Beziehungen, mir eigentlich in jenen Tagen gestorben sei. Die Menschen nannten sie damals häßlich, aber es war nur das Herbe, Fremde an ihr, was die meisten abstieß. Für mich war sie immer schön; ich sah nur ihre großen, flammenden Augen und die immer deutlicher hervortretende Ähnlichkeit mit dem Großpapa.

Wir zogen aus dem alten, lieben Hause weg, und bald darauf, nach kurzem Abschied, ging Alma nach Wien. Ich habe tiefes Leid um sie getragen. Einmal ist sie noch von dort nach Weimar zurückgekehrt, mich fesselte schwere Krankheit ans Haus, ich habe sie nicht gesehen. Medizinalrath Vulpins erzählte mir, zu welcher frischen, lebenskräftigen Jungfrau sie damals erblüht gewesen sei und in welch herzinniger Freude sie die Aufmerksamkeit genoß, die ihr von allen Seiten geschenkt wurde. Auch, daß der Abschied von Weimar ihr damals so schwer geworden sei, als hätte sie geahnt, daß sie ihre Vaterstadt nicht wieder sehen sollte. Bald – in der Erinnerung erscheint es mir, als wenn es kaum nach Jahresfrist gewesen wäre – kam die Kunde von ihrem frühen Tode, von dem die Sage allerhand Außergewöhnliches zu erzählen wußte. Leicht hätte ich damals von dem alten Bibliothekar Kräuter, dem ich durch die befreundete Familie Keil nahe stand, Genaueres über ihren Tod hören können, aber ich vermochte es nicht über mich, von ihr zu sprechen. Ich ging der Esplanade entlang, viele Tage hintereinander, und starrte auf das kleine Balkönchen, auf dem sie mir zuerst erschienen war, und hielt ihr Bild von damals fest für alle Zeiten. Denn wir Menschen von Weimar aus jener alten Zeit sind fest verwachsen mit unseren Kinderträumen und mit unseren Schwärmereien.

Ich halbe durch mein ganzes Leben treulich meine Weimaraner Erinnerungen gepflegt; ich habe alles gethan, was in meinen Kräften stand, um die Unsterblichen meiner Vaterstadt zu ehren, ihnen Priester zu werben in der Heimath und in der Fremde. Denn die Gemeinde ihrer Gläubigen ist noch lange nicht so groß, zumal unter der Frauenwelt, wie sie sein müßte. Wie in meinen Kinderjahren trat später noch einmal eine unmittelbare Berührung mit Familiengliedern unserer großen Weimarer Toten in mein Leben. Ich bewahre einen Brief von Schillers Tochter Emilie, Frau von Gleichen-Rußwurm, aus deren letzten Lebensjahren, in welchem sie mir dankt für alles, was ich in den Niederlanden durch meine öffentliche Lehrtätigkeit für Schiller gethan habe. Und 1876 schickte mir Schillers Enkel zwei Kränze, einen von rothen, den andern von weißen Rosen, damit ich sie in Bonn auf die Gräber seiner Großmutter und seines Onkels, der Gattin Schillers und ihres Sohnes, am 50. Todestag der ersteren niederlege.

Eine Versammlung der Goethegesellschaft rief mich 1887 nach dem geliebten Weimar, wo die alten Erinnerungen von den echten Erben Karl Augusts und der unvergeßlichen Anna Amalia treu gepflegt werden, wo die Frau Großherzogin das geistige Erbtheil Goethes in der ihr eignen geistesklaren Weise hütet. Das Goethehaus war uns wieder geöffnet.

Nicht mit den anderen allein betrat ich alle die theuren Erinnerungsstätten. Da sah ich auch Almas geliebtes Kinderbild, wie ich es einst gekonnt hatte. Ich ging zu ihr, die ich einst so sehr geliebt, die ich nie vergessen habe, zu Alma von Goethe. Denn sie ist heimgebracht worden aus dem fremden Wien, nahe beim Großpapa schläft sie ihren stolzen Jugendtraum – ich kannte ihn wohl auf Deutschlands geweihtestem Fleck Erde aus. Ich holte ihr Blüthen und Blätter aus Großpapas Garten, Maßlieb von der Wiese nebenan, denn die Veilchen waren schon verblüht, und streute sie über das Gitter, auf den Hügel. Mir war, als müsse sie fühlen, daß ein Herz ihrer gedenke, das sie geliebt hat in den Tagen ihrer schönen Kindheit und ersten Jugend, das mit ihr geschwärmt hat von „ihrem Großpapa“.

Und vor Monaten ging ich wieder auf jenem theuren Wallfahrtsweg in Weimar. Im Goethemuseum war in einem kapellenartig hergerichteten Raume das Marmorbild der geliebten Toten aufgestellt. Im Jahre 1848 hatte es die Mutter in Rom von der Bildhauerin J. A. Jerichau anfertigen lassen. Lange danach, 1871, ist es an den Bruder Almas gesandt worden, der mit der Erinnerung an die Schwester einen heiligen Herzenskultus trieb und sich scheute, aus Furcht, das geliebte Marmorbild beschädigt zu erblicken, die dasselbe umschließende Kiste zu eröffnen. Jetzt, nach seinem Tode, war es seiner Hülle entnommen und im Goethemuseum aufgestellt worden. Welche Gefühle strömten auf mich ein, als ich die mit Blumen spielende, schlafende Gestalt erblickte! Das weiche, lebenswarme Antlitz vom letzten Abschied in den Kinderjahren und dies klassische, marmorweiße und marmorkalte wollten anfangs in meiner Erinnerung nicht zu einem Bilde verschmelzen; auch viel größer erschien sie mir – aber dann, als ich mit ihr allein war, als ich Rosen über sie hinstreute, da war es, als durchhauche das alte Bild der Verklärten den starren Stein, als sei sie es wirklich, die wie der Bergmann aus Falun in unberührter Schöne und Jugend da vor der im Zeitenstrom gealterten Jugendfreundin so friedlich schlafe!

