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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[389]

No. 24   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


In Germainens Zimmer sah es unwirthlich aus. Auf dem Tisch brannte die Lampe, und gegen die blanken Fensterscheiben schlugen die regennassen Fichtenzweige, aus dem Abenddunkel draußen hervortauchend in den Lichtkreis und wieder verschwindend.

„Bis auf mein Handtäschchen habe ich alles fertig,“ sagte sie, eifrig an demselben kramend.

„Was ist denn das?“ fragte Alfred, auf ein Packet von Briefen deutend, die, mit einem Seidenband umwickelt, auf dem Tisch am Lampenfuß lagen.

„Deines Vaters Briefe, die Du noch immer nicht gelesen hast. Mama führte sie stets im Handtäschchen mit, weil ihr theuerster Besitz ihr so am sichersten verwahrt schien. Deshalb mache ich es wie sie.“

„Hast Du sie gelesen?“

„Nein, noch nicht. Wie mochte ich das ohne Dich?“ fragte sie fast vorwurfsvoll.

„Liebes Kind,“ sagte er kurz entschlossen, „alte Briefschaften liest man am besten überhaupt nicht. Lassen wir begraben sein, was die, die auch schon begraben sind, gelitten und gefühlt haben. Es ist mir wie eine ganz unerträgliche Indiskretion, in meines eigenen Vaters Liebesroman umherzustöbern. Darum, wenn Du mir einen Gefallen erweisen willst, verbrennen wir diese Briefe hier noch zusammen.“

„Aber,“ sprach Germaine ängstlich, „ich handle damit einem Wunsche Mamas entgegen. Daß Du diese Briefe lesen solltest, war ihr Wille, und hundertmal hat sie davon gesprochen. Vielleicht sind doch wichtige Nachrichten für uns darin.“

Alfred war voll Mißbehagen. Er setzte sich widerwillig auf das Sofa, zog Lampe und Briefpacket heran und zerrte Briefe auseinander, die alle ohne Couvert waren.

„Richtig,“ sagte er, als er den ersten überflogen, den er aufs Gerathewohl herausgenommen hatte, „innigste Liebesworte, Klagen über die Unmöglichkeit, vor der Welt rechtmäßig vereint zu sein, Zorn auf Deinen Vater, welcher Deiner Mutter die Freiheit nicht geben will. – Mir ist, als sollte ich meinen Vater um Vergebung bitten, daß ich das lese.“

Er nahm einen zweiten. Germaine setzte sich zu ihm.

„Fast derselbe Inhalt. Doch ein viel späteres Datum, die Briefe liegen Jahre auseinander. Deine Mutter scheint demnach aus der ganzen Korrespondenz nur einige aufbewahrt zu haben, oder sie konnten sich selten schreiben. Hier ist von Dir die Rede, Du bist krank gewesen, mein Vater schreibt, wie er um Dich und Deine Mutter gezittert hat – – –“

Alfred verstummte. Die Worte der innigsten Mitsorge, die sein Vater dem kranken Kinde widmete, berührten ihn ganz seltsam. Er las sie wieder und wieder, und das sonderbare Gefühl wuchs dabei in ihm so, daß es ihm fast die Kehle zuschnürte.

Ein anderer Brief. Da stand „unsere süße Germaine“. Alfreds Finger, die das Blatt hielten, zitterten. An seine Schulter gelehnt, las sie, die hier so genannt war, eifrig mit.

Es war todtenstill im Zimmer. Wenn die Tannenzweige gegen das Fenster schlugen, schraken die beiden Lesenden heftig zusammen. Die Lampe brannte gleichmäßig, nur kam aus ihrem Behälter zuweilen ein leises quellendes Geräusch.


Das Flensburger Denkmal für die am 9. April 1848 bei Bau gefallenen schleswig-holsteinischen Jäger, Turner und Studenten.
Nach einer Zeichnung von Hans Hampke.

[390] „Hier,“ sagte Germaine endlich flüsternd, „hier der Brief, von dem Mama für Dich ein Stück abgeschnitten. Hast Du es? Wir wollen es daran halten.“

Alfred tastete an seiner Brust herum. Er konnte vor Erregung die Brieftasche nicht finden und, als er sie endlich hatte, darin nicht das vergilbte Brieffragment.

Germaine zog es zwischen anderen Papieren hervor. Sie legte es anpassend auf die Tischplatte zu dem entfalteten Brief.

„Wenn Du, meine theure Freundin, eines Tages eines männlichen Rathes bedürfen solltest, wende Dich an meinen Sohn. Er wird Dir und Deiner Tochter beistehen, wenn Du ihn in meinem Namen um etwas bittest. Sage ihm dann, daß ich Dich geliebt habe, aber daß unüberwindliche Hindernisse zwischen uns standen, aber sage ihm nicht,“ ……… .

So brach das Brieffragment ab, und so fuhr der Text fort, den vier brennende, starre Augen lasen und wieder lasen:

„sage ihm nicht, daß Germaine nur auf ihrem Taufschein und in den amtlichen Registern die Tochter von Heinrich Thomas ist, daß sie vor Gott mein Kind, das Kind unserer thränenvollen Liebe ist. Wenn die Stimme des Blutes sich nicht von selbst regt, wenn nicht brüderliche Neigung und schönes Vertrauen ihn von selbst erfaßt, wird es auch nicht erwachen, wenn er die Wahrheit erfährt.“

Ja, diese Stimme hatte sich wunderbar geregt und in herzlicher Geneigtheit waren ihre Seelen einander nahe gekommen. Das also war der Friedenszauber gewesen, den er in ihrer Nähe empfunden!

Seine Schwester!

Sie sahen sich an, mit großen staunenden Augen. Und das Entsetzen, das sie erst gelähmt hatte, wandelte sich plötzlich in heftige Erschütterung.

Sie fielen sich in die Arme und klammerten sich aneinander an, als nahte ihnen etwas, was sie wie eine Woge in unbekannte Tiefen ziehen wollte.

„Das also war’s, was uns zu einander zog!“ rief Alfred und sah sie wieder und wieder an, und was ihn einst so verwunderlich bekannt angemuthet – jetzt begriff er es: die Züge, die in seiner Familie erblich waren, hatten sich vereinzelt auch auf ihrem Angesichte gezeigt.

Und dann besannen sie sich, daß eine Form, eine gesetzliche Form sie vorhin zu Gatten gemacht hatte. Eine leere Form, die aber doch in dieser Stunde als ungeheuerliche Verkettung des Geschickes erscheinen mußte.

„Was nun?“ stammelte Germaine.

Alfred ging mit schweren Schritten hin und her. Sie sah ihm bangend zu.

„Wenn wir die heute vormittag geschlossene Verbindung sofort wieder lösen wollen, so kann es nur geschehen, wenn wir dem Gerichte diese Briefe aushändigen, also zwei theure Todte in ihrer Grabesruhe stören. Und dann ergiebt sich als weitere Folge, daß Du vor der Welt in die peinlichste Lage kommst, oder wir müssen auch vor der Welt den Roman unserer Eltern enthüllen. Mein Gott, wie ist das alles entsetzlich! Nein – niemals! Laß uns doch versuchen, kaltblütig nachzudenken. Was hat sich denn verändert? Was wollten wir denn voneinander? Was habe ich noch im Wagen vorhin Dir gesagt? Geschwisterlich wollten wir beisammen leben, Hand in Hand, nicht Herz am Herzen. Und das soll sich uns nun erfüllen in ganz anderer Weise noch, als wir gedacht.“

Er stieß das alles in höchster Erregung heraus. Das Ungeheuerliche in ihrer Lage, die Anforderungen, welche diese an seine Entschließungskraft stellte, wirkte beinahe betäubend auf ihn.

„Können wir,“ fuhr er fort, „können wir zum Beispiel nachher den Leuten am Bahnhof sagen: diese standesamtliche Verbindung war ein kleiner Irrthum, den wir morgen wieder rückgängig machen werden – denselben Leuten, die uns vor vier Stunden auf eben dieses Standesamt begleitet haben? Begreife es, Germaine, heute und in der nächsten Zeit müssen wir die Lüge weitertragen, die wir heute ahnungslos begannen. Und wenn wir eine Weile scheinbar verheirathet waren, dann können wir dies Band lösen, ohne das Geheimniß unserer Eltern preiszugeben. Ich weiß, da giebt es Gründe: gegenseitige unüberwindliche Abneigung, oder die eidliche Versicherung, daß die Ehe nie in Wirklichkeit bestand, sondern nur in der Form vor dem Gesetz. Es wird und muß sich dann etwas finden. Wir werden den rettenden Ausweg entdecken. Begreifst Du das, Germaine? Können wir uns auf die Gasse hinauswerfen und es allen vier Winden zuschreien, welch ein unglaubliches Spiel das Schicksal mit uns sich erlaubte? Können wir das? Tausendmal nein! Sage doch ein Wort! Sieh mich nicht so entgeistert an! Komm – jetzt hast Du ein Recht – komm an diese Brust! Weine, wenn Du kannst!“

Er breitete die Arme aus und Germaine warf sich hinein.

„Ich will nicht weinen“ sagte sie mit zitternder Stimme; „was ist denn geschehen? Es sieht nur so fürchterlich aus – morgen werden wir gefaßter darüber nachdenken. Zwischen uns hat sich gar nichts verändert – wir wollen uns fassen. Ja, es muß sich eine Form finden, den Vorgang von heute morgen ungeschehen zu machen.“

Alfred streichelte ihr sanft die Haare.

„Wie das wohlthut, Dich immer feststehen zu sehen, wenn auch der Boden unter Dir wankt!“ sagte er aufathmend.

Sie sah ihn durchdringend an.

„Und begreifst Du das Eine, Wunderbare nicht?“ fragte sie leise. „Du wolltest ein unübersteigliches Hinderniß stellen zwischen Dich und jene Frau, um die Du leidest. Da kam die wunderlichste, seltsamste Schickung, und es ist, als hätte sich dräuend ein Engel vor Dir aufgerichtet, der mit flammendem Schwert Dich zurückweist auf den rechten Weg.“

Alfred trat zurück.

„Schweige!“ sprach er hart, „von niemand, selbst von Dir nicht, will ich an sie gemahnt werden. – Und nun eile Dich! Wenn wir überhaupt noch zum Zuge kommen wollen, wird es die letzte Minute sein.“

Die unfreundliche Zurückweisung kränkte Germaine nicht. Gerade in dieser Stunde, wo jede andere zusammengebrochen wäre, richtete sie das Haupt muthig, fast freudig empor. Zum erstenmal in ihrem Leben zog etwas in ihre Seele ein von Hoffnung auf Freude und Glück. Sie war frei, sie konnte es auch vor der Welt jeden Augenblick wieder sein, und doch lebte ihr ein treuer liebevoller Beschützer, dem sie thätig ihren Dank abtragen durfte.

„Ich bin fertig,“ sagte sie, „so komm denn und laß uns klar allem entgegensehen, was an uns herantritt! Naht einem von uns das Glück, so soll das andere es ihm festhalten helfen, naht einem von uns das Unglück, so bekämpfen wir es vereint. Die Natur hat gewollt, daß wir zusammenstehen.“

Sie reichte ihm die Hand und beschämt erwiderte er ihren festen Druck.




11.

Unter vielen Schwierigkeiten hatte Marbod Steinweber sich in seinem neuen Wirkungskreis, in seinem neuen Aufenthaltsort zurechtgefunden. Er war ein Mensch, der sich langsam anschloß, schwer offenbarte, erst nach vielen Ueberlegungen handelte und die Tiefe und Stärke seiner Empfindungen nicht mit Absicht, aber aus angeborener Zurückhaltung verbarg. Er brauchte deshalb zwischen sich und der Welt ein Vermittelndes. Alfred wäre ihm das hier geworden, wie er es ihm auch schon früher gewesen war. Die unruhige Lebhaftigkeit des Freundes zwang Marbod, zu sprechen, wo er sonst geschwiegen hätte; von seinen zahllosen Bekannten drang der eine oder andere auch in Marbods Leben und verhinderte ihn, etwas einsiedlerischen Neigungen zu folgen. Durch Alfreds liebenswürdige Gabe, andere aus sich selbst herauszulocken, lernte Marbod manchen schneller kennen und besser würdigen, an dem er allein achtlos vorübergegangen wäre.

So fehlte der Freund Marbod jetzt überall. Während die Ravenswanns noch in Berlin weilten, war es ihm eine Art Wohlthat gewesen, dort wenigstens von Alfred sprechen zu hören, denn eine ganz seltene Anhänglichkeit, eine wahrhafte Freundschaft band ihn an diesen von ihm selbst so verschiedenen Mann.

Zwar verkehrte er viel und nicht ungern mit Doktor Moritz Bendel, sah auch dann und wann Männer aus litterarischen und politischen Kreisen, die Bendel ihm vorgestellt hatte, aber Alfred vermißte er so sehr, daß er sich selbst einer kindischen Schwäche zieh.

Vielleicht waren seine Gedanken auch so stark mit dem Freunde beschäftigt, seit er jene Briefe bekommen hatte, die ihm von dem jähen Ende des heißerkämpften Glückes meldeten. Immer wieder dachte er diesen Konflikt durch, mit dem warm theilnehmenden [391] Herzen des Freundes, mit dem seelisch zergliedernden Verstand des Schriftstellers.

Er begriff alles und nichts. Wenn er sich auf die tiefstgründige Art klar gemacht hatte, daß hier zwei gleichartige, aus genau denselben Elementen zusammengesetzte Wesen sich unwiderstehlich anzögen und doch, so wie sie einander nahe kamen, feindlich aneinanderstießen, stand er doch wieder vor der Räthselfrage, ob sie imstande sein würden, ohne einander zu leben.

Er fürchtete das Schlimmste für den Freund, wenn es nicht gelingen sollte, ihn mit Gerda zu versöhnen. Aber wenn er sich Gerda und Alfred vermählt dachte, zitterte sein Herz vor Angst.

Und doch, das Kind, der Knabe, den beide vergötterten, sollte er nicht der Zauberer sein können, der ihre Herzen friedlich und fügsam machte?

Zahllose Male war er in Versuchung, wieder an Gerda zu schreiben; aber er besann sich, daß, wenn die Freundschaft zwischen ihm und Alfred auch grenzenlos sei, es doch für ihn dieser Frau gegenüber Grenzen gab, jenseits deren die Unbescheidenheit oder Zudringlichkeit anfing.

Von Tag zu Tag wartete er auf Nachrichten von Alfred. Aber dieser schwieg, und Marbod wußte, daß auch eine Bitte ihn nicht zum Reden bringen würde, wenn er schweigen wollte. An den tollen Einfall Alfreds, sich aus dieser Verzweiflungsstimmung heraus in den vermeintlichen „Friedenshafen“ einer Ehe zu stürzen, dachte er gar nicht mehr.

Der ganze Monat September verging, und Marbod suchte sich durch Arbeit über die von Sorgengrübeleien erstickte Einsamkeit hinweg zu helfen. Viele Tagesstunden nahm seine Thätigkeit als Rechtskonsulent der Versicherungsgesellschaft in Anspruch. Den Abend brachte er zumeist am Schreibtisch zu, wo sich ihm eine Novelle gestaltete, in welcher er, nicht freier Wahl, sondern unabweisbarem seelischen Zwang folgend, wie er den berufenen Menschenschilderer zuweilen regiert, die feindliche Liebe Gerdas und Alfreds darstellte. Und wenn er ihnen auch ein fremdes Kleid anzog, sie waren es doch, ganz sie. Während er sich schaffend in ihre Kämpfe vertiefte, erwuchsen ihm ungeheure Schwierigkeiten, denn auch sein prophetisches Dichterauge vermochte nicht voraus zu erkennen, welche Lösung wahr, natürlich oder wenigstens glaubhaft sei. Die Arbeit wurde ihm schließlich zur Qual. Aber ein seltsamer Gedanke, der ihm verheißungsvoll in den Kopf gekommen, ließ ihn sie dennoch fortführen. Er wollte später Gerda das Manuskript senden, ohne ein[WS 1] Wort dabei. Sie würde lesen und vielleicht, in einem Spiegel das Schreckbild ihrer vulkanischen Naturen erkennend, versuchen, ihn und sich zu bemeistern.

Gerade als Marbod vor der Entscheidung stand, ob er die Nothwendigkeit einer glücklichen oder tragischen Lösung darstellen sollte, kam ein Brief von Alfred.

Marbod wog das langerwartete Couvert in der Hand, sah, daß es nicht aus Berlin, sondern aus Frankfurt am Main kam und am zweiten Oktober abgestempelt war. Und dann las er mit einer wahren Herzensbeklemmung:

„Seit Wochen, mein alter Junge, habe ich geschwiegen. Ich habe das Entscheidendste gethan, ohne Deinen Zuspruch zu erbitten, so, geradeaus gesagt, ohne ihn hören zu wollen. Denn ich war in einer Stimmung, wo man noch demjenigen zürnt, der es sich etwa beikommen läßt, einem in die Arme zu fallen. Ich aber wollte und mußte unaufgehalten dem Ziele zurennen, an welchem ich Herzensfrieden zu finden hoffe. Zwischen mir und ihr, die Du kennst, muß ein Abgrund sich aufthun.

Wenn Du diese Zeilen liest, ist es geschehen, oder nicht mehr zu verhindern. ich verheirathe mich am vierten Oktober. Du weißt, die Tochter jener Frau, die mein Vater geliebt hat. Wenn Du Deine aufsteigenden Bedenklichkeiten mit einer Sentimentalität beschwichtigen kannst, sage Dir, daß der Segen theurer Geister uns umschwebt.

Es ist vielleicht eine krankhafte Laune, daß mich der Gedanke an weiße Brautgewänder, Schleier, Kranz und Orgelton ganz elend macht. Jedenfalls in Baden soll es nicht geschehen. Aber um ans-tändig reisen zu können, wie Mietze Ravenswann sagen würde, lassen wir uns hier civiliter verbinden. Die Kirchenweihe – für ein Mädchengemüth ist und bleibt das nun einmal die eigentliche Trauung, und nicht der Mund des Standesbeamten, sondern der Priestermund spricht für sie das rechtskräftig nachwirkende Wort – die Kirchenweihe also soll unser Bund in Berlin haben unter Deiner Zeugenschaft. Besorge alles. Kirche, Prediger, Zeugen. Der eine bist Du. Zum zweiten hätte ich mit Absicht gern jemand, der ihrem Kreise angehört, also vielleicht Prasch. Und dann gehe zu meiner Frau Wirthin und vermelde ihr, daß meine alte Wohnung nicht mehr genüge, ich wolle zwei Zimmer dazu haben. Ist bei ihr nichts frei, so miethe was anderes anständig Möbliertes. Vier Zimmer und ein Mädchenzimmer sind nöthig.

Wir kommen am fünften Oktober mittags zwei Uhr an und erwarten Dich auf dem Bahnhof Friedrichstraße.

Glaube mit, nun werde ich ruhig.
  Dein Alfred.“


Mit einer immer wachsenden Bekümmerniß las Marbod diesen Brief. Zuerst fand er ihn frivol, aber das war der Eindruck, der mit Sekundenschnelle kam und ging. Er kannte den Freund und wußte, daß ihm leichte Worte von bitter zuckenden Lippen gehen konnten.

Die oberflächliche Art der Anordnungen für eine Kirchentrauung erweckten in Marbod sogleich den Vorsatz, nichts zu thun, denn er sagte sich, das neue Ehepaar könne sich das selbst bestellen, wie die junge Frau es am liebsten haben wollte.

An dieser jungen Frau hafteten seine Gedanken am längsten. Wie hatte ein Mädchen von Gemüth und Urtheilsfähigkeit in eine so überstürzte Ehe willigen können, noch dazu mit einem Manne, der sie nicht liebte und ihr gewiß auch keine Liebe vorgeheuchelt hatte! Denn dafür kannte er Alfred genau: weder mit Blicken noch mit Worten konnte er jemand etwas vortäuschen und am wenigsten einem Weibe Liebe.

