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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[221]
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Alle Rechte vorbehalten.
Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman von E. Marlitt. Vollendet von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Claudine war mit dem jungen Erbprinzen dem letzten Theile des weiten Parkes zugeschritten. Sie war innerlich froh, fortzukommen aus dem Bereiche von Lothars Augen, die ihr wehthaten. Die absichtliche Kränkung der kleinen Prinzeß hatte sie kaum verletzt; es erschien ihr so überaus kindisch, daß sie sich nicht die Mühe nahm, weiter darüber nachzudenken. Es hatten ja stets kleine Plänkeleien von jener Seite gegen ihre Person stattgefunden; sie datirten von Bällen und anderen Hoffestlichkeiten her, wo ihre Erscheinung zuweilen – wider ihren Willen – die Prinzessin etwas verdunkelt hatte. Warum die Prinzessin es aber heute, sogar unter den Augen des Herzogs und der Herzogin, wagte, ihre Abneigung in so herausfordernder Weise zu zeigen, begriff sie allerdings nicht. Die kleine Durchlaucht mußte sehr schlechter Laune gewesen sein, oder – sollte sie mit dem hellsehenden, ahnenden Geist der Liebe Claudinens Gefühle für den Mann, den sie begehrte, erkannt haben? Aber doch nicht! Die Prinzessin war ja ihrer Sache sicher, so sicher, daß sie sogar Beatens Wirthschaftsschürze lieh und ein wenig Hausfrau spielte im künftigen Heim.

Und auch Lothar mußte dieses wetterwendischen koketten kleinen Herzens gewiß sein; sonst würde er sich kaum erlaubt haben, sie in so ironischer Weise auf die Unart aufmerksam zu machen, die sie beging.

Claudine runzelte plötzlich die Stirn und biß sich auf die Lippen. Was ging ihn das an, wenn ihr wehgeschah? Er würde es sicher kaum bemerkt haben, wenn sie nicht den Namen „Gerold“ trug. – Immer dieser wahnsinnige Familienstolz! Sie wußte doch wahrlich selbst, wie weit man ihr gegenüber gehen dürfe, sie wußte sich allein zu vertheidigen, sie wollte keine Bevormundung, kein Mitleid, am allerwenigsten von ihm!

Sie war mit ihrem jugendlichen Begleiter in den einsamsten Partien des Parkes angelangt, wo schon zu ihrer Kinderzeit die Büsche und Bäume wuchsen und wachsen durften, wie sie wollten. Es war eine feuchte, moosdurchduftete Wildniß, von einem kleinen Bach durchrieselt, an dem die Farrenkräuter in üppigster Pracht ihre grünen Wedel entfalteten. Unter der kleinen Brücke, aus Birkenstämmchen gezimmert, gluckste und schluchzte das Wasser noch eben so eigenthümlich wie damals, als sie, ein Kind, hier umhergestreift. Dort war das halbzerfallene Mooshüttchen, das bei ihren Spielen bald als Gefängniß, bald als Ritterburg diente; wie oft hatte sie darinnen gesessen als gefangenes Burgfräulein! Ein wehmüthiges Gefühl beschlich sie, als sie dem Prinzen davon erzählte und ihm alles zeigte. Da war auch der

Nach langem, bangem Winterschweigen:
Willkommen, heller Frühlingsklang!

Nach dem Oelgemälde von W. Menzler.

[222] Grabstein, unter dem Joachims Lieblingshund lag, die kleine gelbe Dachshündin, die Lola hieß und so klug war, daß sie ihn niemals verrieth, wenn die Kinder Verstecken spielten; sie lag dann mäuschenstill neben ihrem jungen Herrn und hielt den Athem an, wie er, wenn der Suchende in die Nähe kam. – Es waren glückliche Zeiten – wo waren sie geblieben?

„Wo geht es dort hinaus?“ fragte der Prinz, auf eine schmale niedere Pforte in der Mauer deutend.

„In das Dorf, Hoheit,“ erwiderte Claudine. „Die Pforte wird benutzt zum sonntäglichen Kirchgang.“

Der wißbegierige Prinz zog das schöne Mädchen immer weiter an der Mauer entlang, sie mit allerhand Fragen bestürmend. Plötzlich erblickte er einen Häher in einem der hohen Bäume und vergaß seine Dame und seine Ritterpflicht, indem er dem Vogel nachlief, der durch die Aeste streifte, als wollte er den Knaben necken, bald hier, bald dort auftauchte und verschwand, immer weiter und weiter.

Claudine, die, in ihren wehmütigen Erinnerungen versunken, achtlos dahingegangen war, kam erst nach einer ganzen Weile zum Bewußtsein, daß sie allein sei. Sie holte tief Athem und wischte mit dem Tuche über die Augen. Was wollte sie denn eigentlich? – Es war doch nicht anders, als es eben war! Mit Kopfhängen und Thränen zwingt man nichts Verlorenes zurück, mit Weinen und Sehnen kann man nichts erringen, was einem versagt sein soll nach Gottes Rathschluß. „Es wird die Zeit kommen, wo es nicht mehr schmerzt,“ tröstete sie sich, „sie muß kommen; es wäre ja nicht möglich, zu leben mit der brennenden Wunde im Herzen!“

Sie war selbstvergessen stehen geblieben; es hatten sich doch ein paar große Tropfen an den Wimpern gesammelt. – Jetzt, wo sie allein, wollte all das Weh hervorbrechen, das sie empfand in seiner Gegenwart; sie meinte in diesem Augenblick, sie würde es nicht ertragen, ihn mit lächelnder Ruhe neben jener Andern zu sehen, als das erklärte Eigenthum einer oberflächlichen unartigen kleinen Frau.

„Verzeihen Sie, Kousine,“ klang plötzlich seine Stimme in ihr Ohr. Sie wandte sich mit jähem Erschrecken, und blitzgeschwind fiel ein funkelnder Tropfen aus dem Auge auf ihre Hand, die sie hastig mit der andern verdeckte, und der alte stolze Ausdruck breitete sich über ihre schönen Züge.

„Ich würde nicht gewagt haben zu stören,“ fuhr er fort, einen Schritt näher tretend, „Ihre Hoheit beauftragte mich aber, Ihnen zu sagen, wie leid es Hochderselben thue, Sie verletzt zu wissen.“

„Hoheit ist wie immer gütig,“ scholl es kühl zurück. „Ich bin nicht verletzt; derartiges lernt man übersehen und – beurtheilen nach Verdienst.“

„Es scheint, Sie haben viel gelernt in der letzten Zeit, Kousine,“ sagte er bitter und ging neben ihr weiter. „Ich erinnere mich der Zeit, wo Sie noch scheu wie ein Reh vor jedem Blick flohen, und ich dächte, das ist noch gar nicht so lange her – in den Sälen des Residenzschlosses.“

„Gewiß!“ erwiderte sie. „Urplötzlich erstarkt ein schwaches Herz, sobald es fühlt, es muß allein für sich einstehen. Ich bin übrigens dreiundzwanzig Jahre alt, Vetter, und in der letzten Zeit gewaltsam aufgerüttelt aus dem sorglosen Mädchenleben.“

„Es ist etwas Großes um eine stolze Frauenseele,“ antwortete er ironisch; „nur schade, daß dieser Stolz beim ersten Anprall des Lebens so leicht brechen kann. – Für mich hat es stets etwas Rührendes,“ fuhr er fort, „wenn ich sehe, wie ein Weib, das die Welt nicht kennt, mit einem Muth sondergleichen sich als Heldin auf einen unmöglichen Posten stellt; man möchte sich die Augen zuhalten, um nicht zu sehen, wie sie zusammenbricht, und vermag es doch nicht; man möchte sie zurückreißen von dem schwindelnden Abgrund und wird doch nur kalt lächelnde Zurückweisung dafür ernten.“

„Vielleicht besitzt dennoch die Eine oder die Andere neben dem Muth auch die nöthige Stärke, auf dem Posten auszuhalten,“ sagte Claudine, bebend vor innerer Erregung, und schlug einen rascheren Schritt an.

„Möglich!“ erwiderte er achselzuckend. „Es giebt Naturen, die da von sich als von einer Ausnahme denken: ‚Seht, das kann ich wagen, ungestraft wagen!‘ Sie sind dann plötzlich am tiefsten zu Boden geschmettert.“

„Meinen Sie?“ fragte sie ruhig. „Nun, es giebt auch Naturen, die hoch genug von sich denken, um den Weg zu gehen, den ihr Gewissen und die Pflicht sie wandern heißt, ohne nach rechts oder nach links zu sehen und ohne auf unberufene Wegweiser zu achten.“

„Unberufene?“

„Ja!“ rief sie, und ihre schönen Augen blitzten in leidenschaftlicher Erregung. „Wie kommen Sie dazu, Baron Gerold, mir Ihre dunklen Weisheitssprüche, Ihre räthselhaften Sarkasmen aufzutischen, sobald Sie mich erblicken? Haben wir je mit einander so gestanden, daß Sie diese Bevormundung wagen dürfen?“

„Niemals!“ antwortete er tonlos.

„Und wir werden auch niemals so stehen,“ fuhr sie bitter fort. „Ich kann Ihnen aber, falls es Sie beruhigt, die Versicherung geben, daß der Name ‚Gerold‘ durch mich nicht leiden wird, denn – und das ist doch wohl Ihre alleinige Sorge – ich kenne meine Pflicht.“

Er war blaß geworden.

Sie eilte jetzt schneller vorwärts; er blieb etwas zurück und holte sie dann wieder ein an der schmucken Gärtnerei, in der Heinemanns einzige Tochter mit ihrem Manne wohnte. Claudine war vor dem offenen Fenster stehen geblieben; da saß Heinemanns niedliche Enkelin hinter dem weißen Vorhange und weinte zum Gotterbarmen, und die Mutter, eine saubere freundliche Frau, trat an ihre ehemalige junge Herrin und wischte sich die Augen mit dem Schürzenzipfel.

„Ihr Bräutigam hat ihr heute abgeschrieben, gnädiges Fräulein,“ erklärte sie.

Das Mädchen preßte jetzt die Hände vor die Augen und bog sich aufschluchzend hinter die Gardine zurück.

„Aber weshalb denn?“ fragte Claudine mitleidig, ihre eigne Erregung beherrschend.

„Sie ist selbst schuld daran, gnädiges Fräulein,“ begann die Frau bekümmert, indem sie den näher kommenden Baron begrüßte; „der junge Herr auf dem Gute, wo sie in Kondition war, ist ihr alleweil nachgelaufen und hat schön mit ihr gethan; da hat der Wilhelm gemeint, sie sei ihm nicht treu.“

„Das ist unrecht vom Wilhelm,“ sagte Claudine kurz.

„Ach, gnädiges Fräulein,“ entschuldigte die Frau, „man kann’s ihm gar nicht so verdenken. Ich weiß ja, daß sie brav ist, ich kenne mein Kind; aber so ein junger Mann – die Lisette hätte eben fortgehen sollen von der Stelle, wie ich es ihr rieth; dann wär’s so nicht gekommen. Sehen Sie, Herr Baron,“ fuhr sie jetzt zu Herrn von Gerold gewendet fort und machte ihm eine ungeschickte Verbeugung, „das glaubt ihr doch kein Mensch, die Welt ist nun einmal so; und wenn sie sich das Haar darum ausrauft, es glaubt ihr keiner, daß sie nichts Unrechtes gethan. Mir ist heute schon gar vielemal der Spruch eingefallen, den mir Ihre gnädige Frau Großmutter selig zu meiner Konfirmation ins Gesangbuch schrieb, gnädiges Fräulein. Da steht es,“ sagte sie und griff zum Fenster hinein, langte ein schwarz eingebundenes Buch mit Goldschnitt von dem Fensterbrett und reichte es aufgeschlagen Claudine hin; „dort, unter dem Spruch des Herrn Pfarrers.“

Claudine nahm das Buch. Dort standen von einer feinen Männerhand die Worte geschrieben: „Selig sind, die reines Herzens sind“ – und mit den großen energischen Schriftzügen der alten Baronin: „Sei nicht nur rein, meid’ auch den Schein.“

In Claudinens Hand begann das Buch zu beben; stumm gab sie es zurück.

„Lassen Sie ihn ziehen, mein Kind,“ tönte jetzt Lothars Stimme seltsam hart; „er wäre ein unbequemer Ehemann geworden mit seinem Hang zur Eifersucht und zu Moralpredigten.“

Das Mädchen fuhr empor. „Nein, nein! Er war so gut und so brav; ich überlebe es nicht, wenn er nicht wiederkommt!“

„Man kann vieles überleben, Kleine,“ sagte er jetzt gutmüthig; „es stirbt sich nicht so leicht an getäuschten Erwartungen.“

Claudine hatte dem Mädchen ernst zugenickt; die Blässe der Erregung lag noch immer auf ihrem Gesichte.

„Leb wohl, Lisbeth,“ sprach sie, „und gräme Dich nicht um einen, der Dir nicht vertraut.“

„Ach, gnädiges Fräulein, sagen Sie das nicht!“ rief das Mädchen und eilte vom Fenster weg.

Claudine wandte sich und schritt weiter; ihr zur Seite Lothar. Die Worte der Großmutter flammten vor ihren Augen und warfen ein befremdendes Licht auf ihre eigene Lage. Wie, wenn man von ihr bereits wisperte und spräche? Und wenn es [223] geglaubt würde? Wenn es einer bereits glaubte, daß sie ihre Ehre schon vergessen habe? Sie wandte ihm plötzlich das Gesicht zu und sah ihn an mit fragenden, angstvollen Blicken.

Er ging ruhig neben ihr. Nein – nein – nein! konnte sie so wahnsinnig sein?

„Der Platz ist verlassen,“ bemerkte er jetzt, nach vorwärts deutend, „die Herrschaften scheinen im Schlosse zu sein.“

In der That, unter den Eichen war es einsam; ein Lakai, der dort aufräumte, berichtete, die Durchlauchten seien nach Neuhaus gefahren und Ihre Hoheit erwarte Fräulein von Gerold in ihrem Zimmer. Der Wagen von Neuhaus werde zurückkommen.

Sie wandte sich dem Schlosse zu, die Abendsonne übergoldete die Wipfel der Bäume und ließ die zahllosen Fenster in dem altersgrauen Sandsteingemäuer in Feuergarben aufsprühen. Ein rosiger Schimmer färbte die Luft; aus dem Dorfe klang die Abendglocke des Kirchleins.

„Leben Sie wohl,“ sagte Lothar stehen bleibend, „ich möchte versuchen, Se. Hoheit aufzufinden, um mich bei ihm zu verabschieden. Sie wissen ja Bescheid in diesen Gängen, können ja überhaupt des Wegweisers entbehren.“

Er verbeugte sich tief vor ihr; sie meinte; ironisch tief.

Stolz neigte sie den Kopf. Sie wußte ja, daß jene schwachen Fäden der verwandtschaftlichen Rücksichten, die sie in der Abgeschiedenheit des Landlebens oberflächlich an einander gefesselt hatten, gewaltsam zerrissen waren, eben zerrissen, als sie sich unberufene Rathschläge verbat. – War sie zu schroff gewesen? – Ihr Fuß zögerte einen Augenblick, bevor sie weiterschritt; dann ging sie doppelt rasch in dem überschatteten Wege dahin, der zur Hauptallee führte.

Um eine Biegung trat plötzlich der Herzog. Er nahm den Hut ab und schritt, ihn in der Hand behaltend, neben ihr. Er sprach über die Parkanlage und wies auf eine Gruppe prächtiger Blutbuchen, die sich wirkungsvoll von dem lichten Grün der dahinter stehenden Lärchen abhob. „Wo haben Sie den Baron gelassen, gnädiges Fräulein?“ fragte er dann.

„Eben verließ mich mein Vetter,“ antwortete sie; „wenn ich nicht irre, wollte er Ew. Hoheit aufsuchen, um sich zu verabschieden.“

„Ah! Nun, er wird mich zu finden wissen. Ich habe überdies ein Attentat auf ihn vor; ich will ihn festhalten heute Abend; er soll eine Partie Billard mit mir machen; meine kapriziöse kleine Kousine muß eine Strafe haben.“ Er lächelte dabei und sah Claudine forschend an. „Sie waren hoffentlich nicht verletzt von diesem Kinderstreich?“ fragte er und trat neben ihr in die große Allee, die zum Schlosse führt.

„Nein, Hoheit!“ erwiderte Claudine, indem sie mit verdüsterten Blicken dem Schlosse entgegensah. Vor der Freitreppe standen zwei Herren im Gespräch; eben wandte sich der eine.

„Bei Gott, Rittmeister,“ sagte er leise, „sehen Sie – wie weiland Ludwig der Vierzehnte, wenn er der Lavallière seine Ehrfurcht bezeigen wollte.“

Der Angeredete schwieg, aber er sah mit einem befremdeten Ausdruck auf das Paar, das scheinbar so einträchtig daherkam.

Oben, am Erkerfenster der Herzogin, aber flatterte ein weißes Tuch und das schmale Gesicht der fürstlichen Frau lächelte hinter den Scheiben.

Die Herren ließen mit tiefer Verbeugung den Herzog und Fräulein von Gerold passiren. Sie sah merkwürdig aus, die schöne Freundin der Herzogin; ein harter Zug lag um den sonst so lieblichen Mund. Im Schlosse angelangt, stieg sie die Stufen empor, so langsam und müde, als trage sie eine schwere Last auf den Schultern. „Nun ist alles vorüber,“ sagte sie noch einmal und betrat das Vorzimmer zu den Gemächern der Herzogin.

„Claudine,“ rief diese, die am Fenster nach ihrem Liebling ungeduldig ausgeschaut hatte, und schlang die Arme um den Hals des schönen Mädchens, „Sie sind so lange geblieben! Wie Sie fortgingen, wurde ich auf einmal so ungeduldig, ich wäre Ihnen am liebsten nachgegangen, ich kann wirklich nicht mehr ohne Sie sein. Hören Sie, Claudine?“

Sie zog die Schweigende neben sich auf das kleine Polstermöbel im Schatten der rothen Vorhänge und sah in die traurigen blauen Augen.

„ Armes Herz, Sie wurden verletzt vorhin, die Kleine war unartig und wird ihre Strafe bekommen. Es ist die Geschichte von dem Gänschen, das neben dem Schwan sich nur durch Geschrei bemerkbar machen kann. Claudine,“ fuhr die Herzogin flüsternd fort, „ich habe doch wieder recht gesehen, wer Sie sind und wer die Andern!“ Sie drückte die kühle Hand des Mädchens. „Ich habe Sie so herzlich lieb, Claudine,“ flüsterte sie weiter, „ich möchte Sie so gern ,Du!‛ nennen dürfen, wenn wir unter uns sind. Ist das unbescheiden?“

„Hoheit! Bitte!“ stammelte sie.

„ Nicht Hoheit, Claudine. Denkst Du, ich werde ,Du‛ zu Dir sagen, wenn Du mich ,Hoheit‛ nennst? ,Elisabeth‛ will ich heißen und ,Du Du‛! Ach bitte, bitte! – Nicht eine einzige Seele habe ich im Leben gehabt, die so mit mir verkehren durfte. Gönne mir doch dieses reine schöne Bewußtsein, daß Du meine Freundin bist und keine Untergebene. Bitte, bitte, Claudine, sage ‚ja‛!“

„Hoheit sühnen die unbedeutende Kränkung von vorhin durch allzu große Gunst,“ sprach das Mädchen erregt; „ich kann, ich darf es nicht annehmen.“

Und sie sprang plötzlich empor und faßte sich an die Schläfen, als müsse sie sich besinnen, was sie thun wolle.