[832]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der höhere Standpunkt.

Von E. Werner.

     (Schluß.)

Der nächste Tag war sonnenhell angebrochen, die Gebirgskette zeigte sich in voller Klarheit, und der Garten lag thaufunkelnd im Morgensonnenschein, es war ein herrliches Reisewetter.

In dem Hause, das Herwig mit seiner Tochter bewohnte, war man mit den letzten Reisevorbereitungen beschäftigt; es zeigte sich niemand am Fenster oder in der Thür, im Garten dagegen wandelte eine hohe Gestalt mit langsamen Schritten auf und ab. Es lag sonst gar nicht in der Art des Professors Normann, so feierlich und würdevoll einherzuschreiten, er war im Gegentheil meist hastig und formlos in seinen Bewegungen, heute aber schien ihm diese feierliche Haltung eine Ehrensache zu sein bei der Veränderung, die er mit seinem äußeren Menschen vorgenommen hatte.

Er hatte in der That das Erstaunlichste geleistet, die „Urwaldmähne“ war mit Hilfe des Haaröls gebändigt, nur hatte Normann, der ganz unbekannt mit diesem Verschönerungsmittel war, leider einen allzu ausgiebigen Gebrauch davon gemacht. Auf seinem Haupte glänzte es wie der Thau ringsum auf den Gebüschen, der sonst so starr emporstrebende Haarwuchs lag jetzt glattfromm gescheitelt über der Stirn und klebte förmlich an den Schläfen. Der Professor war kaum wiederzuerkennen, und es war nicht zu leugnen, daß sein Aussehen bedeutend an Grimmigkeit verloren hatte; aber vorläufig fühlte er sich noch sehr unbehaglich in seiner nagelneuen „Menschlichkeit“.

Friedel befand sich gleichfalls im Garten mit einem riesigen Blumenstrauß. Er wußte besser als sein Herr, was mit den Blumen anzufangen sei, wenn eine junge Dame abreiste, und hatte das Gärtchen seiner Wirthin nachdrücklich geplündert. Uebrigens war auch er in einer ungewöhnlichen Verfassung. Da der Herr Professor fast die ganze Flasche Oel verbraucht hatte zur Bändigung seines Haarwuchses, so hatte Friedel die Erlaubniß erbeten und erhalten, sich nun seinerseits mit dem Reste zu verschönern. Auch seine blonden Haare glänzten, wenn auch in bescheidenerem Maße, und er kam sich wundervoll dabei vor.

Da öffnete sich die Thür des Hauses und Dora, schon im vollen Reiseanzuge, trat heraus. Sie nickte freundlich ihrem Schützlinge zu, den sie zuerst erblickte, und wollte eben seinen Morgengruß erwidern, als plötzlich Professor Normann vor ihr auftauchte und mit einer gewissen Feierlichkeit sagte:

„Guten Morgen, Fräulein Dora!“

Dora wandte sich um, sah ihn an, stand einen Augenblick starr vor Verwunderung und brach dann in einen förmlichen Lachkrampf aus.

„Aber, mein Fräulein!“ Normann richtete sich tiefbeleidigt empor, er hatte eine ganz andere Wirkung seiner Erscheinung erwartet.

„Entschuldigen Sie, Herr Professor –“ die junge Dame bemühte sich vergebens, ihre stürmische Heiterkeit zu mäßigen. „Ich wollte Sie gewiß nicht – aber – o, das ist köstlich!“ Und sie erstickte fast vor Lachen.

„Fräulein Dora, lachen Sie mich nicht wieder aus!“ rief der Professor drohend und wollte sich seiner Gewohnheit nach mit beiden Händen in die Haare fahren, besann sich aber noch rechtzeitig, daß das in seiner jetzigen Verfassung nicht angehe. Er preßte die Hände krampfhaft an den Körper und fuhr in einem beinahe wehmüthigen Tone fort:

„Sie haben es mir doch angerathen, das Haaröl, fast eine ganze Flasche davon habe ich verbraucht und der Friedel hat den Rest genommen.“

„Ja, der sieht auch aus wie ein Oelgötze!“ rief Dora und gab sich von neuem einer unbändigen Heiterkeit hin.

Das war nun vollends eine Beleidigung, allein über den Professor schien mit jener Salbung eine ganz merkwürdige Sanftmuth gekommen zu sein, denn anstatt aufzufahren, sagte er im Tone des tiefsten Vorwurfs:

„Sie spotten – und ich habe es doch nur Ihretwegen gethan.“

„Meinetwegen?“ Dora wurde plötzlich ernst, ihr Auge begegnete dem seinigen und dann streckte sie ihm die Hand hin und erwiderte leise:

„Dann will ich nicht mehr lachen.“

Friedel hatte seinen Blumenstrauß, den er erst beim Abschied überreichen wollte, einstweilen in der Laube untergebracht und wunderte sich nur, daß der Herr Professor die kleine Hand, die in der seinigen lag, so lange festhielt. Dieser schien überhaupt heut morgen sehr friedlich gestimmt zu sein, denn er begann im eifrigen Gespräch mit dem Fräulein auf und ab zu gehen. Dem Knaben klopfte das Herz, jetzt kam gewiß die Geschichte mit dem Schleier zur Sprache – ob Fräulein Dorn das wohl übelnahm?