Aber es war doch sehr leicht denkbar, daß sie ihn liebte – galt er doch als der „Unwiderstehliche“, und hatte Marbod es doch unzähligemal angesehen, wie oft, und wie oft unerwünscht und ungesucht, sein Freund Erfolge hatte. Vielleicht liebte sie Alfred und hoffte, seine Liebe zu erringen.

Oder aber, sie befand sich in hilflosester Lebenslage und wollte nur versorgt sein.

In jedem Falle: welch’ ein seltsamer erschreckender Ehebund!

Marbod fühlte, daß seine Beklemmung sich allmählich in tiefste Traurigkeit umwandelte. Er begriff, daß er durch diese Heirath den Freund ganz verlieren könnte, und der Gedanke an diesen Verlust war ihm so schmerzlich, als sollte ihm mit einem Federstrich die Erinnerung an viele sonnenhelle Jugendjahre ausgelöscht werden.

Die Gründe zu diesem Verlust konnten doppelte sein: er sah der Frau mit dem stärksten und durch die Umstände, unter denen sie Alfreds Gattin wurde, wohl gerechtfertigten Vorurtheil entgegen, und es konnte sein, daß dieses Vorurtheil sich bestätigte und seine Ehrlichkeit ihm dann verbot, weiter mit Alfred zu verkehren. Oder aber, die junge Frau konnte, eben in der Nothwendigkeit, sich Alfreds Liebe erst erobern zu müssen, eifersüchtig auf alle und alles sein, was den Gatten an frühere Zeiten gemahnte, und dahin streben, ihn – Marbod – von dem Freunde zu trennen.

Es bedurfte einer gewissen Willensanstrengung, daß er sich allen Grübeleien entriß, die er selbst als nutzlos erkannte. Die Thatsachen, mit denen es zu rechnen galt, konnten ganz andere sein, als er sie sich vorstellte.

Er beschloß, an diesem Abend nicht zu arbeiten, sondern im Café Kaiserhof Bekannte aufzusuchen. Zu seinem Mißgeschick war der runde Tisch in der Tiefe des nach dem Ziethenplatze zu belegenen Saales noch ganz leer, obgleich es bald zehn Uhr abends war und gerade sein Kreis sich hier schon früher zusammenfand.

Er fragte den Kellner und erhielt die Antwort, es sei eine Premiere im Schauspielhaus.

Marbod vertiefte sich in die Lektüre von gleichgültigen Zeitungen. Rings um ihn schwirrte das gedämpfte Geräusch des Kaffehauslebens. Dominosteine klapperten, Sprechen und Lachen, das Räderrollen und die dumpfen Tritte der Pferdehufe auf dem glatten Makadam draußen, das Aneinanderprallen von Billardkugeln, das vom andern Ende des Cafés manchmal hertönte, das Rücken von Stühlen und Knistern von Zeitungen – das alles gab zusammen ein endloses anheimelndes Geräusch. Der Raum war von bläulichem Cigarrenrauch leicht durchwölkt und die elektrischen Lämpchen hingen gleich Tropfen in dem Qualm. Die hohen Fenster waren dick beschlagen, und im Gegensatz zur Herbstkühle der Nacht war es hier sehr warm. Die Gemüthlichkeit des Kaffeehauses war behaglich ausgebreitet; Marbod, der sie zuweilen im Gegensatz zu seiner Junggeselleneinsamkeit sehr angenehm empfand, hatte heute keinen Sinn dafür.

[392]

Eine Pfingstfahrt nach Rügen.
Nach einer Skizze von Willy Stöwer.

[393] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [394] Immer eilten seine Gedanken zu dem unglückverheißenden Ehebund des Freundes. Unwillkürlich verglich er sich mit ihm. Er gestand sich, daß er niemals, in keiner Lage des Lebens sich hinreißen lassen könnte, so blind, so absichtlich blind die folgenschwersten Dinge zu unternehme. Und nun gar eine Heirath!

Vor ihm erstand das Bild jenes blonden schönen Mädchens, welches er vor drei Monaten in Schwalbach gesehen hatte und welches immer wieder in sein Gedächtniß zurückkehrte.

Aus Frankreich heimkehrend, hatte er damals seine verschiedenen Verwandten aufgesucht und, während die Vorverhandlungen wegen seiner jetzigen Stellung liefen, sich bald da, bald dort in Mitteldeutschland aufgehalten, die Geschwister seiner verstorbenen Mutter gesehen, in Frankfurt seine einzige dort verheirathete Schwester besucht und diese nach Schwalbach zum Kurgebrauch gebracht.

Dort hatte er einige Tage „aus der Ferne“ ein junges Mädchen beobachtet, das eine kranke Mutter hingebend pflegte. Das heißt, die „Ferne“ war eigentlich die Nähe eines Nachbarbalkons gewesen. Seine Schwester, selbst entzückt von der ersichtlichen Geduld, Ergebung und immer gleichen Freundlichkeit der schönen Blondine, hatte es verstanden, sich mit ihr bekannt zu machen. Sie bemerkte zwar, daß die kranke Dame und deren vielbeschäftigte Tochter keine Zeit und Neigung zu Badebekanntschaften hatteb, aber ihre Vorliebe machte sie etwas zudringlich, sie redete die Damen immer wieder an und stellte sogar gelegentlich den Bruder vor.

Marbod wußte nicht, ob er irgend welchen Eindruck gemacht oder irgend eine Erinnerung hinterlassen hatte. Er selbst hatte erst im Lauf der vergangenen Monde erkannt, daß sich das Bild jenes Mädchens in seiner Seele festgesetzt hatte als Bild vollkommenster Weiblichkeit.

Wie oft hatte er schon vorgehabt, seine Schwester brieflich zu fragen, ob sie mit der kranken Frau Thomas oder ihrer Tochter Germaine näher bekannt geworden sei, ob sie Beziehungen unterhalten habe und den Wohnort der Damen anzugeben vermöge. Aber seine zögernde Art hatte ihn immer davon zurückkommen lasse.

Nun jedoch, durch die Gefahr, den Freund zu verlieren, fühlte er sich plötzlich von dem zwingenden Wunsch ergriffen, zu lieben und geliebt zu werden. Nicht unruhvoll, leidenschaftlich, unglücklich und maßlos wie Alfred, sondern ruhig, felsensicher und lebenbeglückend.

Er wollte schreiben, hier auf der Stelle. Eben rief er nach Papier und Tinte, als Doktor Moritz Bendel und Herr von Prasch ankamen. Der erstere, wie immer in tadelloser Eleganz gekleidet, hing seinen Ueberrock und seinen Cylinder an den nächsten Haken und warf, noch ehe er sich setzte, einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Sein schönes, höfliches Gesicht veränderte sich um keine Miene, als er Marbod die Hand reichte und sprach:

„Sieht man Sie endlich einmal, lieber Steinweber? Waren Sie im Theater? Nicht? Unglaublich! Ja, wo wollen Sie denn die Berliner Gesellschaft kennen lernen?“

Prasch, der immer irgend etwas „Merkwürdiges“ anhatte – so behauptete Bendel wenigstens – wickelte sich noch immer aus den Falten eines zu weiten genialen Havelocks und erreichte nur mit Mühe die Höhe des Kleiderrechens, um seine verfrühte Pelzmütze anzuhängen.

(Fortsetzung folgt.)




Die silbernen Wolken.

Ein Rückblick auf die Krakatoaforschung. Von C. Falkenhorst.

Wer an den Juni- und Juliabenden der letzten Jahre einige Zeit nach dem Sonnenuntergang seinen Blick auf den westlichen Himmel richtete, der konnte, wenn ihm das Glück hold war, jene seltsame Erscheinung beobachten, welche unter dem Namen der „silbernen Wolken“ oder „leuchtenden Nachtwolken“ als eine besondere Gruppe der leichten luftigen Gebilde in die meteorologische Wissenschaft eingeführt wurde. Der ungeübte Beobachter wird sie leicht mit jenen feinen Wolken verwechselt haben, die Cirrus- oder Federwolken genannt werden. Anders der Naturforscher. Er weiß, daß die Cirruswolken, wenn sie am Dämmerungshimmel erscheinen, höchstens in der ersten Viertelstunde nach dem Sonnenuntergang glänzen, dann aber dunkler aussehen als der Dämmerungskreis, in dem sie sich befinden. Wird auch dieser dunkler, so verschwinden sie im allgemeinen nicht, sie verändern nur ihr Aussehen, indem sie nun heller erscheinen als der ihnen zunächst liegende Theil des Nachthimmels. Die leuchtenden Nachtwolken strahlen aber im Augenblicke ihrer höchsten Entwickelung in einem silbernen Glanze, welcher dem Lichte des über dem Osthorizonte stehenden Mondes gleich ist, wenn die Sonne gerade untergeht. Dabei sind sie nur am Dämmerungshimmel und in dessen nächster Umgebung zu sehen; sinkt die Sonne tiefer unter den Horizont und weicht auch die Dämmerung dem dunklen Fittig der Nacht so verschwinden sie, löschen aus, bis auch ihre letzten Spuren am Horizonte erblassen.

Magisch, räthselhaft unheimlich ist das Erscheinen dieser Gebilde. Seit wann kennen wir diese silbernen Wolken, wer zaubert sie hervor, wie hoch schweben sie über unsern Häuptern? Das sind Fragen, die sich dem Forscher aufdrängen und die zum Theil auch beantwortet worden sind.

Was dort glänzt am nächtlichen Himmel in den lauen Sommernächten, das ist ein Widerschein der Sonnenstrahlen, die, für uns unsichtbar, noch die hohen Regionen 50 bis 75 Kilometer über unsern Häuptern treffen; denn so hoch schweben die silbernen Wolken und sie sind nicht immer dagewesen, sie sind eine junge Erscheinung am Himmel und eine flüchtige zugleich, denn sie leuchten schwächer und schwächer und bald werden wir sie nicht mehr sehen.

Sie werden verschwinden wie jenes „Nebelglühen“, das vor Jahren mit purpurnen Tinten unseren Himmel färbte; denn die Gelehrten behaupten, daß auch diese Wolken auf dieselbe Ursache zurückzuführen sind wie jene majestätischen Dämmerungserscheinungen, daß sie die letzten in der Atmosphäre sichtbaren Folgen des gewaltigen vulkanischen Ausbruchs auf Krakatoa[1] bilden.

Tausende werden in diesem Jahre nach den silbernen Wolken am Himmel spähen; denn man hat sogar die Amateurphotographen aufgefordert, Aufnahmen dieser Erscheinung zu veranstalten. So dürfte es auch zeitgemäß sein, einen Rückblick auf jene denkwürdige Katastrophe zu werfen, der um so lehrreicher ausfallen muß, als die Erforschung derselben nunmehr zu einem gewissen Abschluß gelangt ist.

*     *     *

An dem Eingang der Sundastraße zwischen Sumatra und Java liegen einige Inseln, von denen die größte Krakatoa war. Sie hatte einen Flächenraum von etwa 33 Quadratkilometern und war von drei Gebirgsgruppen gebildet. Die höchste Spitze derselben, der Krakatoa oder, wie die Eingeborenen ihn nennen, Pik Rakata, erhob sich als 800 Meter hohe Warte über die See und diente von jeher den Seefahrern als eine weithin sichtbare Marke. Die Insel hatte im geologischen Sinne eine gefährdete Lage. Die Verlängerungslinien der Vulkanreihen von Sumatra und Java, sowie der kleinen Eilande Poeloe Tiga, Seboekoe und Sebesi trafen alle in Krakatoa zusammen, sie stand somit auf dem Vereinigungspunkte dreier vulkanischer Spalten der Erdkruste. Verglichen mit den Vulkanriesen der Nachbarschaft, die z. B. auf Java selbst eine Höhe von 3000 bis 3700 Metern erreichen, war jedoch der Pik Rakata nur ein unbedeutender Hügel und stand still, unthätig da. Der letzte Ausbruch desselben hatte vor zwei Jahrhunderten im Jahre 1680 stattgefunden und nun deckten üppige Wälder die Höhenzüge der Insel, die nur von Zeit zu Zeit von eingeborenen Fischern besucht wurde. So herrschte auf dem Eiland tiefer stiller Friede und niemand ahnte, daß tief unter demselben dämonische Kräfte arbeiteten, um ihre Fesseln zu sprengen.

Da dampfte am 20. Mai 1883 das deutsche Kriegsschiff „Elisabeth“ an Krakatoa vorbei und von Bord desselben sah man eine ungeheure weiße Dampfsäule der Insel entsteigen, in die sich bald schwarze Rauchwolken mischten, aus denen Regen herabstürzte und Blitze niederzuckten, während Aschenstaub in weitem Umkreise

[395] in die See fiel – Es war jene für vulkanische Ausbrüche so charakteristische Wolke, die schon Plinius bei der großen Eruption des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr. beobachtet und beschrieben und mit dem Namen der Pinienwolke bezeichnet hat, da sie der Pinie ähnlich sieht. Man veranstaltete eine genaue Messung der Wolke und sie ergab die gewaltige Höhe von 11000 Metern. Es war ein großartiges Schauspiel. Man denke sich am Tage den Himmel verdunkelt und die Sonne zwischen den Dampf- und Staubmassen in blauem matten Glanze leuchtend; in der Nacht die Pinienwolke unaufhörlich von Blitzen durchzuckt; dabei ein fortwährendes Knattern und Prasseln, als ob hundert Mitrailleusen in nächster Nähe abgefeuert würden, und von Zeit zu Zeit die stärkeren Donnerlaute, die mitunter selbst in einer Entfernung von 350 Kilometern gehört wurden. Und doch war das alles nur das Vorspiel der großen Katastrophe.

Sechs Tage darauf landete eine kleine Expedition aus Batavia auf Krakatoa und einige kühne Männer suchten, bis an den Herd des Ausbruchs vorzudringen. Der Pik Rakata war unbetheiligt, am Fuße des niedrigeren Hügels Perboewatan hatte sich ein hufeisenförmiger Krater gebildet. Mit donnerndem Geräusch zischten aus ihm die Rauchmassen empor; glühender Bimsstein flog in die Höhe und fiel in der unmittelbaren Nähe des Kraters nieder, während der Aschenregen sich weiter ausbreitete und Krakatoa sowie das benachbarte „Verlaten Eiland“ bereits mit einer dicken Aschenschicht bedeckt hatte. An diesem Tage gelang es auch Jul. Hamburg aus Batavia, eine Photographie des Ausbruchs aufzunehmen.

Auch in der nächsten Zeit grollten unaufhörlich die unterirdischen Gewalten; Pausen gemäßigter Thätigkeit wechselten mit heftigen Paroxysmen ab, und Ende Juni öffnete sich an der Hügelkette Danan ein zweiter Krater. So dauerte dieser Kampf der Elemente monatelang, bis zum 26. August.

Jetzt traten die Vorzeichen der Katastrophe ein. Klar und heiter brach dieser Tag an, nachmittags aber vernahm man in Batavia und ganz West-Java ein verstärktes Grollen des Vulkans; immer drohender wurde der Donner, unmittelbar nach Sonnenuntergang trat plötzlich eine völlige Finsterniß ein; der Donner nahm zu, als ob in der Nähe ein Artilleriekampf stattfände; die Luft zitterte unausgesetzt, und nicht allein die Barometer schwankten in kurzen Zuckungen auf und nieder, sondern auch das Hausgeräth klapperte in den Wohnungen hin und her, und selbst die Gleichgültigsten erhoben sich von ihrem Lager, um diese Schreckensnacht wachend zu verbringen.

Auf dem Ocean zogen indessen die Schiffe auf ihren altgewohnten Bahnen dahin, und die Kapitäne derselben brachten uns die wichtigsten Nachrichten über den Höhepunkt des Ausbruchs.

Nachmittags am 26. August wurde von der „Medea“ aus die Pinienwolke gemessen und die Höhe von 27 Kilometern verzeichnet. Um 5 Uhr nachmittags wurde das Schiff „Charles Val“ von einem Hagel glühender Bimssteinstücke überschüttet. Abends war dasselbe etwa 3 Meilen von Krakatoa entfernt und die Mannschaft sah Feuerstreifen, die Flugbahnen glühender Bimssteinblöcke, dem Vulkan entsteigen. Die Luft war heiß und stickend, mit Asche und Schwefeldämpfen erfüllt, und jetzt brach die finsterste Nacht ein, die nur von zuckenden Blitzen erhellt wurde. Die Atmosphäre war mit Elektricität überladen und man sah auf den Schiffen St. Elmsfeuer glimmen, überall im Takelwerk waren sie zu beobachten und wie feurige Schlangen schossen die Strahlen um die Masten hin. Der Matrose am Steuerruder der „Verbice“ war kaum imstande, seinen Platz zu halten wegen der unaushörlichen elektrischen Schläge, die er bei jeder Berührung der Metalltheile des Steuers erhielt. Dabei nahm der Aschenregen zu, und um 2 Uhr nachts war das Verdeck der „Verbice“ mit einer fast einen Meter hohen Schicht der Auswürflinge bedeckt. Auch das Meer war unruhig, Wogen durchschnitten es und richteten an den Küsten schon manchen Schaden an.

Der Morgen des 27. August kam heran; es schien, als ob die Sonne das düstere Dampfgewölk besiegen könnte, es wurde heller am Himmel. Aber gegen zehn Uhr morgens scheuchte plötzlich ein furchtbarer Knall alle Menschen in der näheren Umgebung auf; in Städten und Dörfern, die zwanzig Meilen von dem Vulkan entfernt lagen, sprangen die Fenster auf und fiel der Kalk von den Wänden. Nach und nach verstummte jetzt das Getöse, nach und nach aber nahm die Dunkelheit zu, bis eine Finsterniß eintrat, in die z. B. Batavia dreißig Stunden lang gehüllt blieb.

Die Katastrophe war geschehen, in den ausgehöhlten Schlund des Kraters war der größte Theil der Insel gestürzt, das Meer hatte sich in die feurige Tiefe ergossen, eine Explosion war erfolgt, und nun kam das furchtbare Nachspiel.

Der Riesenknall dieser Explosion war der stärkste, von dem die Geschichte zu berichten weiß – er wurde auf den Philippinen, auf Ceylon, in Saigon, in Cochinchina und in Perth im südwestlichen Australien gehört; er verbreitete sich somit auf einen Umkreis, der ein Fünfzehntel der ganzen Erdoberfläche beträgt und dessen Radius auf 3400 Kilometer berechnet wurde.

„Denken wir uns,“ schreibt Neumayer[WS 2], „den Mittelpunkt der Eruption nach Wien verlegt, so wäre der Donner nicht nur in ganz Europa vernehmbar gewesen, sondern im östlichsten Grönland, im südlichen Spitzbergen, im südlichen Theile von Nowaja Semlja, im ganzen Uralgebirge, am östlichen Ufer des Aralsees, an der südöstlichen Ecke des Kaspischen Meeres, an der Mündung des Euphrats in den Persischen Meerbusen, im nördlichen Drittel des Rothen Meeres, im größern Theile der Sahara und auf der Insel Madeira.“

Während die Finsterniß die Umgebung des Vulkans noch verhüllte, entstieg dem Meere eine Sturzwelle, die an der Krakatoa gegenüberliegenden Küste von Java eine Höhe von 36 Metern erreichte und mit fortschreitender Entfernung sich verflachte.