„Ich hätte Dich für vernünftiger gehalten, Claudine,“ sagte die fürstliche Frau, „als daß Du über eine so einfache Sache außer Dir geräthst! Es ist der Inbegriff alles Vertrauens, aller Liebe – das ‚Du‛! Und weil ich zufällig Herzogin bin, soll ich das entbehren? So darfst Du nicht denken, und so denkst Du auch nicht. Komm her, Claudine, und gieb mir den Schwesterkuß!“

Claudine kniete vor der liebenswürdigen Frau nieder; sie wollte sprechen. „Laß mich! Laß mich! Es ist besser für Dich und für mich, ich gehe fort von Dir, soweit nach meine Füße tragen!“ Und sie brachte es doch nicht über die Lippen unter diesen fieberglänzenden kranken Augen, die so innig bittend in die ihren blickten. Und dann schloß ein Kuß ihren Mund. Im nächsten Augenblick fühlte sie etwas Kaltes an ihrem Arm, ein schmaler goldner Reifen in Gestalt eines Hufeisens, die Stellen der Nägel mit Sapphiren und Brillanten geschmückt, blitzte ihr entgegen.

„Wird Ew. Hoheit – wird Dich –“ verbesserte sie sich weinend, „diese Wahl nie gereuen? “ und ihr ernstes blasses Gesicht sah fragend zu ihrer fürstlichen Freundin auf.

„Ich habe ein feines Gefühl, Claudine, für – Menschenwerth; ich weiß, ich habe keiner Unwürdigen mein Herz angeboten.“




Prinzessin Helene war in außerordentlich schlechter Stimmung nach Neuhaus zurückgekehrt. Sie hatte während der Fahrt schweigend in der einen Ecke des Landauers, Prinzeß Thekla in der andern gelehnt, ebenso still. Komtesse Moorsleben, die in den Wagen befohlen war, wußte nur mit Mühe ein Lächeln zu unterdrücken: so gleich sahen sich in diesen Minuten des Verdrusses das junge und das alte Antlitz.

Erst oben, in den Gemächern des Neuhäuser Schlosses, entlud sich das Gewitter, und zwar über dem Haupt der Frau von Berg, die in das Zimmer der jungen Prinzessin befohlen ward. Die Kleine überhäufte die scheinbar schwer gekränkte Frau mit den wahnsinnigsten Vorwürfen, gerade als ob sie schuld sei, daß vor vierhundert Jahren ein alter Gerold die Idee bekam, in dieser Gegend ein festes Schloß zu bauen, das nach und nach zu diesem unausstehlichen Altenstein von heut geworden war. Ein gräulicher Aufenthalt, eine Einöde sei es; es liege ja klar am Tage, daß niemals ein vernünftiger Mensch so eine geschmacklose Acquisition hätte machen können, wenn nicht ganz besondere „Absichten“ damit verbunden wären.

Ob denn so etwas erhört sei, daß man öffentlich einen Verweis von Ihrer Hoheit hinnehmen müsse wegen – wegen so einer –. Sie fand in ihrem Zorn kein passendes Wort. Es habe ja gerade noch gefehlt, daß sie, Prinzeß Helene, die Hofdame Ihrer Hoheit um Verzeihung bitten solle!

„O!“ fragte die schöne Frau, die mit gesenktem Haupt diesen Sturm über sich ergehen ließ, „um Verzeihung bitten? Durchlaucht hatten doch nichts gethan?“

„Ich habe sie einfach nicht gesehen, denn ich mag sie nicht leiden,“ erklärte die Prinzessin.

In Frau von Bergs Augen leuchtete es auf.

„O allerdings, Durchlaucht, das war schlimm,“ sagte sie sanft. „Ihre Hoheit ist wahrhaft bezaubert von dieser Freundin; man möchte glauben, die schöne Claudine braue in ihrem alten Eulenhause Liebestränke. Wie unangenehm mag diese Scene dem Baron gewesen sein!“

[224] „Unangenehm?“ stieß die Prinzeß hervor. „Meinen Sie Alice? Er ging nicht gerade ungern von dem Spielplatz, um auf Befehl Ihrer Hoheit seine Kousine versöhnt zurückzuführen.“

Die Prinzessin sprang nach diesen Worten aus ihrem grau- und blaugeblümten Kretonnesessel empor und lief an das Fenster. Frau von Berg sah, wie sie beide Hände zur Faust geballt hatte und wie einer ihrer Füße nervös den Parkettboden trat, wie es ihr kaum gelang, die Fassung zu bewahren.

„Was sollte er denn thun, Durchlaucht? “ sprach Frau von Berg. „Aber freilich, es ist nicht unmöglich, wer kennt die Männerherzen?“ Und sie lächelte hinter dem Rücken der Prinzessin.

Diese wandte sich jäh, als sei sie von einer Schlange gebissen, sie sah noch das Lächeln um den Mund ihrer Vertrauten, im nächsten Moment flog etwas an dem künstlich frisirten Frauenkopfe vorüber und fiel neben dem Kachelofen zur Erde. Es erwies sich zwar nur als das weiche blauseidene Arbeitsbeutelchen der Prinzessin, das eine niemals über die Anfänge hinauswachsende Stickerei Ihrer Durchlaucht enthielt; aber die Thatsache blieb bestehen: es war nach Frau von Bergs Kopf geworfen.

Die schöne Frau hielt sich plötzlich das Sacktuch vor die Augen und begann zu schluchzen.

„Weinen Sie nicht!“ herrschte die Prinzessin sie an, „Sie wissen, daß es mich rasend machen wird, wenn – – Ich kenne Sie zu genau, Sie sind schadenfroh, Alice!“

„Bei Gott nicht, Durchlaucht!“ betheuerte die Weinende. „Ich dachte an – man lächelt doch auch aus Mitleid.“

„Ich brauche Ihr Mitleid nicht!“

„Wer sagt denn, daß es Ew. Durchlaucht galt? Mich dauert die Herzogin! Ihre Hoheit kommt mir vor wie das Lamm, das sich den Wolf zu Gaste gebeten hat. Hoheit vergöttert ja diese Claudine und – Durchlaucht, es ist doch traurig komisch, wenn man jemand sieht, der seinen ärgsten Feind mit Zuckerplätzchen füttert.“

Die Prinzeß antwortete nicht. Sie saß jetzt hinter dem Kretonnevorhang auf dem breiten Fensterbrett, und ihre Füße waren in hastiger Bewegung, während die Augen brennend auf die Chaussee starrten, die jenseit des Parkes ein wenig sichbar ward.

„Was kann ich dafür, wenn die Leute blind sind,“ sagte sie endlich.

„Ich glaubte, Durchlaucht liebten die Frau Herzogin?“

„Ja, sie ist gut, kindergut und hat mir immer viel Zuneigung bewiesen. Aber Mama sagt, sie ist überspannt, und das hat sie heute deutlich genug gezeigt. Ich kann ihr nicht helfen.“

Auf dem Rokokoschränkchen, dem echten alten mit blanken Messingschlössern und Henkeln, schlug die Uhr eben Sieben. Die kleine Prinzessin bemerkte es ungeduldig. „Schon so spät?“ sagte sie, „der Baron vergißt, daß wir heute Abend im Garten den Tanzplatz aussuchen wollten für das Fest.“

„Vielleicht befahl Ihre Hoheit ihn noch in ihren Salon,“ bemerkte Frau von Berg. „Fräulein von Gerold singt jeden Abend und der Baron ist, wie Durchlaucht wissen, ein fanatischer Musikliebhaber.“

„Die Herzogin aber weiß, daß er Gäste hat!“ rief die Prinzessin mit funkelnden Augen und sah ihre Peinigerin drohend an.

„Wenn aber Hoheit befehlen?“ sagte diese sanft entschuldigend.

„Befehlen? Wir leben doch nicht im Mittelalter? Am Ende kann meine Kousine wohl gar noch befehlen, er soll ihren Liebling heirathen?“

Frau von Berg ging harmlos auf diesen etwas gewaltsamen Scherz ein. „Wer weiß, Durchlaucht, wenn es der Herzenswunsch dieses Lieblings wäre?“

Das war zu viel für Prinzeß Helene. Sie lief zu Frau von Berg hinüber und faßte sie zornig an die Schulter; ihr schmales Gesicht war ganz bleich.

„Alice,“. sagte sie, „Sie sind schlecht! Ich fühle es, daß Sie schlecht sind! Sie können mich bis aufs Blut peinigen; es ist entsetzlich, was Sie da sagen – aber – es ist nicht unmöglich. Alice, ich habe keine ruhige Stunde mehr, ich wollte, ich wäre todt wie meine Schwester! Die ist doch wenigstens einmal glücklich gewesen.“

„Aber, Durchlaucht, ein Scherz!“

„Nein, nein, keinen Scherz – um Gotteswillen, nehmen Sie es nicht als Scherz! Ich weiß nicht, was ich thun könnte vor Seligkeit, wenn sie fort wäre aus diesen Bergen! Warum ist sie nicht mit der Herzogin-Mutter nach der Schweiz gegangen? Warum muß sie hier sitzen?“

„Ja warum?“ fragte Frau von Berg und küßte die Hand der kleinen Prinzessin.

„Armes Kind!“ seufzte sie dann.

„Ach Alice, wissen Sie keinen Weg? Nennen Sie mir einen! Ich ertrage die Zweifel nicht länger!“ flüsterte das leidenschaftliche Mädchen.

„Ich, Durchlaucht? Was kann ich denn thun? Wenn da nicht ein ‚Zufall‛ hilft, Ihrer Hoheit die Augen zu öffnen.“

„Ein Zufall? “ wiederholte die Prinzessin bitter.

„Wie denn sonst? Ihre Hoheit haben keine einzige Seele, die es gut genug mit ihr meint, um ihr einen solchen Freundschaftsdienst zu erweisen.“

„Ein schöner Freundschaftsdienst!“ antwortete die Prinzeß spöttisch, „das ist schon mehr eine Henkersarbeit; denn das weiß ich, so wahr ich hier vor Ihnen stehe, Alice, daß die Kenntniß dieser Angelegenheit Elisabeths Herz brechen würde.“

„Durchlaucht würden lieber mit ansehen, wie das edelste, beste Geschöpf systematisch hintergangen wird? Ich muß gestehen, die Ansichten von ‚Freundschaft‛ sind sehr verschieden,“ erwiderte Frau von Berg vorwurfsvoll.

„Sie haben wohl niemals einen so recht lieb gehabt, Alice? So lieb, daß man eher sterben möchte, als ihn missen? Nein, das haben Sie nicht, sagen Sie es nur nicht etwa. Wo andere ein Herz haben, da haben Sie eine leere Stelle! Sehen Sie mich nicht so an; durch mich erfährt die Herzogin es nicht, Alice; nebenbei behaupte ich nie etwas, das ich nicht zuverlässig weiß, und hier dürften vollgültige Beweise doch vorläufig fehlen.“

Frau von Berg lächelte und strich über das Haar der Prinzessin, eine Thräne blitzte in ihrem Auge.

„Wie könnte ein so goldreines liebes Kinderherz auch an solche Schuld glauben?“ sagte sie leise, „es würde selbst die Beweise nicht anerkennen.“

Die Prinzeß schüttelte die Hand ab. „Bitte, thun Sie nicht, als hätten Sie alle Taschen voll davon, “ sagte sie ärgerlich über die Berührung.

„Ich habe zwar nicht alle Taschen voll, es würde aber auch ein Beweis genügen, Durchlaucht.“

Das Gesicht des fürstlichen jungen Mädchens überzog eine flammende schämige Röthe.

„Es ist nicht wahr!“ stammelte sie, „so ehrlos ist kein Weib, daß es Freundschaft heuchelt, wo es Verrath übt. Sie sind entsetzlich, Alice!“

„O Durchlaucht, Sie kennen das Leben nicht!“

Die Prinzessin faßte sich plötzlich an die Stirn und lief in ihr Schlafzimmer, krachend flog die Thür hinter ihrer leichten Gestalt zu. Frau von Berg blieb allein in dem anmuthigen einfachen Raum, sie schaute die Thür an und wieder glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Dann zog sie ein Notizbuch aus der Tasche und nahm ein Billet heraus. „Da ist es,“ flüsterte sie, es liebevoll betrachtend. Einmal hatte es bereits seine Zauberkraft bewährt – da drinnen in ihrem Boudoir saß jetzt Durchlaucht Prinzeß Thekla und schrieb an Ihre Hoheit die Herzogin-Mutter einen Brief voll tugendhafter Entrüstung!

Nebenan erklang jetzt ein leidenschaftliches Schluchzen. Frau von Berg verließ das Zimmer und kam gleich darauf mit frischem Wasser und Himbeersaft zurück. Ohne weiteres betrat sie das Schlafgemach der Prinzessin. „Durchlaucht sollten sich fassen,“ bat sie weich und mischte den kühlenden Trank. Sie kniete vor dem weinenden jungen Geschöpf nieder, das auf dem Divan zu Füßen des Bettes saß, und sah sie wie um Verzeihung bittend an.

„Die rothen Augen müssen fort,“ sprach sie weiter; „wenn ich nicht irre, fuhr soeben der Baron in den Hof. Auf dem Tische drinnen liegen die Maskenbilder für das Kostümfest und eine große Auswahl entzückender Proben von Monsieur Ulmont.“

Die Prinzessin erhob sich, ließ sich von Frau von Berg das Haar ordnen und die Augen kühlen. „Sehe ich sehr verweint aus?“ fragte sie.

„Nein, nein; reizend wie immer!“ klang es zurück.

Unten läutete setzt die Tischglocke in vollen lauten Tönen. Ein paar Minuten später flog die Prinzessin hinunter, als wollte sie keine Minute einer köstlichen Stunde versäumen; ihr Auge strahlte, ihr Mund lächelte. An den weit geöffneten Thüren des

[225]

Erster Frühling.
Nach dem Oelgemälde von H. Prell.

[226] Speisesaales, in welchem die Kerzen flammten über dem blitzenden Tisch, stand Beate in dem raschelnden grau- und schwarzgestreiften Taffetkleide, das sie jetzt regelmäßig bei den Mahlzeiten zu tragen pflegte.

„Mein Bruder läßt Ew. Durchlaucht bitten, seine Abwesenheit zu verzeihen; Se. Hoheit haben ihn für sich in Anspruch genommen, soeben kam der Wagen leer zurück,“ sagte sie, sich leicht verneigend, mit ihrer zuweilen so hart klingenden Stimme.

Das Strahlende aus dem Gesichte der Prinzessin war verschwunden, sie saß still neben Beate; die alte Prinzessin hatte sich mit plötzlich aufgetretenem Kopfweh entschuldigt. Komtesse Moorsleben unterdrückte mühsam ein Gähnen, der Kammerherr sprach gedämpft mit Frau von Berg, sonst hörte man nichts, als das leise Klappern der Teller oder Beatens Stimme, die laut und deutlich wie immer erscholl. Einmal redete sie die Prinzessin an; die wandte auch den Kopf herum zu ihr; ohne zu antworten, aber noch ehe der Nachtisch kam, erhob sie sich, winkte der Komtesse, sie solle zurückbleiben, und lief wie ein trotziges Kind in den Gärten hinaus. Als sie nach ein paar Stunden in ihr Zimmer zurückkam, war ihr Haar feucht vom Nachtthau und die Augen verschwollen. Aber diese Augen sahen nicht das, was sich vor ihnen befand – sie sahen ein lauschiges Gemach und an dem Flügel ein schönes Mädchen, um dessen Blondhaar der Lichtschein eine Glorie wob, und einer lauschte den süßen weichen Tönen, die sein Herz bestricken mußten wider Willen. Es war zum Verzweifeln!

„Frau von Berg soll kommen,“ sagte sie zur Kammerjungfer, „ich will kein Licht.“

Nach ein paar Minuten rauschte die Schleppe der schönen Frau über die Schwelle des dunklen Gemaches, und die kleine zitternde Hand der Prinzeß faßte nach der ihren.

„Den Beweis, Alice, geben Sie ihn mir!“ flüsterte die bebende Stimme.

„Hier!“ erwiderte Frau von Berg gelassen und legte den verräterischen Brief in die Rechte der Prinzessin „Ich glaube, es lohnt der Mühe nicht. Werfen Sie den Zettel fort, Durchlaucht, wenn Sie ihn gelesen.“

„Es ist gut, Alice, ich danke. Sie können mich verlassen.“

Die Prinzessin ging in ihr Schlafzimmer und las beim Schein der rosa Ampel, die vom Plafond herabhing. „Auch trotzdem eine Freundin? Arme Liesel!“ flüsterte sie.

Dann machte sie eine Bewegung, als wollte sie das Blättchen zerreißen, und hielt wieder inne. Eine heiße Blutwelle stieg ihr zum Kopf, sie holte schwer Athem. In dem Raume lag noch die Schwüle des Tages und durch das offene Fenster strömte der süße berauschende Duft blühender Linden, berauschend wie die Sehnsucht, die das Herz des Mädchens erfüllte – nach Glück und Seligkeit. Und sie wollte glücklich werden um jeden Preis, auch um den größten! Mit bebenden Fingern faltete sie den Brief so klein wie möglich zusammen und schloß ihn in eine goldene Kapsel, die sie am Halse trug. Ein Bild war darin, ein Männerkopf; sie nahm es einst ihrer Schwester heimlich fort, als diese Braut war – Lothars Braut. Es war ihr tiefstes Geheimniß.

„Nur für den Nothfall!“ flüsterte sie noch einmal und verbarg das Medaillon.
(Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Vom Nordpol bis zum Aequator.
Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Wanderungen der Säugethiere.
(Schluß.)

So erhebliche Strecken alle bisher erwähnten Wandersäugethiere durchmessen, mit denen, welche Robben und Wale zurücklegen, lassen sie sich kaum vergleichen. Das Wasser begünstigt alle Bewegungen eines für dasselbe gestalteten Thieres, bietet ihm im Wesentlichen überall die gleichen Lebensbedingungen und dieselben Annehmlichkeiten, gestattet ihm daher, leichter, mühe- und gefahrloser als jedes andere Wanderthier weite Reisen auszuführen. Gleichwohl setzt es einigermaßen in Erstaunen, zu erfahren, daß viele Seesäugethiere, insbesondere die Wale, zu den wanderlustigsten aller Geschöpfe zählen, ja, daß viele, vielleicht die meisten von ihnen, ihr ganzes Leben auf der Wanderung verbringen. Streng genommen hat kein Wal einen bleibenden Aufenthalt während des ganzen Jahres, zieht vielmehr einzeln, paarweise, mit seinen Jungen oder zu mehr oder weniger zahlreichen Scharen, sogenannten Schulen gesellt, ununterbrochen von einer Gegend des Weltmeeres in die andere, manchmal in regelmäßiger Weise gewisse Lieblingsorte aufsuchend und zwar andere im Sommer als im Winter erwählend. Die Meere, in denen eine und dieselbe Walart im Sommer und im Winter sich aufhält, liegen oft weiter aus einander, als man gewöhnlich anzunehmen scheint; denn einige Wale durchwandern jährlich zweimal mehr als ein Viertel es Erdenrunds; man begegnet ihnen während des Sommers an den Eisbarren des nördlichen Eismeeres und im Winter nicht selten jenseit des Gleichers.