Es war jedoch vorläufig weder von dem Schleier noch von dem Friedel die Rede in jenem Gespräch, denn Dora erwiderte soeben auf eine Bemerkung ihres Begleiters:

„Papa meint, es hänge ja nur von Ihnen ab, ob Sie nach Heidelberg kommen wollen, und er werde sich sehr freuen, wenn es geschehe.“

„Ja, Kollege Herwig!“ sagte Normann mit etwas unsicherer Stimme. „Aber andere würden sich darüber nicht freuen, Ihnen zum Beispiel wäre es wohl gar nicht recht?“

„O gewiß, wenn Sie mir den Friedel mitbringen!“

„Schon wieder der dumme Junge!“ fuhr der Professor auf. „Der liegt Ihnen allein am Herzen.“

„Seine Zukunft liegt mir am Herzen. Haben Sie sich die Geschichte überlegt?“

„Welche Geschichte?“

„Nun, ich zeigte Ihnen doch gestern das Bild, das Ihnen so wenig schmeichelhaft vorkam und das doch so charakteristisch ist in jeder Linie. Jetzt freilich hat die Aehnlichkeit bedeutend gelitten.“

Es zuckte wieder verrätherisch um die Lippen der jungen Dame, als sie einen Blick auf das gesalbte Haupt ihres Begleiters warf; diesen aber schien die Erwähnung des Bildes sehr ungnädig zu stimmen, er nahm wieder die alte griesgrämige Miene an, als er entgegnete:

„Es fällt mir gar nicht ein, dem Jungen die gewünschten künstlerischen Mucken in den Kopf zu setzen, er ist schon übermüthig genug geworden, der bleibt bei seiner Stiefelbürste. Reden Sie mir nicht darein, mein Fränlein, es bleibt dabei!“

„Punktum!“ ergänzte Dora. „Soll ich Ihnen einmal sagen, Herr Professor, was Sie zunächst thun werden, wenn Sie nach der Stadt kommen?“

„Wissen Sie das so genau?“

„Ganz genau. Sie werden schleunigst zu irgend einem namhaften Künstler gehen und das Talent des Friedel prüfen lassen, dann werden Sie ihn in die Zeichenschule bringen, werden aufs freigebigste für alles sorgen, was er braucht, und mir hierauf mit bekannter Grobheit melden, die Sache sei in Ordnung, sie gehe mich gar nichts mehr an und ich brauche mich überhaupt nicht mehr darum zu kümmern. – Was sagen Sie zu meiner Hellseherei?“

Normann sagte gar nichts. Es grenzte in der That an Hellseherei, daß man ihm seine geheimsten Gedanken und Absichten so ins Gesicht sagte, er war völlig verblüfft darüber.

„Versuchen Sie nur nicht, es mir abzuleugnen,“ fuhr Dora triumphierend fort. „Als wir damals den Aufstieg von der Alm aus unternahmen, hielten Sie mir eine lange Vorlesung darüber, daß es sehr erfreulich und nützlich für die Menschheit sei, wenn das ‚Trauerpflänzchen‘, der Friedel, sobald als möglich umkomme, und dann trugen Sie ihn eine Stunde lang in der glühenden Sonnenhitze, um ihm sobald als möglich Hilfe zu schaffen. Als er nach Schlehdorf gebracht wurde und ich ihn pflegen wollte, wurden Sie grob und erklärten, Sie könnten das ganz allein besorgen. Sie haben auch die ganze Nacht an seinem Bette gesessen und ihm Umschläge gemacht. Jetzt bestehen Sie hartnäckig auf der Stiefelbürste, und sobald ich Ihnen den Rücken gewandt habe, bekommt der Friedel doch den Zeichenstift in die Hand. Sehen Sie nicht so grimmig aus, Herr Professor! Ich glaube Ihnen nichts mehr, kein Wort, Sie haben bei mir verspielt mit Ihrer sogenannten Herzlosigkeit.“

Normann hatte allerdings einen Versuch gemacht, die alte Grimmigkeit zu behaupten, aber es gelang ihm nicht, er fühlte das selbst, und auf einmal beugte er sich nieder und fragte mit verhaltener Stimme:

[833]

Bierverladung auf dem Centralbahnhof in München.
Nach einer Zeichnung von Walther Püttner.

[834] „Fräulein Dora, werden Sie bisweilen an mich denken?“

Der Ton der Frage war so ernst, daß er keine unbefangene Antwort zuließ, Dora senkte den Blick.

„Ich denke, Sie kommen nach Heidelberg?“

„Vielleicht im nächsten Frühjahr. Jedoch bis dahin – haben Sie mich wohl längst vergessen.“

„Nein!“ sagte das junge Mädchen leise aber fest und hob langsam wieder die schönen braunen Augen empor; sie tauchten tief in die des Fragenden, tief und ernst, und er mußte der Versicherung wohl Glauben schenken, denn seine Hand umschloß plötzlich mit festem leidenschaftlichen Drucke die ihrige.

Da öffnete sich die Thür und Professor Herwig erschien. Auch er bemerkte mit dem höchsten Befremden die Oelpracht seines Kollegen, da er aber dessen Empfindlichkeit kannte, so äußerte er nichts darüber, sondern schüttelte ihm die Hand, während Dora in das Haus ging, um Hut und Handschuhe zu holen. Gleich darauf vernahm man drinnen ihre Stimme.

„Wenn ich nur wußte, wo mein Schleier geblieben ist! Er war doch um den Hut gelegt, und jetzt finde ich ihn nirgends.“

Friedel, der mit seinem Blumenstrauß soeben wieder herbeigekommen war, wurde blutroth und schielte ängstlich zu seinem Herrn hinüber. Jetzt mußte dieser doch den vermißten Schleier übergeben, was er bisher wahrscheinlich vergessen hatte, aber seltsamerweise geschah das nicht. Der Professor, der auf einmal auch merkwürdig roth im Gesicht aussah, wandte sich vielmehr zu seinem Kollegen und begann mit krampfhafter Lebhaftigkeit von irgend welchen Moosarten zu sprechen, zur Verwunderung Herwigs, der es etwas sonderbar fand, jetzt, im Augenblick der Abreise, ein wissenschaftliches Thema zu erörtern.

