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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman von E. Marlitt. Vollendet von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Fräulein Lindenmeyer schüttelte verwundert den Kopf unter der rothbebänderten Haube. Merkwürdig, was aus dem sonst so verlassenen Paulinenthal geworden war! In den Waldwegen leuchteten helle Damenkleider auf und schollen fröhliche Stimmen; es schien, als habe die ganze Stadt sich gerade diese Gegend zu ihren Sommerpartien ausgewählt. Eine Menge eleganter Wagen fuhr seit kurzer Zeit vorüber, und in Xleben war kein Ei mehr zu haben. Alles ging nach Brötterode, dem Duodezbade, eine halbe Stunde vom Eulenhause, wo, wie die Frau Försterin sagte, die fremden Herrschaften in diesem Jahre nur so wimmelten. Jede noch so kleine Wohnung sei vergeben und der Wirth in der „Forelle“ zum Platzen hochmüthig geworden, er habe zwei Grafenfamilien im ersten Stocke, und im Hinterhause wohne eine Frau von Steinbrunn mit zwei Töchtern; alle hätten Equipage mit, und das sei ein ewiges Gefahre nach Altenstein und nach Neuhaus. –

Ja, der ganze Hofschwarm war den fürstlichen Herrschaften nachgezogen, wie der Schweif mit seinen unzähligen Papierschnitzeln dem Drachen nachfliegt. Man fand in diesem Sommer die heimischen Gebirge unvergleichlich schön in den höchsten Kreisen der Residenz, es war einmal etwas Anderes als die Schweiz oder Tirol, als Ostende oder Norderney. Diejenigen, die bereits abgereist waren, kamen hierher zurück. In dem primitiven Speisesaal des Brötteroder Gasthofes, wo die Bilder des Herzogs und der Herzogin in wahrhaft empörendem Farbendruck die getünchten Wände zierten, wo man auf tannenen Stühlen an schmalen Tischen saß, trockenen Rinderbraten und Backpflaumen als Kompott aß und zweifelhaften Rothwein trank, herrschte trotz alledem eine animirte Stimmung. Hatte man doch Aussicht auf Picknicks im Walde, auf Croquet und Lawn Tennies im Altensteiner Park. Die Herzogin sollte sogar von einem bal champêtre gesprochen haben, einem Kostümball im Mondenschein unter den Eichen des Schloßgartens.

Es versprach diese Sommerfrische nach allen Seiten hin eine ganz ungewöhnliche zu werden; außer allem Andern war es auch schon höchst interessant, diese romantische Freundschaft Ihrer Hoheit zu der schönen Claudine zu beobachten; wahre Wunderdinge hatte man schon gehört.

„Sie sollen sehr intim sein,“ erzählte die Gräfin X.

„Neulich hat man sie in ganz gleichen Kleidern gesehen,“ berichtete Frau von Steinbrunn.

„Pardon! Das ist nicht der Fall. Die Herzogin trug rothe Schleifen, Claudine von Gerold blaue,“ ereiferte sich ein junger Offizier in Civil, der seinen Urlaub anstatt in Wiesbaden hier verlebte.

Im Park von Babelsberg im Jahre 1878.
Originalzeichnung von H. Lüders.

[242] „Die Herzogin soll sie ja förmlich mit Schmuck und Kostbarkeiten überhäufen, sie sind den ganzen Tag beisammen, lesend, plaudernd und spazierengehend, wahrscheinlich dichten sie auch mit einander. Prinzeß Helene hat vorgestern zu Isidore von Moorsleben gesagt, sie nennten sich ‚Du‛!“ rief die Komtesse Pausewitz.

„Nicht möglich! Unglaublich!“

„Die Gerolds machen eigenthümliches Fortune!“

„Was sagt Seine Hoheit dazu?“ fragte plötzlich die kecke Stimme eines jungen Diplomaten.

Die alte Excellenz mit weißem Scheitel und würdevollem Gesicht am oberen Ende der Tafel räusperte sich vernehmlich und schüttelte mißbilligend das Haupt.

Man sah sich lächelnd und vielsagend in die Augen, trank schweigend seinen Wein aus, reichte längst zurückgewiesene Kompottschüsseln noch einmal herum; die weibliche Excellenz begann nach einer Pause vom Wetter zu sprechen. Ein paar Gräfinnen-Mütter erfaßten mit einem Blick auf die Töchter begierig das neue Thema, „ob man es wagen dürfe, auf die hohe Warte zu steigen, einen der beliebtesten Aussichtspunkte der Umgegend?“ – Und als die Tafel aufgehoben war, traten die älteren Damen zusammen und flüsterten und zuckten die Achseln und hielten die Taschentücher vor den Mund und lächelten dahinter.

Bis jetzt war es noch nicht gelungen, mit eigenen Augen sich zu überzeugen, denn bis zu diesem Augenblick hatten sämmtliche um das Befinden der hohen Frau besorgten Herren und Damen sich damit begnügen müssen, ihre Namen in das Buch einzutragen, das in einem Saale zu ebener Erde des Altensteiner Schlosses auslag. Aber man hörte doch dieses und jenes, man vermuthete, man kombinirte. Man war so neugierig aus den nächsten Donnerstag; denn daß die fürstlichen Herrschaften auf dem Feste des Baron Gerold erscheinen würden, ließ sich mit Bestimmtheit annehmen, man erwartete sogar ganz sicher, an diesem Tage eine große Neuigkeit zu hören, nichts Geringeres als die Bekanntmachung einer längst erwarteten Verlobung.

Ja, es konnte interessant werden! Und während aller dieser Vermuthungen, während aller dieser Erwartungen lebte man auf Neuhaus und Altenstein scheinbar in aller Ruhe weiter.




Prinzeß Helene saß im Neuhäuser Garten und neben ihr stand das elegante Kinderwägelchen der kleinen Leonie. Ihre Durchlaucht spielten noch immer die zärtliche Tante in der stürmischen Art, wie sie alles auffaßte, was ihr durch das Köpfchen schoß. Sie schleppte die Kleine überall mit herum, sie bemühte sich mit unermüdlicher Ausdauer, ihr geliebtes Nichtchen das Wort „Papa“ zu lehren; doch die scheuen schwarzen Kinderaugen sahen sie zwar groß an, aber das trotzige Mündchen blieb geschlossen. Sie wußte nicht, daß selbst das jüngste Kind schon in den Zügen zu lesen versteht, und die Ungeduld und Leidenschaft, die aus den Blicken der Prinzessin sprühten, machten das arme kleine Wesen furchtsam. Es fing gewöhnlich nach ganz kurzer Zeit an zu schreien.

Und dann ward es mit Inbrunst getragen, beschwichtigt, geküßt und mit unmöglichen Koseworten überschüttet, so daß Beate die Hände rang in ihrem Zimmer und mit besorgten Mienen lauschte, ob nicht jemand dem unglücklichen Würmchen zu Hilfe kommen wollte. Aber wer denn? Lothar saß wie vergraben in seiner Stube, wohin er sich nach beendeten Mahlzeiten zurückzuziehen pflegte; Prinzeß Thekla lag meistens auf ihrer Chaiselongue, gähnte oder schrieb Briefe, und Frau von Berg – nun, die bestärkte Prinzeß Helene noch in ihren Extravaganzen; diese große, überstolze Person beugte sich bis in den Staub vor der kindischen Herrin.

Die alte Kinderfrau, die erschreckt hinzulief, ward höchstens dazu benutzt, den süßen Liebling etwas zu beruhigen und, wenn das kaum geschehen war, ihn seiner fürstlichen Tante wiederzugeben, bis er aufs neue zu schreien anfing. Beate, die bisher nicht wußte, was Nerven zu bedeuten haben, spürte zum ersten Male in diesen Tagen ein merkwürdiges Kribbeln in den Fingerspitzen; es flog ihr mitunter heiß um die Ohren, wie sie selbst sagte; sie ertappte sich sogar einmal auf einer unerklärlichen Lust zum Weinen. Das war, als Lothar vor dem Fest apathisch erklärte, ihm sei es ganz gleich, wie sie es arrangiren wolle. Da stand sie nun, die sich nie im Leben um derartiges bekümmert hatte, und sollte für Konzertprogramm, Tanzordnung und Kotillon sorgen. Sie hatte nicht übel Luft, dem, der da in seinem verdunkelten kühlen Zimmer so schweigend und brütend auf- und abschritt, die Wahrheit zu sagen:

„Du bist hier der Herr vom Hause, und wenn Du Dir Gäste einladest, so habe auch die nötige Geduld, um die Pflichten des Wirthes zu ertragen.“

Aber ehe sie noch die Lippen geöffnet, wandte er sich um, und sie blickte in ein blasses Gesicht von so sorgenvollem Ausdruck, daß sie erschrak; sie hatte in letzter Zeit gar nicht Muße gefunden, ihn anzuschauen.