Gesellig in hohem Grade und ihren Jungen mit der zärtlichsten, aufopferndsten Liebe zugethan, versammeln sich namentlich die weiblichen Wale zu manchmal erstaunlich zahlreichen Scharen und ziehen, unter Anführung einiger Männchen, auf bestimmten Straßen und zu bestimmten Zeiten durch das weite Meer, die einen auf hoher See, die anderen längs der Küsten ihren Weg verfolgend. Stürme und nicht rechtzeitiges Auftreten gewisser Beutethiere, deren Erscheinen und Verschwinden offenbar die hauptsächlichste Ursache der Wanderungen ist, können die Richtung ihres Zuges und ebenso die Zeit ihres Auftretens einigermaßen beeinflussen, im allgemeinen aber geschieht die Wanderung so regelmäßig, daß man an nordischen und südlichen Küsten der Ankunft der Wale von bestimmten Tagen an entgegensieht und von diesem Zeitpunkte an Wachen ausstellt, um sofort nach jener Ankunft die ersehnten Jagden auf sie beginnen zu können. Durch irgend welche Merkmale, z. B. verstümmelte Flossen, den Küstenbewohnern bekannte und mehrmals vergeblich verfolgte Wale haben sich viele Jahre nach einander, genau zu derselben Zeit und an denselben Orten gezeigt, und Jagden auf diese so hohen Nutzen abwerfenden, daher so unerbittlich befehdeten Thiere werden hier und da mit derselben Regelmäßigkeit abgehalten, wie auf dem Festlande Hasenjagden, während man zu anderen Zeiten des Jahres vergeblich nach ihnen ausziehen würde.

Nach Heiligendreikönigstag sehen die Norweger von allen Bergen nach den Walfischen aus, welche ihnen durch die Heringe angezeigt werden.

Zuerst erscheint der Springwal, drei bis vier, höchstens vierzehn Tage später der Finnwal, obgleich der eine, wie es scheint, aus der Davisstraße, der andere von Grönland aufbricht. An den südlichen Küsten der Färinseln, und zwar vorzugsweise im Qualben-Fjord, zeigen sich alljährlich, um Michaeli, drei bis sechs Döglinge, heut zu Tage wie vor einhundertundneunzig Jahren. In einer Bucht Schottlands fand sich zwanzig Jahre nach einander, immer zu derselben Zeit, ein Finnwal ein, welcher unter dem Namen „Hollie Pyke“ allgemein bekannt war, jedes Jahr verfolgt und endlich erbeutet wurde. An den Küsten Islands wählen einzelne Walfische alljährlich dieselben Buchten zu ihrem zeitweiligen, stets in dieselben Monate und Wochen des Jahres fallenden Aufenthalte, so daß die Küstenbewohner sie als Persönlichkeiten kennen gelernt und ebenfalls mit besonderen Namen belegt haben. Gewisse wohlbekannte Walmütter besuchen ein Jahr um das andere dieselbe Bucht, um hier ihre Jungen zur Welt zu bringen, genießen Schonung, müssen ihr Leben aber durch das ihrer Jungen, deren man sich regelmäßig bemächtigt, theuer genug erkaufen. Aeußerst selten nur geschieht es, daß die wandernden Wale weder Zeit noch Straße einhalten; im allgemeinen ziehen sie mit solcher Regelmäßigkeit durch das weite Weltmeer, als ob sie sich nach dem Stande der Gestirne richteten und auf gebahnten, seitlich begrenzten Straßen bewegten. Kein anderes Säugethier wandert regelmäßiger als sie, deren Reisen sich geradezu mit dem Zuge der Vögel vergleichen lassen. Wie die Wale unternehmen auch die Robben alljährlich mehr oder minder weite, im ganzen ebenfalls sehr regelmäßige Wanderungen.

Von allen bisher genannten Wandersäugethieren zählt kein einziges zu den Winterschläfern, welche, wohlgeschützt, in tiefen [227] und sorgfältig nach außen hin verschlossenen Bauen in todähnlichem Schlafe die schlimme Jahreszeit überstehen, somit also nicht zum Verlassen ihres Wohngebietes gezwungen sind. Gleichwohl giebt es auch unter ihnen, mindestens unter denen, welche in den gemäßigten Gürteln leben, einzelne, welche während ihres Wachseins wandern: Fledermäuse nämlich. So mangelhaft der Fittich des Flatterthieres, verglichen mit der Schwinge des Vogels, uns erscheinen muß, so erheblich begünstigt er Ortsveränderungen, befähigt daher zu Reisen, welche mit der Größe des ihn regenden Thieres außer allem Verhältnisse zu stehen scheinen. Zudem kommt einer wanderlustigen Fledermaus noch ein anderweitiger Umstand zu statten: sie wird durch ihre Jungen nicht an eine bestimmte Oertlichkeit gebunden; denn das Junge hängt sich unmittelbar nach seiner Geburt an die Brust der Mutter und wird von ihr bis zu erreichter Selbständigkeit durch die Luft getragen. Dementsprechend gehört die Fledermaus zu den reisefertigsten aller Säugethiere und macht unter Umständen von der ihr gewordenen Vergünstigung umfassenden Gebrauch. In der Regel sind die Wanderungen, welche verschiedene Fledermäuse ausführen, allerdings als Streifzüge zu bezeichnen, welche bezwecken, zeitweilig besonders nahrungsreiche Gebiete auszunutzen, sie können jedoch zu wirklichen Reisen werden und wenigstens einzelne Arten in weit entlegene Länder führen, entbehren dann auch nicht der Regelmäßigkeit, welche die Wanderungen kennzeichnet. Die größten Flatterthiere, welche wir Flughunde nennen, durchmessen allabendlich den Früchten, ihrer Hauptnahrung, zu Gefallen weite Strecken, scheuen sich aber auch nicht, Meeresarme von zehn geographischen Meilen Breite und mehr zu überfliegen, müssen sogar von Südasien nach Ostafrika geflogen sein oder denselben Weg in umgekehrter Richtung zurückgelegt haben, da einzelne Arten in beiden Erdtheilen vorkommen; die eigentlichen Fledermäuse leisten mindestens dasselbe. Dem in verschiedenen Höhengürteln zu verschiedenen Zeiten eintretenden Erwachen der Kerbthiere folgend, steigen sie von der Tiefe zu Gebirgshöhen empor und im Herbste umgekehrt wieder zur Tiefe hernieder, den viele Fliegen um sich versammelnden Viehherden der Wanderhirten Mittelafrikas ziehen sie nach; aber sie wandern auch vom Süden nach dem Norden und kehren von hier wieder dorthin zurück oder verfahren umgekehrt. So erscheint die Umberfledermaus erst mit Beginn der taghellen Nächte im Norden von Skandinavien und Rußland und verläßt diese Breiten, welche vielleicht als ihre Heimath gelten dürfen, bereits im Spätsommer wieder, um in unseren mitteldeutschen Gebirgen und in den Alpen zu überwintern; so sieht man die Teichfledermaus während des Sommers regelmäßig in den norddeutschen Ebenen, begegnet ihr aber um diese Zeit nur ausnahmsweise in den Gebirgen Mitteldeutschlands, deren Felsenhöhlen sie zum Ueberwintern aufsucht. Daß auch andere in Deutschland lebende Fledermausarten ähnliche Ortsveränderungen vornehmen, kann keinem Zweifel unterliegen.

Hunger und Durst, Armuth und zeitweilige Unwirthlichkeit eines bestimmten Wohngebietes treffen einzelne Säugethiere zuweilen so hart, daß sie sich, gleichsam verzweifelnd, entschließen, Rettung in fluchtartiger Auswanderung zu suchen. Unter solchen Umständen verlassen bei uns zu Lande die Feld-, in Sibirien die Wurzelmäuse ihre Geburtsstätten und ziehen, zu massenhaften Scharen gesellt, in andere Gefilde, schrecken vor keinem Hemmnisse zurück, scheuen das Wasser ebenso wenig wie das ihnen unfreundliche Gebirge oder den ihnen unheimlichen Wald, kämpfen widerstandslos mit Hunger und Elend und verfallen rettungslos Krankheiten und Seuchen, welche pestartig unter ihnen wüthen und Bestände von Millionen auf wenige Hunderte verringern.

Unter solchen Umständen rotten sich in Sibirien die Eichhörnchen, welche in regelrechten Jahren höchstens Ausflüge unternehmen, zu zahlreichen Heeren zusammen, eilen in Trupps oder Gesellschaften von Baum zu Baum, in geschlossenen Herden von einem Wald zum andern, überschwimmen Flüsse und Ströme, dringen in Dörfern und Städten ein, verlieren zu Tausenden ihr Leben und lassen sich auch durch ersichtliche Todesgefahr weder aufhalten, noch zurückscheuchen, noch nach von ihrem Wege abbringen. Die Sohlen ihrer Füße sind abgelaufen und schrundig, die Nägel abgeschliffen, die Haare des sonst so glatten Pelzes gesträubt und verwirrt; ihren Zügen folgen im Walde Luchse und Zobel, im freien Felde Vielfraße, Füchse und Wölfe, Adler, Falken, Eulen und Raben; unter ihren Heeren fordern großartige Seuchen mehr Opfer noch als Zähne und Klauen der Raubthiere, Geschosse und Knüppel der Menschen, und dennoch wandern sie fort und fort, scheinbar ohne jegliche Hoffnung auf Rückkehr. Nach mündlichen Mittheilungen eines mir befreundeten sibirischen Jägers erschien im August des Jahres 1869 ein solches Eichhornheer inmitten der im Ural gelegenen Stadt Tagilsk. Es war nur ein Flügel des wandernden Hauptheeres, dessen Mitte in einer Entfernung von ungefähr acht Kilometern weiter nördlich durch den Wald zog.

Die Thiere folgten sich einzeln oder in verschieden starken Gesellschaften, aber ununterbrochen, zogen eben so dicht geschart durch die Stadt wie durch den benachbarten Wald, benutzten die Straßen wie die Zäune und die Dächer der Gebäude als Pfade, erfüllten alle Höfe, drangen durch Fenster und Thüren in das Innere der Häuser ein, erregten einen förmlichen Aufruhr unter den Menschen, einen noch ärgeren unter den Hunden, welche Tausende von ihnen umbrachten und zuletzt eine bis dahin ungeahnte zügel- und schrankenlose Mordlust bethätigten, schienen aber nicht im geringsten wegen der zahllosen Opfer, welche unter ihnen fielen, in Sorge zu gerathen oder auch nur sich um sie zu bekümmern, überhaupt an nichts Antheil zu nehmen, und ließen sich durch kein Mittel aus ihrer Bahn bringen.

Drei Tage lang währte der Durchzug vom frühen Morgen bis zum späten Abende, und erst nach Einbruch der Nacht trat jedesmal eine Unterbrechung des Stromes ein. Alle wanderten genau in derselben Richtung, von Süden nach Norden, und die Nachfolgenden zogen auf denselben Wegen dahin wie die Vorausgegangenen. Die rauschende Tschussoweia bildete kein Hinderniß; denn alle, welche an das Ufer des sehr schnell strömenden Gebirgsflusses gelangten, stürzten sich ohne Besinnen in die wirbelnden und schäumenden Fluthen und schwammen, tief eingesenkt, mit auf den Rücken gelegtem Schwanze so eilig wie möglich zum jenseitigen Ufer hinüber. Mein Gewährsmann, welcher den Zug mit fortwährend sich steigernder Aufmerksamkeit und Theilnahme verfolgte, begab sich in einem Boote mitten unter die über den Fluß setzenden Scharen. Die ermüdeten Schwimmer, denen er ein Ruder zustreckte, benutzten dieses, um an ihm aus das Boot zu klettern, blieben hier auch, anscheinend sehr ermattet, ruhig und vertrauensvoll sitzen, kletterten sodann, als das Boot neben einem größeren Fahrzeuge anlegte, auf letzteres und verweilten hier, eben so unbekümmert wie aus jenem, geraume Zeit, verließen es aber sofort, nachdem es dem Ufer nahe gekommen war, sprangen auf dieses und setzten ihren Weg so gleichmüthig fort, als habe es keine Unterbrechung für sie gegeben.

Dieselben Ursachen müssen es sein, welche die Lemminge zu ihren seit Jahrhunderten beobachteten Wanderungen zwingen. Jahre nach einander gewähren ihnen die Gebirge und Tundren Skandinaviens, Nordrußlands und des nördlichen Sibiriens behäbigen Aufenthalt und ausreichende Nahrung, denn die breiten Rücken der Fjelds wie die weiten Ebenen dazwischen, das Hügelland wie die Niederungen bieten Raum und Unterhalt für Millionen von ihnen; aber nicht in jedem Jahre erfreuen sie sich gewohnter Fülle für die ganze Zeit des Sommers. Folgt auf einen schneereichen Winter, der für sie, weil sie unter der weißen Winterdecke ein gesichertes Dasein führen, günstig ist, ein zeitiges und warmes, längere Zeit sich gleich bleibendes Frühjahr, so erleidet ihre erstaunliche Fruchtbarkeit und Vermehrungsfähigkeit keinerlei irgendwie erhebliche Beschränkung, und demgemäß wimmelt die Tundra buchstäblich von ihnen. Ein ihre Anzahl ins Unberechenbare steigernder schöner und warmer Sommer beschleunigt aber auch den Lebenslauf aller Nährpflanzen, und ehe er vergangen, sind diese theilweise verdorrt, theilweise durch den gefräßigen Zahn der an und für sich unersättlichen Wühlmäuse vernichtet worden; Mangel an Nahrung macht sich geltend, und jenes behagliche Leben nimmt ein Ende mit Schrecken. Ihr keckes, dreistes Wesen weicht allgemeiner Unruhe und bald bemächtigt sich ihrer sinnlose Angst vor der Zukunft. Jetzt rotten sie sich zusammen und beginnen zu wandern. Derselbe Trieb regt sich gleichzeitig in vielen und übertragt sich auf andere; der einen Rotte gesellen sich mehrere; aus Herden werden Heere; diese ordnen sich in Reihen; und wie ein rieselndes Gewässer ergießt sich ein lebendiger Strom von den Höhen herab in die Niederungen. Alle eilen in bestimmter, doch je nach Oertlichkeit und Gelegenheit vielfach wechselnder Richtung ihres Weges dahin; allgemach bilden sich [228] lange Züge, in denen ein Lemming so dicht auf den anderen folgt, daß er mit seinem Kopfe auf dem Rücken des vorhergehenden zu ruhen scheint, und unter dem Getrippel der leichten Geschöpfe graben sich endlich tiefe, von Weitem sichtbare Pfädchen in den Moosteppich der Tundra. Je länger der Zug währt, um so mehr steigert sich die Eile der wandernden Lemminge. Gierig fallen sie über alle Pflanzen auf und am Wege her und verschlingen, was genießbar ist; ihrer Menge gegenüber verarmt aber auch ein noch unbeweidetes Gebiet binnen wenigen Stunden, und wenn die vordersten wirklich noch einige Nahrung finden, bleibt doch für die nachkommenden nichts mehr übrig; der Hunger mehrt sich von Minute zu Minute und beschleunigt gleichmäßig den Zug, läßt jegliches Hinderniß als überwindlich, jede Gefahr als nichtig erscheinen und treibt dadurch Millionen in den Tod. Ihnen entgegentretenden Menschen laufen sie zwischen den Beinen durch; Raben und anderen übermächtigen und räuberischen Vögeln bieten sie trotzig die Stirn, Heuschober durchnagen, Berge und Felsblöcke überklettern, Flüsse und Meeresarme, selbst breite Seen oder Meeresbuchten und Fjorde überschwimmen sie. Ein ähnliches Gefolge wie hinter den wandernden Eichhörnchen trabt und fliegt hinter ihnen einher: Wölfe und Füchse, Vielfraße, Marder und Wiesel, Hunde der Lappen und Samojeden, Adler, Bussarde und Schneeeulen, Kolkraben und Nebelkrähen nähren sich an den unzähligen Opfern, welche sie dem wogenden Heere mühelos entnehmen, Möven und allerlei Raubfische an denen, welche die Gewässer fordern, Seuchen und Krankheiten bleiben ebenso wenig aus und raffen vielleicht noch mehr von ihnen hin, als alle Feinde zusammen genommen vertilgen können. Tausende ihrer Leichen bleiben verfaulend am Wege liegen, Tausende treiben die Wellen mit sich fort, ob ihrer überhaupt übrig bleiben und ob diese später nach ihren wohnlichen Alphöhen zurückkehren oder ob schließlich alle, alle, welche auszogen, auf der Wanderung zu Grunde gehen, vermag niemand zu bestimmen.

Was im Norden der Hunger bewirkt, verursacht in dem reicheren Süden der quälende Durst. Wenn unter der sengenden Hitze des südafrikanischen Winters die brackigen Wassertümpel, welche bis dahin Tigerpferden, Antilopen, Büffeln, Straußen und anderen an den Boden geketteten Steppenthieren Labung gewährten, mehr und mehr versiegen, sammeln sich um diejenigen, welche noch nicht vertrockneten, alle Thiere, denen die Steppe bisher ihre Lebensbedingungen gewährte, und ein reges, überaus lebendiges Treiben entwickelt und gestaltet sich um die noch wasserhaltigen Lachen. Wenn aber auch sie verdunsten, sehen die Thiere, welche an ihnen zusammenströmten, sich gezwungen, auszuwandern, und dann kann es geschehen, daß sie von einer ähnlichen Verzweiflung erfaßt und beherrscht werden wie die vorher geschilderten Nager, in ähnlicher Weise wie Wildpferde und Kropfantilopen der mittelasiatischen Steppen oder die Bisonten der nordamerikanischen Prairien sich scharen und geraden Weges Hunderte von Meilen durchlaufen, um der Noth des Winters zu entrinnen.

Die ersten, welche dem ungastlich gewordenen Lande den Rücken kehren, sind auch hier die Wildpferde. Sorglos und ungezwungen streiften bis zum Eintritte der Noth die prachtvoll gezeichneten, kräftigen und schnellen, wilden und selbstbewußten Kinder der Karu, Zebra, Quagga und Dauw durch ihr weites Gebiet, jede einzelne Herde unter Obhut und Führung eines alten, erfahrenen und kampfgeübten Hengstes ihre eigenen Wege wählend. Da beginnen die Sorgen der Zeit des Winters. Eine Wasserlache nach der anderen schwindet und immer zahlreicher werden die Herden, welche sich um die bis zuletzt noch ergiebigen sammeln. Die gemeinsame Noth läßt selbst die rauflustigsten Hengste Kampf und Streit vergessen. Anstatt der wenig zahlreichen Tabunen bilden sich Herden von mehreren hundert Stück, welche fortan gemeinschaftlich handeln und endlich gemeinsam die winterliche Gegend verlassen, noch bevor deren Mangel die Kräfte geschwächt, den störrischen Willen gebrochen hat. Mit Begeisterung schildern Reisende das großartige Schauspiel, welches eine solche wandernde Tigerpferdherde gewährt. Weithin vor dem Auge des Beobachters erstreckt sich das sandige Gelände, dessen rothschimmernder Grundton nur hier und da durch dunkle Flecken sonnenverbrannten Grases unterbrochen, welches nur spärlich durch einzelne Bestände federblätteriger Mimosen beschattet und erst in weitester Ferne durch scharfe Linien in blauem Dufte schwimmender Berge begrenzt wird. Inmitten solcher Landschaft erhebt sich eine Staubwolke und steigt, von keinem Lufthauche gestört, wie eine Rauchsäule zum blauen Himmel auf. Näher und näher zieht diese Wolke heran; endlich werden in ihr sich bewegende lebende Wesen auf Augenblicke sichtbar. Vom Dunkel sich lösend, treten lebhaft gefärbte und seltsam gezeichnete Thiere vor das Auge des Beschauers, in dicht gedrängter Reihe, die Hälse und Schweife erhoben; Nacken an Nacken mit abenteuerlich gestalteten Gnus und Straußen, welche ihnen sich angeschlossen, sprengen sie vorüber, einem anderen, vielleicht weit entfernten Weideplatze zueilend, und ehe der Beobachter noch recht zur Besinnung gelangte, ist das wilde Heer wiederum dem Auge entrückt, in der unabsehbaren Steppe dem Blicke entschwunden.