Diese Sturzwelle bildete für die Menschen den furchtbarsten Theil der Katastrophe. Sie wühlte den Meeresgrund auf und warf Korallenblöcke auf Land. Am Gestade der Sundainseln spülte sie Häuser und Wälder weg. Die Städte Merak, Anjer und Tjaringin auf Java wurden von ihr gänzlich zerstört – sie ging über die kleinen Inseln Sebesi und Seboekoe hinweg und begrub alle lebenden Wesen; kein Mensch hat hier die Katastrophe überstanden, um der Nachwelt von ihrem Schrecken zu berichten. Auch Sumatra umspülte sie verheerend – gegen 40000 Menschen (36417 soll die genaue Ziffer sein) wurden von ihr verschlungen, 165 Niederlassungen gänzlich, 132 theilweise zerstört. Einzelne Menschen entkamen dabei wie durch ein Wunder, indem sie durch diese Sturzwelle wie „Strohhalme“ landeinwärts geschwemmt und hier auf das Trockene gesetzt wurden, ohne während dieser furchtbaren Fahrt zerschmettert oder ertränkt zu werden.

Dieser ersten großen Welle folgten andere, aber sie waren niedriger und ließen ihre Wuth nur an dem Schauplatz der ersten Vernichtung aus.

Am 28. August wurde es heller. Der Tag schien auf die Sundainseln herab; aber sie waren kaum zu erkennen. Wo einst am Strande üppige Vegetation geblüht und gegrünt hatte, war der Boden kahl, mit Schlamm bedeckt. Von Krakatoa war nur der dritte Theil übrig geblieben, die südliche Hälfte des Pik Rakata, dessen nördliche Hälfte wie mit einem Riesenmesser abgeschnitten spurlos im Meere verschwunden war; denn an der klaffenden Wand des halben Berges brauste nunmehr die See in 100 bis 300 Metern Tiefe. Auch der Grund der Sundastraße und die kleineren Inseln wurden vielfach umgeändert; wo einst Tiefen waren, befanden sich jetzt seichte Stellen und umgekehrt. –

Nach und nach beruhigten sich die Nachwehen der Eruption, aber ihre Folgen durchzuckten den ganzen Erdball. In allen Zonen konnte man die Wirkungen des Ausbruchs an seltsamen Erscheinungen beobachten.

Die Woge, welche an den Sundainseln so verheerend aufgetreten war, pflanzte sich nach Osten und Westen im Stillen und Indischen Ocean fort; man hat sie an der Westküste von Amerika und der Ostküste von Afrika, selbstverständlich in verminderter Stärke, beobachtet. Ja, sie pflanzte sich in den Atlantischen Ocean fort, wurde an den französischen Küsten wahrgenommen, und ihr Wellenschlag, der zunächst Panama am Stillen Ocean berührt hatte, rauschte später zu Colon auf der atlantischen Seite des Isthmus auf. Die mittlere Geschwindigkeit derselbe wurde an tieferen Stellen des Meeres mit 180 Metern für die Sekunde bestimmt, an seichteren Stellen schritt sie entsprechend langsamer vor.

Der Riesenknall der Explosion drang nicht bis zu unserem Ohr, aber durch die Lüfte gelangte zu uns ihre Botschaft, bevor der Telegraph uns die Katastrophe meldete. Es war allerdings eine leise geheime Botschaft, welche der großen Masse entging und nur von den Forschern wahrgenommen wurde, die auf den Wetterwarten stehen. Wie das Meer, so wurde auch der Luftocean von einer Welle erschüttert, und diese wurde von den Barometern verrathen. [396] In den letzten Tagen des Augusts und in den ersten Tagen des Septembers beobachtete man ein kurz andauerndes, von Zeit zu Zeit erfolgendes Steigen und Sinken der Barometer. Dies waren die Folgen der Explosion von Krakatoa.

Versetzen wir uns in die Reichshauptstadt Berlin. Zehn Stunden nach der Katastrophe traf hier die erste atmosphärische Welle ein, die zu uns auf dem kürzesten Wege über Ostindien gekommen war. Etwa 16 Stunden später trat eine neue Barometerschwankung ein; sie deutete die Luftwelle an, die uns jetzt auf dem weiteren Wege über Amerika erreichte. Damit war das Erzittern des Luftreichs nicht beendet; nach 36 Stunden stellte sich die erste Welle, nachdem sie den Erdball umkreist hatte, wieder in Berlin ein; ihr folgte nun die Wiederkehr der zweiten. Immer schwächer und schwächer wurde ihre Wirkung auf das Barometer, aber man konnte feststellen, daß sie vier- bis fünfmal die Erde umkreiste, und zwar mit einer mittleren Geschwindigkeit von 310 Metern in der Sekunde. –

Es sollten aber noch andere für aller Augen sichtbare Folgen des gewaltigen Ausbruchs zu uns gelangen.

Im November und Dezember 1883 traten jene wunderbaren Färbungen und Steigerungen der Abend- und Morgendämmerung in Europa ein, die man mit dem wenig zutreffenden Namen „Nebelglühen“ bezeichnet. Professor J. Kießling in Hamburg gebührt der Ruhm, die wahre Ursache dieser Erscheinung durch Versuche nachgewiesen zu haben. Indem er mit Rauch und Wasserdampf in Glasgefäßen Proben anstellte, konnte er die Dämmerungserscheinungen im Laboratorium willkürlich erzeugen, und wir wissen nunmehr, daß diese prächtigen Färbungen des Himmels durch Beugungen des Lichtes hervorgerufen werden, und zwar in Atmosphärenschichten, die wir von jetzt ab „Dustwolken“ nennen. Eine solche Wolke besteht aus überaus kleinen, gleichmäßig gestalteten festen Massentheilchen, welche zugleich die Kerne für die Bildung von Wassertröpfchen abgeben. Ueberaus klein ist ein dehnbarer Ausdruck, wir wollen darum gleich bemerken, daß der Durchmesser dieser Massentheilchen ein Tausendstel eines Millimeters und darunter betragen soll.

Wie waren nun jene Dustwollen entstanden? Das Ergebniß der Krakatoaforschung berichtet darüber.

Der Krakatoa hat während des Ausbruchs etwa 18 Kubikkilometer Bimsstein und Asche herausgeschleudert. Ein Theil der feinsten Massentheilchen wurde durch die Pinienwolke in hohe Luftschichten getragen und verbreitete sich hier in einer Höhenzone von 10 bis 40 Kilometern über der Erde. Er bildete hier eine riesige Dustwolke, die von einer Luftströmung erfaßt und mit Sturmesgeschwindigkeit zunächst zwei- bis dreimal von Ost nach West um den Aequätor gejagt wurde. Darum traten auch in den Tropengegenden jene Dämmerungserscheinungen zuerst auf und wiederholten sich zwei- bis dreimal in Perioden, die durch den Zeitabschnitt von zwölf Tagen voneinander getrennt waren. Die Dustwolke brauchte also zwölf Tage, um den Aequator zu umkreisen, und man berechnete daraus die Geschwindigkeit jener hohen Luftströmung auf durchschnittlich 40 Meter in der Sekunde.

Allmählich sanken jedoch die Dustwollen in tiefere Schichten der Atmosphäre, geriethen in Luftströmungen, welche den Polen zustrebten, und wurden durch diese über den Himmel der gemäßigten Zonen verbreitet. Nun traten die Dämmerungserscheinungen bei uns auf, während sie in den Tropen verschwunden waren.

Wie lange diese Dustwolken in den hohen Regionen von 10 bis 40 Kilometern sich erhielten, kann man ermessen an der Dauer des braunrothen Ringes, der um die Sonne zu sehen war und gleichfalls auf das Vorhandensein der Dustwolken zurückzuführen ist: er wurde zuerst im September 1883 von Bishop in Honolulu beobachtet und blieb bis zum Frühjahr 1886 in Europa sichtbar. Der äußere Durchmesser dieses Ringes betrug nach den Mittheilungen von Professor Förster in Berlin nahezu 45, der innere nahezu 20 Grad. Nach innen ging die braunrothe Färbung desselben ziemlich allmählich in einen matt weißlichen Schein über, der die Sonne unmittelbar umgab. In Verbindung mit der Erscheinung dieses Ringes stand es auch, daß während der ganzen Dauer seiner Sichtbarkeit, sobald die Sonne von Wollen verhüllt wurde, die aber in ihrer Umgebung freie Lücken ließen, die letzteren Himmelsflächen, besonders in der Nähe der Wolkensäume, eine purpurne Färbung zeigten.

Das lange Schweben dieser Dustwolken ist durchaus nicht räthselhaft, wenn man bedenkt, daß die winzigen Massentheilchen Jahre brauchen können, um beim Herabsinken aus höheren Luftschichten die Strecke von einigen Kilometern zurückzulegen.

Die Dämmerungserscheinüngen sind verblaßt, der braunrothe Ring um die Sonne ist verschwunden. Die Eruption von Krakatoa hat uns ungeahnte Aufschlüsse über die Zustände der Atmosphäre in einer Höhe gegeben, in die niemals ein kühner Luftschiffer

Schuhplattler. Nach einer Zeichnung von Schwabenmajer.
Photographie im Verlage der „Photographischen Union“ in München.

[397] gelangen wird. Dürfen wir die Akten dieser Forschung, an der sich so viele Männer der Wissenschaft an allen Enden der Erde mit ruhmvollem Eifer betheiligt haben, nunmehr schließen? Oder regen sich noch anderswo in der Natur Spuren jener gewaltigen Explosion vom 27. August 1883? Man behauptet es. Die silbernen Wolken am nächtlichen Himmelszelt sollen den letzten Abglanz jenes heißen Ringens der einst im Schoß der Erde gefesselten Kräfte bilden.

Diese Wolken wurden zum ersten Male am 10. Juni 1885 von Laska in Prag beobachtet, dann am 23. und 24. Juni desselben Jahres von O. Jesse in Steglitz gesehen und von diesem zum Ausgangspunkt besonderer Studien gemacht, über deren Ergebnisse er vor kurzem in der Zeitschrift „Himmel und Erde“ berichtete.

Wie wir schon, eingangs erwähnt haben, sehen wir die leuchtenden Nachtwolken nur in der Zeit von Ende Mai bis Ende Juli, aber nicht in jeder von der gewöhnlichen Bewölkung freien Nacht. Die Erscheinung tritt in nicht ganz regelmäßigen Zwischenräumen von etwa 8 Tagen auf und dauert dann gewöhnlich mehrere Nächte hindurch. Die Angaben über die Höhe der Wolken schwanken noch, jedenfalls aber befinden sie sich in einer Höhe von über 50 Kilometern und dürften selbst die 70 bis 75 Kilometer von der Erdoberfläche entfernten Regionen erreichen, während z. B. die höchsten Cirruswolken die Höhe von 13 Kilometern nicht überschreiten.

Woraus bestehen nun diese silbernen Wolken und wie sind sie entstanden? Wir wollen einen Versuch der Beantwortung dieser Frage mittheilen.

Der grollende Krakatoa hat nicht allein Bimsstein und Asche gegen den Himmel geschleudert, sondern Dämpfe und Gase entstiegen zugleich seinem Schoße, und unter diesen befanden sich auch Dämpfe der schwefligen Säure. Ebenso wie die festen Massentheilchen können auch die erhitzten Gase in gewaltige Höhen emporgestiegen sein. Welchen Einflüssen wurden sie dort ausgesetzt? In den Regionen, in welchen die silbernen Wolken schweben, ist der Luftdruck gleich Null zu setzen, während die Temperatur eine grimmige Kälte aufweisen muß, eine Kälte, die vielleicht nicht mehr weit entfernt ist von der des Weltraumes, die – 130° C. betragen soll.

Wir wissen nun, daß die schweflige Säure unter dem Druck von einer Atmosphäre und bei 20° C. Kälte sich zu einer farblosen Flüssigkeit verdichtet. Dort oben, 70 Kilometer über unserm Haupte, ist der Druck gleich Null, aber die Kälte viel bedeutender.

Es ist also möglich oder denkbar, daß sich dort unter dem Einfluß der Kälte die schweflige Säure zu winzigen Tröpfchen verdichtet und Wolken bildet wie tiefer unten der gewöhnliche Wasserdampf. Nach und nach sinken diese sauren Tropfen nieder, gelangen in wärmere d. h. weniger kalte Schichten, verdampfen hier von neuem, um wieder zu erstarren und so ruckweise immer näher zur Erde zu fallen. Dann lösen sie sich auf in den Wolkenfluthen, aus denen der Regen quillt, und auch diese letzte Folge des Ausbruches von Krakatoa ist verschwunden, die große Störung der Atmosphäre ausgeglichen.

Freilich ist gerade diese letzte Erscheinung noch nicht genügend erforscht, und da sie im Schwinden begriffen ist, so werden sich in diesem Jahre die Forscher mit besonderem Eifer dem Studium derselben zuwenden.

Wer aber um St. Johanni, wenn die Rosen duften und die Nachtigall jauchzt, über den gestirnten und stets von der Dämmerung umsäumten Nachthimmel seine Blicke schweifen läßt und in der weiten Ferne vielleicht den magischen Glanz einer silbernen Wolke erblickt, der wird sich auch dieser ruhmreichen Akten der Krakatoaforschung erinnern und sein Geist wird in weitem Fluge die Erde umspannen. Das heiße monatelange Ringen des Vulkans, die erderschütternde Explosion, die riesige Luft- und Wasserwelle, die farbenglühenden Dämmerungserscheinungen, der braunrothe Ring um die Sonne, das alles wird beim Anblick des magischen Leuchtens der silbernen Wolken zu einem großartigen Ganzen zusammenfließen, zu einem Bild, in dem wir die Majestät der Natur schauen, und tief ergriffen wird er der Wissenschaft huldigen, welche an der Lösung der Welträthsel arbeitet und unaufhörlich unsern Blick erweitert. – Und die Insel Krakatoa? Lava und glühende Asche hatten auf ihr jedes organische Leben zerstört. Nicht ein einziger lebensfähiger Keim hatte sich auf ihr in der Feuergluth erhalten; sie war eine Insel des Todes im vollsten Sinne des Wortes. Und heute? Von Zeit zu Zeit landet auf ihr ein Naturforscher und schaut ein neues Wunder. Wind und Meereswellen und vorüberziehende Vögel tragen dem Eiland Pflanzensamen zu. Algen überzogen zunächst die verbrannten Felsen, ihnen folgten die Farnkräuter und bereiten den Boden für leuchtende Blumen, welche die summenden Insekten heranlocken. Das wieder grünende Eiland ladet auch die Vogelwelt ein. – Wir haben bis jetzt auf Krakatoa die Wuth der Zerstörung kennen gelernt, was wir nun lernen, ist noch großartiger, denn es ist ein Theil des Schöpfungsgeheimnisses der lebenden Natur.




Schuhplattler. Nach einer Zeichnung von Schwabenmajer.
Photographie im Verlage der „Photographischen Union“ in München.

[398]

Ein deutscher Liebesgott.

Erzählung von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Am andern Morgen stand Sif mit einer kleinen Handtasche und einem Kistchen, das sie in der Gepäckexpedition wägen ließ, auf der nächsten Station der Gebirgsbahn. Sie war sehr schön in ihrem blauen Kleide, über das die langen Zöpfe schwer herabfielen, mit den dänischen Handschuhen und dem grauen Schleier, den sie um das rosig angehauchte Gesicht gesteckt hatte.

Schon setzte sie einen Fuß in das Damencoupé, sah nur noch einmal nach dem Gepäckwagen zurück, auf welchem ihr weißes Kistchen schwankte. Da schien es ihr, als sei etwas an dem Deckel zerbrochen, und bedachtsam, wie sie war, trat sie wieder auf den Perron, um ihr Gepäckstück in Augenschein zu nehmen.

Richtig! Der Deckel war eingeknickt, und der kleine Götze schaute mit seinem runzeligen Gesicht heraus.

So durfte sie ihn nicht fahren lassen; wie leicht konnte der Kopf abgestoßen werden! Zum Ausbessern der Kiste war keine Zeit. Es blieb nichts anderes übrig: Sif mußte den Purzelmann aus dem Kistchen heben und mit in das Coupé nehmen wie die arme Prinzessin den verwunschenen Froschprinzen in ihre Kemenate.

Das Nächste war, daß die das Damencoupé mitbewohnenden Kinder ein Zetergeschrei erhoben und die Mütter sich darüber empörten. Sif setzte ihren Schutzbefohlenen in die Fensterecke neben sich. Dann stellte die Milchflasche die Ruhe wieder her.

Andere Heimsuchungen traten an sie heran. Die Passagiere, die auf den Stationen am Waggon vorüber gingen, blieben stehen und lachten. An jeder Haltestelle bildete sich ein Auflauf vor dem Coupé. Man schaute nach dem lächerlichen Fratzenbild und dem schönen jungen Mädchen mit den langen goldenen Zöpfen.

Daß sie angesehen wurde, daran war sie gewöhnt; sie hätte nicht schön und nicht die Tochter einer Universität sein müssen. Aber heute meinte sie doch, die männliche Jugend treibe es damit zu weit. Sie war froh, als die Lokomotive mit lautem Pfiff in einen langen Tunnel einfuhr, dessen Dunkelheit sie gegen alle neugierigen Blicke schützte.

Da sie wieder heraus kam, schien die Sonne wärmer, hatten die Bergformen ihre Schroffheit verloren und sanken endlich in freundliche Thäler hinein. Ein Marterl stand am Weg. Durch Aehrenfelder zog ein Bittgang, Bauern in kurzen mit großen Metallknöpfen besetzten Tuchjacken, Frauen in unendlich weiten Röcken und Schuhen, welche an die befiederten Füßchen der Latschhühner erinnerten. Und als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wo die Wagen gewechselt wurden, da tönte es lockend: „A Bier, a Würstel?“ Die Figuren der Schaffner waren runder, der Dialekt weicher, die Dienstbeflissenheit zutraulicher; der Betrieb ging aus dem beflügelten Tempo in ein behagliches über. Auf a bissel Zeit kam’s halt nit an.

Aber trotz der Gemüthlichkeit nahm Sif mit Herzklopfen den Reisegefährten auf den Arm und stieg aus.

Sie hatte richtig geahnt. Ein Zug lachender Menschen schloß sich ihr an. Kinder liefen nach und schrieen: „Was is’n des für a Fratz, für a sakrament’scher?“

Sie mußte an einer Gruppe junger eleganter Herren vorübergehen. Die ganze Haltung, die mächtigen lang ausgezogenen Schnauzbärte ließen erkennen, daß sie vornehmen Kavallerieregimentern angehörten. Lachend musterten sie den wunderlichen Aufzug.

Als aber ein paar flegelhafte Burschen Sif bedrängten, an den langen Zöpfen zupften, trat der eine Herr dazwischen. Mit einem einzigen Blick wies er die Zudringlichen zurück; ein „Platz da!“ im schneidigen norddeutschen Dialekt gesprochen, und es bildete sich eine Gasse vor ihnen. Noch einmal überflog sein Auge mit zweifelvollem Ausdruck die Gestalt des jungen Mädchens, das, von dunkler Röthe übergossen, vor ihm stand. Aber er mußte ein wohlbewanderter Frauenkenner sein: seine Haltung und Miene kehrten sofort zu harmloser Höflichkeit zurück.

„Darf ich den Vorzug haben, Sie über das Geleise zu geleiten, meine Gnädigste?“ fragte er achtungsvoll grüßend.

Und da sie mit der ihr eigenen anmuthigen Würde dankend das Haupt neigte, fuhr er fort: „Gestatten Sie, daß ich Ihr Handgepäck trage!“

Sie überließ ihm ihre Reisetasche, während sich ihr Arm noch fester um den Purzelmann schloß.

„Gnädiges Fräulein haben sich einen wunderlichen Reisemarschall gewählt,“ sagte er mit herzlichem Lachen, daß seine weißen Zähne unter dem blonden Schnurrbart blitzten, indem er für Sif einen Weg durch das Gedränge bahnte. „Er freilich ist sehr zu beneiden.“

Sie seufzte. „Es ist eine Merkwürdigkeit, die ich auf die Ausstellung bringe.“

„Wo ist eine Ausstellung?“ fragte er.