„Um Gottes wissen, Lothar,“ sagte sie und trat zu ihm, „Du bist krank?“

„Nein! Nein!“

„Dann hast Du Sorgen!“

„Sorgen wie ein Mann, der sein ganzes Hab und Gut, seine Hoffnung, seine Zukunft auf ein gebrechliches Schiff lud und es vom sicheren Ufer aus Sturm und Wellen preisgegeben sieht; der dasteht, ohne retten zu können, und weiß, daß der Untergang gleichbedeutend ist mit Elend und Verzweiflung –“ sagte er leise.

„Aber, Lothar!“ rief Beate entsetzt. Sie war es nicht gewohnt, ihn in solchen Bildern sprechen zu hören und mit einer so bitteren Betonung. Und fast flehend bat sie. „Schenke mir Dein Vertrauen, Lothar, erkläre Dich deutlicher – Du ängstigst mich!“

„O nichts – nichts, Beate; kehre Dich nicht daran, es kam just so unwillkürlich über die Lippen. Es wird überwunden werden – dann – wenn es wieder still und einsam ist hier auf Neuhaus. Habe Nachsicht mit mir.“

Aber die Schwester wich nicht. „Lothar,“ begann sie resolut, obgleich ihr das Herz wehthat, „ich glaube, Ihr Männer seid in manchen Sachen schwer von Begriffen; ich denke, Du darfst auch diesmal nur die Hand ausstrecken.“

„Nein, mein kluges Schwesterchen, diesmal nicht,“ erwiderte er. „Ueber meine geöffnete Hand hinweg streckt sich siegesgewiß eine andere; und als ich das sah, da habe ich die meine still zurückgezogen und zur Faust geschlossen. So, und nun frage nicht mehr und laß mich allein, Beate!“

„Du bist noch immer der thörichte Junge wie früher,“ murmelte sie und wandte sich. „Bei Gott, sie läuft Dir nach, wie Deine Diana da –“ Und sie wies auf den Hühnerhund, der mit klugen Augen jeder Bewegung seines Herrn folgte.

Sie stand dann plötzlich in der Halle und sah mit finsterer Miene, wie Prinzessin Helene im lichten Morgenkleid, gefolgt von der Komtesse, die breite Treppe herunter kam, um im Garten zu verschwinden. Die schwarzen Augen der Prinzeß hatten durchbohrend auf die feste Eichenthür gesehen, die zu Lothars Gemächern führt, und in Beatens bekümmertem Herzen hatte sich der Zorn geregt. Sicher, das war verschroben von ihm; deutlicher konnte ihm nicht gezeigt werden, daß er geliebt wurde, nach ihrer Meinung schon viel zu deutlich! Ihr waren diese dreisten leidenschaftlichen Augen, dies unstete flatterhaft nervöse Wesen der Prinzessin unsäglich zuwider. Gott mochte wissen, was ihr jetzt wieder durch den Kopf schoß; der Kuh- und Pferdestall war so wenig vor ihr sicher wie die Kinderstube oder das Erbbegräbniß dort am Ende des Parkes, zu dem sie neulich gebieterisch den Schlüssel verlangt hatte, um die Särge der heimgegangenen Eltern zu bekränzen. Eine Aufmerksamkeit für den Sohn, die nur leider von diesem völlig übersehen worden war.

Beate schüttelte den Kopf und stieg die Treppe hinauf nach der großen Mansarde, wo die Wäschespinde und Truhen standen. Dort setzte sie sich hin und gab der Lust zum Weinen nach. War es denn ein Glück, das er ersehnte in Bangen und Verzweiflung? Dieses hochgeborene leidenschaftliche Geschöpf! – War denn die erste Ehe ein Glück gewesen? Warum flogen Lothars Wünsche so hoch? – Sie dachte seiner Zukunft an ihrer Seite; an das verlassene schlichte Haus seiner Väter, in welchem sie einsam und allein verbleiben würde, es hütend und beschützend wie jetzt. Er würde hinausgehen mit ihr in das bewegte Leben der Residenz, auf Reisen sein, wie mit der ersten Gattin; und mitunter würde er kommen, auf ein paar Tage – allein! Was sollte die erlauchte Frau auch hier? Ihre Anwesenheit jetzt bedeutete so nur eine Ermutigung; ihr spielendes Interesse an dem Haushalt des Stammsitzes war nur ein Beweis, daß auch sie sich gern herablassen werde, wie einst ihre Schwester sich herabgelassen.

[243] Und wenn er dann kam, würden sich Brüder und Schwester in die Augen sehen und finden, daß sie gealtert; der Eine in der schwülen sengenden Hofluft, die Andere in der Einsamkeit und in der Sehnsucht nach eigenem Glück.

Sie erschrak selbst über den schluchzenden Ton, der sich ihr wider Willen entrungen; sie biß die Zähne zusammen und schloß mit umflorten Augen die Truhe auf, die ihr zunächst stand, und raffte eilig Teppiche und bunte gewirkte Decken heraus. Es waren köstliche Sachen; sie wollte damit die Halle dekoriren lassen. Joachim hatte sie auf seinen Reisen gesammelt, diese Smyrnagewebe und türkischen Stoffe, und bei der Auktion hatte sie es erstanden mit ihren eigenen Mitteln. Und während sie die stimmungsvolle Farbenpracht der wundervollen Gewebe betrachtete, rollten ihr die Thränen unaufhaltsam über das stille Gesicht.

Was war ihr nur eigentlich? Sie kannte sich gar nicht so! – Mit einer energischen Bewegung wischte sie die Tropfen ab und zwang sich, an Kotillonbouquetts und Schleifen, an unzählige Stöße Porzellanteller und Tassen, an eine Friseurin, an Eis, Mandelmilch und Gott weiß an was zu denken, und zuletzt an diese unglückliche Idee der kleinen Prinzeß, ein Kostümfest mit Tanz aus dem einfachen Kaffee machen zu wollen.

Sie eilte die Treppen wieder hinunter, gab Befehle, schickte Boten fort, sprach mit Gärtner und Mamsell, und mitten in diesen Trubel kam die Absage von Claudine und Joachim. Auf letzteren hatte man ja kaum gerechnet; aber Claudine? Beate suchte eilenden Schrittes ihren Bruder auf. Sie fand ihn im Garten; er stand neben Prinzeß Helene und der Komtesse auf dem improvisirten Ballparkett, das unter den Linden hergerichtet war. Die Zimmerleute waren eben fertig geworden und ein paar Gärtnerburschen bekleideten die grob behauenen Pfähle der Einfriedigung mit Tannengrün und zogen Festons von Pfeiler zu Pfeiler.

„Lothar,“ begann sie, „Claudine sagt ab; willst Du nicht hinüber und sie bitten, dennoch zu kommen?“

Er sah in diesem Augenblick noch bleicher aus. „Nein!“ erwiderte er kurz.

In Prinzeß Helenens Augen blitzte es auf, sie hatte dies Blaßwerden bemerkt.

„Dann werde ich hinfahren, wenn Du es erlaubst,“ sprach Beate.