Nicht immer auf denselben Pfaden, aber doch meist in gleicher Richtung ziehen auch die vom Winter vertriebenen Antilopen durch das weite Land. Keine von ihnen tritt zahlreicher und häufiger auf als der Springbock, eine der zierlichsten und schmucksten Gazellen, welche wir kennen. Seine ungewöhnliche Schönheit und zaubervolle Beweglichkeit bestrickt jeden, welcher ihn in der Freiheit beobachtet, wie er bald federnden Ganges dahinschreitet, bald stille stehend sich äs’t, bald in übermüthigen Sprüngen sich tummelt und dabei seine höchste Zierde, einen mähnenartigen, bei ruhigem Gange in einer Längsfalte des Hinterrückens verborgenen, schneeweißen Haarbusch entfaltet. Keine andere Antilope schart sich, wenn die Noth zum Wandern zwingt, zu so zahlreichen Heeren wie der Springbock. Vergeblich bemüht sich auch der wortreichste Beschreiber bei dem, welcher einen Springbockzug nicht mit eigenem Auge erschaute, eine annähernd richtige Vorstellung des wunderbaren Schauspiels hervorzurufen. Seit Wochen schon zusammen gedrängt, vielleicht noch immer des ersten Regengusses harrend, entschließt sich der Springbock endlich dennoch zum Wandern. Hunderte seiner Art vereinigen sich mit anderen Hunderten, Tausende mit Tausenden, je drohender der Mangel, je quälender der Durst wird, je mehr der bereits zurückgelegte Weg sich verlängert; aus den Scharen bilden sich Herden, aus den Herden Heere, und den die Sonne verdunkelnden Heuschreckenschwärmen vergleichbar, ziehen diese Heere dahin. In den Ebenen bedecken sie ganze Geviertmeilen, in den Pässen zwischen den Bergen drängen sie sich zu gepreßten Massen zusammen, denen kein anderes Geschöpf Widerstand zu leisten vermag, durch die Niederungen fluthen sie wie ein seine Ufer überschwemmender, alles mit sich dahin wälzender Strom. Sinnverwirrend, auch den nüchternsten Menschen berauschend und bethörend, wogt das Gewimmel vorüber, stunden-, zuweilen tagelang.

Wie die gefräßigen Wanderheuschrecken fallen die verschmachtenden Thiere über Gras und Blätter, Getreide und andere Feldfrüchte her; wo sie gezogen, bleibt kein Halm übrig. Der Mensch, welcher ihnen gegenüber tritt, wird im Nu zu Boden geworfen und durch die zwar leichten, aber in tausendfacher Folge wiederkehrenden Huftritte so schwer verletzt, daß er froh sein kann, wenn er mit dem Leben davonkommt; eine im Wege weidende Schafherde wird umzingelt, fortgerissen und auf Nimmerwiedersehen entführt, ein Löwe, welcher mühelos Beute zu erwerben gedachte, sieht sich gezwungen, das von ihm geschlagene Opfer zu verlassen und mit dem Strome zu treiben. Unablässig drängen die hintersten vorwärts, weichen die vordersten langsam zurück, beständig suchen die in der Mitte eingepferchten Scharen die Flügel zu erreichen, und fortdauernd begegnen sie dem zähesten Widerstande. Ueber der Staubwolke, welche die wandernden Massen erregen, kreisen die Geier; den Flügeln wie dem Nachtrabe des Heeres schließt sich ein zahlreiches, aus den verschiedensten Raubthieren gebildetes Leichengefolge an; an Pässen lauern Jäger und Schützen und entsenden Kugel auf Kugel in das Gewimmel. So schwärmen die gequälten Thiere durch viele Meilen, bis endlich der Frühling eintritt und ihre Herde auflöst.

Soll ich nach diesem noch anderer unfreiwilligen Wanderungen gedenken, solcher, wie sie Eisfüchse und Eisbären zuweilen auszuführen gezwungen werden, wenn eine Scholle, auf welcher sie jagten, gelöst und von den Meereswogen fortgerissen wird, bis sie im günstigsten Falle an einer Insel landet? Ich meine nicht, denn solches Reisen ist nicht Wandern mehr, sondern nur noch ein Treiben mit den Wellen.

[229]
Aus dem Leben des Kaisers Wilhelm I. [1]
(Fortsetzung.)
Deutscher Bundesfeldherr.

Vor die schwierige Aufgabe gestellt, in der „Gartenlaube“ nur einige Abschnitte aus dem Leben Kaiser Wilhelms I., das beinahe die weite Spanne eines Jahrhunderts umfaßt, unsern Lesern vorzuführen, glauben wir das Richtige zu treffen, wenn wir auf die Erinnerungen an die Mannesjahre das große Jahr der glorreichen Siege des Gründers der deutschen Einheit folgen lassen, jenes Jahr, in welchem der deutsche Bundesfeldherr in heißen Schlachten sich die Kaiserkrone, uns das Reich errang.

Am Abend der Schlacht von Gravelotte.
Originalzeichnung von H. Lüders.

Mit den friedlichsten Aussichten, schreibt Ernst Scherenberg in seinem Werke, war Deutschland in das Jahr 1870 eingetreten. In seiner Thronrede am 13. Februar noch hatte König Wilhelm verkündet. „Unter den Regierungen wie unter den Völkern der heutigen Welt ist die Ueberzeugung in siegreichem Fortschritte begriffen, daß einem jeden politischen Gemeinwesen die unabhängige Pflege der Wohlfahrt, der Freiheit und der Gerechtigkeit im eigenen Hause zustehe und obliege und daß die Wehrkraft eines jeden Landes nur zum Schutze eigener, nicht zur Beeinträchtigung fremder Unabhängigkeit berufen sei.“

Aber anders dachten die leitenden Kreise Frankreichs. Während König Wilhelm im tiefsten Frieden zu Ems Kräftigung und Erholung suchte, wurde plötzlich in den ersten Julitagen im gesetzgebenden Körper in Paris die Alarmtrommel gerührt. Dann schickte man den französischen Gesandten Benedetti nach Ems, um den König wegen seines persönlichen Einschreitens gegen die spanische Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern in einer Weise zu bestürmen, die in den Annalen des diplomatischen Herkommens ohne Beispiel war. Prinz Leopold entschloß sich schon am 10. Juli, der Kandidatur in patriotischer Selbstlosigkeit zu entsagen, um nicht die Ursache eines Krieges zwischen Preußen und Frankreich zu werden, der den Schein erwecken konnte, als werde er um Familieninteressen geführt. Aber in Paris durfte man sich bei dem geheimen Zweck, den man verfolgte, mit dieser bloßen Verzichtleistung des Prinzen nicht begnügen; man suchte um jeden Preis die Person des preußischen Monarchen in die Angelegenheit zu verwickeln, um denselben zu dem Kriege, den man wollte, zu reizen oder ihn zu einer offenkundigen, sein und Preußens Ansehen in Deutschland wie im Auslande schädigenden Demüthigung zu nöthigen.

Das Verhalten des Königs Wilhelm in jenen Tagen zu Ems kann nicht genug anerkannt werden. Ohne jeden diplomatischen Beirath hielt er den immer dringenderen, ihm zuletzt auf offener Brunnenpromenade von Benedetti gestellten unerhört dreisten Zumuthungen eine wahrhaft staatsmännische Ruhe und bei aller Milde der Form unerschütterliche Festigkeit entgegen. Er ermächtigte den französischen Botschafter als Zeichen seiner Friedensliebe wiederholt, seinem Kabinett zu melden, daß er den Verzicht des Prinzen von Hohenzollern „vollständig und rückhaltlos“ billige. Mit unbeugsamer Entschiedenheit aber lehnte er es ab, dem Prinzen die Kandidatur zu „verbieten“, eine Forderung, welche nach Eingang der Verzichtleistung des Prinzen, gemäß der telegrafischen Korrespondenz zwischen Gramont und Benedetti, am 13. Juli sogar dahin erweitert wurde, daß der König sich dieser Verzichtleistung „anschließe“ und den Botschafter [230] ermächtige, seiner Regierung mitzutheilen, daß, „wenn der Prinz von Hohenzollern auf sein Vorhaben zurückkäme, Se. Majestät seine Autorität gebrauchen würde, um es zu hindern.“ Der König verweigerte dies nach Benedettis Bericht unbedingt und brach die Unterredung mit der Erklärung ab, „daß er eine solche Verbindlichkeit nicht übernehmen könne, noch wolle und daß er für einen solchen Fall, wie für jeden anderen, sich die Erwägung der Umstände vorbehalten müsse.“ Als trotzdem Benedetti an diesem Tage zum dritten Male eine Audienz verlangte, ließ der König ihm durch seinen Flügeladjutanten Fürsten Radziwill sagen, er müsse es entschieden ablehnen, in betreff der gewünschten Bürgschaften für die Zukunft sich in weitere Erörterungen einzulassen, was er am Morgen gesagt, sei in dieser Sache sein letztes Wort. Nichtsdestoweniger versuchte Benedetti den König bei dessen Abfahrt nach Koblenz am 14. Juli Nachmittags auf dem Bahnhofe nochmals zu sprechen. König Wilhelm beschränkte sich jedoch darauf, dem französischen Botschafter zu sagen, „daß er ihm nichts mehr mitzutheilen habe und daß die etwa weiter erforderlichen Verhandlungen durch seine Regierung geführt werden würden.“

König Wilhelms Begegnung mit Kaiser Napoleon nach der Schlacht bei Sedan.
Originalzeichnung von H. Lüders.

Dies waren die Vorgänge, welche Frankreich zur Kriegserklärung veranlaßten, bezeichnender Weise dem einzigen offiziellen Aktenstück, welches der preußischen Regierung im Verlaufe dieser ganzen Angelegenheit zugestellt worden.

Als eine amtliche telegraphische Meldung die dem greisen Oberhaupt des Norddeutschen Bundes in Ems widerfahrene Behandlung in Deutschland bekannt machte, lähmte im ersten Augenblick ein Gefühl des Staunens über diese unerhörte französische Herausforderung aller Herzen:

„Unser Königsaar
Mit dem schneeigen Haar
Sollt’ vor gallischen Krähen sich neigen?!
Zum Verkünder der Schmach
keinen Laut er sprach –
Doch es wirkte wie Donner sein Schweigen.“

Dann aber löste sich der Bann, und es brauste von den Alpen bis zum Nordmeer ein Sturm patriotischer Entrüstung durch das gesammte Volk, von einer solchen Plötzlichkeit, elementaren Gewalt und hinreißenden Wirkung, wie er niemals vorher – selbst in den Befreiungskriegen nicht – deutsche Gemüther durchzittert hat und in dieser Weise vielleicht in Jahrhunderten sich nicht wiederholen dürfte.

„Nun so züngelt hervor!
Nun so lodert empor
Ohne Fesseln gen Himmel, ihr Flammen!
Unser Volk, das entzweit,
Wird durch Leiden gefeit,
Schmilzt in heiliger Lohe zusammen.“

In begeisterten Huldigungen machte sich bei der Rückreise des geliebten Monarchen von Ems nach Berlin am 15. Juli die fieberhafte Spannung des Volkes an allen Orten Luft, welche der königliche Zug durcheilte. In die Hauptstadt fuhr der ehrwürdige Fürst, den man hatte demüthigen wollen, Abends wie ein Sieger ein. In derselben Nacht noch waren der Kronprinz und des Königs Paladine, Bismarck, Moltke, Roon zum Kriegsrath im kaiserlichen Palais versammelt. Die Mobilmachung der gesammten Armee wurde angeordnet und der Reichstag auf den 19. Juli einberufen.

Ein bedeutsames Zusammentreffen in dem an wunderbaren Schicksalsfügungen so reichen Leben des Königs ist es, daß dieser Tag, an welchem auch die französische Kriegserklärung übergeben wurde, zugleich der sechzigste Todestag der Königin Luise war, für deren einstiges Leid nunmehr der greise Sohn in dem bevorstehenden Kriege die letzte vollständigste Sühne fordern und ganz im Sinne der deutschdenkenden Fürstin nicht nur durch Niederwerfung des Erben jenes ersten Napoleon, sondern durch Erneuerung des deutschen Reichs finden sollte!

In Andacht weilte König Wilhelm Morgens am Grabe seiner Eltern, ließ durch Erlaß vom gleichen Tage, „in dankbarer Erinnerung an die Heldenthaten unserer Vorfahren“, das „von seinem in Gott ruhenden Vater gestiftete Ordenszeichen des Eisernen Kreuzes in seiner ganzen Bedeutung wieder aufleben“ und eröffnete sodann den Reichstag. Die vom Gefühl der gerechten Sache getragene Thronrede wurde Satz für Satz mit so stürmischer Begeisterung aufgenommen, daß der Herrscher dieselbe nur mit tiefer Bewegung zu Ende lesen konnte. Welch ein Inhalt aber auch und in welcher Stunde!

„Hat Deutschland derartige Vergewaltigungen seines Rechts und seiner Ehre in früheren Jahrhunderten schweigend ertragen, so ertrug es sie nur, weil es in seiner Zerrissenheit nicht wußte, wie stark es war. Heute, wo das Band geistiger und rechtlicher Einigung, welches die Befreiungskriege zu knüpfen begonnen, die deutschen Stämme je länger, desto inniger verbindet, heute, wo Deutschlands Rüstung dem Feinde keine Oeffnung mehr bietet, trägt Deutschland in sich selbst den Willen und die Kraft der Abwehr erneueter französischer Gewaltthat.“

Welch ein erhebender Vergleich der Zeit von 1870 gegen die Tage der Jugend des Königs, wo der Kampf gegen Frankreich nur mit ausländischer Hilfe möglich war, liegt in diesen kernhaften Worten! Und zum Schluß der vertrauende Blick in die Zukunft:

„Wir werden nach dem Beispiel unserer Väter für unsere Freiheit und für unser Recht gegen die Gewaltthat fremder Eroberer kämpfen und in diesem Kampfe, in dem wir kein anderes Ziel verfolgen als den Frieden Europas zu sichern, wird Gott mit uns sein, wie er mit unsern Vätern war.“

Die thörichte Rechnung Napoleons und seiner gewissenlosen Berather auf die süddeutschen Höfe und die unzufriedenen partikularistischen Elemente im Volke wurde schon in den ersten Tagen durch die opfermuthigen und begeisterten Kundgebungen aus München, Stuttgart, Karlsruhe, aus allen Staaten, Stämmen und Parteien Deutschlands zu Schanden:

„Sie wähnten, es schliefen die Hüter dein,
und wollten mit Lug dich umnachten,
Aber Norden und Süden hielt Wacht am Rhein
Und stürmte ins Wetter der Schlachten.“

[231] Es kann weder unsere Aufgabe, noch Absicht sein, hier eine Geschichte des Kriegs von 1870 und 1871 zu geben. Der größte Theil des lebenden Geschlechts hat ja die unvergeßlichen Erfolge jenes Feldzuges miterstritten oder die Kunde davon in ihrem unmittelbaren Eindruck bebend und jubelnd in sich aufgenommen. Am 31. Juli verließ König Wilhelm, von den begeisterten Wünschen des ganzen deutschen Volkes begleitet, Berlin; am 2. August übernahm er in Mainz als oberster Bundesherr den Befehl über die ganze Armee. Schon am 4. und 6. waren zu Weißenburg und Wörth die ersten Siege und zwar durch die Armee des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, bei welcher auch die süddeutschen Truppen standen, erfochten. Gleichzeitig wurde die französische Armee bei Spichern vom rechten Flügel der deutschen Heeresaufstellung energisch zurückgeworfen.

Lawinenartig ergossen sich nunmehr die deutschen Armeen über Frankreich, nöthigten die sich auf Metz zurückziehenden französischen Korps durch kühne Vorstöße zuerst bei Courcelles, dann in opfermuthigem, heißem Ringen bei Vionville Stand zu halten, und ermöglichte dadurch die gewaltige und durch die Einschließung der noch 140 000 Mann starken Bazaineschen Armee in Metz so folgenreiche Schlacht bei Gravelotte am 18. August unter persönlicher Führung des Königs.

Kriegsrath in Versailles.
Originalzeichnung von H. Lüders.

Gegen Abend, als das pommersche Armeekorps mit klingendem Spiele vorging, um die heiß umstrittenen Stellungen mit dem Bajonnet zu nehmen, trieb es auch den König nach der Höhe von Gravelotte.

„Bei jenem letzten Vorstoß,“ so berichtet er selbst vom Schlachtfelde an die Königin, „fehlten die historischen Granaten von Königgrätz nicht, aus denen mich diesmal Minister von Roon entfernte.“

Rittmeister von Buddenbrock im Gefolge wurde durch einen Granatsplitter an der Hand verwundet, welcher sodann noch das Pferd des Hofmarschalls Grafen Perponcher tödtete. Das Hauptquartier ritt daher etwas zurück, und der König nahm neben einer Gartenmauer auf der Leiter eines Bauernwagens Platz, deren eines Ende auf eine Dezimalwage, deren anderes auf einen todten französischen Gaul gelegt wurde. Unmittelbar zur Seite brannte eine große Wollspinnerei, die nächste Umgebung mit unheimlichem Lichte erhellend. Man war in Erwartung der Entscheidung, welche die nächsten Minuten bringen mußten, sehr schweigsam. Da eilte Moltke, welcher soeben die Pommern zum Sturme geführt hatte, mit erhitztem Gesicht auf den ihm entgegentretenden König zu. „Majestät, wir haben gesiegt; der Feind ist aus allen Stellungen geworfen!“

Im dankbaren Herzen des Königs ist dieser Augenblick unauslöschlich haften geblieben. Ein Vorgang aus der am 13. September 1887 abgehaltenen Kaiserparade bei Stettin bestätigte dies in ergreifender Weise. Als nämlich Feldmarschall Moltke an diesem Tage sein Kolbergsches Grenadierregiment Nr. 9, welches er am Abend des 18. August 1870 mit gezogenem Degen gegen den Feind geführt hatte, nun mit demselben Degen salutirend vor seinem Kriegsherrn vorbeigeleitete, da winkte ihn dieser dicht an den Wagenschlag heran, drückte ihm wiederholt die Hand und hielt dieselbe schließlich gerührt so lange in seiner Rechten fest, bis der letzte Mann vom Kolbergschen Regiment vorbeimarschirt war. Die Tausende aber, welche diesem erhebenden Schauspiele zusahen, jubelten dem großen Kaiser und seinem großen Heerführer begeistert zu.

Auf Gravelotte folgte schon am 1. und 2. September Sedan, die Gefangennahme der 100 000 Mann starken Armee Mac Mahons und Kaiser Napoleons selbst.