„Im großen deutschen Museum,“ erwiderte sie. „Mein Vater ist krank, und so muß ich das Götzenbild dahin besorgen.“

„Aha, ein deutscher Gelehrter!“ sagte der junge Herr mit einem Ton, der ausdrückte: Nur ein solcher ist imstande, eine derartige Dummheit zu begehen. „Also eine Ausstellung ist dort? Nun, von unserem Bad aus kann man diese besuchen. Ich werde mich freuen, den kleinen alten Herrn wiederzusehen. Werden auch Sie sich längere Zeit dort aufhalten?“

„Bis ich den Purzelmann auf einem guten Platz untergebracht habe.“

Die blauen Augen des Offiziers blitzten vor Uebermuth auf bei dem Namen. „Einen so guten Platz, wie er jetzt hat, bekommt er nicht wieder,“ sagte er mit chevaleresker Verbeugung.

Sif stieg ein. Der Herr reichte ihr die Reisetasche nach. Sie dankte aufrichtig. Dann trat er grüßend unter seine Gefährten zurück.

„Ist es eine Walküre, die nach Baireuth fährt?“ fragte der eine lachend.

„Famose Zöpfe! Schönes Weib oder Mädchen!“ rief der andere. „Aber gar nicht chic.“

Der Offizier mit dem blonden Schnurrbart warf noch einen Blick hinüber. „Dafür sehr stilvoll,“ sagte er.

Sif hatte sich wie erlöst zurückgelehnt. Es ist gut, dachte sie, daß ich zu einem alten Museumsdirektor reise, wenn er auch etwas griesgrämlich ist.

Nun wollte sie sich’s bequem machen. Sie lehnte sich in die Ecke und schlummerte ein. Da wurde der Name der Stadt, wo die Ausstellung stattfand, laut in ihr Ohr geschrieen. Sie fuhr empor, vermochte aber nicht, sich gleich zu besinnen.

Da war ja ihr erster Traum in Tannenroda wieder. Hohe Thürme ragten in den Himmel, die Abendsonne glitzerte auf ihren Knäufen und Wetterhähnen. Zinnige altersgraue Mauern stiegen empor, von Epheu überwuchert; und darüber lugten spitze Giebel, hohe Schornsteine. Aber sie hatte doch die Augen geöffnet und sah das alles wirklich, und der Schaffner rief jetzt den Namen noch einmal ihr zu und befahl, auszusteigen. Ganz verwirrt nahm sie ihren Purzelmann auf den Arm, Handtasche und Schirm in die andere Hand und ging dem Droschkenplatz zu.

„Das Fräulein fahrt halt doch in das Hotel dem Museum gegenüber,“ sagte mit verständnißvollem Blick auf den Götzen ein Kutscher, der seinen Hut und den Pferdekopf mit Nelken besteckt hatte. Er trug den Purzelmann so vorsichtig, wie sich’s ziemte, in den Wagen, und fort ging’s.

Sif war wie im Traum. Niemand lachte über ihren Begleiter; es wurde ja noch vieles andere wunderliche Gezeug abgeladen. Ein ganzer Haufen Lastträger plagte sich mit einer endlos langen Feldschlange ab, deren Mund Engelsköpfchen zierten, während andere ein kunstvoll geschnitztes Faß fortschroteten, dem ein derber Trinkspruch um das Spundloch gemalt war.

Lange hallte in dem Thorthurm das Rasseln des Wagens, und dann that sich eine Straße auf mit Erkern, Thürmchen und einer gothischen Kirche als Hintergrund. Es war Sif, als komme sie in ihre wahre Heimath. Träume sie denn wirklich nicht? Ach nein; da schritten Damen mit hochgepufften Rückseiten vorüber; aus dem Hotel stürzten befrackte Kellner, um Sif und ihren altdeutschen Liebesgott in Empfang zu nehmen, und es schwirrte um sie von Omelettes aux confitures und Filet de boeuf.


[399] Als am nächsten Tag die Pforte des Museums geöffnet wurde, wandelte Sif, ihren kleinen Götzen auf dem Arm, hinüber.

Mit klopfendem Herzen betrat sie die Vorhalle, welche durch ihr Kreuzgewölbe, die feierlich hohen Spitzbogenfenster daran erinnerte, daß das Gebäude einst ein Kloster gewesen war. Viele Menschen liefen geschäftig durcheinander.

„Gehen Sie nur immer diese Galerie entlang und klopfen Sie dort an die letzte Thür,“ sagte der von allen Seiten in Anspruch genommene Portier zu ihr, als sie nach dem Herrn Direktor Steffen fragte.

Sif klopfte bescheiden an. Drinnen fiel ein Stuhl um; gewiß ein dreibeiniger Schemel, dachte sie. Sie kannte diese wackelige Sorte, für welche die alten Herren eine Vorliebe hatten.

Es wurde ein Fluch gemurmelt und die Thür aufgerissen. Ein junger Mann von kräftiger Gestalt mit einem mächtigen braunen Vollbart blickte, ärgerlich über die Störung, mit zornig zusammen gezogenen Augenbrauen heraus. „Was giebt’s?“ rief er mürrisch in die Galerie hinein. Dann verstummte er, und die Augenbrauen begannen sich zu glätten, seine Augen vergrößerten sich sichtlich.

Wie ein altdeutsches Bild stand das junge Mädchen in dem Thürbogen. Das schlichte schwarze Hütchen ohne die modische emporragende Spitze umrahmte ihr ruhiges Gesicht gleich einer altdeutschen Haube; von dem dunkelblauen Kleid hoben sich die goldenen Zöpfe ab. Dabei umschwebte die hohe Gestalt eine herbe Jungfräulichkeit; ein reiner kühler Hauch schien von ihr auszugehen – wie von einer Holbeinschen Madonna, meinte er.

Und auch Sif schwieg und sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Da stand er leibhaftig vor ihr, den sie so lange im Geist gesehen, bis sein Bild in der dahin rollenden Zeit allmählich zu verblassen begonnen hatte. Er war es, aber im schwarzen Sammetrock wie der Doktor Faust. Sie erwartete jeden Augenblick, daß er anheben werde: „Sueze Juncfrouwe, nach was stehet iuwer Sinn?“

Aber er sprach ganz alltäglich, wenn auch jetzt höflicher als vorhin: „Womit kann ich Ihnen dienen?“

„Ich möchte den Herrn Direktor Erwin Steffen sprechen,“ antwortete Sif mit stockender Stimme.

„Der bin ich. Was bringen Sie?“ fragte der junge Mann.

Sif wurde noch verwirrter. Sie hatte sich auf einen alten weißhaarigen Gelehrten vorbereitet, und nun war der Kürassier ihrer Träume, der übermüthige Minnesänger das Licht der Wissenschaft, an das ihr Vater sie gesendet hatte. Mühsam faßte sie sich. „Ich habe den Auftrag,“ sprach sie und trat mit sanfter Entschlossenheit in das Gemach, „Ihnen von meinem Vater, dem Bibliothekar Ehrlich, hier das aufgefundene Götzenbild zu überbringen für die Ausstellung.“

Der Direktor nahm ihr die kleine Koboldsgestalt ab.

„Ein Tableau wie die heilige Familie,“ ließ eine naseweise Stimme hinter dem Paar sich vernehmen.

Aus dem Seitengemach drängte eine Schar junger Männer herein, mit neugierigen Blicken das junge Paar musternd, das sich so feierlich mit dem kleinen Erzbild trug. Es waren Schüler des Direktors, Beamte des Museums, bei der Ausstellung beschäftigte Architekten. „Statt schnudderige Reden zu führen,“ sagte der Direktor scharf, „rubrizieren Sie lieber den Beitrag für die Ausstellung. Es ist der vielbesprochene Purzelmann.“

„Der Purzelmann?“ „Ach, der neu entdeckte Amor!“ „Ist’s wahr, daß er rauchen kann?“ „Schnell eine Cigarre her!“ tönte es durcheinander.

Sif hielt die Hände schützend über ihn. „Wenn Sie trockenes Wellenholz haben, soll er sofort rauchen.“

Da stopfte einer schon Reisig in den Purzelmann; von allen Seiten bliesen sie auf ihn ein. Rauch schnob er ihnen dafür in die Augen.

Sif sah hilfeflehend den Direktor an. Sie begegnete seinen großen grauen fest auf sie gerichteten Augen.

Er fuhr auf. „Ruhe, meine Herren! Vielleicht wäre Fräulein Ehrlich so gütig, uns das Experiment zu zeigen.“

Sif zog die Handschuhe aus und befreite ihren kleinen Götzen von seiner Ueberladung mit Brennmaterial.

Als die junge Schar wieder hilfreich ihr beistehen wollte, trieb sie ein strenger Blick des Direktors zurück. Er selbst bildete die Barriere zwischen dem ruhig hantirenden schönen Mädchen und dem muthwilligen Volk.

Nachdem sie als letzte Feuerung ein paar Wachholderzweiglein ihrem Täschchen entnommen und in das weit geöffnete Mäulchen gesteckt hatte, begann sie, in das Ohr des Purzelmanns zu blasen.

Wie sie neben dem kleinen Kerl stand, die langen seidigen Wimpern gesenkt, die Lippen an das schwarze Köpfchen geschmiegt, sah es aus, als flüstere sie ihm etwas zu.

Ganz versunken in das wunderbare Bild stand der Direktor. Da hörte er leise hinter sich einen der Architekten sagen: „Ich wollte, jetzt wäre ich der Purzelmann.“ Er drehte sich mit strafendem Blick herum. Als er wieder hinsah, hatte Sif sich aufgerichtet, und der Purzelmann dampfte behaglich.

Die andern umdrängten sie wieder. „Fräulein, wenn Sie so gut mit altem Geräth umgehen können, verstehen Sie vielleicht auch das kostbare Spinnrad wieder in Gang zu bringen, welches uns eingeliefert worden ist. Es ist nicht entzwei und will doch nicht vorwärts.“

„Spinnen verstehe ich,“ erwiderte Sif. „Zeigen Sie mir das Rad!“

Der Direktor bot ihr den Arm, und nun ging es im fröhlichen Zuge nach dem Saal, der den Hausrath enthielt.

Es war ein kostbar mit Perlmutter ausgelegtes Spinnrad. Noch bauschte sich feiner Flachs unter dem verblaßten Wockenband, an silbernem Kettchen hing das Häkchen zum Einziehen des Fadens, der Netzbecher zeigte ein gemaltes Vergißmeinnicht. Wer konnte sagen, an wen dieses Blümchen hatte erinnern sollen?

Sif nahm Platz davor und sah mit kunstverständigem Blick das Spinnrad an. „Die Schnur ist zu scharf gespannt; sie kreuzt sich nicht zwischen Spule und Rad. Es muß auch geölt werden. Wollen Sie Wasser in den Netzbecher besorgen? Wer ist so freundlich, beim Knüpfen des Kreuzknotens in die Schnur den Finger darauf zu drücken?“

„Ich!“ „Ich!“ riefen alle zugleich.

Aber der Direktor stand schon mit gerunzelten Brauen neben dem Rad. „Oel ist drüben bei den alten Harnischen, Wasser drunten am Brunnen zu holen,“ befahl er, und seine schöne kräftige Hand legte Beschlag auf das Rad.

Sie beugten sich beide darüber, während Sif den künstlichen Knoten knüpfte. Er drückte fest auf die feine Schnur; ihre rosigen Fingerspitzen schürzten sie geschickt.

So hatte vielleicht schon vor vielen vielen Jahren ein gefälliger Ehemann seiner Hausfrau geholfen, und sie ihm dann mit einem Kuß gelohnt.

Jetzt richteten sich beide auf, und beide waren mit hoher Röthe übergossen. Die Gehilfen kamen wieder herein geplatzt.

Endlich war Sif fertig mit ihrer Arbeit. Sie setzte den Fuß auf das Trittbrett und das Rad in Schwung. Es schnurrte gehorsam, als habe es nur auf die richtige Hand gewartet. Mit sichtlicher Freude spann das junge Mädchen. Sie saß vor einem mit bunten Glasmalereien ausgefüllten Fenster, den Kopf der Arbeit zugeneigt. Wie die schön geformten Arme anmuthig den Faden auszogen, die weißen Hände in den Netzbecher tauchten, der schmale Fuß in leisem raschen Tritt das mit zierlichen Glöckchen behangene Rad gedankenschnell sich schwingen ließ, da war es, als halte der ganze Museumsvorstand den Athem an.

An der Thür trippelte schon lange der Diener herum. „Aber Herr Direktor,“ rief er kläglich, „draußen wartet ein ganzer Schwarm mit Waffen und Geräth und Gott weiß was noch.“

Der Direktor richtete sich auf. „Wir müssen an unser Tagewerk gehen.“ Und seine junge Schar abkommandierend, fuhr er fort: „Herr Bauführer, besorgen Sie für den Purzelmann ein festes Piedestal! In die zweite Abtheilung, Saal X, bringen Sie ihn neben den Gipsabguß der sogenannten Wölfin, eigentlich Bärin Karls des Großen in Aachen, und numerieren Sie ihn. Sie, Herr Archivar, wollen sogleich eine Quittung für Fräulein Ehrlich über den eingelieferten Gegenstand schreiben. Und Sie, Herr Sekretär, begleiten mich in das Anmeldezimmer.“

Dann wandte er sich an Sif, die ihre Handschuhe wieder anzog und nach dem Schirmchen griff. „Wollen Sie Ihren Schützling auf seinem Platze sehen, so schenken Sie dem Museum heute nachmittag noch einmal Ihren Besuch. Ich möchte Ihnen auch gern unsere Sammlungen zeigen. Sie müssen für Ihre gütige Hilfe eine kleine Gegenleistung annehmen. Fünf Uhr wird der rechte Zeitpunkt sein, wenn es Ihnen gefällig ist.“ –

[400] In einer glückseligen Stimmung kam Sif in ihr Gastzimmerchen zurück. Den Purzelmann hatte sie glücklich untergebracht, den Helden ihrer Träume wiedergefunden.

Ihr zartes Diner flößte dem Kellner Bedenken ein. Es giebt im Mädchenleben Augenblicke, wo ein eingemachtes Veilchen als das einzig mögliche Nahrungsmittel erscheint.

Dann streifte sie durch die Straßen, welche das Entzücken aller Maler sind, und fand sich doch immer wieder vor der grauen Museumsmauer. In den hohen alten Kirchen lauschte sie auf die schlagenden Glocken, die hier so mächtig dröhnten, als schlügen sie die Ewigkeit, nicht diese kurze arme Zeitlichkeit. Sie vernahm nichts, als daß es noch nicht fünf Uhr war.

Endlich kam die Stunde, in der sie wieder die steinerne Wendeltreppe hinauf stieg, deren Stufen von den Sandalen weltentsagender Mönche ausgetreten worden waren. Wie zu Haus kam sie sich hier schon vor. Der alte Diener grüßte sie ganz vertraut, und mit sichtlicher Spannung flogen die Blicke des Direktors ihr entgegen, als sie die Thür mit dem letzten Glockenschlag öffnete.

Durch das noch nicht geordnete Wirrsal von Kuriositäten und Kunstgegenständen in den Vorgemächern führte er sie in das Museum ein. Ja, dort stand ihr Purzelmann auf hohem Sockel; es dünkte sie, so lustig habe er noch nie gegrinst. Sie nickte ihm lächelnd zu und schritt mit ihrem Führer in die tiefen hallenden Gänge hinein. Es war ein Wandelgang, wie ihn Sif noch nicht erlebt hatte. Sie meinte, ihr schöner Traum gehe gänzlich in Erfüllung. Alles sah sie vertraut an, selbst im dunklen Kreuzgang die Grabsteine mit den verwitterten altersgrauen Ritterbildern. Und auch der stattliche dunkelbärtige Mann neben ihr war ihr kein Fremder. Zu ihm gehörte all das Geräth, das sie umgab, ob er ein rundes goldenes Regenbogenschüsselein vorsichtig in der Hand hielt, um ihr diese winzige älteste Goldmünze der Germanen zu zeigen, oder ob er ein mächtiges Tintenfaß mit zierlicher Schnitzarbeit vor ihr aufpflanzte.

Unermüdlich beantwortete er ihre Fragen. Und wenn sie ihn anschaute, dann begegnete sie einem Blick, der halb forschend, halb träumerisch auf sie sich richtete und zu fragen schien: Haben wir uns nicht schon lange gekannt? Sind wir uns in einem früheren Dasein begegnet? Sie empfand ein schalkhaftes Vergnügen über diesen Blick. Er, der Mann, hatte die flüchtige Begegnung an der Stadtmauer vergessen.

Als er sie vor einer Rüstung auf das Plattnerzeichen aufmerksam machte, fragte sie ihn: „Haben die Kürassiere nicht denselben Brustharnisch?“

Er nickte. „Sie sind das letzte Restchen Mittelalter, das sich trotz aller Angriffe im Kriegerstand noch erhalten hat. Aber über kurz oder lang wird auch dieses verschwinden.“

„Schade!“ seufzte Sif. „Es sieht so schön aus.“

Er blickte sie überrascht an. Dann fragte er etwas verdrossen: „Haben Sie in Tannenroda Gelegenheit, Kürassiere zu bewundern?“

Sie lächelte auch, ein wenig hinterhaltig. „Nein; nur einmal im Leben sah ich sie durch unseren früheren Wohnort ziehen in der Manöverzeit. Haben Sie nicht auch bei den Kürassieren gedient?“

„Ja!“ antwortete er kurz.

„Bei denen mit gelben Kragen?“

Er verbeugte sich. „Ich bin neugierig,“ setzte er mit einer kleinen Empfindlichkeit in der Stimme hinzu, „ob ich noch einmal einer Dame begegnen werde, die mich nicht nach meiner militärischen Charge, nach irgend einem Knopf oder Stern fragt.“

Sie schwieg erschreckt. Er glaubte, sie theile die weibliche Schwäche für zweierlei Tuch; eine Erinnerung kam ihm nicht. Einen Augenblick war es, als streiche ein kalter Hauch über sie hin. Aber sie vergaß den niederschlagenden Eindruck; denn er öffnete jetzt ein Gemach aus dem sechzehnten Jahrhundert.

Auf dem Gemälde gerade gegenüber saß ruhig die Madonna mit den Engeln wie eine deutsche Mutter unter ihren vielen Kindern, denen sie Jahrmarktstrompeten und Maultrommeln gekauft hat. Das Lichtweibchen, das von der Decke hing, war nach einer Zeichnung von Dürer gearbeitet, ein herziges Ding mit dem guten altdeutschen Gesichtchen, dem hübschen bunten Kleid, dem Hirschgeweih als Flügel und dem behaglichen Karpfenschweif, mit dem es durch die Luft ruderte und den Appetit nach Fisch erweckte.