„So wirst Du Deine Schritte nach Altenstein lenken müssen. Im Eulenhause triffst Du sie schwerlich.“

„Heute Abend, wenn sie zurückgekehrt ist,“ erwiderte Beate. „Ich komme nicht ohne ihre Zusage wieder.“

„Sie scheinen Unglück zu haben, Baron,“ sagte die Prinzessin mit unheimlich flackernden Augen, „wie Mama mir mittheilte, wird auch der Herzog höchst wahrscheinlich dem Feste seine Gegenwart versagen. Ihre Hoheit, die soeben wegen einer kleinen Toilettenfrage schrieb, theilte es Mama tiefbetrübt mit.“

Auf der Stirn des Barons schwoll eine Ader; sonst veränderte sich kein Zug seines Gesichtes; er sah gespannt den Gärtnern zu, welche roth-weiße Fähnchen auf den Säulen befestigten. „Es sieht gut aus,“ bemerkte er gelassen, „meinen Durchlaucht nicht auch?“

Die kleine Durchlaucht nickte.

„Warum nicht auch die Farben Ihres Hauses?“ fragte sie bezaubernd liebenswürdig. „Abwechselnd das Gelb und Blau mit dem Purpur und Weiß?“

„Ich liebe diese Zusammenstellung nicht,“ erwiderte er. „Es sind gesuchte Kontraste.“

Beate, die sich eben zurückziehen wollte, wandte sich erschreckt ab. Aber die Prinzessin lächelte, sie mochte einen andern Sinn heraus gehört haben, als Beate.


* *
*


Claudine stand am Nachmittag dieses Tages, Adieu sagend, am Schreibtisch ihres Bruders.

„Meine Absage ist doch besorgt?“ fragte er.

Sie nickte. „Deine und meine. Leb’ wohl, Joachim!“

„Deine?“ fragte er bestürzt.

„Ja! Ich sehne mich nicht nach derartigen Festen; sei nicht böse, Joachim!“

„Böse? Ich verstehe Dich nur nicht, Du wirst Beate sehr betrüben.“

Ueber das schöne Gesicht der Schwester flog ein leiser schelmischer Zug.

„O, ich denke, ich werde sie wieder versöhnen. Joachim, laß mich doch hier; Du hast keine Ahnung, wie ich mich auf diesen Tag freue, auf den Nachmittag unter der Steineiche, auf den Abend mit Dir.“

Er reichte ihr die Hand. „Wie Du willst, Claudine. Du weißt, alles ist mir recht, was Du thust.“

Und Claudine ging hinunter, küßte das Kind zum Abschied, das unter Idas Leitung Puppenkleider nähte, und schaute in Fräulein Lindenmeyers Zimmer. Die schlief im Lehnstuhl; leise machte Claudine die Thür zu und schlüpfte durch den Hausflur in den Garten hinaus, vor dessen Pforte der fürstliche Wagen hielt. Nach kaum einer halben Stunde saß sie unter den Eichen des Altensteiner Gartens und las der Herzogin vor aus Joachims Werk „Frühlingstage in Spanien“. Die Geschichte seiner Liebe war in die wundervollen landschaftlichen Schilderungen anmuthig mit eingewebt.

„Claudine,“ unterbrach die Herzogin die Lesende, „sie muß sehr reizend gewesen sein, diese kleine Schwägerin! Beschreibe sie mir!“

Das Mädchen heftete ihre blauen Augen auf die fürstliche Frau. „Sie glich Dir etwas, Elisabeth,“ sagte sie.

„O Du Schmeichlerin!“ drohte die Herzogin; „aber da bringst Du mich auf eine Idee – verzeih, daß mich die interessante Lektüre zu einer Toilettenfrage anregt. Wie wär’s, Claudine – ich nehme Fächer und Mantille und komme einmal ‚spanisch‛ nach Neuhaus? Es ist ein guter Gedanke, meine ich. Und Du, Dina?“

„Ich – ich habe abgesagt, Elisabeth.“

Ueber das Gesicht der Herzogin flog ein betrübter Zug. „Wie schade!“ sagte sie langsam und nachdenklich; „auch der Herzog hat refüsirt.“

Claudinens blasses Antlitz flammte plötzlich im Roth des Erschreckens. Die Augen der fürstlichen Freundin hefteten sich fragend in die ihren.

„Ist Dir heiß?“

„Aber weshalb will Seine Hoheit nicht teilnehmen?“ erkundigte sich Claudine ausweichend.

„Er hat mir keinen Grund angegeben,“ war die Antwort.

„Elisabeth,“ sagte das schöne Mädchen hastig, „wenn Du es befiehlst, nehme ich meine Absage zurück; ich kann das leicht, Beaten gegenüber.“

„Ich befehle es nicht, aber ich würde mich freuen,“ sagte die Herzogin mit dem alten Lächeln.

„So beurlaube mich eine Stunde früher, ich möchte Beate selbst meinen geänderten Entschluß mittheilen.“

„Natürlich! So schwer es mir auch wird, Dich zu missen. Aber berichte mir, warum wolltest Du nicht nach Neuhaus? Ich kann mir nicht denken, Claudine, daß Du die Lappalie mit Prinzeß Helene so ernsthaft genommen, um es Deine Verwandten entgelten zu lassen.“

Die Herzogin hatte während dieser Worte die Hand der Freundin erfaßt und suchte mit ihrem Blick nach den blauen Augen.

Aber die langen blonden Wimpern hoben sich nicht und unter ihnen flammte wieder die heiße Röthe auf von vorhin.

„Nein, nein!“ stieß sie hervor, „das ist es nicht. Ich hatte Joachim einen stillen Abend versprochen; ich glaubte, Du würdest mich nicht vermissen in dem Glanz und Lärm des Festes.“

„Ich fühle mich nie einsamer als unter vielen Menschen,“ erwiderte die Herzogin leise und hielt Claudinens Hand fest, die sie ihr entziehen wollte.

„Ich komme ja mit, Elisabeth.“

„Gern? Ich lasse Dich nicht früher los.“

„Ja,“ klang es zögernd und ihre Wange neigte sich gegen die der Herzogin. „Ja!“ wiederholte sie noch einmal, „weil ich Dich unsagbar lieb habe.“

Die Herzogin küßte sie. „Ich Dich auch, Dina! Seit meiner Brautzeit habe ich nicht wieder das frohe, beglückende Gefühl gehabt, wie jetzt neben Dir. Und was so gut ist: in der Freundschaft kann man nicht so leicht Enttäuschungen erleben wie in der Liebe, sie gewährt ein ruhigeres Glück!“

Claudine sah forschend in die Züge der Herzogin.

„Ja, ja, die Liebe, die Ehe bringen mancherlei mit sich, Schätzchen,“ lächelte diese; „kleine Kränkungen, kleine Enttäuschungen. [244] Denke doch, Claudine, mit welchem Idealismus tritt so ein achtzehnjähriges Mädchen vor den Altar! Aber darum, mein Kind, bin ich doch die glücklichste Frau, denn er liebt mich. Sich geliebt zu wissen, fest auf die Liebe und Treue des Mannes zu vertrauen, darin liegt alles, was es Seliges giebt für ein Weib – und dieses Vertrauen verlieren würde für mich gleichbedeutend sein mit Sterben!“

Sie plauderte, während das Buch vergessen auf den Knieen des Mädchens ruhte, leise weiter von dem ersten Sehen des Geliebten, von jener innigen Liebe, die sie sogleich für ihn hegte, von dem Taumel, der sie ergriffen, als man ihr mittheilte, daß er um sie geworben. Wie sie die Hände gefaltet habe und gefragt mit zitternden Lippen: „Mich? Mich will er?“ Sie erzählte, wie sie täglich während des kurzen Brautstandes an ihn geschrieben, wie sie mit einem Glücksgefühl, einem Stolz ohnegleichen nach der Vermählung mit ihm auf den Balkon des väterlichen Schlosses getreten sei, um ihren schönen ritterlichen Gemahl den Tausenden von Menschen zu zeigen, die den großen Platz dort unten füllten; und wie sie dann so heimlich beide in dem unscheinbaren Wagen durch die Frühlingsnacht gefahren nach dem stillen Schlößchen in der Nähe der Residenz, wo sie ihr erstes junges Glück verbergen wollten.

Sie war beim Aussteigen mit der Schleppe am Wagen hängen geblieben und ihrem jungen Gatten buchstäblich zu Füßen gefallen; sie hatten beide gelacht, und weil ihr der Fuß schmerzte, hatte er sie in seinen Armen die Treppe hinaufgetragen, durch die menschenleeren Korridore, auf denen nur dämmernd die Lampen brannten, bis in ihre Zimmer, und dort hatten sie am offenen Fenster gesessen und die Nachtigallen im Parke gehört und die Lichter des Schlosses auf dem Weiher sich spiegeln sehen; und die feuchte warme Luft war voller Veilchenduft gewesen.