Inzwischen war der Wagen vorgefahren, das Gepäck wurde herausgeschafft und aufgeladen, und die Wirthsleute mit ihrer ganzen Familie kamen herbei, um den scheidenden Gästen Lebewohl zu sagen. Professor Normann aber war noch immer bei den Moosen und Dora suchte noch immer ihren Schleier. Jetzt trat sie heraus und fragte:

„Friedel, Du hast ja meinen Hut gestern abend in das Haus getragen, hast Du den Schleier nicht gesehen?“

Der arme Junge wagte nicht, zu antworten und senkte schuldbewußt den Kopf; da kam ihm die Hilfe von einer Seite, von wo er sie am wenigsten erwartet hatte. Sein Herr wandte sich plötzlich um, nahm ihm den Blumenstrauß ohne weiteres aus der Hand und sagte, ihn der jungen Dame überreichend:

„Hier, Fräulein Dora, ein Abschiedsgruß von Schlehdorf!“

Das war ein glücklicher Gedanke, denn nun kamen die sämmtlichen Hausbewohner mit ihren Blumensträußen gleichfalls herbei und umringten die Scheidenden. Es begann ein allgemeines Abschiednehmen und Händeschütteln, und darüber gerieth der fehlende Schleier glücklich in Vergessenheit. Nur Friedel sah tiefgekränkt aus. Er hatte doch die Blumen gepflückt und zusammengebunden, und nun nahm sie ihm der Herr Professor weg und schenkte sie dem Fräulein, und er selbst stand mit leeren Händen da. Er fühlte sich erst einigermaßen getröstet, als Dora ihn herbeirief und aufs freundlichste von ihm Abschied nahm.

Jetzt saßen die Reisenden im Wagen, noch ein letztes Winken und Grüßen, dann ging es fort, hinein in den sonnigen Morgen. Dem Friedel liefen die Thränen über die Backen, aber plötzlich fiel es ihm ein, daß der Weg um den ganzen See herum führe und daß man von der kleinen Anhöhe, am Ende des Gartens, den See überblicke. Er eilte spornstreichs dorthin, und der Professor, dem das gleichfalls einleuchtete, folgte ihm mit langen Schritten. Da standen sie nun beide und sahen dem Wagen nach, der in der That noch eine ganze Weile sichtbar war. Friedel schluchzte zum Herzbrechen und Normann schalt ihn, aber dabei sah er aus, als hätte er mit dem trostlosen Jungen am liebsten ein Duett angestimmt.

„Flenne nicht!“ sagte er endlich. „Im Frühjahr siehst Du das Fräulein wieder. Wir gehen nach Heidelberg.“

Friedels Thränen versiegten plötzlich, seine Augen leuchteten auf, und fast athemlos vor freudiger Ueberraschung fragte er:

„Ich auch?“

„Natürlich! Fräulein Dora würde mir ein schönes Gesicht machen, wenn ich Dich nicht mitbringen würde, aber erst hast Du gesund zu werden – verstanden? Solch ein Jammerwesen, wie Du jetzt noch bist, will ich nicht mitbringen; ein dicker, rothbackiger Bube hast Du zu werden, damit ich Ehre mit Dir einlege, sonst gnade Dir Gott!“

„Ich geb’ mir schon alle Mühe dazu,“ versicherte der Knabe treuherzig.

„Ja, das thut mancher!“ brummte der Professor – er sprach nicht aus, was er dachte: daß es jedenfalls leichter für den Friedel sei, dick und rothbackig, als für ihn selbst, „menschlich“ zu werden, wie es von gewisser Seite gefordert wurde und leider mit Recht. Es ging doch nicht an, daß man ein grimmiger Sonderling, ein menschenfeindlicher Einsiedler blieb, wenn man – nun wenn man nach Heidelberg wollte.

„Friedel,“ sagte er, das Auge noch immer auf den schon weit entfernten Wagen gerichtet. „Wie war doch der Singsang, den Du gestern gelernt hast, das Lied von Heidelberg? Kennst Du die Melodie noch?"

Friedel nickte und begann sofort mit seiner schwachen, aber wohllautenden Stimme:

„Alt-Heidelberg du Feine!“

Er hatte Text und Melodie noch vollkommen im Kopfe und sang ganz richtig die Strophen herunter; als er damit zu Ende war, geschah etwas Unerhörtes, Unglaubliches, Herr Professor Normann fing selbst an zu singen. Ja, er sang wirklich und wahrhaftig, und als der Friedel ihn ganz entsetzt mit offenem Munde anstarrte, sang er allein den letzten Vers noch einmal. In greulich falschen Tönen, jedoch im kräftigsten Baß klang es über den See, dem eben verschwindenden Wagen nach:

„Auch mir bist du geschrieben
Ins Herz gleich einer Braut,
Es klingt wie junges Lieben
Dein Name mir so traut!“




In seinem Studierzimmer zu Heidelberg ging Professor Herwig ungeduldig und ein wenig ärgerlich auf und ab. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf die Uhr und dann trat er wieder an das Fenster, das auf die Straße hinausging.

Der Bahnzug war schon vor geraumer Zeit eingetroffen, und die Reisenden, die er gebracht hatte, mußten längst in der Stadt sein, aber noch immer ließ sich kein Wagen vor dem Hause blicken.

Man erwartete den Professor Normann, der die Berufung an die Universität Heidelberg nun in der That angenommen hatte und heute eintreffen sollte. Er kam vorläufig nur auf einige Tage, um die Uebersiedlung vorzubereiten, die erst im nächsten Monat stattfinden sollte, und hatte für diesen kurzen Aufenthalt die angebotene Gastfreundschaft des Herwigschen Hauses angenommen.