Sif stand entzückt. „Wie müssen die Menschen sich damals zufrieden gefühlt haben, daß sie jedem Geräth bis zum Bierkrug herab diesen Ausdruck der Behaglichkeit gegeben haben!“

„Ja!“ antwortete er, „glücklicher als wir sind sie gewiß gewesen; denn sie waren vor allem harmloser. Wir modernen Menschen können uns der Rührung nicht erwehren gegenüber der treuherzigen Naivetät, die das alte Geräth auszuhauchen scheint. Aber es wird uns auch klar dabei, wie tief die Kluft ist, die unsere reflektierende Generation von jenen längst dahingegangenen Geschlechtern trennt, und daß wir nichts mehr mit ihnen gemein haben.“

Sif sah erstaunt zu ihm auf. „Ich fühle mich im Gegentheil heimisch unter allen diesen Dingen, als wären sie längst mein Eigenthum. Diese schlichte Mutter Gottes steht meinem Herzen näher als die herrlichste italienische Madonna. Das ist Art von unserer Art; das sind wir selbst, wie wir immer waren, immer bleiben werden, wenn auch äußerlich unser Leben sich wandeln möge der Zeit gemäß, in welcher wir unsere Erdenwallfahrt zu vollbringen haben.“

Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er, indem sein Blick ihren ruhigen Augen auswich: „Die Veränderung unseres Lebens ist nicht nur eine äußerliche. Die Nothwendigkeit, im Kampf ums Dasein schnell die vorteilhafte Chance zu benutzen, hat uns auch innerlich verwandelt. Sinnige Gemüther, die sich nicht nur in ihre Arbeit, sondern auch in das eigene Gemüth versenken, werden jetzt bei Seite geschoben. Wer hätte noch Muße, sich mit sich zu beschäftigen, zu fragen: Bist Du Deiner Natur, den Traditionen Deiner Familie, Deines Volkes treu?“

„Bedarf es dazu der Muße?“ entgegnete sie gelassen. „Wir brauchen uns nicht um unser Selbst zu bekümmern. Es entwickelt sich ohne unser Zuthun und bleibt immer seiner ererbten Art treu, wie der Flachs immer dieselbe zarte blaublühende Pflanze bleibt, der Chemiker möge die Erde mischen, wie er will; wie die Eiche nur langsam ihren mächtigen Stamm bildet, und wenn die Forstgelehrten auch Tag und Nacht rechnen, wie bald derselbe nutzbar gemacht werden kann. Und es ist gut so. Denn in einer Zeit, in welcher der Deutsche von seiner Art ließe, möchte ich nicht leben. Das würde dann wirklich der Untergang für uns sein.“

„Sie haben idealistische Ansichten,“ erwiderte er. „Das kommt davon, daß Sie in Tannenroda so abgeschnitten von der Welt sind.“

Woher kam diese Gereiztheit in seinem Ton? Sie sah ihn verwundert an, aber er blickte mit zusammengezogenen Brauen über sie hinweg. Sie sann einen Augenblick nach. Dann meinte sie, den Grund seiner Verstimmung errathen zu haben. „Es ist freilich vermessen,“ sagte sie langsam, „daß ein einfaches Mädchen deutsches Wesen gegen den Direktor des deutschen Museums vertheidigt. Vermessen? Nein, verkehrt!“ schloß sie hell auflachend.

Der starke Mann zuckte zusammen wie ein nervöses Mädchen. Aber sie fuhr mild zuredend fort: „Sie müssen mir meine vielleicht etwas zu weit gehende Vorliebe für den Brauch und die Art unserer Altvordern zu gute halten. Sie, Großstädter, wissen nicht, wie lieb und traut auch jetzt noch uns das schlichte Leben, das unsere Vorväter führten, anmuthen kann. Sie haben niemals wie ich in einem alten Hause gewohnt, in dem Generationen Ihrer Familie geboren wurden und starben. Da giebt es keine mit Einsturz drohenden Hängeböden, keine Kisten statt der Speisekammern, keine dunklen Küchen, sondern einen großen hohen Boden, aus dessen Luke man nach allen vier Windrichtungen schaut, kühle Vorrathsräume und einen Herd, auf welchem für eine vielköpfige Familie gekocht werden kann.“ Sie erzählte eifrig mit leuchtenden Augen von ihrem Haus. Ein Lächeln trat allmählich auf seine Lippen.

„Ich soll nicht wissen, wie es sich in einem alten Haus wohnt?“ erwiderte er. „Wie viel einer Hausfrau der weite Boden zum Trocknen der Wäsche, der geräumige Herd werth ist? Hab’ ich doch in der alten Pfarre meine Kindheit verlebt, in welcher durch länger als ein Jahrhundert ein Steffen dem andern gefolgt war! Hielt doch noch meine selige Mutter so große Stücke auf ihre kühle Speisekammer mit den vielen Büchsen voll eingemachter Früchte aus dem Pfarrgarten! – Wie uns doch so manches im Lauf der Zeit entfällt,“ fuhr er sinnend fort, „und dann steht es plötzlich vor uns lebendig, als wären wir gestern erst von ihm geschieden. Jetzt sehe ich meine Mutter deutlich vor mir, wie sie in großer weißer Schürze den frisch aufgerollten Kuchen mit Herzkirschen bestreute; ich sehe meinen Vater im schwarzen Sammetkäppchen und weißen Halstuch auf seinem mit Leder beschlagenen Stuhl sitzen und höre seine Strafpredigt, weil

[401]

Parade im Lustgarten zu Potsdam.

[402] ich einem dicken Folianten das Fell abgezogen hatte, das eigentlich ein altes Pergament mit einem Minnelied war.“

„Sie haben selbst ein Minnelied aufgefunden?“ rief Sif.

„Interessiren Sie sich für die mittelalterliche Litteratur?“ fragte er lebhaft.

Sie nickte zutraulich. „Das waren schöne Stunden, in denen ich mit der Manesseschen Liedersammlung auf meinem alten Mauerthürmchen saß und von den tiefen Herzenswunden las, welche die ‚wohlgethanen Frouwen‘ den Sängern zugefügt hatten. Ich glaubte damals den leichtlebigen Poeten alles aufs Wort und hätte doch heraus lesen können, daß bei ihnen eine Aventiure die andere verdrängte.“ Sie schaute wieder mit dem hinterhaltigen Lächeln zu ihm auf, das ihm ein Räthsel schien.

Er sah sie fragend an; aber er fand keinen Aufschluß. Dann sagte er: „Ich will Ihnen doch das Minnelied zeigen, dessen Entdeckung es eigentlich war, die mich auf meinen Berufsweg wies.“

Er führte sie an einen Glaskasten, in welchem Pergamentstreifen sorgfältig an einander gefügt waren, und begann mit unbefangener Stimme zu lesen:

„Fahl Haar lang,
Kehle blank.“

Da stockte er; ein warmes Roth stieg ihm allmählich bis unter die dicken Haarwellen. Ein Gemurmel von einem rosenfarbenen Mund, der ihn im Herzen verwundet haben sollte, verlor sich in dem dunklen Vollbart. Aber als er, sich zusammennehmend, die Zeilen las:

„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin – ahi!“

fuhr er plötzlich empor und schaute sie an.

An dem Aufleuchten seiner Augen erkannte Sif, daß ihm jetzt die kleine Begegnung aus dem Manöver wieder eingefallen war.

Er that einen Schritt auf sie zu; auf seinen Lippen schwebte ein Wort –

Im selben Augenblick rief es von[WS 3] der Thür her: „Herr Direktor!“

Athemlos eilten seine jungen Gehilfen herbei, die ihm vorhin neidisch nachgeblickt hatten. „Fräulein Ellen Arion bringt den Tafelaufsatz.“ Sie sahen ihn boshaft lachend an.

Er fuhr erschrocken auf. Ein Ausdruck von Verwirrung trat in seine Züge. Doch er faßte sich und, sich umwendend, sprach er zu Sif: „Sie werden ein Prachtstück aus der Zeit der Renaissance bewundern können.“ Der Zusatz: „Ich freue mich, daß es sich so trifft,“ klang etwas gezwungen.

Sif folgte ihm unbefangen nach der Eingangshalle. Dort hatte sich ein vollständiger Aufzug eingefunden. Den Mittelpunkt bildete eine junge Dame, eine zierliche Gestalt mit klugem, scharf geschnittenen Gesicht und dunklen mandelförmigen Augen von entschieden orientalischem Typus. Ihre Gesellschafterin, unfehlbar eine Engländerin der Haltung und Kleidung nach, erschien wie ein steifer Schatten hinter ihr. Zwei Diener in prächtiger Livree mit echten Domestikengesichtern trugen ein schön gearbeitetes großes Futteral, und neben denselben stand in schwarzer Kleidung ein kleiner Herr mit ebenfalls jüdischen Zügen und dem Ausdruck und Benehmen eines untergeordneten, aber allmächtigen Beamten.

Es fiel Sif doch auf, wie tief der Direktor sich plötzlich verbeugen konnte, wie er so ganz erfüllt von Dankbarkeit war, als die junge Dame zuvorkommend, aber ganz selbstbewußt lächelnd ihren Beitrag zur Ausstellung anmeldete. Bei der Ankunft des Purzelmanns hatte der Direktor Steffen sich doch sehr wie ein Gnadenspendender benommen.

Freilich, als der kleine schwarze Herr das Futteral öffnete und nun mit großer Sorgfalt den Inhalt heraushob, stand auch Sif geblendet. Ein hoher Pokal von herrlichster Arbeit stellte sich dar. „Von Wenzel Jamnitzer,“ erklärte ihr der kleine Herr herablassend.

„Vielleicht eine Hochzeitsgabe; denn der Bügel, der sich über dem Deckel erbebt, trägt ein Allianzwappen,“ warf nachlässig die junge Dame hin.

„Von Brillanten eingefaßt,“ vervollständigte der kleine Herr.

„Die Goldschmiedearbeit ist unfehlbar vom Jamnitzer,“ sagte der Direktor in etwas unsicher erregtem Tone. „Aber welcher Künstler den eigentlichen Körper des Pokals aus Elfenbein gearbeitet hat, ist noch nicht festgestellt. Dagegen trifft die Vermuthung des gnädigen Fräuleins zu;“ er neigte sich verbindlich vor der zierlichen jungen Dame. „Der Pokal ist sicherlich für eine Hochzeit bestimmt gewesen. Diese Seite zeigt den Hymen mit der Fackel, jene einen Amor mit Pfeil und Bogen.“

„Merkwürdig,“ sagte der Architekt in beißendem Tone, „lauter Liebesgötter ziehen heute hier ein.“ Und auf den befremdet fragenden Blick der jungen Dame setzte er hinzu: „Das Fräulein hier hat einen deutschen Amor gebracht.“ Und er deutete nach dem nächsten Saal, wo der kleine Götze hockte.

Fräulein Arion wandte den Kopf so heftig über die Schulter nach Sif, daß der Perlenknopf des Ohrringes sich in der Achselschleife verfing.

Der zungenfertige Architekt fuhr fort: „Nun fehlt nur noch der Eros, den der Herr Direktor auf der Akropolis auszugraben wünscht, sobald das Glück ihm günstig ist.“

Wieder lächelten die jungen Leute, und über Fräulein Arions Gesicht flog ein feines Roth. Sif aber kam sich wie verrathen vor. Sie verstand die Anspielungen nicht; der Direktor erschien ihr plötzlich als das, was er für sie war: ein wildfremder Mann.

Ihre weibliche Würde, der Stolz der Gelehrtentochter regten sich in ihr. Sie hob das Haupt.

Der Direktor erschrak. „Ach, ich habe vergessen – der Drang der Geschäfte – Verzeihung, meine Damen! Fräulein Ehrlich, Tochter eines berühmten Alterthumsforschers; Fräulein Arion, Tochter unseres Mäcens, des Herrn Kommerzienrathes Arion,“ stellte er vor.

Die beiden Mädchen verneigten sich gegen einander, Ellen Arion mit jenem kurzen Knixchen, das unsere immer eilfertige Zeit sogar in der Gesellschaft vorgeschrieben hat, Sif im Stil einer Thusnelda; aber dabei drang aus den schwarzen mandelförmigen Augen ein orientalisch feindseliger Blick, während Sif mit einem germanisch hochmüthigen antwortete. So mochte dereinst ein Germanenweib auf die Römerin geschaut haben, die ihr den reckenhaften Gatten zu rauben begehrte.

Dann warf Ellen einen goldenen Kneifer auf das hochgetragene Näschen und musterte das Götzenbild.

Sif wurde es heiß und kalt. So boshaft hatte der Purzelmann noch nie gegrinst. Oder erschien er ihr nur so gräulich neben dem pausbäckigen Amor auf dem Pokal, dem reizenden Burschen, welchem der Rosenkranz tief über die Augen gedrückt war?

„Der schwarze Bub ein deutscher Liebesgott?“ fragte Ellen, und in ihrem Lachen bebte eine leise Erregung. „Er sieht nicht aus, als könne er eine große Leidenschaft erwecken.“

„Mit der Leidenschaft hat die deutsche Liebe nichts zu schaffen,“ erwiderte Sif beleidigt.

„Das wäre ein Armutszeugniß,“ warf Ellen scheinbar neckend hin. „Meinen Sie, der Deutsche sei zu phlegmatischer Natur, als daß er sich zu einer richtigen Leidenschaft aufraffen könnte?“

„Die Liebe bei den germanischen Stämmen,“ entgegnete Sif, „gipfelt nicht in der Leidenschaft. Sie vertieft sich und wird zur Innigkeit; sie verklärt sich in der Treue.“

Ellen sah Sif unsicher an. Sie sprach fünf lebende Sprachen; aber diese Rede hatte sie doch nicht ganz verstanden. Es zuckte um die feinen Lippen wie leiser Spott und in den Augen lag etwas wie Verwunderung und Staunen. Eine kleine Pause entstand, in welcher der Direktor einen zitternden Seufzer ausstieß. Unterdrücktes Kichern seiner jungen Gehilfen antwortete darauf.

Der kleine Mann, der Herr Moses genannt wurde, brachte die Angelegenheit wieder in Fluß. In geschäftlichem Tone sprach er: „Das Gemach für die Gegenstände aus Edelmetall erachten wir für die Nacht wohlverwahrt. Während der Ausstellungszeit aber wird der Herr Kommerzienrath für den Tag eine zuverlässige Persönlichkeit seines Hauses hier stationiren, damit nicht ein Schaden dem Tafelaufsatz zugefügt werden kann. Mit einem scharfen Instrument läßt sich leicht einer der Diamanten ausbrechen oder das mit Rubinen besetzte Einhorn, welches über das Wappen hinaus ragt. Und das Ding hat fünfmalhunderttausend Mark gekostet. Nun, placiren Sie es gefälligst!“

Die Diener nahmen den Pokal auf. Der Direktor führte Ellen, mit einer verbindlichen Handbewegung zum Vortritt einladend, Herr Moses blieb dem Prunkstück zur Seite wie dessen Kammerherr; die jungen Leute folgten.

So ging der Zug davon, ohne daß Sif weiter beachtet wurde.

(Fortsetzung folgt.)
[403]

Eine Pfingstfahrt nach Rügen.

Von Helene Pichler.
(Zu dem Bilde S. 392 und 393.)

Wenn „Winterstürme wichen dem Wonnemond“, wenn „Pfingsten, das liebliche Fest“ vor der Thür steht, wenn der Frühling selbst in den großen Städten an die Fenster pocht, dann regt sich im Stadtmenschen die Sehnsucht nach der blauen Ferne. Je größer die Stadt, je enger und höher ihre Mauerwände, je eifriger und athemloser in ihnen die Jagd nach Erwerb und Vergnügen während des Winters, um so mächtiger drängt es den Bewohner fort, fort aus der bedrückenden Enge, ins Gebirge, an die See; nur fort!

In diesem Drang nach Luft und Licht offenbart sich ein unverwüstlicher Naturtrieb, welcher den Menschen zwingt, die während der Wintermonate in dumpfen Arbeitsstuben und schwülen Gesellschaften ertragene geist- und nervenerschöpfende Lebensweise mit der freien Sorglosigkeit und dem urfrischen Behagen an der einfachen Natur zu vertauschen. Lange bevor die eigentliche Reisezeit beginnt, äußert sich dieser Drang schon in den Extrafahrten, jenen kleinen Gesellschaftsreisen, die mittels besonders eingestellter Bahnzüge und Dampfschiffe ausgeführt werden und sich auf die mehr oder minder nahe gelegenen „nächsten“ Naturschönheiten erstrecken.

Bei allen Extrafahrten erscheinen die Großstädter in hellen Haufen, trotzdem jeder Betheiligte von vornherein weiß, daß das Vergnügen einer solchen Fahrt häufig, nein regelmäßig mit zahlreichen Bitternissen gemengt ist. Der Drang ins Freie ist aber so mächtig, daß die kleinen und großen Beschwerden der Fahrt freudig in Kauf genommen, wohl gar als Erhöhung des Lebensgenusses betrachtet werden.

In der Kunst, kleine Uebelstände als Würze des Daseins zu empfinden, hat es der Berliner zu wahrer Meisterschaft gebracht. Er ist überhaupt der „Extrafahrer par excellence“, bei dem unter allen Umständen der Humor oben bleibt. Sein beliebtestes Ziel bei solchen Fahrten ist Rügen, besonders an Pfingsten.

Nach Tausenden zählen die Theilnehmer, die sich auf dem Stettiner Bahnhof im Norden Berlins zusammenfinden. Schon hier bei der Abfahrt des Zugs, die gewöhnlich in der Nacht vom Pfingstsonnabend auf den Sonntag erfolgt, wird die Widerstandskraft auf eine harte Probe gestellt, denn der Platz, zu dem das vorsichtshalber schon Tags vorher gekaufte Billet berechtigt, ist nur in schwerem Kampf zu erreichen. Das drückt und quirlt durch einander, das ruft und schreit, schiebt und stößt. „Unjlaublich, wie ville Ellenbogen et uff die Welt jiebt,“ sagt der Berliner, wenn er sich endlich durchgerungen hat und nun mit vergnügtem Gesicht sich in ein bereits vollgepacktes Coupé zwängt. „Nu können wir losjondeln!“

Aber bei dem besten Willen aller Coupéinsassen ist der Raum doch zu knapp, jeden Augenblick kommen fremde Kniee, fremde Schultern und Ellenbogen mit einander in Berührung.

„Kommen Sie her, Jüngelchen, wir legen Ihnen über! Denn jeht et!“ Und unter dem Lachen der gesammten Gesellschaft wird ein schmächtiger Tertianer genöthigt, seinen Platz aufzugeben und sich wie ein etwas zu groß gerathenes Wickelkind über die Kniee der Sitzenden legen zu lassen. Das paßt ihm aber nicht recht, er zieht darum den Stehplatz am Fenster vor.

Der Zug geht ab. Eine schlaflose Nacht im heißen, staubigen Eisenbahnwagen wird mit bewunderungswürdigem Gleichmuth ertragen. Nach dreistündiger Rumpelei steigt man in Stettin aus, reckt die steifen Glieder, jagt in der Bahnhofrestauration eine Tasse Kaffee hinab und trottet dann durch die kühle Nachtluft dem Hafen zu. Trapp, trapp, trapp! Hunderte und aber Hunderte eiliger Füße besteigen den Dampfer. Uff, hier findet man Platz und kann zum ruhigen Genuß von „des Daseins Wonne“ gelangen. Ganz bedeutend hilft dazu ein nahrhaftes Frühstück, dem man um der ungewöhnlichen Stunde willen – es ist vier Uhr morgens – durch einen Cognak besonderen Nachdruck verleiht.

Der flaggengeschmückte Dampfer hat sich unterdessen in Bewegung gesetzt, die Häuser der Stadt gleiten vorüber, bleiben zurück. Der Fluß weitet sich, stolzer und mächtiger rollen die Wogen heran, die das Schiff durchschneidet, die grauen Morgennebel zerflattern, und in glorreicher Schöne steigt die strahlende Pfingstsonne empor.

„Nu is et janz mollig,“ meint der Berliner und beginnt, sich mit seinem Nachbar anzufreunden. Ist dieser liebe Nachbar gar eine schöne und junge Nachbarin – um so besser! Man bewundert gemeinschaftlich „die Natur“, frühstückt gemeinschaftlich zum zweiten Male und verabredet, während der ganzen Tour zusammenzuhalten. Auf hoher See wird dies Zusammenhalten durch die Schwankungen des Schiffs und deren Folgen etwas erschwert, denn jeder ist mir sich selber beschäftigt, dies oder jenes Gesicht überzieht sich mit einer bedenklichen Blässe und die schöne junge Nachbarin ist vielleicht gar für kurze Zeit ganz verschwunden.