Die dunklen Augen der Erzählerin schimmerten in der Erinnerung jenes Glückes, und als jetzt eben die schlanke Gestalt des Herzogs um das nächste Bosquet bog im tadellosen eleganten Sommeranzug, da flog ein wunderbar verklärender Glanz über ihr krankes schmales Gesicht.

Er grüßte näher kommend, war aber jedenfalls nicht rosiger Stimmung.

„Störe ich die Damen?“ fragte er; „ohne Zweifel werden Toiletteangelegenheiten erörtert? Tolle Idee, ein Kostümfest!“

„Mein Himmel, ja!“ rief die Herzogin. „Claudine, wo werden Sie nun in aller Eile noch eine Toilette herbekommen?“

„Ich habe ein ganzes Spind voll alter prächtiger Sachen von Großmama,“ erwiderte sie, „es wird sich wohl etwas darunter finden, denke ich.“

„Die Fracks der Herren werden sich recht malerisch neben diesen Zigeunerinnen und Rokokodamen ausnehmen,“ spottete der Herzog. „Natürlich, eine Laune von Helene, das ist klar.“

„Warum kommst Du nicht, Adalbert? Thue es doch! Weshalb willst Du Gerold diese Gunst versagen? Du hast ihn früher in jeder Weise verwöhnt,“ bat die Herzogin.

Er zuckte die Achseln. „Es wird sich nicht arrangiren lassen,“ sagte er kurz und begann von etwas Anderem zu reden.

„Nun, Claudine, so werden wir uns mit einander trösten, ich als Spanierin und Du?“

„In einer der unkleidsamen Trachten des Empire, Hoheit; kurze Taillen, enge Röcke und –“

„Pardon! Unkleidsam ist die Tracht nicht,“ fiel der Herzog ein, „im Gegentheil. Aber es gehört ein tadelloser Wuchs und eine gewisse Grazie dazu. Denken Sie an das entzückende Bild der Königin Luise, und an das Bild meiner eignen Großmama, der Herzogin Sidonie, in der Galerie unseres Schlosses –“ er küßte die Fingerspitzen. „Sie war reizend, diese Mode.“

Claudine schwieg. Die Herzogin sprach noch einiges, dann empfahl er sich, und Claudine las weiter.


* *
*


Es war gegen neun Uhr und der letzte Tagesschein lag noch über den Bergen, als sie nach Neuhaus fuhr. Herr von Palmer stand an seinem Fenster hinter der Gardine und hörte das Gefährt vom Schloßhofe rollen. Er drehte seinen langen, sorgsam gefärbten Schnurrbart mit den wachsbleichen Fingern, die in der Dämmerung ordentlich leuchteten. Er wußte ja, der Pfeil lag auf der Sehne, der Bogen war gespannt; es bedurfte nur eines Impulses, dann war ein armes Menschenherz zu Tode getroffen – „unmöglich gemacht“ nannte es Herr von Palmer. Es war nöthig, es war sogar die höchste Zeit; die Freundschaft nahm überhand; die Herzogin behandelte ihn jetzt miserabel, noch miserabler als früher; er wußte, woher dieser Wind wehte. Wenn der Pfeil auch sie streifte – es geschah ihr recht. „Lächerlich, daß die Berg sagt, die kleine Prinzeß fürchte für Ihre Hoheit; diese Naturen sind zähe.

Süperbe Idee, die kleine eifersuchtstolle Durchlaucht auszuwählen, diejenige zu sein, die das Geschoß abdrücken soll, großartig, großartig!“ sagte er bewundernd und ging im Zimmer auf und ab. „Das konnte auch nur ein Weiberkopf aussinnen. Es giebt einen Knalleffekt, einen riesigen, schöne Claudine! Die Säle des Residenzschlosses sehen Dich nicht wieder. Unschädlich for ever! Lothar denkt so wie so nicht an sie, dieser Hochmuthsnarr mit seinen fürstlichen Freiereien; wie die Berg darauf kommt, ist mir räthselhaft. Der Herzog aber mag an sie denken, soviel er will, hat Ihre Hoheit erst Verdacht, dann hilft es Ew. Liebden nichts: geschieden muß sein! Wer nachher vor Euren herzoglichen Augen Gnade finden soll, das wird von mir abhängen. Die Berg ist noch schön genug und – alte Liebe rostet nicht. Sie liebt ihn auch noch immer und würde doch dabei mit dem größten Verständniß auf meine Pläne eingehen.“

Eine endlose Reihe glänzender Geschäfte entwickelte sich vor den Augen des Mannes, und zunächst winkte der verlockende Titel „Hofmarschall“. Die alte kopfwackelnde Excellenz von Elbenstein, welche zugleich die Funktionen des Oberstallmeisters vertrat, und deren Geschäfte er, Palmer, bereits seit Monaten versah, konnte unmöglich noch lange leben; Se. Hoheit hatte auch bereits ein verheißungsvolles Wort gesprochen. Freilich, er wußte, daß es böses Blut geben würde unter den Hofchargen, wenn er, der Ausländer, den Se. Hoheit in Kairo, sozusagen von der Gasse, aufgelesen, diese Stellung erhielt. Er lächelte abermals und pfiff ein paar Takte des Fatinitzamarsches. „Es wird nicht allzulange sein, meine Herrschaften; ich will mein Leben noch genießen, solange ich genußfähig bin“ Dabei schwebte ihm Paris und ein entzückend eingerichtetes kleines Hôtel in den Champs Elysées vor. „Und dabei frei von Fürstendienerei! Aber Alice? Vielleicht würde sie dort mitwohnen, vielleicht! Nous verrons!“

Und er nahm seinen Hut und ging zur Tafel, wo eben der Rittmeister eine Pfirsichbowle braute; die ersten köstlichen Früchte aus den herzoglichen Treibhäusern waren angelangt. –

(Fortsetzung folgt.)




Ueber Erderschütterungen.
Von Rudolf Falb.

Nicht durch ihre lieblichen und nicht durch ihre erhabenen Erscheinungen, sondern wenn sie der Menschheit ihr zürnendes Antlitz zeigt, erregt die Natur, die „allgütige Mutter“, die Aufmerksamkeit derselben in ausgedehntestem Maße.

Der Stumpfsinn der Menge den großen Räthseln des Weltalls gegenüber ist nur durch den Stachel zu überwinden, den eine unsichtbare Kraft tief in ihr Fleisch treibt.

Was die grauenvolle Erderschütterung am Februar 23. Februar 1887 in dieser Beziehung geleistet, liegt nun offen zu Tage – hundert Bücher hätten es nicht zu Stande gebracht. Allerwärts in Europa und weit darüber hinaus ist die Frage nach dem Ursprunge des unheimlichen Gastes neuerdings in Fluß gerathen, und wenn wir hier, dem Wunsche der Leitung der „Gartenlaube“ entsprechend, nochmals auf dieselbe zurückkommen. so wird es kaum nöthig sein, deshalb die Entschuldigung des Lesers zu beanspruchen.

Nicht lange dürfte es währen und es klopft derselbe Gast in anderen Landen wieder an die Thüre.

Doch für die Riviera bleibt der Trost, den eine langjährige Erfahrung uns bietet, daß Katastrophen an einem und demselben Erdbebenherde und in seiner Umgebung nicht vor einem halben Jahrhunderte wiederkehren. Die letzte Entladung eines der Riviera benachbarten Herdes trat am 9. Oktober 1828 ein, an

[245]

Die Benediktinerabtei Alpirsbach.
Originalzeichnung von M. Bach.

[246] welchem Tage zwischen Voghera und Genua im Thale von Stalfora ein furchtbarer Stoß, der noch in Marseille, Genua und Turin verspürt wurde, große Verheerungen anrichtete. Der Katastrophenstoß, dessen Schilderung in zwei Artikeln der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ von 1828 (Nr. 290 und 308) sich findet, trat um 3 Uhr 11 Minuten morgens ein, und es ist sehr bemerkenswert , daß in derselben Nacht – genau so wie bei dem Erdbeben an der Riviera – eine Sonnenfinsterniß stattfand, welche von 10 Uhr abends bis 4 Uhr morgens sich vollzog und ringförmig war.