Jetzt aber schlug die Uhr zwölf, eine volle Stunde war über die festgesetzte Zeit verstrichen, und es blieb nur die Annahme übrig, daß der Professor aus irgend einem Grunde den Zug versäumt habe. Wahrscheinlich traf im Laufe des Tages eine Nachricht von ihm ein, jedenfalls kam er jetzt nicht mehr. Etwas verstimmt über diese Unpünklichkeit verließ Herwig endlich das Zimmer, um seiner Tochter, die sich im Garten befand, mitzutheilen, daß der erwartete Gast ausgeblieben sei.

Der Professor bewohnte eine der höher gelegenen Villen, und der Garten derselben, der am Bergeshang lag, bot den vollen Ausblick über die Stadt und deren Umgebung. Es war in den ersten Frühlingstagen, ringsum keimte, sproßte und grünte das Frühlingsleben. Die Bäume standen bereits in voller Blüthe, überall, in den Gärten, zwischen den Häusern, am Bergeshang leuchteten die weißen oder zartrosigen Schleier, und drüben auf den Höhen schimmerte ein wahres Meer von duftigem Blüthenschnee. Blitzend und funkelnd zogen die Wellen des Neckars dahin, im hellen Mittagssonnenschein, weit hinaus in das schöne Neckarthal, und wie in silbernen Duft eingehüllt verschwamm die Ferne. Das Lied hatte wohl recht, der Frühling hielt auf seinem Wege nach dem Norden wirklich hier Rast und webte der Stadt aus feinen Blüthen „ein schimmernd Brautgewand!“

Herwigs Blicke schweiften mit stiller Freude über die Landschaft, die ihm so lieb geworden war. Er begriff es nicht, daß man gleichgültig dagegen sein konnte wie Kollege Normann. Ja freilich, dieser Sonderling machte ihm und der Universität vielleicht noch mancherlei zu schaffen. So hoch er dessen wissenschaftliche Bedeutung schätzte, so sehr er die Berufung als einen Gewinn ansah, [835] so wenig verhehlte er sich, daß die Schroffheit und Rücksichtslosigkeit des neuen Professors vielfach verletzen werde. Dieser änderte sich schwerlich, wenn er in der neuen Stellung sein altes Einsiedlerleben fortführte und sich wie bisher hartnäckig jeder Geselligkeit verschloß.

„Ich werde ihm noch einmal ins Gewissen reden,“ sagte Herwig halblaut, „obwohl ich kaum glaube, daß es helfen wird. Ich komme allenfalls noch mit ihm aus, ob das aber auch den andern möglich sein wird –“

Er hielt urplötzlich inne und prallte förmlich zurück bei dem Anblick, der sich ihm bot. Auf einer kleinen rebenumsponnenen Altane, deren Ranken die ersten zarten Blättchen trieben, saß seine Tochter und neben ihr – der vermißte Kollege, mit dessen Schroffheit und einsiedlerischen Neigungen er sich eben noch beschäftigt hatte. Augenblicklich war aber nichts von diesen beiden Eigenschaften an dem Herrn Professor wahrzunehmen, er hatte den Arm um das junge Mädchen gelegt und küßte wieder und immer wieder das rosige Gesichtchen, und Dora ließ sich das ganz ruhig gefallen. Beide waren so vertieft in das Küssen und Geküßtwerden, daß sie gar nicht den Nahenden bemerkten, der starr und regungslos dastand wie eine Salzsäule und erst nach einigen Minuten die Sprache zurückgewann.

„Aber Dora! – Herr Kollege!“

Die Gerufenen sprangen auf, Dora stand da wie mit Gluth übergossen, Normann jedoch stürzte auf den Ueberraschten los und überfiel ihn mit einer stürmischen Umarmung.

„Kollege! Schwiegervater! Da bin ich und stelle mich als Schwiegersohn vor!“

Wäre ihm ein Schwiegersohn aus den Wolken und geradeswegs vor die Füße gefallen, Herwig hätte nicht erstaunter und erschrockener aussehen können als bei dieser Ankündigung, und als nun auch Dora herbeiflog und ihren Kopf an seiner Schulter barg, rief er ganz fassungslos:

Aber Kind, ums Himmelswillen, was soll das heißen? Hast Du wirklich –“

„Ja, sie will mich, Kollege!“ unterbrach ihn Normann triumphierend. „Sie will mich wirklich und wahrhaftig! Sie begreifen das nicht? Ich auch nicht, aber ich nehme sie. O, ich nehme sie unter allen Umständen!“

„Ja, Papa, Du wirst uns wohl Deinen Segen geben müssen,“ sagte Dora leise, mit einem glücklichen Lächeln. „Julius kam zu Fuß vom Bahnhof und sah mich im Garten, und da – da ist er zuerst zu mir gekommen.“

Herwig war vorläufig noch zu bestürzt, um den segnenden Vater zu spielen. Er hätte eher des Himmels Einfall erwartet als diese Verlobung. Seine heitere, übermüthige Dora und dieser herbe, unzugängliche Mann, der jeder Lebensfreude abhold war, das ging doch nun und nimmermehr! Normann mochte ihm diese Bedenken wohl vom Gesichte ablesen, denn er sagte mit einem Spott, der aber nichts Herbes mehr hatte, sondern sehr gutmüthig klang:

„Kollege, Sie sehen aus, als möchten Sie vor Ihrem künftigen Schwiegersohn am liebsten drei Kreuze schlagen. Eigentlich verdenke ich Ihnen das gar nicht, denn ich bin ein verzweifelt unliebenswürdiger Geselle, doch das giebt sich, glauben Sie mir, das giebt sich, sobald Dora meine Frau ist. Den Anfang zum Menschlichwerden habe ich schon gemacht – sehen Sie mich nur an!“

Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, eine Bewegung, mit der er jetzt merkwürdig schnell fertig wurde, denn die „Urwaldsmähne“ war verschwunden. Ihre Bändigung war nur möglich gewesen, wenn man täglich eine Flasche Haaröl dazu verbrauchte, und da der Professor keine Lust verspürte, zeitlebens als „Oelgötze“ umherzulaufen, so hatte er den geliebten Hauptschmuck zum Opfer gebracht und sah nun mit dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar und dem förmlich verklärten Ausdruck in den einst so grimmigen Zügen um zehn Jahre jünger aus.