„Das is im Leben häßlich einjericht’
Daß bei den Rosen jleich die Dornen stehn –“

recitirt der philosophirende Nachbar.

Zum Glück dauert der unbehagliche Zustand nicht lange, denn die weißen Kreideberge und grünen Wälder Rügens tauchen bald aus den Fluthen empor. Kleine Segelboote, jedes mit zwei stämmigen Fischern besetzt, kommen heran; der Dampfer stoppt und das Ausladen der Vergnügungszügler beginnt. Dabei kommt es vor, daß schwache oder zimperliche Jungfräulein ohne weiteres von derben Fischerarmen umfaßt und auf die Landungsbrücke gesetzt werden.

Sassenitz[2] ist erreicht.

Alles, was männlich ist unter der Gesellschaft, sieht sich vor allem nach einem Wirthshaus um.

Wirthshäuser giebt’s nun genug auf der schönen Insel; auch ist man in Sassenitz auf so starken Besuch wohl gerüstet; zahlreiche Kälber mußten ihr Leben lassen, die Backpflaumen wurden centnerweise geschmort und das „Echte“ in ungezählten Fässern herbeigeschafft. Nach wenigen Minuten fliegen die Kellner, daß es eine Art hat.

Nachdem des Magens Gelüste befriedigt sind, geht’s hinein in die grünen Wogen der Stubnitz, jenes herrlichen Buchenwaldes, der sich von Sassenitz aus meilenweit am Meeresufer entlang zieht.

An den Ufern des geheimnißvollen Herthasees verweilen einige sentinentale Gemüther der Gesellschaft und überlassen sich einem angenehmen Gruseln. Die heiteren Gemüther dagegen finden mehr Gefallen an den zahlreichen Hünengräbern, die in dem grünen Waldesdom verstreut umher liegen. „Mumpitz, allens Mumpitz! Die sind alle schon ausjebuddelt,“ meint ein junger Skeptiker. Man lacht und richtet die Blicke wieder von den bemoosten Zeugen einer tausendjährigen Vergangenheit auf die fröhliche Gegenwart.

Da blinkt das Meer durch die grünen Büsche; nach der andern Seite hin herrscht tiefes dunkles Waldesschweigen. Singend und jauchzend geht es weiter durch die schöne Welt.

Die „große Stubbenkammer“ ist erreicht. Ein „verflossener“ Professor nimmt die Gelegenheit wahr, um einigen Freunden die Entstehung dieser wunderbaren gigantischen Kreidefelsen zu erklären. Im Nu ist er von Wißbegierigen in dichtem Kreise umdrängt. Das gefällt ihm natürlich, er erweitert seine Erklärung zu einem kleinen geologischen Vortrag. Wie die Geschichte aber zu lange dauert, ruft eine helle Stimme: „Männe, nu halten Sie dicht! Bildung haben wir in Berlin jenug.“ Sofort löst sich der Kreis unter Lachen und Scherzen; man will ja nicht lernen, man will nur leben!

Vorwärts! Es wird weitergewandert, gruppen- oder paarweise, vielleicht auch allein. Es kann auch geschehen, daß irgend ein Pärchen hinter schützendem Gebüsch verborgen etwas zu lange die schöne Aussicht bewundert, dann gehen die Alten sicher mit abgewendetem Gesichte sachte vorüber, denn „die Kinnerkens könnten sich ja ’was Wichtiges mitzutheilen haben.“

Wieder ist eine Station des Vergnügungsprogramms erreicht, Arkona. Der Kathedermann a. D. fühlt seine Begeisterung wieder wachsen, er beginnt aufs neue zu dociren. „Arkona kommt her von ‚urkan‘, das ist slavisch und heißt ‚am Ende‘; slavische und wendische Völkerstämme bewohnten nämlich die Insel zur Zeit, als Tacitus –“

„Jotte doch! nu kommt der mit Tacitussen, wo die Welt ringsum doch so schön is,“ meint einer von der Gesellschaft, „Kinnerkens, nu singt ’mal lieber eens!“

Und es wird „eens“ gesungen. Hoch oben von der Klippe, die gen Norden schaut, an deren Fuß das weite blaue Meer brandet, die im Purpurschein der sinkenden Sonne rosig erstrahlt, schallt ein deutsches Lied weit in die klare stille Luft hinaus.

Singen ist sehr schön, aber es macht durstig; zum Glück ist der Leuchtthurm nicht fern – eben flammt ein mächtiges Licht auf, das auf 21 Seemeilen in der Runde über das nächtliche Meer leuchtet. Der Thurm ist zugleich Gasthaus, daher ist die Bemerkung ganz gerechtfertigt: „Wir haben Glück, wo et schön is, is immer ’n Wirthshaus dichte bei.“

Nicht ganz so günstig läuft der am folgenden Tage unternommene Ausflug nach Mönkgut (richtiger als Mönchgut) ab. Die Extrafahrer haben mit dem Besuch der Stubnitz, der beiden Stubbenkammern und des Vorgebirges Arkona das Wirkungsvollste vorweg genossen, und so macht die schmale, langgestreckte, vielfach zerrissene Landzunge Mönkgut, die mit dem Kern der Insel nur schwach zusammenhängt keinen tiefen Eindruck, obwohl der Herr Professor der Ansicht ist, daß gerade dieser Theil der ethnographisch interessanteste der ganzen Insel sei. Die drallen Mönkguterinnen in ihrem Festtagsstaat genügen nicht zur Unterhaltung eines ganzen Tages; außerdem wird gefunden, daß „et in Mönkgut verdammt schlechte Verpflegung jiebt,“ und dann sinkt das Stimmungsbarometer auf eine bedenkliche Tiefe herunter.

Plötzlich zucken Blitze und krachen die Donner, ein heftiger Platzregen ergießt sich über die abgespannte Gesellschaft. Ha, das erfrischt, das bringt „Abwechselung in die ewige Sonne“.

Nun kann man auch mit Anstand zurückverlangen nach Sassenitz, wo gewiß der Dampfer schon zur Rückfahrt geheizt hat. Vorwärts, wer nicht rechtzeitig an Bord ist, muß zurückbleiben.

Nach Sonnenuntergang lichtet der Dampfer die Anker. Vom Land aus werden den Absegelnden feurige Abschiedsgrüße in Gestalt von Raketen und zischenden Schwärmern nachgeschickt. Verlorene Liebesmühe! Die Extrafahrer sitzen ganz still auf ihrem Schiffe; der schwache Versuch, ein Lied anzustimmen, scheitert gänzlich. Sogar der aufgehende Mond, der sein mildes Silberlicht über das Meer ausgießt, vermag die um sich greifende Lethargie nicht abzuhalten; die Extrazügler lassen die Köpfe hängen, es ist zu Ende mit ihrer Genußfähigkeit.

Bei der Ankunft in Stettin wie bei der Abfahrt des Bahnzugs nach Berlin scheinen sogar alle Bande zarter Scheu gelöst, man erstürmt die Coupés und freut sich des eroberten Platzes ohne Rücksicht auf den Nebenmenschen. Man hat nur ein Bedürfniß: Ruhe! Schlaf! Schlaf! und noch einmal Schlaf! Nur die „Kinnerkens“ scheint die Wichtigkeit ihrer Mittheilung, mit der sie immer noch nicht ganz am Ende sind, über dieses gemeine irdische Bedürfniß hinauszuheben.

Es ist noch nicht genau festgestellt worden, wie viel Schlaf ein Berliner Extrafahrer braucht, um sich von einer Extrafahrt nach Rügen zu erholen. Wohl aber ist festgestellt, daß er bei der Ankunft in Berlin schimpft wie ein Rohrspatz: „Eenmal un nicht wieder!“ daß er aber bei der nächsten Pfingstfahrt schon acht Tage vorher sich eines Billets versichert.




[404]

König Humberts Einzug in Berlin am 21. Mai.

Von Hermann Heiberg.

Dem nachdenklichen Beschauer drängten sich eigene Gedanken auf, wenn er am Tage vor dem Einzuge des italienischen Herrschers die Hauptstraßen des Centrums durchwanderte und einen Blick auf die Vorbereitungen zum Empfange des Königs Humbert warf.

Unwillkürlich kam die Erinnerung an die Todtenhuldigung, welche die Stadt Berlin ihrem großen Kaiser im vorigen Jahre bereitet hatte. – Damals Trauerfahnen, dunkle Banner, gesenkte Fackeln, Todtenurnen und Schwarz und Grau und düstere, ernste Farben, wohin das Auge sich wandte. –

Nun aber freudiges Leben, geschäftige Hände, die wie von Zauberkraft unterstützt die Triumphbogen und Hallen, die Baldachine, die Sockel und Flaggenstangen aufrichteten und sie mit Schmuck versahen. –

Auch die Besitzer der Häuser in den Feststraßen, der Königgrätzerstraße und Unter den Linden, waren nicht zurückgeblieben. Ja, etwas von der südlichen Eigenart schien man absichtlich haben nachahmen zu wollen, denn buntfarbige, meist orientalische Teppiche sah man von zahlreichen Fenstern herabhängen.

Bau- und Bildnerkunst hatten Großartiges und wahrhaft Farbenprächtiges geschaffen, als der junge Maimorgen anbrach und die letzten Arbeiter, die die Nacht über, von elektrischem, Gas- und bengalischem Lichte unterstützt, ihre Thätigkeit nicht unterbrochen hatten, die Stätte ihrer Wirksamkeit verließen.

Ein jubelnder, gleichsam siegreicher Tag der Freude und Erwartung! Nicht vergessen, aber zurückgedrängt war die Erinnerung an die ernste Zeit, die uns den edlen Kaiser Wilhelm dahinriß. Heute feierten die Linden den Triumph des Lebens, der Wiedergeburt in ihrem märchenhaften Schmucke. – Eine neue Zeit, ein neuer Herrscher, ein kräftiger, zielbewußter, seine Aufgaben ernst nehmender Monarch, Preußens König, Deutschlands Kaiser, ein Fürst des Friedens! Und als Friedensfürst zog ein am Morgen in das erwartungsvolle, geschmückte, des bedeutungsvollen Tages sich bewußte Berlin auch ein Freund des Friedens, durch sein Kommen der Welt bestätigend: „Wir reichen uns die Hände hier auf deutschem Boden wie jüngst auf italienischem als Bundesgenossen, und unser Bündniß hat die Bedeutung, den Völkern die Segnungen der Arbeit zu verschaffen, ruhige Entwickelung zu fördern, die Brandfackeln des Krieges fern zu halten!“ –

Wohl keine Zeitung im ganzen deutschen Lande, die nicht über die Einzelheiten berichtet hat, aus denen sich das Empfangsbild zusammensetzte. Deshalb will ich auch nur versuchen, einige Eindrücke des Tages wiederzugeben.

Schon Stunden vor dem Eintreffen der Monarchen hatte sich die Bevölkerung vom Anhalter Bahnhof herab bis an das Schloß aufgestellt. Aus allen Theilen der Stadt, aus Norden, Süden, Osten und Westen eilten bereits die Menschenmassen ins Centrum. Im Westen gab’s keine Wagen mehr. Die Droschkenhalteplätze waren leer. Je mehr man sich dem Brandenburger Thor, der Leipziger- und Friedrichstraße näherte, um so eilfertigeres Leben – Wagen, Equipagen, Droschken, Fiaker, Kremser mit Menschen, sich drängende Männer, Frauen und Kinder.

Um 9 Uhr mußte alles nach einer Bekanntmachung des Polizeipräsidiums Aufstellung genommen haben. Dem Publikum war bereitwillig Zutritt versprochen, an den Ordnungssinn und die Gesittung hatte die Behörde – und nicht umsonst appellirt.

Als ich um 10½ Uhr, die Ankunftszeit König Humberts, die Linden durch ein Privathaus betrat und die beiden Seiten durchwanderte, ging kaum einmal ein leises Summen durch die Menge. Jeder in dieser tausendfältigen Masse verhielt sich ruhig, und nur bei dem Panoptikum Unter den Linden entstand einmal ein kleiner Auflauf, als eine dort befindliche italienische Bänkelsängergesellschaft in reizend phantastischen Kostümen vom Balkon herab ihre Instrumente ertönen und ihre Stimmen erschallen ließ.

Ich wandte von einem erhöhten Platz wiederholt den Blick die Linden hinab bis an das Brandenburger Thor und andererseits bis an das Kaiserliche Schloß. Ein Anblick von berückender Schönheit! Ein Tag, begünstigt vom Himmel wie kaum ein zweiter durch eine italienisch blaue Luft, – durch goldenes, alles umstrahlendes Sonnenlicht.

Das war ein Flimmern und Blitzen und Leuchten an den Spitzen, Giebeln und Vorsprüngen der geschmückten Häuser. Guirlanden, Fahnen, bunte Tücher, Teppiche, Grün, Blumen an den Fassaden, wohin man blickte, in allen Fenstern Menschen, Tausende und aber Tausende. Die Balkone, fast brechend von Zuschauern; in den Dachluken, auf den Dächern menschliche Gestalten und hoch über allem wimpelnde Fahnen in den Farben des Reichs und vornehmlich in den Farben der Halbinsel, deren Herrscher erwartet wurde.

Und jedes öffentliche Gebäude geschmückt – beladen! Dazwischen unter den Linden die durch golddurchwirkte Netze verbundenen Ehrenpforten, die mächtigen Baldachine mit ihren Figuren, Statuen, Kronen und Inschriften, und zu ihren Füßen die langen Reihen des aufgestellten Militärs zu Fuß und zu Pferde, mit blitzenden Helmen, Kürassen und Degen, die Führer hoch zu Roß mit Federbüschen und Ordenssternen, die Musik mit ihren funkelnden Blechinstrumenten, und die Linden selbst mit ihrem kraftvollen, herrlichen Grün und den breiten, von der Bevölkerung besetzten Reit- und Fahrwegen! – Eine Pracht, eine Ueppigkeit, eine Farbenfülle, ein Reichthum sondergleichen und eine das Auge erfreuende Ordnung, wie sie bei solchen Massen kaum möglich erscheint!

Endlich, 40 Minuten nach der angesagten Zeit, machte sich eine allgemeine Bewegung bemerkbar. Kanonenschläge ertönten. Ueber den Reitweg galoppirte ein Schutzmann dem Brandenburger Thor zu. Die Reihen der Truppen schlossen sich fester aneinander, die Musiker griffen zu ihren Instrumenten, die Offiziere zu Fuß und zu Pferde reihten sich enger in die Ordnung ein – stramm, bewegungslos stand alles da. – Und nun ein seltsames, allmählich immer mehr anschwellendes, gleich Meeresrauschen wirkendes, brausendes Getöse, das sich zuletzt auflöste in einen einzigen, ungeheuren Sturm der Begeisterung.

Die Musik setzte ein, die Trommeln wirbelten, die Trompeten schmetterten, die Pferde rissen ungeduldig an den Zügeln und bäumten sich. – Und dann unter einem unbeschreiblichen Jubel, unter Tücherschwenken und tausendfältigem Hurrah – die Monarchen, der fürstliche Gast, König Humbert von Italien neben ihm der deutsche Kaiser Wilhelm II., im vierspännigen Wagen, eskortirt von einer Eskadron Garde-Kürassiere.

Und immer noch Jubelruf. Fürst Bismarck, neben Crispi, dem italienischen Ministerpräsidenten, der junge Prinz von Neapel und Prinz Heinrich, Graf Moltke, der übrige Hof, das Gefolge in zwei- und vierspännigen Wagen, die Generalität, ein farbenreiches Bild, ein das Auge des Publikums fesselndes, herrliches Schauspiel.

Endlich war auch kein Halten mehr! – Zu sehen, wie sich diese Menschenmassen auflösten, wie sie an der Ecke der Friedrichstraße und der Linden durcheinander sich mischten und drängten, die Massen der Wagen stockten und dieser Bienenschwarm sich ergoß in die angrenzenden Straßen, machte fast einen sinnverwirrenden Eindruck.

Erst spät in der Nacht leerten sich die Linden. Endlose Wagenreihen rollten, langsam sich fortbewegend, auf und nieder.

Als mit der einbrechenden Dunkelheit die Lichter in allen Häusern angezündet wurden, als die venetianischen Lampions aufblitzten, das elektrische Licht seine Ströme über die Straße warf, die golddurchwirkten Netze der Ehrenpforten durchfluthete und die Spitzen der Baldachine umleuchtete, als alle diese Licht- und Farbentöne, ausstrahlend von den lebendigen und todten Dingen, das Auge trafen, da war’s dem Beschauer, als wirke ein Märchentraum nach; nicht Wirklichkeit sei, was er in sich aufnehme!

Als ich spät nach Hause wanderte, leuchtete unter dem elektrischen Licht vom Potsdamer Platz am Hotel Bellevue die weithin sichtbare Inschrift: „Evviva Roma, Capitale d’Italia!“

Ein Zuruf an die ewige Stadt, nicht an den Herrscher! Aber in der That, auch die Augen der beiden großen Städte im Norden und Süden richteten sich heute aufeinander wie die Blicke der beiden Monarchen und beglückwünschten sich freudeerregt und hoffnungsvoll bei dieser unvergeßlichen festlichen Feier des großen Friedensbündnisses im Frühjahr 1889! –




[405]

König Humberts Einzug in Berlin.
Nach einer Zeichnung von A. v. Roeßler.

  1. Opernhaus
  2. Bergische Gruppe
  3. Germania und Italia
  4. Der kaiserliche Wagen
  5. Königszelt
  6. Historisches Eckfenster
  7. Denkmal Friedrich des Großen
[406]

Eine Dichterkrönung in Spanien.

Seit einigen Monaten ist die spanische Dichterwelt in freudigster Erregung: das Wunderschloß maurischer Kunst mit den Mauern von Filigran, mit den Marmorsäulen, den Orangen und Myrthen, die Alhambra von Granada, auf der seit Jahrhunderten der Zauber der Romantik ruht, soll in den Junitagen dieses Jahres einen neuen, mächtigen Reiz erhalten; in ihren goldstrahlenden Gemächern soll das schönste Fest der Poesie, eine Dichterkrönung, gefeiert werden; der Darro, der den Fuß des Hügels bespült, auf dem das Maurenschloß sich erhebt, soll das Gold zu der Krone geben, mit der die Königin-Regentin von Spanien den Dichter José Zorrilla auf dem Schauplatz seiner herrlichsten Dichtung, Granada, krönen wird.

Gleich Hellas und dem alten Rom haben Italien, Deutschland und Spanien ihre Dichterkrönungen gehabt; aber während dieselben in Italien und Deutschland vom 14. bis zum 17. Jahrhundert stattfanden, hat das Vaterland des Calderon und des Cervantes, wo die Poesie im Drama, im Roman und in der Lyrik den Gipfel der Vollendung erreichte, erst um die Mitte dieses Jahrhunderts das seltene Fest einer Dichterkrönung gesehen.

Großer Glanz wurde in Rom bei der Krönung des Petrarca entfaltet; es war am Ostertag des Jahres 1341, als der Einsiedler von Vaucluse in einer reichverzierten Tunica, einem Geschenk des Königs von Neapel, die goldene Leier in der Hand, in einem Triumphwagen, umgeben von Musikern, begleitet von Prälaten, Senatoren und einer ungeheuren Menge, durch die Straßen Roms dahinzog. Zwölf Edelknaben schritten ihm voran, welche Verse von ihm vortrugen. Auf dem Capitol angelangt, setzte der Graf Anguillara mit den Worten: „Die Krone ist der Lohn des Verdienstes“ dem Troubadour der Liebe drei Kronen aufs Haupt, eine von Epheu als dem Dichter, eine von Lorbeer als dem Sieger, eine von Myrthen als dem Treuliebenden. Dann begab sich der Zug in die Peterskirche, und Petrarca weihte seine Kronen dem Herrn.