„Tag des Sieges ohnegleichen,
Tag des höchsten Jubels voll!
Steigt empor, ihr Flammenzeichen,
Eines Volkes Opferzoll!“

Die Größe dieses weltgeschichtlichen Ereignisses, welches den Höhepunkt in König Wilhelms Siegeslaufbahn bildet, können wir nur mit seinen eigenen, in ihrer Schlichtheit um so eindrucksvolleren Worten schildern.

„Welch ein ergreifender Augenblick, der der Begegnung mit Napoleon!“ – heißt es in dem Telegramm an die Königin. „Er war gebeugt, aber würdig in seiner Haltung und ergeben. Ich habe ihm Wilhelmshöhe bei Kassel zum Aufenthalt gegeben. Unsere Begegnung fand in einem kleinen Schlößchen vor dem [232] östlichen Glacis von Sedan statt. Von dort beritt ich die Armee um Sedan. Den Empfang durch die Truppen kannst Du Dir denken! Unbeschreiblich!“ Und brieflich berichtet der König noch: „Ich stieg vor dem Schlößchen ab, wo der Kaiser mir entgegenkam. Der Besuch währte eine Viertelstunde, wir waren beide sehr bewegt über dieses Wiedersehen. Was ich alles empfand, nachdem ich vor Jahren Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht (in Paris) gesehen hatte, kann ich nicht beschreiben.“ Und dann sei noch jene den Charakter des Königs so wahr zum Ausdruck bringende Stelle desselben Briefes mitgetheilt: „Es ist wie ein Traum, selbst wenn man Stunde für Stunde hat abrollen sehen. Wenn ich mir denke, daß nach einem großen glücklichen Kriege ich während meiner Regierung nichts Ruhmreicheres mehr erwarten konnte, und ich nun diesen weltgeschichtlichen Akt erfolgt sehe, so beuge ich mich vor Gott, der allem mich, mein Heer und meine Mitverbündeten ausersehen hat, das Geschehene zu vollbringen, und uns zu Werkzeugen seines Willens bestellt hat. Nur in diesem Sinne vermag ich das Werk aufzufassen und in Demuth Gottes Führung und seine Gnade zu preisen.“

König Wilhelm besucht die Verwundeten in Versailles.
Originalzeichnung von H. Lüders.

Aber der Siegeslauf sollte auch mit diesem gewaltigen Ergebniß noch nicht beendigt sein. Das Kaiserreich war am 4. September gestürzt, jedoch die Republik trat das Erbe des Krieges an. So galt es denn, unaufhaltsam vorwärts zu dringen und die Hauptstadt selbst zu unterwerfen. Am 19. September schon war die vollständige Einschließung von Paris bewirkt. Das Hauptquartier des Königs wurde fortan Versailles. Im prunkvollen Schlosse Ludwigs XIV. hielt nun der König während der nächsten Monate mit seinen Feldherren und Staatsmännern den Kriegsrath, indessen die Belagerung von Paris stetige Fortschritte machte und die deutschen Heere sich nach allen Himmelsrichtungen siegreich immer weiter über das feindliche Laud ergossen. Hier liefen die frohen Botschaften vom Falle der Festen Straßburg und Metz, vom heldenmütigen Widerstande Werders und immer neuen Erfolgen ein. Hier aber widmete der König sich in seiner liebreichen Menschenfreundlichkeit auch den Werken der Barmherzigkeit und ließ es keine seiner geringsten Sorgen sein, die Pflege der Verwundeten in den Lazarethen durch persönliche Besuche zu überwachen. Die Todeswunde manches Braven brannte weniger heiß und schmerzhaft, wenn er in das milde, gerührte Auge seines Königs blickte.

Hier im Schlosse zu Versailles endlich sollte König Wilhelm auch den Dank aller deutschen Fürsten und Stämme für die unsterblichen Verdienste ernten, welche er sich um das Vaterland erworben. Hier sollte die Sehnsucht des deutschen Volkes ihre fast märchenhafte Erfüllung finden. Jeder deutsche Krieger, weß Landes immer er sei, wußte, daß nicht die Niederwerfung Frankreichs und die Sicherung des heimischen Bodens allein der Lohn dieses Feldzugs sein durfte. Nein, ein köstlicheres, unverlierbares Gut hatten er und seine Kameraden für ihr Vaterland erstritten, denn freudig durften sie jauchzen:

„Hurra! in dem klirrenden Waffentanz
Ward erbeutet der blutige Hochzeitskranz!
Auf dem Felde der Ehre, da sind mir getraut –
Hoch Deutschland, herrliche Siegesbraut!“

Nicht verloren war das Blut der Tausende deutscher Männer, welches die starren Schollen der winterlichen Erde Frankreichs röthete –

„Denn unter den warmen Tropfen schmolz
Des Ackers frostige Krume:
Aufschoß – o Wunder – stark und stolz
Die deutsche Kaiserblume!“

(Fortsetzung folgt.)



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Josias.
Eine Geschichte aus alter Zeit von Fanny Lewald.
(Fortsetzung.)

Jahre waren vergangen, meine Einsegnung war vorüber; der Graf hatte mir zu derselben geschrieben, mich mit einer kostbaren englischen Uhr beschenkt, und mir überhaupt fortdauernd seinen Antheil als ein treuer Pathe bezeigt. Ich trage die Uhr noch heute und habe an ihr alle guten und schweren Stunden meines Lebens abgezählt. Als ich die Klassen des Kollegs durchgemacht, stand ich im neunzehnten Jahre. Mein Vater erachtete mich noch zu jung , mich allein auf Reisen gehen zu lassen. Er beschloß also, mich nach Ilsenburg in den Harz zu senden, wo damals ein vielerfahrener Landwirth und Forstmann, Herr Zarenthin[WS 1], eine Meisterschule für künftige Landwirthe errichtet hatte; und dieser Plan, mich in der Forstkultur besonders unterweisen zu lassen, hing auch mit den Wandlungen zusammen, welche mein Vater in seinen Angelegenheiten herbeigeführt hatte.

Er hatte seiner Zeit die Domänenpachtung für zwanzig Jahre übernommen. Aber er hatte bei seinem Eifer und seinen Kenntnissen nicht so langer Zeit bedurft, um die Verbesserungen zu bewerkstelligen, welche der König durch ihn hatte eingeführt haben wollen. Die Maulbeeralleen waren schön herangewachsen; die Obstzucht in Benwitz gab der in Schönfelde und in Sanssouci nichts mehr nach; der ganze Boden war ertragsfähiger geworden, und so hatte der Vater schon bei dem Tode Friedrichs des Großen, dem er sich verpflichtet, daran gedacht, sein Pachtverhältniß zu lösen, wenn es ohne Nachtheil für ihn geschehen könnte; denn während er dem Könige gedient, hatte er auch seinen Besitz nicht vernachlässigt, sondern einen beträchtlichen Theil der an Schönfelde grenzenden Waldungen gekauft, um sein Gut besser abzurunden, und er hatte daran gedacht, sich das Leben durch Rücktritt von

[233]

Klönthalsee.
Nach dem Oelgemälde von F. X. v. Riedmüller.

[234] der Pachtung arbeitsfreier zu machen. Indeß die Regierung hatte damals nicht davon hören wollen. Erst, als ich nach dem Verlauf meines ersten Studienjahres in Ilsenburg in die Ferien nach Hause gehen wollte, war er zu einem Abkommen mit der Regierung gelangt, da sich ein geeigneter Mann gefunden, welchem der Minister die Vortheile des Benwitzer Rentmeisteramtes zuzuwenden wünschte. Der Vater war grade mit der Uebergabe von Benwitz an den neuen Pächter beschäftigt, als ich in Schönfelde anlangte. Ich war seit länger als einem Jahre nicht mehr dort gewesen, denn ich hatte in den vorigen Sommerferien meine Mutter in das Bad nach Pyrmont zu begleiten gehabt und war von dort geradeswegs in meine Lehre zurückgegangen. Auch diesmal war mein Verweilen bei meinen Eltern nur kurz bemessen, und so wollte ich, die Zeit zu nutzen, schon am zweiten Tage nach Dambow hinüber reiten.

Meine Mutter sagte, ich würde dort große Veränderungen gewahren. Franull entwickle sich körperlich und auch geistig mit merkwürdiger Schnelligkeit. Der Graf habe neben Madame Fleuron, der Schweizerin, die schon langer bei Franull war, noch einen Hauslehrer für sie angenommen, einen ältlichen sehr braven Kandidaten der Theologie, der schon in verschiedenen adligen Häusern Erzieher gewesen sei, weil ein Halsleiden ihm das Predigen verbiete, und der Graf lebe nur in und mit Franull. Er habe ihr im Frühjahr ein Pferd zugeritten, sie reiten gelehrt, ihr von dem Schneider, welcher in Berlin für die Damen des Hofes arbeite, den Reitanzug kommen lassen, und er sei täglich zu Pferde mit ihr zu sehen. Wenn man nicht so genau Tag und Stunde ihrer Geburt wisse, müsse man sie um mehrere Jahre älter halten als sie sei. Sie habe die große Statur des Grafen Dubimin und des Grafen ganze Art geerbt. Er nenne sie offen seine Tochter; sie nenne ihn Vater, und darüber könne man so allenfalls hinwegsehen, da dies zwischen Pflegeeltern und Pflegekindern nichts Ungewöhnliches sei. Ob sie und mein Vater für ihr Theil richtig gehandelt, als sie des Grafen Zutrauen nicht abgewiesen, darüber habe sie sich schon manchmal schwere Gedanken gemacht – aber der Graf sei ein so edler, vortrefflicher Mann und das Kind habe sie gejammert. Was man am Hofe und in der Welt dem Könige Friedrich Wilhelm dem Zweiten nachzusehen für erlaubt halte, damit müsse sich der Einzelne auch abzufinden suchen, wo es der Befriedigung eines treu bewährten Freundes und einer Gerechtigkeit gelte, die zu üben im Grunde seine Pflicht sei. Der Graf allein nenne seine Tochter noch Franull. Die Uebrigen seien angewiesen, sie als Fräulein Franziska anzureden. Die alte Haushälterin und die andere alte Dienerschaft habe das nur schwer erlernt, und in der Umgegend habe man Franull so lange als das gnädige Fräulein von Dambow verspottet, bis es zur feststehenden Gewohnheit geworden sei, sie das Fräulein von Dambow zu nennen. Was der Graf schließlich mit ihr im Sinne habe, könne man ja nicht wissen. Er sei, nachdem er sich vor Jahren zur Beerdigung des Königs zum ersten Male wieder an den Hof begeben, jetzt öfters zu Hofe gegangen und von dem König Friedrich Wilhelm dem Zweiten in Berlin und im Marmorpalais sehr gnädig aufgenommen worden; es gehe sogar das Gerede, daß er den nächsten Winter in Berlin verleben und Franull und seinen ganzen übrigen Hausstand mit sich nehmen werde.

Mit diesen ‚Nachrichten‘ beschäftigt, hatte ich mich aufs Pferd geworfen und war raschen Trabes durch die köstlichste Herbstlust gen Dambow geritten, als mir kurz vor dem Heck des Dorfes der Graf und Franull von der Waldseite entgegenkamen. Als wir nahe genug bei einander waren, rief der Graf mir mit den Worten. ‚Nun! läßt Du Dich wieder einmal sehen?‘ seinen Willkomm entgegen, und während Franull ihr Pferd mit einer Kraft und Sicherheit zum Stehen brachte, die mir an dem so jungen Mädchen auffielen, fügte sie dem Gruß ihres Vaters die Aufforderung hinzu: ‚Komm heran, daß man Dir die Hand doch geben kann!‘

Ich gehorchte, doch fühlte ich mich verwirrt; denn während ihre Schönheit mich entzückte, verdroß mich ihr gebieterischer Ton, der Ton des Herrenkindes, das gewohnt war, zu befehlen und Gehorsam zu finden. Weil ich aber doch etwas entgegnen mußte, sagte ich: ,Sie sind eine vortreffliche Reiterin geworden!‘

,Ich habe einen guten Lehrer gehabt an Papa!‘ gab sie mir zurück, den Blick nach dem Grafen hingewendet, der mich nach dem Ergehen der Eltern, nach der Dauer meines Aufenthaltes fragte. So erreichten wir das Schloß. Die Reitknechte kamen heran; ich war schnell vom Pferde, Franull meine Dienste anzubieten, und als ich dann den kleinen Fuß in meiner Hand hielt und sie die ihre auf meine Schulter legte, sagte sie mit der fröhlichen Unbefangenheit ihrer frühesten Kindheit. ,Nun Du da bist, Josias, bleibst Du auch!‘

Ich versetzte, daß ich das nicht könne. ‚Ach!‘ lachte sie, ‚nicht können! Ich werde dem Papa sagen, daß er Dich nicht fortläßt, und damit ist es gut!‘

Sie eilte, ihr Reitkleid zusammenraffend, die Rampe hinauf und der Graf nahm mich mit sich in das Zimmer des Erdgeschosses, in dem sich sein Arbeitspult und die Registraturen befanden und in dem er sich früher ganz ausschließlich aufgehalten hatte, wenn wir nicht seine Gäste gewesen waren und man oben die Zimmer geöffnet hatte.

Er fragte mich nach meiner Beschäftigung in Ilsenburg, erkundigte sich nach meinen weiteren Plänen, und wir waren noch nicht lange bei einander, als der Diener meldete, daß das Essen bereit sei. Der Graf hieß mich vorangehen, weil er die Reitstiefel ablegen wolle. Oben im Wohnzimmer stand Franull in gewählter modischer Tracht an dem Käfig eines Papageis, mit dem sie sich zu schaffen machte. Madame Fleuron saß an demselben Fenster, eine Näharbeit in den Händen.

Ich stellte mich ihr vor; sie meinte, ich sei doch noch gewachsen, was ja mit zwanzig Jahren nicht auffallend sei, aber Franull fiel ihr ins Wort. ‚Mon amie!‘ rief sie ihr zu, ‚handeln Sie das nachher beim Diner mit ihm ab! Jetzt komm her, Josias, und mache Bekanntschaft mit Coco! Er bekommt heute eine neue Lektion, er soll Dich rufen lernen: Komm, Josias! – Sprich‘s nach, Coco! Komm, Josias! – Sprich! Sei ein guter Coco! Komm! Sage: Josias!‘

Sie hatte sich mir dabei an den Arm gehängt, aber Madame Fleuron trat dazwischen. ‚Chérie!‘ mahnte sie, ,Sie sind kein Kind mehr: es schickt sich nicht für Sie, die Gäste des Herrn Grafen Du zu nennen!‘

,Gäste!‘ sprach Franull ihr nach, ‚es kommen ja keine in das Haus, und Josias ist nicht des Vaters Gast, er ist sein Pathe! – Nicht wahr, Papa, der Josias ist ein Pathe, also mein Freund und wie ein Stück Bruder von mir!‘

Der Graf klopfte ihre heißen rothen Wangen. ‚Man kann sehr gut Freund sein ohne einander zu duzen!‘ bedeutete er sie, ‚und Josias ist nicht mehr ein Wildfang wie Du! Madame Fleuron hat Recht! Nun aber zu Tisch!‘

Wir gingen in den Speisesaal, wo der Kandidat uns erwartete. Der Graf war in seiner würdigen Gehaltenheit gütig für mich, wie ich es gewohnt war, allein Franull hatte ihr fröhliches Geplauder eingestellt und ich sehnte mich fortzukommen. Ich mußte mir sagen, daß nur das Schickliche geschehen war; ich hatte Franull auch bei den ersten Worten nicht mehr Du genannt, denn sie sah nicht mehr wie ein Kind aus. Aber die ertheilte Parole lag mir auf der Seele, und ich war froh, als die Tafel aufgehoben war, als ich mit dem Grafen und dem Kandidaten wieder allein unten in dem Arbeitszimmer und dann die Zeit gekommen war, in welcher ich mit Anstand meinen Rückzug nehmen konnte. Als man mein Pferd vorführte, fragte mich der Graf, ob ich mich nicht Madame Fleuron empfehlen und Franziska Lebewohl sagen wolle, da ich so nach meiner Aussage zunächst nicht wiederkehren könne. Ich nahm die Erlaubniß mit gebührendem Danke an, und schon auf der Treppe kam Franziska mir entgegen.

‚Du willst also doch fort!‘ sprach sie – gegen die von Madame Fleuron erhaltene Weisung – ,Du willst fort!‘ und als ich das bejahte, schlang sie ihre schönen bis zum Ellbogen entblößten Arme um meinen Hals und rief, französisch sprechend: ‚So erlauben Sie, Monsieur Josias, daß Mademoiselle Franziska Sie umarmt zum Abschied! Und nun –‘

‚Du bist ein Engel, Franull!‘ Das war alles, was ich, hingerissen von dem fröhlichen Uebermuth des entzückenden Mädchens, hervorzubringen vermochte, während ich es an mich zog.

Sie aber riß sich von mir los. ‚Ach was, Engel!‘ rief sie; ‚und nun geh‘ und nimm Abschied von ma bonne amie, und umarme sie auch, wenn Du Lust hast!‘

Ihr Lachen schallte noch an mein Ohr, als sie bereits hinter der nächsten Thür verschwunden war. Eine Viertelstunde später war ich auf dem Weg nach Schönfelde, voll Freude über [235] das reizende Erlebniß und mehr davon hingenommen, als ich selber wußte. Wie ich dann zu Hause berichten mußte von dem Empfang, den ich gefunden, that ich es mit aller Gewissenhaftigkeit, nur was sich zuletzt zwischen Franull und mir begeben, das verschwieg ich, um, wie ich mir einbildete, sie keinem Tadel auszusetzen.“

Josias lächelte bei den Worten, da er sah, daß es meine Mutter that.

„Ja,“ sagte er, „lächeln wir nur über unsere Jugend, wenn sie hinter uns liegt, weit, weit! Sie war doch schön!“ Er seufzte. – „Und,“ setzte er hinzu, „ich konnte damals am Ende meines Berichtes, trotz meiner Vorsicht, doch meinen Eltern gegenüber nicht den Ausruf unterdrücken: ‚Franull ist wirklich zum Verlieben schön!‘

Mein Vater, dem es offenbar recht gewesen war, daß Madame Fleuron die Schranke zwischen Franull und mir gezogen, machte bei meiner bewundernden Aeußerung eine leise Kopfbewegung, die ich kannte und die bei ihm immer ernste Abwehr in mildester Form bedeutete.

‚Gleich zum Verlieben!‘ sprach er mir nach. ‚Unterlassen Sie das Verlieben, wenn ich bitten darf, Monsieur Josias! Franull Wizkowich und ein Courville, das reimt sich nicht zusammen! Und das Fräulein von Dambow, selbst wenn es dem Grafen gefallen sollte, es als Gräfin von Dubimin anzuerkennen – was immer denkbar ist nach dem jetzigen Treiben an dem jetzigen preußischen und an manch anderem Hofe, mit welchem die Aristokratie sich abzufinden weiß – das Fräulein von Dambow gehört nicht in das makellose bürgerliche Haus der Courville von Schönfelde!‘

Meine Mutter, die es sehen mochte, wie befremdend die strenge Mahnung des Vaters mir erschien, wechselte den Gegenstand der Unterhaltung; in mir aber tönten und wirkten seine Worte fort und gruben mir in die Seele, was mich vorher nur wie ein Freudenstrahl flüchtig berührt hatte.