Das Zusammentreffen von Finsternissen mit Erdbeben wird bereits von alten Schriftstellern erwähnt und Aristoteles spricht davon in seiner Meteorologie. „So kommt es auch ab und zu vor, daß um die Zeit einer Mondfinsterniß ein Erdbeben eintritt“ (II. 8). Nach Phlegon von Tralles, einem Chronisten des zweiten Jahrhunderts, fand in der Olympiade eine große von einem Erdbeben begleitete Sonnenfinsterniß statt, wobei Nicäa in Bithynien zerstört wurde. In dieselbe Olympiade fällt auch das Erdbeben und die Finsterniß beim Tode Christi am 3. April des Jahres unserer Zeitrechnung. Der Vollmond ging am Abende jenes Tages, der sich in der That als ein Freitag und außerdem als der Vortag des Osterfestes der Juden erweist – wie dies der Verfasser zuerst dargethan hat – verfinstert über Jerusalem auf. Am 22. Dezember 968 n. Chr. ereignete sich ein großes Erdbeben zu Korfu während einer totalen Sonnenfinsterniß. Am 14. Dezember 1797 wurde die Stadt Cumana 4 Tage vor einer Sonnenfinsterniß durch ein Erdbeben zerstört, und genau dasselbe Verhältniß hatte statt zwischen der Zerstörung von Arequipa und der darauffolgenden Sonnenfinsterniß. Am auffälligsten aber erschien dieses Zusammentreffen in jüngster Zeit. Am 6. März 1886 wurde Cosenza und dessen Umgebung von einem zerstörenden Erdbeben heimgesucht, welchem in der Nacht vorher die erste der beiden Finsternisse des Jahres vorausging. Am 29. August desselben Jahres trat die zweite Finsterniß ein und um sie gruppiren sich symmetrisch die beiden größten Katastrophen des Jahres: das Erdbeben von Philiatra in Griechenland am 27. und jenes von Charleston in Nordamerika am 31. August. Wie sehr zu dieser Zeit die Tiefen der Erde in Aufruhr standen, beweist auch der Umstand, daß am nämlichen Tage des 31. August der Vulkan der Insel Nina Föou in der Südsee, nach mehr als 30jähriger Ruhe, einen so gewaltigen Ausbruch hatte, daß sämmtliche Dörfer in seiner Umgebung mit Ausnahme zweier zerstört und 12 Fuß tief in die Erde begraben wurden. Darauf folgte die Finsterniß mit dem Erdbeben an der Riviera am 23. Februar 1887, und dann am 2. August desselben Jahres die Zerstörung der Stadt Cuença in Ecuador, nach welcher am nächsten Tage eine Mondfinsterniß eintrat. Diese angeführten Fälle sind so auffallend, daß man, bei der relativen Seltenheit der Erdbebenkatastrophen einerseits und der Finsternisse andrerseits, nach mathematischer Wahrscheinlichkeit das Zusammentreffen nicht mehr für zufällig, sondern für gesetzmäßig annehmen muß.

Ist aber letzteres der Fall, so fragt es sich: in welcher Art wird durch die Finsternisse das Phänomen der Erdbeben beeinflußt? Die Antwort darauf muß offenbar auf die Ursache der Erderschütterungen überhaupt zurückgreifen. Da jedoch alles, was bis jetzt darüber vorgebracht wurde, über das Niveau einer subjektiven Ansicht nicht hinausreicht, so kehrt sich hier die Fragstellung um und lautet dann: welche von allen möglichen Erschütterungsursachen ist so beschaffen, daß ihr Zusammenhang mit den Finsternissen eine mathematisch-physikalische Nothwendigkeit wird?

In solcher Weise vereinfacht sich die Untersuchung über die Ursache der Erdbeben wesentlich, und werden ferner noch andre Thatsachen der Erdbebenstatistik, wie z. B. die Verteilung derselben nach den verschiedenen Monaten des Jahres, ihr Verhalten den Phasen des Mondes gegenüber, in der Untersuchung gleichzeitig berücksichtigt, dann erscheint der Spielraum der wissenschaftlich erlaubten Vermuthungen über die wahrscheinlichste Ursache, gegenüber der vagen Annahme mehrerer oder aller möglichen Ursachen, bereits so eingeschränkt, daß das Endurtheil wohl kaum mehr ein willkürliches oder persönliches genannt werden darf.

Wenn wir zunächst die Katastrophenerschütterungen als diejenigen, bei welchen die zu enträtselnde Erscheinung in auffälligster Weise zu Tage tritt, ins Auge fassen, so stellen sich als solche Thatsachen dar:

a) der mechanische Typus des Stoßes; b) der Verlauf der Erschütterungen; c) die örtliche Verteilung und d) die zeitliche Verteilung derselben.

Wir wollen nun diese Punkte, über deren maßgebende Rolle bei der Frage nach der Ursache der Erdbeben in allen Lagern volle Uebereinstimmung herrscht, der Reihe nach zur Erörterung bringen.

a) Der mechanische Typus des Stoßes.

Wenn von verschiedenen Orten eines ausgedehnten Gebietes die Nachricht von nahezu gleichzeitigen Erdbeben mitgetheilt wird, so stellt sich bald heraus, daß einer derselben am stärksten betroffen wurde und sich die übrigen Orte nahezu symmetrisch um denselben gruppiren. Man nennt diesen Ort den oberflächlichen Erdbebenherd oder das oberflächliche Erschütterungscentrum. Er befindet sich dem unterirdischen Focus des Bebens, dem eigentlichen Ursprunge desselben, am nächsten und nahezu senkrecht über demselben, wie aus der senkrecht ausstoßenden Bewegung des Bodens daselbst hervorgeht. Was immer auch die unmittelbare Ursache einer Erderschütterung sei, stets laufen die Erschütterungsstrahlen aus dem Focus wie die Radien einer Kugel nach allen Richtungen. Damit ist auch schon die Charakteristik des Stoßes für die verschiedenen davon betroffenen Orte theoretisch gegeben. Am Herde, wo diese Strahlen die Oberfläche senkrecht treffen, äußert sich daher die Erscheinung durch eine aufstoßende Bewegung des Bodens; während die übrigen Orte desto schiefer getroffen werden, je weiter sie vom Herde entfernt sind, und daher nur eine seitliche, wellenförmige Bewegung verspüren. Die Stärke der Erschütterung am Herde des Erdbebens hängt nach den Gesetzen der Mechanik einerseits von der Intensität derselben am Focus, andrerseits von der Nähe des letzteren an der Oberfläche ab. Die Ausdehnung des ganzen erschütterten Gebietes dagegen wächst einerseits gleichfalls mit der Intensität des Ursprungs, andrerseits aber mit der senkrechten Entfernung des Focus von der Erdoberfläche. Es verrathen daher im allgemeinen Katastrophen mit geringer Ausdehnung des Erschütterungsgebietes eine geringere Tiefe des Ursprungs, als solche, bei welchen die Erschütterung sich weithin verbreitet. Um dem Leser einen beiläufigen Begriff zu geben, aus welcher Tiefe das furchtbare Phänomen seinen Ausgang nimmt, möge hier die Zusammenstellung der bisher annähernd gelungenen Berechnungen folgen:

Ursprung des Erdbebens von: Tiefe in Kilometern:
a) Basilicata (16. Dezember 1857) 12
b) Herzogenrath (22. Oktober 1873) 11
c) Mitteldeutschland (6. März 1872) 20
d) Sillein (15. Jänner 1858) 26
e) am Rhein (29. Juli 1864) 43

während die größte Höhe, welche die Gebirge auf der Erde erreichen, ungefähr 9 Kilometer beträgt.

Es ist also festzuhalten, daß bei dem Katastrophenstoße nur Ein Centrum beobachtet wird und daß sich in demselben der Hauptstoß zunächst in senkrechter Richtung fühlbar macht.

b) Der Verlauf der Erschütterungen.