„Ja, der Anfang ist vielversprechend,“ versicherte Dora schelmisch, „aber in den nächsten Wochen kommt die Feuerprobe, Herr Professor, da müssen wir Brautbesuche machen bei der halben Stadt.“

Das eben noch so strahlende Gesicht Normanns wurde sehr lang bei dieser Ankündigung, und in kleinlautem Tone wiederholte er:

„Brautbesuche? Muß das sein, Dora?“

„Ja, Julius, es muß sein,“ erklärte die junge Dame mit der ganzen Entschiedenheit einer Braut, die entschlossen ist, sich in ihrer künftigen Ehe das Scepter nicht entwinden zu lassen. Der künftige Ehegemahl faltete denn auch ergebungsvoll die Hände und sagte wehmüthig:

„Wenn es durchaus nicht anders geht – in Gottes Namen!“

Das war nun allerdings eine großartige Selbstüberwindung, die auch ihren Eindruck auf Herwig nicht verfehlte. Er blickte in die bittenden Augen seines Kindes, das sich jetzt an ihn schmiegte und leise mahnte: „Papa, wir warten noch immer auf Deine Einwilligung!“ Er breitete die Arme aus und rief:

„Nun, da wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als auch zu sagen: Wenn es durchaus nicht anders geht – in Gottes Namen!“ –

„Wo steckt denn aber der Junge, der Friedel?“ rief Normann, nachdem die allgemeine Umarmung vorüber war. „Ich habe ihn vorhin fortgeschickt, weil er gänzlich überflüssig war bei meinem Gespräch mit Dora. Friedel, wo steckst Du?“

Der Gerufene kam hinter den Rosengebüschen am anderen Ende des Gartens hervor. Er hatte Dora bereits begrüßt, ehe er seiner gänzlichen Ueberflüssigkeit wegen fortgeschickt wurde, und näherte sich nun dem Professor Herwig, der ihn verwundert anblickte. Allerdings hatte Friedel die ihm so streng anbefohlene Entwicklung erst zur Hälfte durchgemacht. Dick war er nicht geworden, aber rothbackig, ein schlanker hübscher Bube, aus dessen Blauaugen jetzt auch die frohe Jugendlust leuchtete wie bei seinen Altersgenossen. Das arme verkümmerte Pflänzchen hatte sich überraschend schnell in ein blühendes Menschenkind verwandelt. Was der Aufenthalt in Schlehdorf begonnen, das hatten die letzten sechs Monate vollendet, der Knabe war augenscheinlich völlig gesund.

„Komm zu mir, Friedel! ich habe Dich ja noch gar nicht recht gesprochen,“ sagte Dora. „Nun, wie war es im Winter? Hast Du brav Stiefel geputzt?“

Sie warf einen neckischen Blick zu ihrem Bräutigam hinüber, der die Frage nicht zu hören schien.

„Gezeichnet hab’ ich!“ rief Friedel mit aufleuchtenden Augen. „Der Herr Professor hat einen andern Stiefelputzer angenommen!“

„Der Arzt behauptete ja, daß der Junge einstweilen noch geschont werden müsse,“ brummte Normann in sichtlicher Verlegenheit, „und da hat er natürlich gekritzelt vom Morgen bis zum Abend. Aber wart’ nur, jetzt bist Du gesund, nun nimmt das Herrenleben ein Ende und das Kritzeln auch – und übrigens kannst Du jetzt Fräulein Dora und mir Glück wünschen, wir sind ein Brautpaar und werden uns heirathen.“

„Ja – das hab’ ich schon in Schlehdorf gewußt!“ versetzte Friedel mit Seelenruhe.

„Nun, da hast Du mehr gewußt als wir selber,“ scherzte Dora, aber ihr Schützling sah mit pfiffigem Lächeln zu ihr auf.

„Ich hab’s auch erst gemerkt, als das Fräulein fort war und der Herr Professor nichts that, als den Schleier anschauen. Den Schleier hab’ ich aber gestohlen und wurde so arg gescholten darum, und dann nahm ihn mir der Herr Professor fort und behielt ihn selbst und hat ihn angeschaut morgens und abends und mittags auch noch, und der Sepp –“

„Du verwünschter Junge, willst Du wohl schweigen!“ fuhr Normann auf und wollte ihn beim Schopf nehmen, allein seine Braut trat dazwischen.

„Mein Schleier, den ich bei der Abreise vermißte? Und was hat denn der Sepp damit zu thun?“

„Untersteh’ Dich und sage ein Wort!“ drohte der Professor, während Dora lachend den Knaben ermuthigte:

„Erzähle nur, Friedel! Es geschieht Dir nichts.“

Friedel schien ein untrügliches Ahnungsvermögen zu besitzen, er wußte bereits ganz genau, wem er zu gehorchen hatte, und hielt es mit der stärkeren Partei. Unter ihrem Schutz fing er vergnüglich an zu schwatzen und erzählte die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende.

„Aber Kollege, Kollege!“ sagte Herwig, halb lächelnd, halb vorwurfsvoll. „Ein Mann der Wissenschaft und Aberglaube! Wie reimt sich das?“

„Pah, die Liebe ist auch ungereimt,“ erklärte Normann und sah seine Braut an, die ihn auslachte, so hell, so lustig und übermüthig wie einst in den Bergen.