Ich konnte die Nacht nicht schlafen. Das war mir ein völlig neuer Zustand. Franull kam mir nicht aus dem Sinn. Ich rief mir die Zeit in das Gedächtniß zurück, in der ich sie als kleines Kind spielend auf dem Rasen gesehen und sie sich an meine Hand gehängt. Sie hatte mich immer lieb gehabt, mich – je mehr ich darüber nachdachte – lieber gehabt als alle Andern; und sie war mir, dem Knaben, schon das Urbild aller Schönheit gewesen, aller Holdseligkeit. Immer hatte ich sie geliebt!

Ich stutzte bei dem Worte und sagte, verwundert, meine Stimme laut an mein Ohr schlagen zu hören: ‚es ist aber doch wahr! ‘– Und mit dem Gedanken, daß ich sie liebe, der mich glücklich machte, tauchte das Bewußtsein auf, daß es etwas Besonderes sei, ein Mädchen zu lieben, das im Grunde noch ein Kind sei, und daneben regte sich in mir das sicherste Kennzeichen der Liebe in des Jünglings Herzen, der Vorsatz, einzutreten für die Geliebte, deren ungefestete Verhältnisse nicht sie verschuldet und die sie doch zu büßen hatte.

Damit kam der erste Zwiespalt in mein Leben. Konnte, durfte ich dem berechtigten Ehrgefühle meiner Eltern widerstreben, deren Güte sich nie verleugnet, denen mein Glück höchster Wunsch war? Oder konnte ich mich blind und taub machen gegen einen Zauber, dem dereinst das starke Herz des Grafen erlegen war? Und weshalb hatten meine Eltern, wenn ihre Grundsätze so unerbittlich waren, mich von früh an gewöhnt, daran zu denken, daß auch die strengste Zucht und Sitte Nachsicht in Ausnahmefällen zu üben verstehen und für geboten halten solle? Durften, konnten sie weniger nachsichtig sein, wenn einmal die Zeit und Stunde gekommen sein würde, in welcher ihr eigener Sohn ihr Nachgeben für sich und sein Glück von ihnen zu heischen hätte? Ich fing zu rechnen, zu überlegen an, wann ich das von ihnen fordern würde. Dann wieder suchte ich mir klar zu machen, welche Absichten der Graf mit seiner Tochter haben könne. Ich dachte mit Schrecken an die Duldsamkeit der Höfe und des Adels, deren mein Vater erwähnt; denn wenn der Graf Franull anerkannte, so mußte ich auch von seiner Seite auf einen entschiedenen Widerstand gefaßt sein; und immer mehr gefiel mir der eigenwillige Gedanke, die Eltern und den Grafen meiner dereinstigen Verbindung mit dem reizenden Geschöpfe geneigt zu machen. Wie nun alle diese Vorstellungen sich durch einander zu wirren und in einander zu verschwimmen begannen, fühlte ich wieder die kühlen schlanken Arme sich schlingen um meinen Hals, und von ihnen umfangen schlief ich gegen den Morgen ein, um zu träumen – von der Geliebten, wie ich sie in der Nacht zum ersten Male in meinem Herzen nannte – und lachen Sie nur darüber! Ihr alter Freund Josias nennt sie heut noch so!

Am andern Tage kamen Gäste in das Haus zur Jagd. Wir hatten eine fröhliche Woche. Von Dambow und von dem Grafen, von dem Fräulein von Dambow, das der Graf jetzt auch im Schießen unterweise und das er wohl dazu bestimme, dereinst als Amazone oder Fähnrich bei den rothen Ziethen-Husaren einzutreten, ward ein paarmal im Ernste und im Scherz gesprochen, aber man spottete nicht mehr darüber. Man hatte wieder einmal vor den feststehenden Thatsachen Front gemacht; und der erste Nachtreif schimmerte auf den Wiesen und glänzte an den Riesentannen des Ilsenburger Waldes, als ich, von Schönfelde kommend, nach Ablauf der Vakanzzeit, in das Rechnungszimmer unseres Herrn Zarenthin, des Gründers der Anstalt, eintrat, mich wieder bei ihm anzumelden.“

Josias erhob sich, als er so weit in seinen Mittheilungen gekommen war.

„Wenn man in späten Jahren, wie ich jetzt vor Ihnen, auf seine Vergangenheit zurückblickt,“ sagte er, „so sind es eigentlich immer nur die Wendepunkte in unserem Dasein, oder die großen Freuden und die großen Schmerzen, die sich uns wie die Berggipfel aus der weiten Ferne am deutlichsten vors Auge stellen, während die lange Reihe der ruhigeren Tage, in deren stillem Wechsel sich unsere Entwickelung allmählich vollzieht, gleich den Thälern, die zwischen den Bergen liegen, sich unserem Blick verbirgt. Auch nach jenem Besuche in Schönfelde und Dambow folgte eine Reihe von Jahren für mich, von denen ich Ihnen nichts zu sagen habe, was sich auf den Roman meines Lebens bezieht. Vielleicht werden Sie deß froh sein, denn ich bin kein Erzähler von Fach und mein einsames Leben hat mich nicht dazu veranlaßt, von mir selbst zu sprechen, wie man’s in der Familie gerne thut. Schreiben Sie es Ihrer Güte zu, Madame, wenn Ihre Freundschaft mir hier das Herz erwärmt und aufschließt, wie mir’s nie zuvor geschehen, und wollen Sie das Ende von dem Liede erfahren, so rufen Sie mich zu der Stunde, in welcher es Ihnen paßt!“

Wir wollten ihm danken, ihm aussprechen, mit welchem Antheil wir ihm folgten; er wehrte es von sich ab.

„Sie sind mir gegenüber immer die Gewährende gewesen, verehrte Freundin!“ versetzte er. „Mein Leben wäre seit vielen Jahren seiner besten Freude beraubt, ohne Ihre und Ihres Gatten Freundschaft, ohne den Antheil, den sie mir an Ihrem Kinde, an Franull gewährt, wie ich sie so gerne nenne – und daß jetzt unter Ihrem Dache noch einmal meine ganze Jugend wie in einer Fata Morgana vor mir aufersteht – wem habe ich’s zu danken als Ihnen, unserer Franull und Ihrer Güte!“




Wie Josias nach der ersten Unterbrechung seiner Bekenntnisse mit der Fortsetzung derselbe gezögert, so führte er diese jetzt schon am folgenden Tage von selbst herbei.

„Die Epoche, von der ich Ihnen zunächst zu spreche habe, war in der Welt eine ganz andere geworden als jene, in welcher der Große Friedrich seine letzte Jahre verlebt hatte. Der amerikanische Freiheitskrieg, dessen Wogen bis nach Europa herüberflutheten, hatte Preußen und vollends uns in den stillen Gefilden des märkischen Landes nicht berührt, aber mit der französischen Revolution war es anders; und abgesehen davon, war der preußisch-holländische Krieg, den König Friedrich Wilhelm der Zweite im Interesse seiner Schwester und damit seines Hauses unternommen, überall bei uns im Lande fühlbar geworden. Auch der Reiseplan, den mein Vater für mich entworfen, hatte eine Aenderung dadurch erfahren müssen. Er war auf zwei Jahre angelegt gewesen. Mit meinem zweiundzwanzigsten Jahre war meine Lehrzeit in Ilsenburg beendet; dann sollte ich, wie man es damals nannte, die große Tour machen, das heißt Frankreich, England, Holland und Italien bereisen, um zur Zeit meiner Volljährigkeit, mit vierundzwanzig Jahren, in das Vaterhaus zurückzukehren und dem Vater soweit zur Hand zu gehen, daß es ihm möglich wurde, den Winter theilweise in der Residenz zu verleben, wie meine Mutter es sich wünschte.

[236] Von der Reise nach Frankreich mußte abgesehen werden, da die Revolution es durchtobte, und der Feldzug der Koalition gegen die Feinde der französischen Monarchie es für einen Preußen obenein unmöglich machte, sich dorthin zu begeben. So durchreiste ich Holland, England, Schottland, ging auf einem englischen Schiff nach Italien und war heimkehrend bis nach Genua gekommen, als mich, wenige Monate vor der Vollendung meines vierundzwanzigsten Jahres, in Genua die Nachricht erreichte, daß mein Vater hoffnungslos danieder liege. Ein unglücklicher Zufall hatte sein Pferd im Walde scheu gemacht. Die sonst so sichere Hand des Reiters hatte es nicht zu bändigen vermocht. Er war von dem durchgehenden Thiere gegen einen der riesigen Eichenbäume geschleudert worden; die Kinnlade war zerschmettert worden, er hatte eine schwere Gehirnerschütterung davongetragen, und sein Zustand war derart, daß man sein Fortleben nicht wünschen durfte.

Es war meine treue Mutter, die mir das Unglück selber meldete. Der Brief war sechs Wochen alt, als ich ihn erhielt, und wie sehr ich auch eilte, die Heimath zu erreichen, so deckte das Grab schon lange die Hülle meines Vaters, als ich nach Schönfelde kam.

Ich hatte noch fünf Wochen vor mir bis zur Vollendung meiner Minderjährigkeit. – Der Graf, wie er mein Pathe gewesen, war mit seiner Bewilligung von meinem Vater, als dieser dereinst sein Testament gemacht, auch zu meinem Vormunde ernannt worden. Die Nachbarschaft, die Freundschaft, welche die beiden Männer verbunden, hatte diese Einrichtung zu einer sehr wünschenswerthen gemacht, und meine Mutter konnte es nicht genug rühmen, wie sich der Graf ihr bewährt in dem Unglück, das uns betroffen hatte. Mein Vater hatte sein dreiundfünfzigstes Jahr noch nicht vollendet; meine Mutter war in der Mitte der Vierziger – die Silberhochzeit meiner Eltern, auf die unser Auge stets mit freudiger Hoffnung gerichtet gewesen war – sie hatten sie nicht erreicht. Ich schweige von dem, was Sie sich selber denken können, von meinem Empfinden bei dem Wiedersehen der Mutter. Meines Vaters Grab hatte man auf dem französischen Kirchhof in Berlin gegraben.

Was sich während der zwei Jahre meiner Abwesenheit in Dambow zugetragen, hatte ich durch die Briefe meiner Eltern erfahren; es war mir also nichts Neues mehr. Der Graf war, sich selber treu, nicht auf halbem Wege stehen geblieben. Es war gekommen, wie man es schon zu der Zeit vorausgesehen, in welcher ich die Heimath verlassen. Gleich im Beginn jenes Herbstes war das alte Herrenhaus am oberen Ende der Breitenstraße, nahe der Ritterakademie, wieder eröffnet worden, das die Dubimin in Berlin besessen schon in den Tagen des Großen Kurfürsten. Es hatte verschlossen dagestanden, seit der Graf seine Frau daraus verwiesen.

Nun war es neu hergerichtet worden; der Graf hatte es mit seiner Tochter den Winter hindurch bewohnt; überall in den Konzerten und Theatern hatte man sie an seiner Seite gesehen. Er hatte seine alten Verbindungen aufgenommen, war auf das verbindlichste empfangen, und die Herrenmittagbrote und die gelegentlichen Spielpartien in seinem Hause waren mit Vergnügen besucht worden. Einige alte Freundinnen von ihm hatten sich allmählich auch zu dem Boston und L’hombre eingefunden. Erst gegen Ostern war er nach Dambow zurückgekehrt, und damals hatte man erfahren, daß er – seinem Gewissen und der Ehre seiner Tochter zu genügen – diese gerichtlich anerkannt habe. Es ward hinzugesetzt, daß er diesen Schritt mit ausdrücklicher Zustimmung des Landesherrn gethan, der, wie der Graf selber, den Namen derer von Dubimin erhalten zu sehen wünschte, weil sie eines der ältesten wendischen Geschlechter in den Marken waren. Damit stand es denn natürlich nun auch fest, daß die Gräfin Franziska, wenn sie sich verheirathen würde, ihren Familiennamen dem Namen ihres künftigen Gatten beifügen und auf die Kinder übertragen werde, die man für das Fortbestehen des Geschlechtes von ihr erwünschte.

Ueberrascht hatte mich die Nachricht nicht, als ich sie in Palermo erhalten, und die überwältigende Fülle der rasch wechselnden neuen Eindrücke hatte sie mich leicht nehmen machen, denn es war ja schon früher die Rede davon gewesen; als ich jedoch später darauf zurückkam, that Franull mir leid wie ein eingefangener Vogel, während ich mir doch sagen mußte, welch ein großes Glück es für sie sei, durch ihres Vaters Liebe und Gerechtigkeit aus der falschen, rechtlosen Stellung befreit worden zu sein, in der sie bis dahin gelebt hatte. Aber mit dem fröhlich jubelnden Flattern, das sah ich ein, mit dem sie mir bei dem letzten Beisammensein die frischen Arme um den Hals geschlungen, mit dem war es freilich nun ein- für allemal vorbei – und sie war bezaubernd gewesen! Das stand fest, das konnte ich nicht vergessen; selbst nicht, als ich schweren Herzens in meinen Trauerkleidern zum ersten Mal nach meiner Rückkehr nach Dambow hinüberritt. Unwillkürlich fragte ich mich, inmitten all der Gedanken an die Pflichten, die mir jetzt oblagen, mitten in dem Erwägen der zunächst mit dem Grafen abzuthuenden Geschäfte: wie wird Franull geworden sein? Wie werde ich sie wiederfinden?

Als man mich bei dem Grafen angemeldet hatte, kam er mir bis an die Thür seines Arbeitszimmers entgegen. – Ich war kein Schwächling, ich hatte feste Nerven; dennoch traten die Thränen mir in die Augen, als der Graf mich umarmte und küßte. Er hatte das nie zuvor gethan, und es that mir wohl.

,Faß Dich, mein junger Freund!‘ sprach er – und auch mit dieser Anrede hatte er mich nie zuvor begrüßt. ‚Fasse Dich! Du darfst mit ruhigem Gewissen an Deinen Vater denken. Er hat Dich immer einen guten, gehorsamen Sohn geheißen, und es giebt ja auch kein festeres Band als das der Eltern- und der Kindesliebe. Es ist eine Naturbestimmtheit und bindend wie jedes Naturgesetz. Halte sie darum heilig, die beiden kostbaren Vermächtnisse, die kostbarsten Güter, die er Dir hinterlassen: seine treue Lebensgefährtin, Deine Mutter, und den alten guten Namen, den er noch höher gehoben – Deinen Namen und seine und Deine Ehre!‘

‚Man lehrt uns in der Jugend: was hülf’s dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele! und im Leben, mein lieber Josias, heißt es: was hülf’s dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Ehre! Oder was kann der Mensch geben, daß er seine Ehre wieder löse! Und ich sage Dir: Alles muß der Mensch geben, alles muß er dransetzen, daß er seine Ehre wieder löse! Aber es ist nichts Kleines, wenn man dazu gedrängt wird! – Darum lebe mit Bedacht. Sei Herr über Dich, sei Dir ein strenger Richter und laß den Augenblick nicht Herr werden über Dich, denn er bindet Dich durch das, was Du ihm zugestanden! – Beherzige das und mache Dir das Leben leicht!‘

Er drückte mir die Hand bei diesen Worten und brach plötzlich ab. Ich fühlte, wie er großherzig und freimüthig mir mit seinen persönlichen Erfahrungen zu Hilfe zu kommen, wie er mir einen festen Halt zu geben gewünscht, nun ich auf mich selbst gewiesen, des Rathes und der Führung zu entbehren hatte, die mir bis dahin von meinem Vater gekommen waren. Ich dankte ihm aus vollem Herzen.

‚Und nun laß uns von Geschäften reden,‘ sprach er, während er sich in den großen alten Ledersessel vor seinem Schreibtische niederließ und mich anwies, ihm gegenüber Platz zu nehmen. ‚Wir wollen gleich in den nächsten Tagen abthun was uns obliegt, damit Du die Hand bald, wenn auch nicht an das Steuer, so doch an den Pflug auf den Feldern legen kannst, welche nun die Deinen sind. Ist Madame Courville dazu bereit, so fahren wir morgen in der Frühe nach Berlin, da Dein Vater dort sein Testament hinterlegt hat. Das Uebrige wird sich leicht abwickeln lassen in den paar Wochen, während deren Du noch unter meiner Vormundschaft bist; und heute, Herr Nachbar, sei mir wieder einmal ein willkommener Tischgast nach so langer Zeit.‘

Er stand auf und zog die Glocke.

‚Herr Courville wird mit uns speisen!‘ bedeutete er dem eintretenden Diener, ‚und sag’ Er der Komtesse, ich lasse sie ersuchen, zu mir zu kommen; Herr Courville von Schönfelde sei zurückgekehrt.‘

Mir war sonderbar zu Muthe. Alles was mich umgab, war mir vertraut und berührte mich doch wie ein Fremdes. Der Graf, der während meiner Abwesenheit in die Sechziger getreten, war noch immer dieselbe mächtige Gestalt, die frühere herrische Erscheinung. Das Roth der Gesundheit färbte sein Antlitz noch und er sah schöner aus als vordem, denn der düstere Schatten, der sonst auf seiner Stirn gelagert, die harten Züge um den stolzen, starklippigen Mund, der finstere Blick seiner Augen, vor [237] denen ich Scheu getragen in meiner Kindheit: das Alles hatte sich gemildert; und wie er mich scherzend seinen Herrn Nachbar genannt, hatte er trotz seines in den beiden Jahren völlig ergrauten Haares vortrefflich ausgesehen.

Aber war es, daß seine Frische mich doppelt schmerzlich an den Verlust meines Vaters gemahnt, der jünger gewesen war als der Graf, war es der galonnirte Diener in des Grafen Farben oder der Befehl, die Komtesse herbeizurufen – es fiel mir etwas schwer aufs Herz und ich fühlte mich unfrei, als im nächsten Augenblicke Komtesse Franziska vor mir stand und nicht näher an mich herantrat. – Ja! es war Komtesse Franziska! Sie durfte nicht mehr Franull sein, nicht mehr die Franull, die ich im Herzen getragen, überall mit mir hin, über Berg und Thal!

Ich erschrak vor der Deutlichkeit, mit der ich mir dessen bewußt ward, aber der Graf sollte mir seine Mahnung nicht vergeblich ans Herz gelegt haben! Es galt, Herr zu bleiben über sich in dem gegebenen Augenblick.

‚Kennen Sie mich nicht mehr, gnädige Komtesse?‘ fragte ich, ihr entgegengehend, mit einer, wie ich hoffte, gut gespielten Unbefangenheit.

‚Doch!‘ entgegnete sie, sich mir nähernd, um mir die Hand zu reichen, die ich an meine Lippen zog, ‚doch, Herr Courville, seien Sie willkommen!’ – Und nicht das leiseste Zucken ihrer Hand begegnete meiner Huldigung. Indeß die Thränen traten ihr in die Augen, und während sie mir die kleine Hand entzog, sagte sie: ‚Sie haben mir so leidgethan! Seinen Vater zu verlieren! – Ich kann’s nicht sagen!‘

Der Graf strich ihr leise über das goldige Haar; sie hob die thränenschweren schwarzen Augen zu ihm empor. Es war doch Franull … trotz des seidenen, modisch aufgeputzte Kleides, trotz des Chignons, in das man ihr schönes Haar zusammen gebunden, und trotz der Stelzenschuhe, welche die schnell emporgewachsene, sich füllende Gestalt noch ansehnlicher erscheinen ließen, als sie bereits geworden war.