Es ist eine merkwürdige, ausnahmslose Thatsache, daß jeder Katastrophenstoß von einer Reihe schwächerer Erschütterungen gefolgt wird, welche mit abnehmender Stärke und Häufigkeit wiederkehren und meist erst nach mehreren Monaten gänzlich aufhören. So heißt es denn in den Zeitungen regelmäßig nach einer Katastrophe: die Erderschütterungen dauern fort. Dieser Umstand erscheint uns um so auffallender, als vor der Katastrophe schwächere Erdstöße in seltenen Fällen und dann höchstens einer oder zwei unmittelbar oder wenige Stunden vor derselben beobachtet werden. Meist werden diese letzteren Beobachtungen nur hinterher von einigen Personen behauptet und sind daher sehr zweifelhafter Natur, so daß man wohl als allgemeine Regel hinstellen kann: der Katastrophenstoß steht am Anfange der Reihe. Und das ist sehr zu bedauern; denn verhielte sich die Sache umgekehrt und gingen diese vielen schwachen Stöße der Katastrophe voran, dann würden sie eine rechtzeitige Warnung sein und vielen Menschen das Leben retten. Die gesammte Chronik der Erdbeben aber verzeichnet unter ihren Hunderten von Katastrophen keinen einzigen Fall dieser Art.

Von Wichtigkeit ist es nun für die Auffindung der Ursache der Erdbeben, in einer solchen Reihe von Sekundärstößen, die [247] nicht nur im Centrum des Erschütterungsgebietes gefühlt werden, den Tag des stärksten derselben zu beachten, was keine Schwierigkeit verursacht, da die Ausbreitung der Stoßwellen, d. i. die Entfernung, bis zu welcher die Erschütterung noch verspürt wurde, eine unzweideutige Schätzung der relativen Stärke dieser Stöße ermöglicht. Gewöhnlich charakterisirt sich diese sekundäre Wiederholung der Katastrophe in den Zeitungsnachrichten durch den Ausdruck „neue Panik“; allein es ist kein einziger Fall bekannt, daß dieselbe die Stärke oder mit anderen Worten die Ausdehnung des ersten oder Katastrophenstoßes auch nur annähernd erreicht hätte. Man ist daher berechtigt, als zweite Regel hinzustellen: „In einer und derselben Erdbebenreihe tritt im Centrum oder in seiner Nähe eine zweite Katastrophe nicht ein.“

Auf diese beiden Erdbebengesetze – den Typus der Reihe – legt der Verfasser ein um so größeres Gewicht, als sie der Beachtung der Forscher bisher entgangen waren.

Es stellt sich ferner heraus, daß die heftigsten aller Sekundärstöße sich nahe an dem Tage ereignen, an welchem die größte Fluthanziehung des Mondes nach der Katastrophe eintritt. So geschah es, um nur einige Beispiele aus neuerer Zeit anzuführen, bei dem Erdbeben im Visperthale (1855) am 24. September, 27. Oktober, letzteres drei Tage nach einer Mondfinsterniß, und 12. November, drei Tage nach einer Sonnenfinsterniß, und gleichzeitig mit der Erdbebenkatastrophe in Yeddo, bei welcher 30 000 Menschen ums Leben kamen. So geschah es auch bei den Erdbeben von Belluno (1873) am 8. August und 25. Dezember; so bei dem Erdbeben von Tarapaca (1878) am 20. Februar, drei Tage nach einer Mondfinsterniß; so in Agram (1880) am 16. Dezember, gleichzeitig mit einer Mondfinsterniß; so in Andalusien (1885) am 27. Februar; so in Kindberg (1885) am 22. September, zwei Tage vor einer Mondfinsterniß; so in Charleston (1887) am 7.Februar, einen Tag nach einer Mondfinsterniß; so an der Riviera (1887) am 11. März; so in Werny (1887) am 20. Juni und 22. August, letzteres drei Tage nach einer Sonnenfinsterniß.

c) Die örtliche Vertheilung der Erdbeben.

Es ist eine unbestrittene Thatsache, daß bei weitem die meisten und stärksten Erdbeben

1) in der Nähe thätiger oder erloschener Vulkane,
2) im Gebiete der größten Gebirgsketten auftreten.

Aeußerlich ließe sich darauf eine Eintheilung in vulkanische und nicht vulkanische Erderschütterungen gründen; allein auf die Ursache derselben darf man von vornherein eine solche Unterscheidung nicht ausdehnen, aus dem einfachen Gründe, weil die im Laufe der Jahrtausende von sedimentären Schichten überlagerten und eingebetteten Vulkane sich auch unter Oertlichkeiten finden können, welche jeder botanischen Spur an der Oberfläche ermangeln.

d) Die zeitliche Vertheilung der Erdbeben.

Es ist bereits vor dreißig Jahren von dem französischen Gelehrten Alexis Perrey in Dijon der Nachweis geliefert worden, daß die Erderschütterungen häufiger eintreten

a) zur Zeit der Erdnähe des Mondes,
b) zur Zeit der Syzygien (Voll- und Neumond),
c) im Winterhalbjahre.

Unabhängig davon fand der Verfasser vor zwanzig Jahren, daß die meisten und stärksten Erdbeben eintreten in unmittelbarer Nähe jener Tage, an welchen sich die meisten Fluthfaktoren, d. h. jene Stellungen der Sonne und des Mondes, welche eine erhöhte Fluthanziehung bewirken, zusammenfinden.

Diese Fluthfaktoren sind.

die Erdnähe und der Aequatorstand des Mondes;
die Erdnähe und der Aequatorstand der Sonne;
Voll- oder Neumond (Syzygium);
Finsternisse des Mondes und der Sonne.

Ferner fand der Verfasser durch eine genaue Zählung der in dem Erdbebenkataloge von Robert Mallet verzeichneten Fälle vom Jahre 800 n. Chr. bis 1843, daß sich in diesem Zeitraume an 5492 Tagen Erdbeben ereigneten, von welchen die meisten auf den Januar, April und Oktober, die wenigsten auf den Juli und August fielen Später hat auf Anregung des Verfassers auch Dr. Julius Schmidt, Direktor der Sternwarte zu Athen, über die Beziehungen der Häufigkeit der Erdbeben zu den Stellungen der Sonne und des Mondes Untersuchungen angestellt, aus welchen sich neuerdings ergab, daß die Erdbeben häufiger sind in der Erdnähe des Mondes als in seiner Erdferne, häufiger zur Zeit des Neumondes als um das erste Viertel und häufiger zur Zeit des Vollmondes als um das letzte Viertel. Am genauesten jedoch trifft sein Resultat über die Vertheilung im Laufe des Jahres mit den Untersuchungen des Verfassers zusammen. Er findet ein Maximum im Januar, März und Oktober, und ein Minimum anfangs Juli; also die größte Häufigkeit zur Zeit der Erdnähe und Aequatorstellung, die geringste zur Zeit der Erdferne der Sonne, welche bekanntlich am 1. Juli eintritt. Dasselbe Gesetz der Vertheilung im Laufe des Jahres fand der Verfasser dann wenigstens angedeutet mit einem Maximum im Januar und Oktober in den Aufzeichnungen der Erdbeben von Copiapo in Chile, und dann noch in den Erdbeben der Schweiz überhaupt, des Kantons Wallis im besonderen, ja sogar auch in der Erdbebenchronik der Stadt Basel. Es ist daher über die Gesetzmäßigkeit dieses Verhaltens wohl kein Zweifel mehr gestattet.

Da die Sonne am 21. März und 23. September im Aequator steht, wobei sie ihre größte Fluthanziehung ausübt, so wird sich das Zusammentreffen wirksamer Mondstellungen zur Zeit der Aequinoktien, unterstützt durch die Sonne, am meisten fühlbar machen.

Schlußfolgerungen. – Theorie der Erdbeben.