Der Dichter des „Rasenden Roland“, Ariost, wurde 1532, ein Jahr vor seinem Tode, in Mantua von Kaiser Karl V. gekrönt. Der unglückliche Dichter des „Befreiten Jerusalem“ aber sollte seine Dichterkrönung auf dem Capitol, mit der die beiden Kardinäle Aldobrandini vom Papst Clemens VIII. betraut waren, nicht erleben: am 15. April 1595, dem für das Fest bestimmten Tage, starb Tasso, und die Krone schmückte nur einen Todten.

Der jugendlich feurige Ulrich von Hutten wurde in Augsburg 1517 von Kaiser Maximilian durch eine Dichterkrönung geehrt. Als aber derselbe Kaiser sich des alleinigen Rechtes, einen Dichter zu krönen, begab, da verlor die Auszeichnung an Bedeutung und mancher geringere Geist hat sie sich in der Folge durch bescheidene Verdienste errungen. Goethe, der während seines Aufenthalts in Rom dort feierlich gekrönt werden sollte, lehnte die Ehre ab.

In Spanien ist der Gedanke, einem Dichter im Namen seines Volkes als Tribut der Bewunderung den geweihten Lorbeer Apollos zu spenden, von Journalisten ausgegangen. Ein angesehener Redakteur, der Direktor der Madrider „Iberia“, Pedro Calvo Asensio, wies zuerst darauf hin, daß der greise Manuel José Quintana, der Dichter von Oden voll erhabener Kraft, eine feierliche Dichterkrönung verdiene. Sein Vorschlag fand sofort in der spanischen Presse und unter den Dichtern Anklang, und die Königin Isabella, deren Lehrer Quintana war, ließ es sich nicht nehmen, die Nationalsammlung, durch welche die goldene Krone beschafft werden sollte, mit einer ansehnlichen Summe zu eröffnen. Am 25. März 1855 fand die Krönung Quintanas durch die Königin im Senatspalaste von Madrid in Gegenwart der Behörden und der litterarischen und wissenschaftlichen Vereine statt. Den Dichter, der damals 83 Jahre zählte, ehrte die Feier, aber dem Volke wurde kein Antheil an diesem Feste gegönnt. Es war mehr das Fest einer Partei als der ganzen Nation und trug nur ein officielles Gepräge.

In Granada aber, der Stadt der tausend phantastischen Legenden, wurde der wahrhaft poetische Gedanke geboren, José Zorrilla, dem Dichter, der in Spanien das glänzende Zeitalter einer hohen idealistischen Poesie mit seinem Namen schließt, in dem märchenhaften Maurenschlosse der Alhambra durch eine großartige Feier an seinem Lebensabend zu huldigen und der Welt den Beweis zu liefern, daß im spanischen Volke noch heute das Gefühl für das Schöne glüht und die Verehrung geistiger Größe lebt. Es war der Redakteur des „Defensor de Granada“, der Vicepräsident des granadinischen Liceo artistico y literario[3], Luis Seco de Lucena, welcher den Gedanken zuerst ausgesprochen hat, und seiner Thatkraft vor allem ist es zuzuschreiben, wenn alle Hindernisse überwunden wurden, die sich der Verwirklichung dieser Idee entgegenstellten. Das Liceo von Granada, mit dem die stolzesten Namen der spanischen Litteratur dieses Jahrhunderts verknüpft sind, machte den Gedanken des Luis Seco de Lucena zu dem seinigen; der Präsident des Liceo, Graf de las Infantas, Nachkomme jenes berühmten Hernando de Pulgar, von dessen Thaten bei der Eroberung von Granada durch die Spanier der Romanzenschatz berichtet, trat dafür mit dem vollen Gewicht seines Ansehens ein.

Am 28. Januar 1889 gingen die Granadiner ans Werk; das Liceo versicherte sich der Mitwirkung der angesehensten Persönlichkeiten Spaniens in Litteratur und Politik, der Defensor de Granada veröffentlichte die zustimmenden Briefe der hervorragenden Geister; eine nach Madrid gesandte Abordnung des Liceo gewann die Königin und die Minister für die Sache, die auch bei fast allen Ayuntamientos der spanischen Hauptstädte die gewünschte materielle Unterstützung fand, und der Dichter selbst, der durch ein Schreiben des Grafen de las Infantas vom 28. Januar von dem Plan des Liceo in Kenntniß gesetzt worden war, sagte in seiner Antwort vom 6. Februar, daß er sich dieser ungewöhnlichen Huldigung, die er als eine verdiente nicht annehmen könne, dennoch unterwerfe.

Eine Ehrengarde von spanischen Dichtern und vielleicht auch von Dichtern des Auslandes wird Zorrilla umgeben, wenn ihn die Königin-Regentin in der Alhambra krönt; dann werden die Schöpfungen seiner Dichterphantasie und die Helden seiner Lieder Leben gewinnen und freudig zu ihrem Sänger eilen, und an der Verherrlichung des spanischen Genius werden alle theilnehmen, die Granada besungen, von Edin Alkatib bis Irving, Byron, Chateaubriand und Auffenberg.

Zorrilla ist der volksthümlichste aller spanischen Dichter dieses Jahrhunderts, er ist der Dichter der Sage und der Religion, des Glaubens und des Aberglaubens. Er hat sich begeistert in den Ruinen der Vergangenheit, in den verfallenen gothischen Domen, in den Trümmern der Klöster, der Paläste, der Thore und Mauern in den Städten von Castilien und hat wieder heraufbeschworen Könige, Ritter, Inquisitoren, Mönche, Nonnen und Troubadoure. Die Einbildungskraft ist mächtiger in ihm als das Gefühl, seine Mannigfaltigkeit größer als seine Tiefe, er ist mehr Künstler als Denker, die Handlung wird bei ihm von der Beschreibung überwuchert. Seine Romanzen voll pomphafter Schilderung, seine Troubadourgesänge sind in unendlichen Wohllaut getaucht, sie klingen dem spanischen Ohr wie liebliche Musik. Sie sind unvergängliche Seiten in der poetischen Bibel der spanischen Nation, dem Romancero, und haben in einer traurigen Gegenwart den Spaniern Trost gespendet. Sein „Don Juan Tenorio“, der seit mehr als 40 Jahren die spanische Bühne beherrscht, indem er am Allerseelentage auf allen spanischen Theatern aufgeführt wird, ist der ausgeprägteste Typus des spanischen Volkes. Wenn Zorrilla selbst in der prosaischen Landschaft von Altcastilien zum glänzenden Dichter wurde, was mußte er wohl werden, als er den Zauber Andalusiens empfand, die paradiesischen Gärten des Darro und Genil und die Wunder der arabischen Kultur schaute! Voll von den paradiesischen Eindrücken brachte er dieselben in den Jahren 1849 und 1852 auf französischem Boden in seinem epischen Gedicht „Granada“ zu poetischer Darstellung, doch ist das Werk eigenthümlicherweise bis jetzt nur in der in Frankreich veranstalteten Ausgabe vorhanden. Zorrilla singt wie der Vogel singt, selbst die Rede, die er 1885 bei seinem Eintritt in die spanische Akademie hielt, war, was sonst nicht üblich ist, statt der Prosa ein Poem. Wenn er im Ateneo von Madrid mit seiner harmonischen Stimme seine klangvollen Strophen vorträgt, jauchzt ihm alles zu, obgleich das Zeitalter seiner romantischen Poesien schon entschwunden ist und jetzt kein Spanier mehr solche Romanzen dichten würde wie er.

Geboren am 21. Februar 1817 zu Valladolid, genoß er von 1827 bis 1832 den Unterricht in der Madrider Schule der Adeligen und stellte schon als Kind die Degen- und Mantelstücke Calderons und Lopes dar. Um Rechtswissenschaft zu studieren, bezog er die Universität Toledo; aber der junge Romantiker, ein blasser Jüngling mit wallendem Haar, sagte sich bald von der väterlichen Leitung los und ward, was das Schicksal ihn hieß, ein Dichter. Sein Leben ist reich an Abenteuern und Unglücksfällen; von 1855 bis 1866 verweilte er im spanischen Amerika, bald in der Einsamkeit indianischer Hütten, bald als Gast im Palaste seines Gönners, des Kaisers Max, dem er als dem „Märtyrer von Queretaro“ ein schönes litterarisches Denkmal setzte. Bei seiner Rückkehr nach Spanien wurde er hochgefeiert, aber der Dichter, dessen Werke die Verleger reich gemacht hatten, lebte jahrelang in drückender Armuth, bis spanische Edelfrauen durch ein jährliches Ehrengeschenk die nagende Sorge von ihm nahmen und die Cortes ihm endlich ein Jahrgehalt auswarfen.

Spanien hat noch andere bedeutende Dichter außer ihm; aber wenn man nach dem fragt, der der spanischen Poesie und dem ritterlichen Wesen des spanischen Volkes den vollendetsten Ausdruck gegeben und der am meisten und mit der wärmsten Begeisterung Spaniens Sagen und Legenden verherrlicht hat, so giebt es bei allen Spaniern nur eine Antwort: Zorrilla! Johannes Fastenrath.




Blätter und Blüthen.

Das Denkmal für die Gefallenen von Bau. (Mit Abbildung S. 389.) Es giebt Zeugniß von einem edlen Sinne, wenn ein Volk im Glücke derer nicht vergißt, die in den Zeiten der Noth, der Schwäche sich Ansprüche auf seine Dankbarkeit erworben haben, wenn es sich angelegen sein läßt, die Hinterlassenschaft von Verpflichtungen, die zu erfüllen des Geschickes Mißgunst frühere Geschlechter verhinderte, als gewissenhafter Erbe einzulösen. In diesem Sinne darf man auch das am 9. April zu Flensburg enthüllte Denkmal für die im Treffen von Bau am 9. April 1848 gefallenen Deutschen als ein solches betrachten, das für die Errichtenden gleich ehrenvoll ist wie für diejenigen, denen es errichtet wurde, denn die Kämpfer von Bau sind im Grunde genommen wie die Kämpfer von 1870 nichts anderes, als Blutzeugen der deutschen Einheit, Macht und Größe. Es war in den schwülen Tagen zu Anfang des Jahres 1848, als die durch König Christians VIII. „offenen Brief“ bekannt gewordenen Absichten Dänemarks auf eine Einverleibung Schleswig-Holsteins in den dänischen Gesammtstaat – beide Länder waren bisher nur durch Personalunion [407] mit demselben verbunden gewesen – nicht bloß in den Herzogthümern selbst, sondern in ganz Deutschland einen Sturm der Entrüstung hervorriefen, der sich auch durch die Anerbietungen einer freisinnigen Verfassung von seiten Friedrichs VII., des Sohnes und Nachfolgers Christians, nicht beschwichtigen ließ. In Kiel bildete sich eine provisorische Regierung, sie rüstete eifrig zum Kriege, das ganze Land erhob sich und alle Wehrfähigen eilten zu den Fahnen, um Recht und Unabhängigkeit eines deutschen Stammes zu vertheidigen.

Aber der Feldzug nahm einen schlimmen Anfang für die deutschen Scharen. Durch Uebermacht und eine glückliche Umgehung gelang es den Dänen, die Schleswig-Holsteiner zum Verlassen ihrer Stellung bei Bau zu zwingen. Der rechte Flügel, aus Jägern, Turnern und Kieler Studenten bestehend, wurde dabei abgeschnitten und nach hartnäckigem Widerstand großentheils gefangen genommen. Der empfindlichste Verlust traf die braven Streiter in Flensburg, indem die Bewohner des nördlichen Stadttheils ihre dänischen Gesinnungen dadurch bethätigten, daß sie durch Schüsse und Steinwürfe aus den Fenstern den einhauenden dänischen Reitern die Arbeit erleichterten.

Auf dem Platze, wo der letzte Kampf tobte, vor der Dittmannschen Gießerei, erhebt sich heute das Denkmal, hervorgegangen aus der Hand des Bildhauers Müllenhof in Kiel. Es besteht aus einem granitenen Obelisk, der auf einem an den vier Seitenflächen polirten Sockel ruht. Diese vier Seitenflächen enthalten in vergoldeten Buchstaben die Widmung und die Namen der Gefallenen. Erstere lautet: „Dem Andenken an die bei Bau am 9. April 1848 auf deutscher Seite gefallenen Studenten, Freiwilligen und Soldaten von ihren Kampfgenossen und von der Universität Kiel. Errichtet A. D. 1889.“ Die auf unserer Abbildung des Denkmals dem Beschauer zugekehrte Inschrifttafel trägt an ihrer Spitze den Namen des tapferen Führers der Abtheilung, des Majors Michelsen. Niedrige Steinsäulen, mit Ketten verbunden, bilden die Umfriedigung des schlichten Gedenksteins, der in seinen Formen an so manchen andern erinnert, der sich auf den blutgetränkten Gefilden Frankreichs und der Reichslande erhebt. Diejenigen, von denen der Flensburger Stein redet, waren nur weniger glücklich als ihre Söhne auf dem Felde der Ehre, aber die Güter, für welche sie stritten, waren dieselben. S.

Der Schuhplattler. (Zu den Bildern S. 396 u. 397.) Wen eine Bergwanderung durch die Hochthäler der bayerischen oder der angrenzenden österreichischen Alpen zufällig in ein ländliches Wirthshaus führt, wo sich neben etlichen strammen Burschen und Mädchen auch ein paar verwetterte Dorfmusikanten, ein Zitherspieler und ein Geiger, zusammengefunden haben, dem kann leicht das Vergnügen zu theil werden, einmal den berühmten „Schuhplattler“ mit ansehen zu dürfen. Der Schuhplattler ist ein Tanz, welcher an Urwüchsigkeit und Schwierigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Die Musik spielt im Walzertakte einen „Ländler“. Aber was nach dieser Musik getanzt wird, verhält sich zu unserem städtischen Walzer wie ein schäumender, Felsblöcke mitwälzender Bergstrom zu einem sanft hingleitenden Flusse. Der Tänzer dreht sein Mädchen erst ein paarmal ordentlich und würdevoll im Kreise. Dann aber läßt er es los, und während es sich sittsam, die Schürzenzipfel mit den Fingern fassend, weiter um seine eigene Achse dreht, umkreist er es, stets im Takte der Musik, in den verwegensten Sprüngen, stampft mit seinen schweren Schuhen den Boden, schlägt sich mit den flachen Händen klatschend auf die Sohlen und die Kniee, wirbelt seinen Hut in der Luft umher, jauchzt und pfeift in den unerhörtesten Tönen. Und wenn er ein recht schneidiger Tänzer ist, dann wirft er auch wohl seine Tänzerin unversehens in die Luft, steht plötzlich auf den Händen statt auf den Füßen oder pocht mit einem Fuße an die niedrige Stubendecke. Und das alles mit Schuhen, von welchen jeder mit einem halben Pfund mächtiger Eisennägel beschlagen ist. Wenn nur drei oder vier solcher Paare zugleich tanzen, muß die Diele dröhnen, der Staub aufwirbeln und das Haus in allen Fugen erzittern. Wehe dem Unseligen, dem einer dieser Tänzer auf die Zehen träte!

Bei aller scheinbaren Wildheit ist der Schuhplattler eigentlich ein durchaus sittsamer Tanz. Die tollen Sprünge und den Heidenlärm macht nur der Tänzer für sich und seiner Tänzerin zu Ehren; sobald er sich wieder mit ihr zusammen im Kreise schwingt, wird seine Haltung ernst und würdevoll. Es ist auch nicht zu fürchten, daß die edle Kunst des Schuhplattlers wie andere ehrwürdige Sitten nach und nach aussterbe; denn es finden sich immer wieder talentvolle Jünger, welche, mit gehörigen Sprunggelenken und eisenharten Handflächen ausgerüstet, den alten Meistern dieses Tanzes ihre Kunstleistungen abschauen. Städter werden diese Kunstleistungen nie ganz fertig bringen; denn es gehören keine Kulturhände, sondern Eisenfäuste dazu. M. H.

Alexander von Humboldts gesammelte Werke. Am 6. Mai dieses Jahres sind dreißig Jahre verflossen, seitdem Alexander von Humboldt, der vielseitigste Naturforscher der Neuzeit, in Berlin seine Augen schloß. Welchen Einfluß dieser Forscher auf die Entwickelung der Naturwissenschaft seiner Zeit ausübte, das erhellt schon aus der einen Thatsache, daß nach seinem Tode eine Humboldtlitteratur erstand, die lediglich die persönliche Würdigung Humboldts bezweckte. Bruhns, Klencke und Ule schrieben seine Biographie, andere gaben seinen Briefwechsel heraus, in dem wir den Namen Varnhagens, Bunsens, Raumers und Goethes begegnen. Humboldt schied aus dem Leben als ruhmreicher Begründer der klimatologischen und plastischen Geographie, der Physik des Meeres und der Pflanzengeographie; außerdem wirkte er bahnbrechend und befruchtend auf viele andere naturwissenschaftliche Disciplinen ein. – Seitdem er zu wirken aufgehört hat, ist die Wissenschaft mit geflügelten Schritten vorwärts geschritten, und im Lichte der neuesten Errungenschaften erscheinen viele Ansichten Humboldts naturgemäß als unzulänglich und unvollkommen. Das Interesse für die Schriften des berühmten Gelehrten ist aber bis auf den heutigen Tag nicht erloschen. Einen Beweis dafür können wir auch darin erblicken, daß die J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart soeben eine neue Ausgabe der „gesammelten Werke Alexander von Humboldts“ veranstaltet. Dieselben umfassen zwölf stattliche Bände, in denen die Hauptwerke Humboldts enthalten sind: „Kosmos“, „Reise nach den Aequinoctialgegenden des neuen Kontinents“, „Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neuspanien“, „Ansichten der Natur“, „Versuch über die Insel Cuba“. Der auf dem geographischen Gebiete rühmlichst bekannte Professor Friedrich von Hellwald hat diese Gesammtausgabe neu durchgesehen und in passenden Anmerkungen auf die Fortschritte der Wissenschaft überall, wo es nöthig schien, hingewiesen. Der Preis ist außerordentlich billig gestellt, so daß vielen Naturforschern und Geographen nunmehr die beste Gelegenheit geboten wird, ihre Privatbibliothek durch die Werke Alexander von Humboldts zu bereichern. *

Zimmerpflanzen im Juni. Solche Pflanzen, welche nicht zur Ausschmückung der inneren Wohnräume dienen sollen, müssen nun, wenn es nicht schon im Mai geschah, nothwendig an die freie Luft gestellt werden; ja es ist sogar nothwendig, auch die Zierpflanzen, welche den Winter über in den Zimmern standen, zu wechseln und mit anderen zu vertauschen. Die eine tägliche Zimmerwärme nicht ertragenden grünen Holzpflanzen haben dann oft schon junge Triebe angesetzt, welche aus Mangel an Licht und Luft ungesund sind, daher am besten ganz weggeschnitten werden, damit sich daneben andere kräftigere bilden. Es ist dies das sicherste Mittel, buschige Zierpflanzen zu ziehen. Krautartige Blattzierpflanzen, wie Palmen, Blattbegonien, Aspidistra (Plectogyne), Drazänen, Clivia etc. können im Zimmer stehen bleiben, vorausgesetzt, daß sie hell genug stehen. Den zur Erholung im Freien aufzustellenden Pflanzen sind in Ermangelung eines schattigen Platzes in einem Garten schattige Balkone, offene Gänge und ähnliche Plätze anzuweisen. Alle Pflanzen, welche in Wohnräumen gestanden haben, müssen im Freien einige Wochen schattig stehen, weil sie sonst verbrennen, d. h. von der Sonne Flecken bekommen, die jahrelang sichtbar bleiben. Selbst Pflanzen aus heißen Gegenden, welche dort an Sonne gewöhnt sind, wie Kaktus, Aloe, Drazänen, Palmen etc. verbrennen, wenn sie unvorbereitet der vollen Sonne ausgesetzt werden. Die zum Schmuck des Blumenbrettes und außen am Fenster angebrachten Pflanzen müssen an den Töpfen mit Moos umgeben werden, damit die Töpfe nicht von den Sonnenstrahlen zu heiß werden und die Pflanzen zu schnell austrocknen. Dieses Moos muß stets durch Begießen feucht gehalten werden. Die im Garten zur Zierde einzeln aufgestellten großen Pflanzen umgiebt man am besten mit schmuckreichen Uebertöpfen.