‚Keine Thränen, Franziska, was sollen die!‘ tadelte der Graf. ‚Herr Courville findet leider der Trauer jetzt genug in seinem Hause. Er hat Freude nöthig. Heiße ihn heiter willkommen; Du weißt, ein Soldatenkind wie Du darf nicht thränenselig, muß tapfer sein! – Komm, laß uns vorangehen; Herr Courville wird uns folgen! Er hat ein groß Stück Welt gesehen, er wird uns vieles zu erzählen haben! Komm! Josias, Du kennst den Weg!‘

Ja, ich kannte ihn, den Weg, den ich hier fortan zu gehen hatte! Der Graf hatte ihn mir in ehrendem Vertrauen vorgezeichnet mit fester Hand.

Ich saß Franull gegenüber; der Graf, Madame Fleuron, der Kandidat erwiesen mir lebhaften Antheil. Ich sollte berichten von London und von Rom, von der Fingalshöhle und vom Vesuv; und ich erzählte und erzählte, und Franull hörte mir achtsam zu, hier und da meine Worte mit einer Frage unterbrechend; und wenn sie dabei ihr Auge auf mich richtete, fragte ich mich: wie soll ich ihn gehen, den Weg, der allein mir offen steht, unter dem Lichte dieser Augen? Wie soll ich schweigen, wenn die süßen Lippen und der holde Blick mich zu fragen scheinen: bin ich denn nicht mehr ich und Du nicht mehr Josias?

Ich durfte mich nicht versenken in ihr Anschauen, mich nicht anrufen! Wie ein Schlafwandler kam ich durch den Abend hin – hellsehend geworden langte ich in Schönfelde in meinem Hause an.

Mein Haus, mein Gut! Mitten in meiner Trauer um den Vater, mitten in der Liebesschwärmerei bemächtigte sich meiner eine Empfindung, die ich nie gekannt: die Freude an dem eigenen Grund und Boden, am Besitz. Ich schämte mich ihrer, denn sie erwuchs auf meines Vaters Grab, und ich konnte sie doch nicht unterdrücken, verdankte ich sie doch ihm und der Vergangenheit unseres Geschlechtes. Mein Vater hatte sie gefühlt wie ich, und sie erhob mich, diese Freude. Es lag so würdig vor mir, unser, mein schönes Haus, wie es vom Mondlicht übergossen aus dem dichten Land unserer Ulmen hervorschimmerte, als ich es spät genug erreichte. Das Licht aus meiner Mutter Fenstern winkte mir so freundlich; die weißen monddurchglänzten Wölkchen, denen mein Auge so gern gefolgt war in den Tagen meiner Kindheit, zogen jetzt wie damals lind und leise darüber hin – und wie von meines Vaters klarer Stimme gesprochen, hörte ich wie an jenem längst entschwundenen Tage die Worte in mir erklingen: Franull Wizkowich, das Fräulein von Dambow, die Komtesse Dubimin gehört nicht in das makellose Bürgerhaus der Courville von Schönfelde, – sie, die Zierde und Krone jedes Hauses!

Ich zuckte davor zusammen. Es konnte eben nicht sein, und es gab doch noch ein anderes als Liebesglück! Es gab die Arbeit, die Erfüllung der Pflichten, welche der Besitz mir auferlegte. Ich hatte meiner Mutter ihre Liebe zu vergelten, sie so glücklich zu machen, als sie es ohne meinen Vater sein konnte. Auch die Pläne des Grafen durfte ich nicht durchkreuzen. Er war meines Vaters Freund gewesen, hatte sich großsinnig mir zum Freunde angeboten. Ich hatte den schwer errungenen Frieden seines Herzens, das schwer erkämpfte Glück seines Lebensabends, und vor allem hatte ich die Herzensruhe seiner Tochter zu ehren, auf welcher all seine Hoffnungen beruhten. Meine Liebesträume mußten weichen, der Tag für die Arbeit war gekommen. Ich hatte mich zu verleugnen aus Liebe zu Franull.

Festen Willens trat ich in der Mutter Zimmer. Ich mußte es sie vergessen machen, daß wir nicht mehr zu dreien einander gegenüber saßen. Ich ging leicht über den Besuch in Dambow hinweg; ich hielt mich an das dort geschäftlich Verhandelte. Ich erlangte es, daß wir am nächsten Tage zur Eröffnung des Testamentes uns nach Berlin begaben. Ich wollte zur Vollendung der Ernte in Schönfelde sein. Den Leuten sollte, trotz des Todes ihres bisherigen Herrn, ihr Erntefest nicht fehlen; ich mußte ja zeigen, daß ich seines Sinnes sei. Auf meine Veranlassung hatte er einen neu erfundenen Pflug aus England kommen lassen; ich wollte die ersten Furchen mit ihm ziehen mit eigener Hand. Wie die ersten Courvilles die Maulbeeren nach Schönfelde gebracht, so wollte ich’s versuchen mit dem Mais und manchem Anderen noch. Ich redete mich an dem Abende immer zuversichtlicher in meine Seelenruhe und Charakterfestigkeit hinein; die Zufriedenheit meiner Mutter machte mich immer heiterer. Mein neuer guter Wille wirkte auf mich wie neuer Wein. Er stieg mir zu Kopfe. Ich berauschte mich an mir selbst, und sehr mit mir zufrieden schlief ich an dem Abend ein, um wieder einmal zu träumen von Franull, der schönen Komtesse von Dubimin.“

Josias lächelte bei diesem Schluß.

„Weiter! weiter!“ riefen meine Mutter und ich, denn er machte uns mit erleben, was er uns erzählt. Er aber wehrte uns ab mit sachter Handbewegung.

„Gemach, gemach, Madame!“ sprach er. „Verleiten Sie einen alten Mann, der sich schon genugsam selbst bespiegelt, nicht dazu, sich auch im Alter noch an sich selber zu berauschen. Es war genug an jenem einen Male.“

„Aber, Josias!“ stieß ich hervor, „es ist ja Poesie, ein Roman, den Du uns hier erzählst – und Du bist ein Dichter.“

„Mein Kind!“ bedeutete er nach, „die Jugend und die Liebe sind an sich die wahre Poesie; nur daß wir’s oft erst innewerden, wenn sie entschwunden sind, wenn wir sinnend an der sanften Herrlichkeit des Alpenglühens erkennen, wie hell die Sonne auch uns dereinst geleuchtet. Wer wahrhaft geliebt hat, hat sein Theil dahin! – Doch nun zum Schluß!

(Schluß folgt.)




Die Amateurphotographie.

Er photographirt! Wie oft habe ich die Worte mit einer verächtlichen Betonung sprechen hören, wenn in einer Gesellschaft ein Amateurphotograph sich sehen ließ. Die neue Art der Touristen, die nicht mit Ränzel und Stab, sondern mit Kamera-Tornister und Stativ Berge erklimmen und Thäler durchwandern, wurde dabei lächerlich gemacht. Kein Wunder, denn jede Neuerung wird verspottet, bis sie sich eingebürgert hat, und so wird auch die Amateurphotographie von vielen zu den müßigen unnützen Beschäftigungen, den brotlosen Künsten gezählt.

In letzterer Beziehung muß man der großen Menge Recht geben, denn der Amateurphotograph kann und will sich auch nicht mit der „Lichtkunst“ Geld verdienen. Sehr irrthümlich ist aber die Meinung, daß die Kenntniß der Photographie für den Laien ziemlich werthlos, ihr Nutzen nur darin zu suchen sei, daß man einige Landschaften oder Porträts von Bekannten aufnehme und in sein Album einreihe.

Eine nähere Betrachtung überzeugt uns vielmehr, daß das Photographiren ebenso wichtig und in vielen Fällen noch wichtiger ist als das

[238] Zeichnen, daß die Photographie der wissenschaftlichen Forschung, der Technik und der Kunst bereits außerordentliche Dienste geleistet hat und daß diese Errungenschaften zumeist von Männern erzielt wurden, die keine Berufsphotographen, sondern Aerzte, Naturforscher, Ingenieure, Gewerbetreibende u. dgl. waren und das Photographiren anfangs nur so nebenbei erlernt hatten.

Die Photographie ist eine noch junge Errungenschaft. Vor gerade fünfzig Jahren tauchte erst die Daguerreotypie auf, und wenige Jahre darauf kamen die ersten Photographien zum Vorschein. Die Kunst, zu photographiren, war lange Zeit nicht leicht, wenigstens umständlich. Man konnte nur nasse lichtempfindliche Platten herstellen, die frisch nach der Bereitung verwendet werden mußten. Die Herstellung derselben war zeitraubend, ihr Transport geradezu unmöglich, und die Photographie blieb auf engere Berufskreise beschränkt.

Ein neuer Aufschwung der Photographie ist seit der Erfindung der Trockenplatten eingetreten. Dieselben bestehen aus einer Glasscheibe, welche auf der einen Seite mit einer Gelatineschicht überzogen ist, in welcher sich das lichtempfindliche Bromsilber in sehr fein vertheiltem Zustande befindet.

Diese Platten halten sich monatelang, wenn man sie im Dunkeln und an trockenen Orten aufbewahrt, und sind außerdem zwanzigmal lichtempfindlicher als die nassen Kollodiumplatten. Man braucht sie nicht selbst zu bereiten, sondern kann sie von den Fabrikanten beziehen; man darf sie, ohne sie zu beschädigen, auf Reisen mitführen, man kann mit ihnen endlich die schwierigsten Momentaufnahmen für wissenschaftliche Zwecke machen.

Photographischer Touristenapparat.

Die Momentphotographie, welche in den letzten Jahren rasch aufblühte und die schnellsten Bewegungen der Thiere und Maschinen in ihre Einzeltheile zerlegte, die selbst das im Bilde für immer festhielt, was das schärfste Auge niemals zu ernennen vermochte, lenkte die Aufmerksamkeit der Gelehrten und Laien in gleichem Maße der jungen Kunst der Lichtzeichnung zu. Die Arbeiten von O. Anschütz, Muynbridge und Marey erregten allgemeine Bewunderung und eröffneten neue Gesichtspunkte auf allen möglichen Gebieten des Wissens, und von Zeit zu Zeit bringt die Fachlitteratur immer neue Beweise von dem Nutzen photographischer Aufnahmen. Daß wir die abgeschossene Kugel und den Blitz zu photographiren vermögen, ist bekannt; daß unser Zeitalter den kommenden Geschlechtern eine genaue Photographie des Sternhimmels vermachen wird, davon haben wir gleichfalls unseren Lesern berichtet (vgl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1886, S. 128); als ein weiteres originelles Beispiel möchte ich heute nur die Photographie im Dienste der Pferdekunde erwähnen.

In einem Artikel, welcher in der „Hippologischen Revue“ vor kurzem erschienen ist, berichtet E. C. Anderson, der bekannte Verfasser von „Modern Horsemanship“, der seine Pferde selbst in den verschiedensten Gangarten photographirt hat: „Eines dieser Bilder, welches das Pferd im Moment des Bockens mit festgestemmten Vorderbeinen darstellt, hat mir den Schlüssel zu einer Methode geliefert, die es ermöglicht, genannter Unart vorzubeugen.“

Aber nicht allein für den Reiter ist die Photographie von Bedeutung; auch für den Thierarzt müßte es von eminent praktischem Nutzen sein, mit Beihilfe der Momentphotographie Klarheit über den Sitz einer versteckten Lahmheit oder über den besten Beschlag für fehlerhaft tretende Pferde zu gewinnen, und was den Kavalleristen betrifft, fügt Anderson hinzu, glaube ich, daß ihm die komplicirten Bewegungen großer Truppenkörper seiner Waffe auf keine anschaulichere Weise erklärt werden könnten, als durch Vorlegen einer Serie photographischer Aufnahmen der verschiedenen Phasen solcher Evolutionen.

Ich will die Beispiele nicht häufen; die Lösung dieser oder ähnlicher Aufgaben kann nur in seltenen Fällen dem Berufsphotographen zufallen, der auf das Gebiet der künstlerisch vollendeten Photographie sich naturgemäß beschränken wird; diese Lösung müssen die Amateurphotographen anstreben, und wenn sie dieses Ziel fest im Auge behalten und in ihren Vereinen fördern, so wird ihre Beschäftigung die Weihe einer nutzbringenden Thätigkeit erhalten. Das Vergnügen, selbstaufgenommene Gruppen von lieben Freunden und Landschaften in seinem Album zu sammeln, braucht ja ihnen dabei nicht verkürzt zu werden. Ja, dieses Vergnügen bildet die erste Staffel zum höheren Emporsteigen; denn wir müssen mit leichteren Aufgaben beginnen, bevor wir uns an schwierigere heranwagen dürfen. In diesem Sinne möchte ich unter Naturforschern, Gewerbetreibenden, Künstlern etc. Amateurphotographen werben!

Wie erlernt man aber das Photographieren? Viele scheuen vor demselben zurück, indem Sie meinen, es sei mit vielen Kosten und vielem Zeitverlust verbunden. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Der Amateur braucht keine Lehrstunden zu nehmen. Er kann aus Büchern diese Kunst besser lernen als z. B. fremde Sprachen. Fachleute haben für den Anfänger in liebevollster Weise gesorgt, und wir besitzen eine wahre Bibliothek derartiger Schriften und ein Arsenal von Apparaten für Amateure. Ich kann sie nicht alle erwähnen und muß mich darauf beschränken, beispielsweise unter den empfehlenswerthen nur einen Führer herauszugreifen.

Ludwig David, ein österreichischer Artillerieoffizier, hat, angeregt durch die Kunstanstalt von R. Lechner in Wien, einen sehr praktischen „Photographischen Reise- und Salonapparat“ zusammengestellt. Der Apparat wird in einen Tornister verpackt und der Dreifuß zu einem Stock zusammengelegt, der ganz gut als Bergstock benutzt werden kann. So kann der Amateur mit dem Apparat, der nur einige Pfund wiegt, reisen und wandern, wie dies in unserer Abbildung wiedergegeben wird. Das Aufstellen des Apparates geschieht in kürzester Zeit, das schwarze Tuch wird über die Kamera gebreitet, und der Photograph stellt das aufzunehmende Bild ein.

Einstellen des Bildes.

Der Tourist führt außer der Kamera noch einige Kassetten, von denen jede zwei Trockenplatten in Kabinettformat enthält. Ist das Bild eingestellt, so schiebt er unter dem schwarzen Tuch die Kassette in die Kamera hinein, zieht den Deckel der Kassette in die Höhe, so daß in der dunkeln Kamera die Trockenplatte frei wird, und entfernt den Deckel von dem Objektivglase. Das Lichtbild der Landschaft, welche er aufnehmen wollte, fällt nun auf die Trockenplatte und die beleuchteten Stellen des Bildes zersetzen das lichtempfindliche Bromsilber.

Ist die Aufnahme vollendet, so kann der Photograph die Kassette wiederum in den Tornister stecken und sie nach Hause tragen; wird die Kassette gut im Dunkeln und im Trockenen aufbewahrt, so braucht das Bild erst nach Wochen oder selbst Monaten „entwickelt“ zu werden; es verdirbt nicht, und das ist auch ein großer Vortheil, den die Trockenplatte mit sich bringt und der dem Amateur zugute kommt.

Meine Leser kennen gewiß die einfachen Grundlehren der Photographie; ich will sie auch nur der Vollständigkeit halber ihnen kurz ins Gedächtniß zurückrufen.

Wir dürfen die Trockenplatte dem Tageslichte nicht aussetzen, weil sie sofort verderben würde. Wir gehen darum mit der Kassette in einen dunkeln Raum, der nur durch rothes Licht, eine mit rothen Scheiben versehene Laterne, erhellt wird. Das rothe Licht hat eben nur geringe chemische Wirkung und beeinflußt die Platte nicht.

Bei dem geheimnißvollen Schein der rothen Lampe öffnen wir die Kassette und nehmen die Platte heraus. Sie zeigt nicht die Spur eines Bildes: die Zersetzung des Bromsilbers ist für unser Auge unsichtbar. Wir müssen erst das Bild sichtbar machen oder, wie der technische Ausdruck lautet: die Platte „entwickeln“. Zu diesem Zwecke legen wir sie in eine Schale, in welcher sich die sog. Entwicklerlösung befindet. Und siehe da! Nach einiger Zeit kommt aus dem mattweißen Grunde allmählich das Bild zum Vorschein, bis die Landschaft klar vor unseren Augen liegt, nur daß alles, was in der Natur hell war, auf der Platte schwarz erscheint, wir also ein negatives Bild vor uns haben.

Die schwarze Zeichnung besteht jetzt aus metallischem Silber; die vom Licht nicht getroffenen Stellen der Platte sind dagegen unverändert, weiß, geblieben. Ist das Bild ganz klar hervorgetreten, so können wir es noch keineswegs dem Tageslichte aussetzen; wir müssen zuerst die weißen Stellen, die unverändert geblieben sind, von der Platte entfernen; wir thun es, indem wir die Platte in eine zweite Schale mit einer anderen Lösung legen, welche die weiße Schicht auflöst. Man nennt das die Platte „fixiren“. Ist der Prozeß zu Ende, so erscheint uns das metallische schwarze Bild in der Leimschicht klar auf durchsichtigem Grunde. Wir haben das „Negativ“ fertig, welchem, nachdem es ausgewässert, ausgetrocknet und mit Bernsteinlack überzogen worden, sich Jahre lang hält und von dem wir eine beliebige Anzahl von positiven Papierphotographien anfertigen können. Beistehende Abbildungen zeigen uns in deutlicher Weise den Unterschied zwischen einem negativen und positiven Bilde.

Negatives Bild.

Positives Bild.

[239] Das ist in kurzen Worten zusammengefaßt der ganze Prozeß, den der Amateur erlernen muß. Freilich hat jede der einzelnen Manipulationen ihre Klippen, aber sie sind nicht unüberwindlich; durch Fehler, die eingesehen und später vermieden werden, wird aus dem Schüler ein Meister.

Aber die Lösungen, die Schalen, das ganze Laboratorium, die sind nicht so leicht zusammenzustellen und beanspruchen wohl viel Raum, denkt vielleicht der Neuling. Durchaus nicht - ein Laboratorium, wie es der Amateur braucht, läßt sich in einem kleinen Kasten unterbringen, der die Größe eines Handkoffers besitzt. Das „tragbare Laboratorium“ kann man sehr gut auf Reisen mitführen; es ist nicht schwer und überall leicht unterzubringen.

Mit Hilfe des oben erwähnten Apparates, des Laboratoriums und der trefflichen kurzen Anleitung zur Herstellung von Photographien von Ludwig David haben viele in wenigen Sitzungen die Photographie erlernt. Auch eine Anzahl anderer Apparate und Anleitungen hat sich gut bewährt; ich möchte aber demjenigen, der in Folge dieses Artikels sich etwa zu den Amateurphotographen bekennt, den Rath gebend, beim Ankauf des Apparates lieber etwas mehr als zu wenig Geld auszugeben. Ich fasse eben die Amateurphotographie von der ernsteren Seite auf und Amateure, wie ich sie mir denke, sollten mit guten Linsen, soliden Apparaten, aber nicht mit leicht zerbrechlichem Spielzeug arbeiten.

Hat der Amateur gelernt, Landschaften, Gruppenbilder und Porträts aufzunehmen, versteht er die Platten zu entwickeln, dann kann er sich höheren Aufgaben zuwenden. Diese fallen aber schon in das Gebiet der Meisterleistungen. Vielleicht finde ich ein anderes Mal Gelegenheit, auch darüber den Lesern der „Gartenlaube“ zu berichten, sie über Momentverschlüsse, Detektiv-Kameras und Blitzphotographien beim Magnesiumlicht zu belehren oder sie in die Werkstätte des gelehrten Photographen zu föhren, der die Vögel im Fluge ebenso gut aufzunehmen versteht wie die winzigen Bakterien unter dem Mikroskop.