[836] „Und da verlangt dieser Herr Professor, daß man Respekt haben soll vor seinem ‚höheren Standpunkte‘! Julius, schämst Du Dich denn gar nicht vor Papa und mir?“

Der Herr Professor war viel zu glücklich, um sich zu schämen. Er hatte sich auf seinem höheren Standpunkte nicht halb so wohl befunden wie bei diesem Herabsinken zum schmählichsten Aberglauben, und was hatte es denn überhaupt mit dem Aberglauben zu thun, wenn man den Schleier seiner Dame bei sich trug und bisweilen anschaute? Das war Herzenssache. Daß aber der dumme Junge, der Friedel, plaudern mußte! Normann hatte große Lust, ihn dafür noch nachträglich beim Kragen zu nehmen, als er jedoch dies helle, herzerfrischende Lachen hörte, das er so lange hatte entbehren müssen, gab er die Rachegedanken auf und – lachte mit.

Der alte Gärtner erschien jetzt, um zu melden, daß das Gepäck des Herrn Professors vom Bahnhofe gekommen sei. Herwig ging voran ins Haus, um das Nöthige anzuordnen, und das Brautpaar folgte langsam. Da blieb Dora auf einmal stehen und wies auf einen Rosenstrauch, der, all seinen Gefährten voraus, schon über und über voll frischer, zartgrüner Triebe war.

„Das ist mein Pflegling vom vergangenen Jahre! Sieh nur, wie kräftig er treibt, im Sommer bringt er sicher wieder eine Fülle von Rosen. – Und was den Friedel betrifft – den behalten wir doch im Hause?“

„Damit er dort auch überall herumspioniert wie in Schlehdorf – ich werde mich hüten!“ sagte Normann. „Morgen gehe ich mit ihm zu Deinem Lehrer, der ihn wohl auch wieder für ein Wunderkind erklären wird wie all die Herren Künstler, die ich daheim um Rath fragte. Sie sind ja einig über dies sogenannte großartige Talent des Jungen. Er kommt in die Zeichenschule und später geht er zur Akademie, und wenn er in zehn Jahren nicht ein großer Mann ist, dann drehe ich ihm noch nachträglich den Hals um!“

Friedel vernahm weder diese Entscheidung über seine Zukunft noch die fürchterliche Drohung, die sich daran knüpfte. Er war mit dem Professor Herwig vorausgegangen, und die Geschichte mit dem Schleier ging ihm noch immer im Kopfe herum. Er hatte doch den Schleier gestohlen und der Herr Professor gewann die Braut, das paßte eigentlich gar nicht und wollte dem Friedel auch durchaus nicht einleuchten. Aber er tröstete sich schließlich mit der Ueberzeugung, daß er trotz alledem die Hauptperson bei der ganzen Sache gewesen war, denn – wie der alte Sepp so nachdrücklich betonte – „gestohl’n muß es halt sein!“


Blätter und Blüthen.

Bierverladung auf dem Münchener Centralbahnhof. (Zu dem Bilde S. 833.) Es ist kaum eine allzu kühne Behauptung, wenn man sagt, man kenne die weißen Bierwagen überall, wohin Eisenbahnschienen führen, und überall begrüßt man sie als die „Bringer der Lust“. In der Studentenwelt feierte man lange schon „Bayerisch Bier und Leberwurst“ im Liede, und jetzt trinkt der Australier ebensogut wie der Bürger in San Francisko oder in Petersburg sein Glas „Münchener“, vom Berliner, Hamburger etc. ganz abgesehen, die auf das „Echte“ bald mehr geben als der Vollblut-Münchener selbst. Aus dem Münchener Bierversand ist ein Weltexport geworden, dessen Ausdehnung ein im Laderaum des Münchener Centralbahnhofs verbrachter Tag einigermaßen ahnen läßt. Genau 661 weiße sogenannte „Bierspecialwaggons“ sind Privateigenthum der Münchener Braufirmen, davon besitzt die größte Exportbrauerei, „Zum Spaten“, allein 140 Wagen, deren jeweilige Ladung auf einem dieser Brauerei zur Verfügung gestellten eigenen Ladeplatz im Centralbahnhof erfolgt. Die Herstellung eines Bierspecialwaggons mit Isolierwänden zum Schutz gegen Hitze und Kälte und mit dem Eiskühlapparat kostet 4200–4500 Mark. Ein solcher Wagen faßt dann bei 5000 Kilogramm Tragkraft 32, bei 10 000 Kilogramm Tragfähigkeit 61 bis 65 Hektoliter Bier.

Als sich die Brauindustrie Münchens hinsichtlich der Ausfuhr noch in der Entwicklung befand, war die Ablassung von sogenannten Bierzügen zeitlich auf einige Tage in der Woche beschränkt, und dabei mußte eine bestimmte Wagenzahl seitens der Brauereien eingestellt werden. In kurzer Zeit jedoch nahm der Bierversand eine gewaltige Ausdehnung an und es ist heute durchaus keine Seltenheit mehr, daß eine einzige Brauerei 25–30 Wagen mit 1800–2000 Hektolitern (gleich 3–4000 Fässern) an einem Tage verladen läßt. So gehen jetzt die Bierzüge täglich auf drei Linien ab, und zwar des Abends, je 30–35 Wagen auf der Strecke Aschaffenburg für die Rheinlande, ferner über Gemünden nach Mitteldeutschland und Hannover, Bremen und Hamburg und über Probstzella nach Berlin, Sachsen und Schlesien. Nach dem Osten, Westen und Süden dagegen werden eigene Bierzüge nicht abgelassen, sondern die Bierwagen in Güterzüge, nach Möglichkeit auch behufs der nothwendigen raschen Beförderung in Postzüge eingestellt.