Indem wir nun alle diese Thatsachen zusammenfassen, gelangen wir zu folgendem Ergebniß: die Vertheilung der Erdbeben im allgemeinen und der Verlauf der sekundären Erschütterungen im besonderen, sowohl nach den Stellungen des Mondes zur Erde und Sonne, als auch nach den Stellungen der Sonne zur Erde, beweist exakt und zur Genüge, daß es sich hier um ein Fluthphänomen handelt, was wohl auch schon Perrey vermuthungsweise ausgesprochen, ohne, wie er selbst gesteht, eine physikalische Lösung der Frage durchgeführt oder mit andern Worten eine Theorie begründet zu haben. Eine solche besteht eben nicht bloß in einer wissenschaftlichen Hypothese, sondern in der Zusammenstellung aller beobachteten Thatsachen und in der Prüfung der Hypothese auf Grund derselben. Eine Hypothese ist eine einfache Annahme, eine Theorie jedoch ein nach den Regeln der Logik und unter steter Bezugnahme auf die Thatsachen aufgeführtes Lehrgebäude, bei welchem sich alle einzelnen Theile harmonisch zum Ganzen fügen. Daß es dem Verfasser möglich wurde, ein solches Gebäude zu errichten, verdankt er einerseits der strengkonsequenten Anwendung der Fluththeorie auf das Phänomen der Erdbeben, und andrerseits der Beachtung aller Thatsachen und insbesondere der bisher unbeachtet gebliebenen beiden Erdbebengesetze: „Jede Katastrophe wird von einer Reihe von Erschütterungen gefolgt“ und: „Keiner der folgenden Stöße erreicht die Stärke des Katastrophenstoßes.“

Wenn die Erdbeben in ihrer Häufigkeit und Stärke sich nach den theoretischen Fluthanziehungen von Mond und Sonne richten, so entsteht zunächst die Frage: was ist hier die fluthende Materie und wie hängt die mechanische Erschütterung des Erdbodens mit derselben zusammen?

Hält man das Erdinnere theilweise noch für zähflüssig und bringt die Lava damit in Verbindung, so läge es nahe, nach Analogie des Oceans, eine im Innern der Erde sich bildende Fluthwelle anzunehmen, welche zur Zeit der Springfluthen an die feste Erdrinde anschlägt und dadurch deren Erschütterungen hervorruft. Diese Auffassung, welcher sich Perrey hinneigte und die anfänglich auch wir in Betracht zogen, erwies sich jedoch sofort als unhaltbar, wenn man den Typus des Stoßes einer Katastrophe und den weiteren Verlauf der Erschütterungen nach derselben sorgfältig beachtet. Eine unter der Erdrinde dahinwandernde Lavawelle würde bei ihrem Anschlagen an dieselbe jedesmal das Zerstörungsgebiet weniger in Form eines kreisähnlich begrenzten Centrums, als in Gestalt einer von Ost nach West laufenden, breiten Zone erscheinen lassen und die nach der Katastrophe sich so ausschließlich auf das Centrum beschränkenden sekundären Stöße auf keine Weise zu erklären im Stande sein. Den Verfasser wies in dieser Frage der Ausbruch des Aetna, in dessen Erwartung für den 27. August 1874 er den ganzen Monat in Sizilien zubrachte, als derselbe den 29. August tatsächlich stattfand, auf die richtige Fährte. Es traten nämlich 27 Stunden nach dem Ausbruche [248] vereinzelte und weitere 16 Stunden später sehr zahlreiche Erdstöße ein, von denen jedoch keiner eine Katastrophe herbeiführte. Der Ausbruch fand statt am Tage des Zusammentreffens der Erdnähe des Mondes mit seiner Stellung im Aequator und zwei Tage nach dem Vollmonde, somit zu einem Zeitpunkte, welcher der Fluththeorie vollkommen entspricht.

Da diese sekundären Erdbeben in ihrem fortgesetzten Verlaufe vollständig den Charakter jener sekundären Beben an sich trugen, welche wir regelmäßig nach jeder Katastrophe auftreten sehen, so erwartete ich mit großer Spannung die nächste Hochfluthperiode, welche am 25. und 26. September, wegen des Vollmondes am ersteren und der Erdnähe und des Aequatorstandes am letzteren Datum eintreten mußte. Ich hatte mich am dritten Tage nach Neapel begeben und schon seit längerer Zeit keine Notizen mehr über diese Stöße gelesen, als plötzlich die Telegramme in den Zeitungen verkündeten, daß am September in den Ortschaften am Fuße des Aetna ein sehr heftiges Erdbeben eintrat, welches die früheren an Stärke übertraf. Mehrere Häuser hätten Sprünge bekommen, die Unruhe sei sehr groß, der Aetna lasse ein Brausen vernehmen. Da nun diese Stöße nach der ausnahmslosen Ueberzeugung aller Forscher nur von der unterirdischen Lava ausgehen konnten, welche schon durch den Ausbruch zur Zeit der theoretischen Hochfluth ihre Empfindlichkeit den Mondanziehungen gegenüber verrathen hatte, so wurde es mir klar, daß der Typus einer Erdbebenkatastrophe sich von jenem eines vulkanischen Ausbruchs nicht unterscheide und beide Arten von Naturerscheinungen identificirt werden müßten, somit die Erdbebenkatastrophe ein Vulkanausbruch sei, der sich in großen Tiefen unter der Oberfläche vollzieht. Es blieben dann nur noch zwei Fragen übrig; erstens: verrieth sich der innere Aufruhr der Lava zur Zeil des Aetnaausbruches auch durch stärkere Erderschütterungen an weit entfernten Orten als ein allgemeiner, wie es die Fluthanziehung des Mondes verlangt? und zweiten: wie sind die sekundären Stöße zu erklären?

In ersterer Beziehung ist es jedenfalls auffallend, daß am 25. August in Nafram am Nordabhange des Kaukasus ein Erdbeben so heftig auftrat, daß Schornsteine einstürzten, wobei wieder zahlreiche, schwächere Stöße folgten, und daß am 26. August ein Erdbeben, welches Häuser schwanken machte, auf Portorico sich ereignete. Den Zusammenhang des Verhaltens der Lava am Aetna mit den Erdbebenerscheinungen auf der Erde überhaupt beweist übrigens am besten der große allgemeine Paroxysmus, welcher an den Tagen um den 25. Oktober, genau mit der größten Fluthkonstellation des Jahres 1874 übereinstimmend, die Erde ergriff. Auf diese Konstellation hatte der Verfasser bereits im Märzhefte seiner Zeitschrift „Sirius“ hingewiesen. Sie zeichnete sich dadurch aus, daß am 23. Oktober der Aequatorstand, und am 25. Erdnähe, Vollschein und Finsterniß des Mondes eintrat, und zwar war die Erdnähe die größte im ganzen Jahre. Nun traten nach längerer Ruhe am 23. und 24. Oktober am Nordabhange des Aetna die Erdstöße neuerdings auf; am 24. Oktober setzte ein heftiger Erdstoß zu Clana im Küstenlande drei Sekunden lang alles in Bewegung, mit dem 24. Oktober begannen die Erderschütterungen am Vesuv besonders zahlreich zu werden; am 26. Oktober ereignete sich ein Erdstoß in Yokohama und am nämlichen Tage ein großes Erdbeben in Chile, welches dreißig Sekunden andauerte und von Copiapo bis Talka reichte.

Die zweite Frage wurde bisher in dem Sinne beantwortet, daß man die sekundären Stöße nach einer Eruption einfach einer durch Verstopfung des Schlotes herbeigeführten gewaltsamen Unterbrechung der Ausbruchsthätigkeit zuschrieb. Wenn diese Erklärung richtig wäre und das Anschlagen der empordringenden Lava oder ihr Druck die Erschütterungen erzeugte, dann müßten diese unmittelbar vor dem Ausbruche, wo der Auftrieb am heftigsten ist, am stärksten und zahlreichsten eintreten. Dies ist aber thatsächlich nirgends der Fall; und wenn man sich bisher der Meinung hingab, daß eine Eruption in der Regel durch vorausgehende Erdstöße angekündigt würde, so befand man sich damit in einem Irrthum, für welchen oberflächliche Berichterstattungen die Verantwortung tragen. Heftige und zahlreiche Erdstöße in den kürzesten Zwischenräumen treten nicht vor, sondern nach der Eruption ein. Diese letztere ereignet sich in den meisten Fällen völlig plötzlich, wofür auch die Geschichte des Aetna zahlreiche Belege bietet. Wie bei den Katastrophenbeben, so haben auch bei den Eruptionen angebliche Beobachtungen vorausgehender Erdstöße stets einen sehr zweifelhaften Charakter, während die Mittheilungen über die nachfolgenden Stöße eine allseitige Bestätigung erfahren.