Tragbares Laboratorium.

C. Falkenhorst.




Des Kaisers letztes Wort.

„Ich hab’ nicht Zeit, jetzt müd’ zu sein!“
Fürwahr, ein stolzes Wort!
Der Kaiser sprach’s in Todespein;
O deutsches Volk, dies Wort ist dein,
Vererb’ es fort und fort!

Sein Schwert zerbrach der Feinde Macht
Im heißen Männerstreit;
Auf deiner Ehre Schutz bedacht,
War all’ sein Sinnen Tag und Nacht
Des Friedens Dienst geweiht.

Treu bis zum letzten Athemzug
Der Pflicht, die ihm gebot!
Noch keiner, dem Walkürenflug
Vom Blachfeld zur Walhalla trug,
Starb solchen Heldentod.

Wie er, den segnend jeder Stand
Als Friedensfürsten pries.
Und den noch an des Grabes Rand
Die Sorge für das Vaterland
Nicht müde werden ließ.

O Wilhelm, Held, wie keiner war,
Dein Bild lebt in uns fort;
Dein Geist sei mit uns in Gefahr
Und unser Wahlspruch immerdar
Des Kaisers letztes Wort!

Karl Hecker.



Blätter und Blüthen.


Eine illustrirte Gesammtausgabe der Romane E. Marlitts. Bei den Lesern unseres Blattes bedarf es gewiß nur der Mittheilung, daß eine solche illustrirte Gesammtausgabe von der Verlagsbuchhandung von Ernst Keils Nachfolger veranstaltet wird, um diesem Unternehmen sogleich die wärmste Theilnahme zuzuwenden. E. Marlitt und die „Gartenlaube“ sind so eng miteinander verknüpft, die Dichterin hat zum glanzenden Aufschwung des Blattes so viel beigetragen, ihre ersten und ihre letzten Romane haben die Leser desselben so gefesselt, daß gewiß Vielen die Gelegenheit willkommen sein wird, sich ihre gesammelten Schriften anzuschaffen. Liegt doch ihr Wirken jetzt abgeschlossen hinter uns, nachdem der Tod sie im vorigen Sommer uns entrissen und nun ihr nachgelassener Roman, zu Ende geführt durch eine geistesverwandte Schriftstellerin, die Spalten unseres Blattes füllt. Mit ihren volksthümlichsten Roman „Das Geheimniß der alten Mamsell“ beginnt die Gesammtausgabe, welche in etwa 70 Lieferungen (alle 14 Tage eine Lieferung) erscheinen wird.

Phantasievolle Illustrationen sind eine Zierde solcher Ausgaben: sie sollen nicht einer schwunglosen Phantasie zu Hilfe kommen, sondern die Anregung, welche die Dichtung der zeichnenden Kunst gewährte, soll selbständige Leistungen der letzteren hervorrufen und uns so ein Bild von der erfreulichen Wechselwirkung der beiden Künste geben.

E. Marlitt ist manchen Angriffen ausgesetzt gewesen und eine gewisse Kritik sucht ihre Vornehmheit dadurch zu beweisen, daß sie gering von dieser Schriftstellerin denkt. Das unbefangene Urtheil wird die großen Wirkungen derselben, die ihren Namen in allen Welttheilen verbreitet sieht, weder dem Zufall noch der Mode zuschreiben, sondern ihrem flüssigen und glänzenden Erzählungstalent, ihrer Kunst zu spannen und zu rühren, dem echt deutschen Charakter ihrer Darstellungsart und der von ihr geschilderten Lebenskreise, also litterarischen Vorzügen, die voller Anerkennung werth sind. Von dem Reichthum ihrer Phantasie, der Unversiegbarkeit ihrer schöpferischen Kraft, der Fülle von Charakterköpfen und Lebensbildern, die sie gezeichnet, wird gerade diese Gesammtausgabe ein unwidersprechliches Zeugniß ablegen.
†     


Ein Fremdling in der Heimath. Wenn wir jetzt in dem Park eines fürstlichen Sommerlustschlosses die schnurgerade verschnittenen Hecken oder streng symmetrischen Linien einer Pyramide oder vielleicht gar allerhand aus dunklem Strauchwerk mit der Schere geformte Thierfiguren, Löwen, Pfauen und ähnliche Gebilde erblicken, so können wir uns eines Lächelns über diese wunderlichen Ueberreste aus der Zopf- und Perückenzeit kaum erwehren, und mit Wohlgefallen wendet sich das Auge jenen Partien des Parkes zu, wo uns die Natur in ihrer reinen unverfälschten Herrlichkeit entgegentritt. Es ist der Taxus, der sich diese Verunstaltungen gefallen lassen mußte, der Eibenbaum des Volkes, den schon die alten Griechen und Römer als Sinnbild des Todes auf ihre Gräber pflanzten und um dessen Zweigen sich die Priester im inneren Heiligthume von Eleusis bekränzten. Bei uns kennt man die düstere symbolische Bedeutung nicht, die dem Taxus wie den Cypressen und Trauerweiden beigelegt wird; noch in den ersten Jahrzehnten unseres Säculums war er ein überall im deutschen Vaterlande anzutreffender Waldbaum, dessen festes, feines Holz unter dem Namen deutsches Ebenholz (Eibenholz) als Material zu Schnitzereien, Tischgeräthen, in früherer Zeit namentlich auch zu Armbrüsten, sehr geschätzt war. Jetzt ist dieser schöne und nutzbare Baum aus unseren deutschen Wäldern verschwunden; Kurzsichtigkeit und Gewinnsucht der Menschen hat ihn fast ausgerottet, ohne die vernichteten Stämme durch Anpflanzungen gleicher Art zu ersetzen. Freilich eignet er sich wegen seines überaus langsamen Wachsthums weniger zur Forstkultur, aber gerade deshalb durfte man ihn nicht um solchem rücksichtslosen Vandalismus dem Beile überliefern.

Glücklicherweise ist die Gefahr, diese Pflanzengattung werde ganz vom Erdboden verschwinden, ausgeschlossen; denn außer in Deutschland findet sich der Baum in dem übrigen Europa, namentlich in Italien und Spanien, noch in Menge, ebenso im nördlichen Afrika, im Kaukasus, in Armenien, Persien, auf dem Himalaja und in einem großen Theile Amerikas; immerhin aber ist es bedauerlich, daß er in seiner deutschen Heimath zum Fremdling geworden ist. Nur vereinzelt ist er noch als stattlicher Baum anzutreffen, in Sachsen in den ausgedehnten Anlagen und Waldungen um das berühmte Jagdschloß Moritzburg, in Thüringen auf dem Veronikaberge, unweit des idyllischen Ilmenau. Hier findet sich noch eine stattliche Kolonie von Taxusbäumen in ihrem Naturzustande, unberührt und unentweiht von der verstümmelnden Schere des Gärtners. Mit einem gewissen berechtigten Stolz machen die Waldbewohner den Fremden auf diese Bäume aufmerksam, die, nach der Stärke ihres Stammes zu schließen, sicher ein halbes Dutzend Jahrhunderte an sich vorüberziehen sahen und nun wie Denkmäler längst vergangener Zeiten unter der grünen Baumjugend ringsum emporragen.

Wie schon angedeutet, wächst die Eibe äußerst spärlich und sie ist deshalb zur Kultur im Großen nicht wohl geeignet. Um so mehr ist es Pflicht des Naturfreundes, über die noch vorhandenen wenigen Exemplare des einst ganze Wälder bildenden Baumes pietätvoll zu wachen und das vernichtende Beil von ihnen möglichst fern zu halten. Wohl sind in unseren Gärten und Parkanlagen Hecken und Sträucher dieser Pflanzengattung keineswegs selten, aber sie machen gegenüber den frischen, urwüchsigen Söhnen des Waldes den Eindruck matt und freudlos dahinsiechender Pensionskinder, und darum: Schonung dem untergehenden Geschlecht!


Ein amerikanischer Geldfürst. Es giebt auch heutzutage wie in den Zeiten der Blüthe Roms, der Republik wie des Kaiserreichs, Geldfürsten, die einen unerhörten Luxus zur Schau stellen. Wenn dabei wiederum das Geld unter die Leute gebracht wird , so erfüllt der Reichthum damit allerdings nur eine Verpflichtung, die ihm gegenüber den gewerbtreibenden Klassen obliegt; doch giebt es eine Art von Luxus, der sich nur in den kostspieligsten Absonderlichkeiten gefällt und deshalb wie ein Hohn auf die Armuth aussieht, welche im Kampf ums Dasein kaum die einfachsten Lebensbedürfnisse bestreiten kann.

[240] So wird von dem Amerikaner Mackay, der aus seinen Silberminen in Nevada Millionen zieht, berichtet, daß er beim letzten Pariser Karneval durch seine Feste alle mitstrebenden Millionäre überflügelt habe. Seine Gattin schickte Jäger nach Neuguinea, welche dem seltenen Paradiesvogel dort nachstellen sollten, weil sie Sich aus den Federn derselben einen Mantel verfertigen lassen wollte. Bei seinem großen Ballfest in Paris hatte er im Garten einen Tanzpalast errichten lassen, dessen Wände mit rothem Sammet und Spiegeln bedeckt waren; es fehlte nicht an Gold und Marmor und Mosaik der Fußböden. Einige hundert Arbeiter waren Tag und Nacht beschäftigt, den Palast zu errichten, der mehrere hunderttausend Franken kostete. Den Gästen wurden frische Erdbeeren aus den südlichen Ländern, Störe aus Rußland, Vogelnester aus Indien vorgesetzt. Die Knallbonbons enthielten seidene Shawls, Taschentücher mit einem echten Schmuck, der das amerikanische Wappen trug. Diese Knallbonbons kosteten mehr als 150 000 Franken! Welche europäischen Fundgruben können mit den Silberminen von Nevada wetteifern! Den Arbeitern mochte man ihr Verdienst gönnen, alles Andere aber gehörte in das Gebiet eines Luxus, welcher nur der grenzenlosen Eitelkeit fröhnt.

†     
Erster Frühling.
(Mit Illustrationen S. 225.)

Und wenn die jungen Blättlein wehn,
Die Lieb’ hat neuen Lauf,
Und wo zwei Herzen knospend stehn,
Sie naht und weckt sie auf.
Wie selig schüchtern streift der Blick
Und fragt von ihm zu ihr:
So bist denn du mein einzig Glück
Und kommst erst jetzt zu mir?

O traute Stund, o heil’ge Stund’ –
Gott weiß drum, wie das thut,
Wenn bang verzagt und wonnig wund
Jung Herz am andern ruht.
Das träumt erglühten Angesichts,
Wie Roth aus Knospen quillt;
Das denkt sich nichts und sagt sich nichts –
Ihr Herz pocht gar zu wild.

Und wär’ das schon die Nachtigall?
Was singt im Baum so heiß?
Da sitzt die Lieb’ und singt mit Schall,
Was keins zu sagen weiß;
Die Welt ist nur ein Rosenstrauch,
Darunter sitz’ ich und du –
Es ist so schwül der duft’ge Hauch:
Die Augen fallen uns zu!

Viktor Blüthgen.

Klönthalsee. (Mit Illustration S. 233.) Wenn auch außerhalb der großen Schweizer Tour liegend, ist die Alpenscenerie des Kantons Glarus doch von großartiger Schönheit. Das gilt namentlich von dem Klönthal und dem See, aus dessen Fluthen der Glärnisch mit seinen steil abfallenden grünen Wänden sich hoch emporhebt. Das Thal selbst mit seinen grünen Matten hat einen echt idyllischen Reiz und dem Schweizer Idyllendichter Salomon Geßner konnte an keiner geeigneteren Stelle ein Denkmal errichtet werden. Einen herrlichen Ausblick auf das Thal und den See hat man von dem auf der Höhe gelegenen Dorfe Richisau: das ländliche Wirthshaus ist von den schönsten Ahornbäumen umgeben und die milde Gebirgsnatur ringsum athmet eine erhabene Ruhe.

Das stimmungsvolle Bild J. H. von Riedmüllers wird gewiß bei vielen die Neigung erwecken, einmal einen Abstecher in das ebenso anmuthige wie großarthige Thal zu machen.

Neue Jagd-Zeitung. Die Jagd im Westen Deutschlands ist nicht so ergiebig wie in den waldreichen östlichen Strichen unseres Vaterlandes. Aber das Land bietet dort vielfach Gelegenheit zu gedeihlicher Wildpflege und auch im Westen könnte bei richtigem Zusammenwirken der beteiligten Kreise die Jagd besonders gehoben werden. Vieles ist bereits in dieser Beziehung geschehen; merkwürdiger Weise fehlte es aber bis jetzt in einer Fachzeitschrift, welche die waidmännischen Interessen des deutschen Südwestens vertrat. Diesem Mangel ist nunmehr durch die „Neue Jagd-Zeitung“ abgeholfen, welche vom Forstmeister a. D. A. Gödde herausgegeben wird und im Verlag von Heinrich Schöningh in Münster erscheint. Die Zeitschrift berücksichtigt ganz besonders den Jagdbetrieb in Westdeutschland, bringt aber auch allgemein interessante Artikel, welche nicht nur den Waidmann, sondern auch den Naturforscher interessiren. Wir empfehlen sie darum der allgemeinen Beachtung.

*     

Eine neue Methode zu inseriren. In London ist eine Aktiengesellschaft mit einem Kapital von zwei Millionen Mark gegründet worden, welche einen Briefbogen sammt einem mit einer Penny-Postmarke versehenen Konvert für den Preis von einem halben Penny verkaufen will. Dies sieht auf den ersten Blick wunderbar genug aus, doch englische Aktiengesellschaften machen die Rechnung nicht ohne den Wirth. Des Räthsels Lösung besteht in den Inseraten, mit denen die Ränder des Briefbogens und des Konverts bedenkt sind. An jedem Packet von tausend Konverts und Briefbogen hofft die Gesellschaft durch diese Inserate wesentlich zu profitiren. Das Patent für diese Insertionsmethode hat ein Deutscher, J. Hertz, erworben: für 440 000 Mark hat die Gesellschaft die Patentrechte und Handelsmarken des Herrn Hertz gekauft. Vielleicht erfindet ein genialer Kopf in Deutschland noch eine neue Inserirungsmethode – man kann ja durch solche Erfindung ein reicher Mann werden.

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Ludwig Steub †. Unser Blatt hat mit Vorliebe in Schilderungen und Erzählungen das oberbayerische und das tiroler Gebirge und das Volksleben dort in den Bergen den Lesern vorgeführt: so wollen wir auch eines eben dahingeschiedenen Pioniers gedenken, der, allen voran, mit dem Alpenstock in die Hochthäler und zu den Schneegipfeln jener Gebirge gepilgert, um ihr Bild in seinen Schriften wiederzugeben. Am 16. März starb in München Ludwig Steub. Er war am 20. Februar 1812 zu Aichach in Oberbayern geboren, widmete sich iuristischen Studien, hielt sich während der Regierung König Ottos eine Zeitlang als Beamter in Athen auf und war später Rechtsanwalt und Notar in München. Land und Leute in den deutschen und österreichischen Alpenländern hat er in ebenso gediegener wie eingebender Weise geschildert in seinen Schriften „Drei Sommer in Tirol“, „Das bayerische Hochland“, „Wanderungen im bayerischen Gebirgen“, „Herbsttage in Tirol“, „Altbayerische Kulturbilder“ u. a. Außerdem hat er zahlreiche Novellen verfaßt und einen größeren Roman „Deutsche Träume“. Da die Zustände in den deutsch-österreichischen Alpenländern jetzt in Litteratur und Drama einen so breiten Raum einnehmen, so darf ein bahnbrechender Autor aus diesem Gebiete nicht der Vergessenheit anheimfallen. Unsere „Gartenlaube“ betrauert in ihm einen fleißigen Mitarbeiter.

†     
Schach-Aufgabe Nr. 5.
Von R. Weinheimer in Wien.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.
Auflösung der Schach-Aufgabe Nr. 4 auf S. 164:
Weiß:   Schwarz:
1. D d 8 – e 7: a 7 – b 6:
2. D e 5 – b 4 : Zugzwang.
3. D setzt matt.
Varianten: a) Secondespiel. 1. . . .S : S, 2. D : S †, K : D (K g 4), 3. T b 5: (D f 4) matt. – b) 1. . . .S : T, 2. D : T etc. – c) 1. . . a 6, 2. D d 4 (Drohvariante) etc. — Der Bauernraub im Einleitungszuge, eine kleine Konstruktionsschwäche, ist leider nicht zu vermeiden; die fein pointirte Zugzwangsidee, welche im zweiten Zuge auftritt, mag als Rechtfertigung dienen.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Haß und Liebe. Die Scheidung des Stoffes in vier Elemente: Luft, Feuer, Wasser und Erde, hat vermuthlich zuerst der griechische Philosoph Empedokles von Agrigent aufgestellt. Er war es auch, der neben den vier Elementen zwei Grundkräfte, den Haß und die Liebe, annahm. Seither wurde viel von Haß und Liebe und der Wahlverwandschaft der Elemente und Atome geschrieben und gedichtet. Die Lehre von den Atomen, den untheilbaren Theilchen des Stoffes, rührt von einem anderen griechischen Weisen her, vom Demokrit, dem man mit Unrecht den Beinamen des „lachenden Philosophen“ gegeben. Wenn er auch, wie es scheint, die Lehre nicht begründet hat, so hat er sie zuerst in ein philosophisches System gefaßt. Daß er ein Vorläufer des modernen Materialismus war, unterliegt keinem Zweifel; schon der eine seiner Lehrsätze: „Aus nichts wird nichts; nichts, was ist, kann vernichtet werden. Alle Veränderung ist nur Verbindung und Trennung von Theilen“ – beweist es zur Genüge. Der Materialismus hat in Friedrich Albert Lange einen gründlichen und auch objektiven Beurtheiler gefunden. Seine „Geschichte des Materialismus“ (J. Bädecker, Leipzig) hat erst vor kurzem eine neue Auflage erlebt. Sie sind aber im Irrthum befangen, wenn Sie meinen, Materialismus und Naturwissenschaft seien ein und dasselbe. Der Materialismus ist ein philosophisches System, das einen großen Theil seiner Beweise der Naturforschung entlehnt, sonst aber auch mit allgemeinen Ideen und Hypothesen arbeitet, wie jedes andere System; die Naturwissenschaft dagegen stützt sich nur auf wirklich beobachtete und bewiesene Thatsachen. Es ist eine weitverbreitete, aber irrthümliche Meinung, daß der Naturforscher unbedingt ein Materialist sein müsse.

Kaisergedichte. Die große Zahl der uns eingesendeten Kaisergedichte macht uns eine Rücksendung derselben unmöglich. Wir sagen den Einsendern besten Dank für ihren guten Willen und den warmen Ausdruck patriotischer Begeisterung, der sich in diesen Gedichten ausspricht, müssen aber jetzt mit der Kaiserlyrik abschließen.

E. J. in B. Ein Buch, wie Sie es wünschen, ist in der Anmerkung des betreffenden Artikels empfohlen.


  1. Nach Ernst Scherenbergs Gedenkbuch für das deutsche Volk „Kaiser Wilhelm I.“. (Leipzig, Ernst Keils Nachfolger.)

Anmerkungen (Wikisource)