Ein Versandtag bringt für Brauerei und Bahnverwaltung Arbeit in Hülle und Fülle. Früh gegen 3 Uhr beginnt in der Brauerei die Arbeit der Bierfüllung in frisch gepichte Fässer. Auf dem Bahnhofe harren die bereitgestellten Wagen der Beladung; die allmählich mit zum Wahrzeichen Münchens gewordenen Rollwagen, mit Hengsten schwersten Schlages bespannt, rasseln dem Bahnhof zu, eigene Beamte bringen die Scheine zum Packmeister der Bahn und zu den dort thätigen Zollbeamten. Hier wird alles vermerkt, die Ladungen werden behördlich bestätigt und die Amtsscheine behufs Buchung der ausgeführten Biermengen (Rückvergütung des Malzaufschlages) an die staatliche Zollbehörde und an das städtische Anschlagsamt geleitet. Sind die „Weißen“ mit dem beliebten Gerstensaft gefüllt, geschlossen und plombiert, dann beginnt die Zusammenstellung des Zugs von Ladeplatz zu Ladeplatz durch das Rangierpersonal der Staatsbahn, bis endlich nach heißer Tagesmühe der fertige Bierzug des Abends München verlassen kann. Jeder Tag aber bringt zugleich zurückkehrende weiße Wagen mit Bergen von leeren Fässern, die sofort umgeladen und der Reinigung zugeführt werden müssen. Das ist ein stetiges Gehen und Kommen, sodaß der Bahnhof immer mit weißen Wagen einem Hasenrücken gleich „gespickt“ erscheint, worüber die einfahrenden Fremden sich nicht genug wundern können. Man darf sagen, es gehen täglich beiläufig 100–120 Bierwagen mit 6–7000 Hektolitern Inhalt aus der bayerischen Hauptstadt, eine erkleckliche Menge des edlen Getränks zur Befriedigung ausländischen Durstes; je mehr es der warmen Jahreszeit zugeht, desto größer wird auch der Versand. Wenn sich dann noch durstige Deutsche irgendwo kongreßlich versammeln, dann rollen gleich zwei und drei Züge hintereinander weißglänzend durch die Nacht, manchmal einer einzigen Brauerei gehörend, eine gefesselte Bierüberschwemmung auf Schienen. So viel aber auch hinauswandern mag in die weite Welt bis über die völkerverbindenden Oceane, es bleibt uns daheim in München gottlob doch immer der nöthige Tropfen, der noch ’mal so gut schmeckt im Bewußtsein, daß der fremde Biertrinker in der Ferne bei jedem Schluck vom „Echten“ der Stadt gedenkt, die solche Flüssigkeit erzeugt. Arthur Achleitner.     

Vor dem Tanz. (Zu dem Bilde S. 824 und 825.) O. Piltz versetzt uns mit seinem lebensvollen Bilde „Vor dem Tanz“ in den Saal eines wendischen Dorfkruges, nicht übermäßig weit vor den Thoren Berlins; denn aus der deutschen Reichshauptstadt stammt laut Aushang das Gambrinusbräu, welches dem vom Tanze erhitzten wendischen Jungvolk Kühlung und Labe bringen soll. – Zwölf macht freilich stets ein Dutzend, aber selten ein so liebliches, wie diese Zwölfzahl wendischer Mädchengestalten, die uns der Künstler aufs Papier gezaubert hat. Während die Dorfburschen, wie überhaupt fast die ganze Männerwelt, die alte heimische Tracht längst mit der modischen vertauscht haben, hält das schwächere Geschlecht mit weiblicher Zähigkeit an der hergebrachten kleidsamen Wendentracht fest. Mit Wohlbehagen mustern die Dorfburschen ihre anmuthigen Schönen, und sobald das Wirthstöchterlein den glättenden Stearin auf den blitzblanken Saalboden gestreut hat, werden sie eine der schmucken Dirnen um die andere nach den lustigen Weisen der Dorfkapelle im Kreise schwingen. W. M.-M. 

Die Reihe der Mozartgedenktage, welche uns das nun zu Ende gehende Jahr brachte, schließt am 5. Dezember mit dem wehmüthigsten von allen. An diesem Tage sind es hundert Jahre, seit der gottbegnadete Meister zu Wien die Augen schloß, noch im Sterben umwogt von den wunderbaren Klängen seiner letzten, nicht mehr vollendeten Schöpfung, des Requiems. Wie Mozart starb, das wissen unsere Leser aus den Schilderungen, welche die „Gartenlaube“ in den Nummern 23 und 39 dieses Jahrgangs veröffentlicht hat. Es bleibt uns heute nur die Pflicht, am hundertjährigen Todestage das Gedächtniß an den großen Meister pietätvoll zu erneuern, welcher der Welt in seinen unsterblichen Tonwerken ein so wunderbares Erbe hinterlassen hat.




Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

A. M. in B. Auch die Frage des Haarschwunds und des frühzeitigen Erbleichens gehört vor das Forum des Arztes!

Luise in L. Das Gedicht, welches mit den Worten beginnt: „Willst Du Dein Herz mir schenken“ hat Joh. Seb. Bach komponiert und wahrscheinlich auch gedichtet. – Eine gute Auswahl nicht allzubekannter Volkslieder bietet Ihnen „Silcher, Ausländische Volkslieder“, die Sie durch jede Musikalienhandlung beziehen können.



Inhalt: [Inhaltsverzeichnis dieses Heft, derzeit nicht transkribiert.]


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaction von Adolf Kröner. – Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. – Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. So nennt man im Sächsischen Erzgebirge die Klöppelstuben, in welchen die jungen Leute sich an Winterabenden gesellig zusammenfinden.