Sollten die zur Ausschmückung der Blumenbeete bestimmten Pflanzen nicht schon im Mai ausgepflanzt worden sein, so ist es im Juni die höchste Zeit. Viel Wärme verlangende Pflanzen, wie Canna und Pisang (Musa), pflanzt man überhaupt in nicht besonders warmen Gegenden erst Anfang Juni aus. Um sie recht üppig und vollkommen werden zu lassen, gräbt man die Erde der für sie bestimmten Beete aus und macht die Grube nach Art der Mistbeete durch Pferdemist und Laub warm. Geschieht das nicht, so erlangen sie selbst in heißen Sommern erst im August die gewünschte Ueppigkeit. In Gefäßen erreichen solche Pflanzen selten die ganze Vollkommenheit.

Zieht man im Zimmer Gloxinien und andere schön blühende knollenbildende Pflanzen aus der Familie der Gesneriaceen, so beginnen jetzt bereits einige zu blühen. Diese Pflanzen müssen schattig stehen und dürfen nicht vor das Fenster gestellt werden. Hat man viele Töpfe mit solchen Blumen, so kann man, um den Flor zu verlängern, einen Theil davon kühler stellen. Ein wöchentlich wiederholtes Begießen mit einer sehr verdünnten Lösung von Guano oder einem ähnlich wirkenden Düngstoffe trägt viel zur Vergrößerung der Blumen und zu einem reicheren Knospenansatze bei.

Hat man die Absicht, die im folgenden Winter blühenden chinesischen Primeln und Cinerarien selbst aus Samen zu ziehen, so ist es jetzt höchste Zeit dazu. Man säet den Samen in flache Samentöpfe, in Ermangelung solcher in flache Cigarrenkisten oder ähnliche Gefäße, in fein gesiebte sandige leichte Erde (Heide- oder Lauberde) bedeckt sie schwach und hält die Erde bis zum Keimen durch Bedecken mit einer Glastafel feucht. Letzteren Zweck erreicht man auch durch Auflegen von Löschpapier, welches man durch Bespritzen immer feucht hält. H. J.

Parade in Potsdam. (Zu dem Bilde auf S. 401.) Zu den Zeiten Kaiser Wilhelms I. bildete die Besichtigung der Potsdamer Garden, die gewöhnlich am Tage nach der Frühjahrsparade der Berliner Garnison stattfand, ein hervorragendes und vielbesuchtes militärisches Schauspiel. Diese Paraden in dem Lustgarten zu Potsdam, einem mächtigen viereckigen Platze beim Stadtschlosse, hatten für die große Masse der Zuschauer insofern einen höheren Reiz als die an sich großartigeren Besichtigungen auf dem Tempelhofer Felde bei Berlin, als der militärische Akt auf einem engeren Rahmen, einem leichter zu beherrschenden Gesichtsfeld sich abspielte. Zahlreich strömten denn auch die Neugierigen herbei, insbesondere war natürlich die Bevölkerung von Potsdam und Umgegend stark vertreten, denn die Gelegenheit, den Kaiser sammt seinem glänzenden Gefolge so in der Nähe zu sehen, war selten gleich günstig gegeben.

Das vorliegende Bild gewährt uns den Durchblick zwischen dem Säulenanbau des Stadtschlosses, der den Zugang zum Lustgarten bildet, und eine freie Uebersicht über den weiten Paradeplatz, in dessen Hintergrunde sich der Glockenthurm der Garnisonkirche, der Gruft Friedrichs des Großen, erhebt. Rechts ist ein Theil des Stadtschlosses mit der großen, terrassenförmigen Freitreppe sichtbar, von wo aus, ebenso wie aus den Fenstern des Schlosses, die Damen vom Hofe zuschauen, während am Fuß der Treppe die Zöglinge des großen Militärwaisenhauses in Reih und Glied aufgestellt sind.

Ein prächtiger Anblick immer, diese farbenspielenden Uniformen, glänzenden Helme und blitzenden Waffen, die wehenden Federbüsche und Roßschweife, die ausgesuchten Toiletten der Damen des Hofes, alles inmitten einer herrlichen architektonischen und landschaftlichen Umrahmung! Und dann diese strammen Gestalten der Gardetruppen, unter denen das Regiment Garde du Corps und die Hünenfiguren des ersten Garderegiments zu Fuß mit ihren historischen Blechmützen, die würdigen Nachkommen der Riesengrenadiere König Friedrich Wilhelms I., immer am meisten die Augen auf sich ziehen. Die letzte dieser Paraden hat am [408] 23. Mai in Gegenwart des Königs Humbert von Italien stattgefunden. Kaiser Wilhelm II. selbst hatte das Kommando über die in Parade stehenden Truppen übernommen und ließ es sich nicht nehmen, seinem königlichen Gaste das Leibgardehusarenregiment persönlich vorzuführen. Von den Fenstern des Stadtschlosses aber sah die Kaiserin Augusta mit ihren zwei ältesten Söhnen hinab auf das glänzende, von einer prächtigen Frühlingssonne überstrahlte Schauspiel.

Vermißten-Liste. Zuerst wollen wir Bericht erstatten über diejenigen, deren Spur infolge unserer Aufrufe aufgefunden worden ist.

Herr Hermann Danke aus Dresden benachrichtigt uns, daß die Vermißten-Liste der „Gartenlaube“ es ermöglicht habe, den Aufenthaltsort seiner Söhne in Amerika zu ermitteln; er spricht uns seinen wärmsten Dank aus.

Der Sattler August Vesterling giebt selbst seinen Wohnort, London, an mit der Bitte, ihn seinen Schwestern zu nennen, denen wir die frohe Botschaft gern überbracht haben.

Der Vater des Maschinentechnikers Robert Götze theilt uns hocherfreut und mit rührenden Dankesworten mit, daß sein Sohn, nachdem er unsere Aufforderung gelesen, sofort geschrieben habe und somit das Glück und die Ruhe einer ganzen Familie wieder hergestellt worden sei.

Frau Dr. Grapengießer konnten wir die allerdings schmerzliche Mittheilung von dem Tode ihres Gatten durch verschiedentlich eingegangene glaubwürdige Belege bestätigen und die Gattin so wenigstens aus der peinlichen Ungewißheit über das Schicksal des Mannes erlösen.

Der Schneidergesell Wilhelm Hülpüsch wurde ebenfalls ausfindig gemacht, und wir vermochten der besorgten Mutter die langersehnte Nachricht zu überbringen, daß ihr Sohn noch lebe und sich bester Gesundheit erfreue.

Herrn E. Ziegert in Altenburg i. S. ist es zu danken, daß wir Kenntniß von dem Tod des Mechanikers Alfred Messerschmidt erhielten und denselben dem Bruder, der lange schon in Sorge um den Vermißten lebte, schonend mittheilen konnten.

Ferner ist uns der Aufenthaltsort des Musiklehrers Emil Baarts, Montreal in Kanada, genannt und von uns der Schwester des lange vergeblich Gesuchten bekannt gegeben worden.

Dem Vater des Schneidergesellen Karl Bernhard Senf konnten wir infolge der Zuschrift des Herrn Wilhelm Dilg in Saarbrücken die freudige Nachricht zukommen lassen, daß sein Sohn am Leben sei.

Auch der Korbmacher Friedrich Wilhelm Ferdinand Gierth, welcher von seiner Schwester gesucht wurde, hat der „Gartenlaube“ seine Adresse angegeben; er lebt zu Leicester in England.

Herr G. Richard Goerne in Chemnitz berichtet uns, daß er als Krankenpfleger nach der Schlacht bei St. Privat einen Hornisten gepflegt habe, der schwer verwundet in seinen Armen das Leben ausgehaucht habe; der Beschreibung nach ist es der von seinen Angehörigen gesuchte Musiker Wilhelm Karl Friedrich Ulbricht gewesen, der den Heldentod fürs Vaterland gestorben ist.

Ferner ist es uns gelungen, den Schiffszimmermann Bernhard Karl Ludwig Grabbert aufzufinden.

Eine Karte ist uns zugegangen, welche über den Schmelztiegelfabrikanten Johann Baptist Schoepf Auskunft giebt. Leider ist die Frau des Gesuchten auf Grund der von ihr angegebenen Adresse von der Post nicht aufzufinden gewesen, und so konnten ihr bis heute die Nachrichten nicht zugestellt werden.

Schließlich können wir dem Vorstehenden noch hinzufügen, daß auch der Aufruf betreffs des Seemanns Carl Gustav Alfred Püschel dadurch erledigt worden ist, daß der Verschollene nach langer Zeit wieder an seine Eltern geschrieben hat.

Bei Veröffentlichung dieser so erfreulichen Ergebnisse sprechen wir allen denen wiederholt unsern Dank aus, die uns bei Aufsuchen der Verschollenen durch Mittheilungen unterstützt haben; gleichzeitig lassen wir die Fortsetzung unserer Vermißten-Liste folgen, mit der Bitte an unsere Leser, auch dieser ihre freundliche Aufmerksamkeit schenken zu wollen, die allein es ermöglicht hat, daß schon so mancher Verlorengeglaubte seinen Angehörigen wieder zugeführt werden konnte.

Fortsetzung der Vermißten-Liste aus Nr. 41 des Jahrg. 1888.

166) Hermann Wilhelm Kröber, Schiffskoch, geb. 22. März 1849 zu Dresden, schrieb zum letzten Male am 20. März 1883 von Valparaiso aus, daß seine Mutter ihm den Brief in 4 Monaten beantworten möge, er werde dann in Liverpool sein. Obschon die Mutter seinem Wunsche nachgekommen ist, hat sie doch keine Antwort auf ihren Brief erhalten. Dagegen gab das Seeamt in London an, daß Kröber in Liverpool mit dem Schiffe „Seaward“ gelandet, aber am 13. Dezember 1883 nach Cardiff weitergegangen sei. Die Mutter, die schon einen Sohn, der Matrose war, verloren hat, lebt in großer Sorge, daß auch diesem ihrem Kinde etwas zugestoßen sein könne, zumal es schon einmal bei einem Schiffbruch nur das nackte Leben gerettet hat. Kröber verlor damals auch seine Papiere; die neuausgestellten aber, die ihm die Mutter zusandte, mag er nicht bekommen haben und reist nun vielleicht ohne jeden Ausweis umher.

167) Seit seinem letzten Briefe vom 19. Januar 1878 von Koburg aus ist der am 29. Mai 1856 zu Bieberstein bei Siebenlehn geborene, in Obergruna heimathsberechtigte Schlosser Bruno Straube für seine bekümmerten Eltern verschollen. Dieselben bitten auf diesem Wege dringend um ein Lebenszeichen. Diesem Aufruf der Eltern ist noch hinzuzufügen, daß Straube vom August des Jahres 1878 bis 28. Juli 1879 bei einem Schlossermeister in Koburg in Arbeit gestanden und sich dann nach Leipzig abgemeldet hat, wie eine Mittheilung des Magistrats von Koburg angiebt.

168) Karl Friedrich Wilhelm Sandring, geb. 9. Febr. 1851 oder 1852 zu Halle a. d. S., war zuletzt Hausdiener in Hamburg, von wo im Oktober 1884 die letzten Nachrichten kamen. Die hochbetagte, unbemittelte und zum Theil von Unterstützungsgeldern lebende Mutter des Verschollenen hat nur den einen Wunsch, noch einmal etwas von ihrem Sohne zu hören.

169) Julius Michael Rudolph Lassotta, geb. 6. Sept. 1842 zu Murowana-Goslin in Posen, seines Zeichens Schmied, ist am 7. Mai 1863 nach Hirschberg in Schlesien gegangen, von wo er sich am 12. Juli 1864 nach Halle (vermuthlich „Halle in Westfalen“) abgemeldet hat. Seit der Zeit fehlt jede Spur von dem Verschollenen.

170) Der Arbeiter Johann Carl August Reinke, geb. 12. Januar 1852 zu Wurchow im Kreis Neu-Stettin, wohnte noch im Febr. 1885 in Alt-Stettin, Kirchenstraße 6. Alle später an Reinke gerichteten Briefe sind zurückgekommen. Die betagten Eltern in Meriden, Conn., würden Nachrichten über ihren Sohn mit größtem Dank entgegennehmen.

171) Eine kränkliche, mittellose Frau, die vor mehr als 2 Jahren ihren Gatten verlor, hat den sehnlichsten Wunsch, ihren Bruder noch einmal zu sehen. Derselbe, Carl Richter, geb. im Jahre 1822 zu Heinrichsgrün in Böhmen, war vor etwa 40 Jahren Knecht auf einem Rittergut, das ungefähr eine Stunde von Saaz entfernt lag. Näheres über den Vermißten vermag die Schwester nicht anzugeben, und es ist auch auf verschiedentliche Nachforschungen hin die Spur Richters nicht aufzufinden gewesen.

172) Eine Summe Geldes, die ihm durch Erbschaft zugefallen ist, soll dem Maschinenbauer Robert Franke, geb. 11. Dezember 1852 zu Stolzenhain, ausgezahlt werden. Vor ungefähr 5 Jahren hielt sich Franke in Düsseldorf auf.

173) Friedrich Wilhelm Wenetzki, geb. 16. Mai 1849 zu Albrechtsdorf, Kreis Pr.-Eylau (Ostpreußen), ging, nachdem er in Königsberg in Preußen die Konditorei erlernt hatte, im Jahre 1868 über Frankreich nach Südamerika, von wo er im März 1880 noch schrieb, daß er eine Schäferei gründen wolle. Einem Schreiben des deutschen Konsulats in Buenos Ayres zufolge hat sich Wenetzki zuletzt auf der Farm Estancia Los Jaguelitos de Bellocq, Pillahuinco, Argent. Republik befunden. Das ist alles, was die kranken alleinstehenden Schwestern, denen nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter gestorben ist, über den Verbleib ihres Bruders wissen.

174) Georg Paul Pühler, geb. 28. August 1853 zu Altdorf (Bayern, Kr. Mittelfranken) war als Schiffsschreiner auf der Bark „Professor Mohn“ in Stellung. Er schrieb einen letzten Brief von Singapore aus im November 1886 und wurde am 26. Januar 1887 in Hongkong ausgeschifft, seit welchem Tag er verschollen ist. Der Vater Pühlers möchte wissen, wo sein Sohn geblieben ist.

175) Der Schreiber Carl Wilhelm Albert Hoffmann, geb. am 5. Sept. 1863 zu Hannover, hat am 11. Dezember 1880 Hannover heimlich verlassen und soll Tags darauf durch Göttingen gekommen sein. Seitdem fehlt jede Spur desselben.

176) Der Techniker Friedrich Fabian ist am 18. Juli 1857 zu Calbe a. d. Saale geboren und Soldat gewesen, seit 21. Dezember 1884 aber aus Bremerhaven, wo er von seinem Vater, dem Steinsetzmeister F. in Berlin, zur Beaufsichtigung seiner Arbeiter angestellt war, verschwunden. Dem letzten Schreiben vom 16. Dezember 1884 zufolge wollte er im Frühjahr zur See, um vermuthlich nach Amerika oder England zu gehen. Seine Eltern bitten dringend um Nachrichten über den Verschollenen.

177) Josef Preißer, geb. zu Apatin in Ungarn am 14. Mai 1856, wanderte im Jahre 1880 nach Amerika aus. Sein letzter Brief kam im Juni 1884 aus Pittsburg in d. V. St., wo P. in einer Gerberei beschäftigt war; die letzte Sendung, ein Kreuzband mit der Ansicht von St. Louis, traf Ende Oktober 1884 bei seiner Mutter ein. Seitdem ist die besorgte Mutter ohne jedes Lebenszeichen von dem Sohne geblieben. Der Aussage eines aus Amerika nach Budapest heimgekehrten Bekannten Preißers zufolge soll dieser sich an den Erbauer einer Eisenbahn in Indien verdungen haben.

178) Der Malergehilfe Hermann Otto Thätmeyer, geboren am 30. Dezember 1860 zu Königsberg in Pr., ist im August 1878 in die Fremde gegangen. Briefe erhielt seine Mutter noch vor etwa 6 Jahren aus Straßburg im Els. und Stuttgart.

179) Der Oekonom Karl Ferdinand Wittig, geb. 29. Sept. 1848 zu Stauchitz bei Oschatz, verließ im Jahre 1873 seinen Geburtsort und hat seitdem nichts von sich hören lassen. Der Verschollene hat an der einen Wange eine Narbe.

180) Ein Elternpaar, das in kurzer Zeit 4 erwachsene Kinder durch den Tod verloren hat, sorgt sich abermals um einen Sohn, um den Kellner Josef Müller, geb. am 4. Dez. 1858 zu Rückers, Kr. Glatz. Müller verließ seine Heimath im Jahre 1885. Den 7. Mai 1887 schrieb er noch aus Antwerpen; er war damals im „Hotel Britannia“ angestellt. Seitdem fehlt jede Nachricht von ihm, und alle an ihn gerichteten Briefe der Eltern kamen als unbestellbar zurück.

181) Der Böttchergeselle Friedrich August Richter, geb. zu Herzberg bei Torgau am 21. April 1835; er machte sich im Juli 1881 von seinem Wohnort Groß-Zschocher b. Leipzig auf, um nach Holland zu gehen.

Auflösung des Hieroglyphenräthsels auf S. 340:

Zusagen steht im Willen, aber dem Halten ist ein Seil über die Hörner geworfen.


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 389. – Die silbernen Wolken. Ein Rückblick auf die Krakatoaforschung. Von C. Falkenhorst. S. 394. – Ein deutscher Liebesgott. Erzählung von Stefanie Keyser (Fortsetzung). S. 398. – Eine Pfingstfahrt nach Rügen. Von Helene Pichler. S. 403. Mit Illustrationen S. 392 und 393. – König Humberts Einzug in Berlin am 21. Mai. Von Hermann Heiberg. S. 404. Mit Illustration S. 405. – Eine Dichterkrönung in Spanien. Von Johannes Fastenrath. S. 406. – Blätter und Blüthen: Das Denkmal für die Gefallenen von Ban. S. 406. Mit Abbildung S. 389. – Der Schuhplattler. S. 407. Mit Illustrationen S. 396 und 397. – Alexander von Humboldts gesammelte Werke. S. 407 – Zimmerpflanzen im Juni. S. 407. – Parade in Potsdam. S. 407. Mit Illustration S. 401. – Vermißten-Liste. S. 408. – Auflösung des Hieroglyphenräthsels auf S. 340. S. 408.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Die Holländer nennen die Insel Krakatau.
  2. Sassenitz, nicht Saßnitz, wie fälschlich gesprochen und geschrieben wird.
  3. Der Verfasser dieses Artikels ist durch ein ehrenvolles Schreiben des Präsidenten des Liceo zur Mitwirkung bei der Dichterkrönung eingeladen und zum Vertreter des Licco in Deutschland ernannt worden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine
  2. Georg von Neumayer, Vorlage: Neumayr
  3. Vorlage: von von