Eine zutreffende Erklärung dieser Erschütterungen liefert uns das Verhalten der Lava, wenn sie von dem Drucke des überlastenden Dampfes befreit wird. Der Verfasser hatte Gelegenheit, dieses Verhalten selbst zu beobachten, und die Mitteilungen anderer Forscher stimmen damit völlig überein. Es entwickeln sich nämlich aus der Lavamasse zahlreiche Gase und Dämpfe, welche im verstopften Schlote sich dann über die Oberfläche der Lava lagern und durch ihren Spannungsdruck auf dieselbe derartig rückwirken, daß die Ausscheidung nur allmählich und ohne Erschütterungen geschieht. Ist dagegen der Schlot geräumt, so verflüchtigen sich die ausscheidenden Gase; ein Druck auf die Oberfläche der Lava ist nicht mehr vorhanden, weshalb nun diese Ausscheidungen mit großer Heftigkeit vor sich gehen. Blase um Blase windet sich durch die ganze Lavasäule hindurch von unten nach oben, und jede derselben zerplatzt, an der Oberfläche angelangt, unter heftiger Explosion, wodurch Schlacken von Lava und flüssige Theile derselben in bedeutende Höhen geschleudert werden. Da die Blasen rasch nach einander folgen, so wiederholen sich diese Explosionen beständig und in regelmäßigen Zwischenräumen. Und wenn dann ab und zu einmal eine dieser Explosionen wieder heftiger auftritt, dann fühlt man auch, wie der Boden unter den Füßen erzittert. Hierin liegt ganz unverkennbar die Ursache der zahlreichen Erdstöße nach einer Eruption. So lange nun die Lava sich im Berge noch über dem Niveau der umliegenden Ebene befindet, werden die von ihrer Oberfläche ausgehenden Stöße nur die Wände des Kegels treffen und sich daher auch nur einem auf demselben stehenden Beobachter, nicht aber den Bewohnern der umliegenden Ebene bemerkbar machen. Sinkt aber die Oberfläche der Lava bei ihrem Zurücktreten aus dem Kegel des Vulkans unter das Niveau der umliegenden Ebene, so wird die ganze Umgebung die zahlreichen Explosionsstöße empfinden; es werden einige Stunden oder, wenn das Sinken sehr langsam erfolgt und der Kegel des Vulkans sehr hoch ist, einige Tage nach der Eruption zahlreiche und heftige Erdbeben eintreten. Diese sind also nicht die Vorbereitung, sondern die Folge einer Eruption.

Schließen wir nun alle oben angeführten charakteristischen Erscheinungen, welche bei Erdbeben beobachtet werden, in den Umkreis unserer Schlußfolgerung ein, so kommen wir zur Erkenntniß, daß das Phänomen der Katastrophenbeben mit allen seinen Einzelheiten vollständig den Erscheinungen gleicht, welche auftreten würden, wenn unter der Erdoberfläche in bedeutenden Tiefen ein vulkanischer Ausbruch stattfände, und zwar an einem konstant hier befindlichen Herde, der sich nur allmählich in größeren Zwischenräumen ladet und nach seiner Entladung auf lange Zeit ungefährlich ist und wobei, wie ausdrücklich betont werden muß, die Zeit des Durchbruches nicht allein von der Stärke des Druckes der Lava, sondern auch von dem unberechenbaren Widerstande abhängt, welcher dem endlichen Durchbruche derselben entgegengesetzt wird. Bei sehr bedeutendem theoretischen Hochfluthwerthe wird es allerdings, wie die Erfahrung zeigt, in der Nähe des Jahresmaximums selten ohne Katastrophe abgehen.

Was Deutschland betrifft, so waren die stärksten Erdbeben aus jüngster Zeit der Stoß vom 6. März 1872, welcher von Breslau bis Wiesbaden und von Hannover bis Hechingen die Erde bewegte, und jener vom 26. August 1878, welcher ein Gebiet von mehr als 2000 Quadratmeilen erschütterte.

Vergleichen wir nun die an diesen beiden Tagen eingetretenen Konstellationen, so bleibt über ihren Zusammenhang mit dem unterirdischen Hochfluthen kein Zweifel übrig. Es war nämlich:

1872. 6. März Erdnähe
1872 9. März Neumond
1872 11. März Aequatorstand
1878. 28. August Neumond.
1878 29. August Erdnähe
1878 – August Aequatorstand.

Wie der Leser jetzt deutlich erkennen wird, baut sich die Theorie des Verfassers nicht aus bloßen Vermuthungen auf, sondern gründet sich auf die sorgfältige, mathematisch-physikalische Erörterung eines reichen Erfahrungsmaterials, das sich noch fort und fort vermehrt.

[249]
Aus dem Leben des Kaisers Wilhelm I.[1]
(Fortsetzung.)
Deutscher Kaiser und Friedenfürst.

„Ein Jahrzehnt erst trägst du die Königskrone der Väter,
      Jubelnd bietet man dir, Kaiser, die Krone des Reichs!
Heil uns, daß du sie nahmst! Wen könnte sie würdiger schmücken?
      Frage die Fürsten im Kreis, alle sie huldigen dir,
Der ein Held du zugleich und erster Bürger des Staates,
      Pflichtstreng gegen dich selbst, anderen gütig und mild.
Mäßig im Siege dereinst, nun schirmst du den Frieden der Erde,
      Nimmer ermüdend daheim, rüstig zu krönen den Bau.

Die jeden Einzelnen über das gewöhnliche Alltagsgefühl so hoch hinaustragenden mächtigen Erschütterungen und hinreißenden Erfolge der großen Zeit von 1870 übten nach allen Seiten ihren läuternden Einfluß. Wie Schneeflocken in der Frühlingssonne schmolzen jahrhundertalte Vorurtheile im strahlenden und erwärmenden Lichte der Gegenwart. Die Waffenbrüderschaft dieses gewaltigen Krieges tilgte die letzten Reste veralteter Stammesgegensätze.

„Bei Wörth und an der Seine Bord
Ward heil’ger Bund geschlossen:
Da ist das Blut von Süd und Nord
In einen Strom geflossen.“

Die Enthüllungsfeier des Niederwalddenkmals.
Originalzeichnung von H. Lüders.

Und hinter den Bevölkerungen blieben die Fürsten und Regierungen Deutschlands nicht zurück. So konnte denn schon am 18. Januar 1871 Mittags 12 Uhr im Spiegelsaale des Versailler Schlosses König Wilhelm unter dem Jubel der versammelten preußischen Prinzen, Fürsten, Feldherren, Minister und der durch 56 Fahnendeputationen vertretenen Angehörigen aller Gattungen des deutschen Volkes in Waffen zum deutschen Kaiser ausgerufen werden:

„Laßt flammen die Feuer, die Fahnen laßt wehn:
Du, Traum unsrer Väter, nun sollst du erstehn!
Unter Donnerhall, unter Glockenlaut
Gab heute sich Deutschland dem Kaiser zur Braut!“

Dem Bundeskanzler Grafen Bismarck, dessen staatsmännisches Genie, nationaler Sinn und eiserner Wille so Großes zur Vorbereitung dieser höchsten Ehrenstunde für seinen königlichen Herrn beigetragen, war die schöne Aufgabe zugefallen, die Proklamation „An das deutsche Volk“ zu verlesen. Dieselbe schloß mit den Worten: „Uns aber und unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.“

Wie alle seine Gelöbnisse hat Kaiser Wilhelm auch das vorstehende bis zum letzten Athemzuge vor Augen gehabt und in jedem Worte treu gehalten! –

Der Jubel Berlins, der jetzt zur Reichshauptstadt erhobenen preußischen Residenz, bei der Heimkehr des Kaisers aus Frankreich am 17. März 1871 spottet jeder Beschreibung.

Nach Abschluß des Friedens mit Frankreich ging es alsbald wieder an die kurze Zeit unterbrochene innere Arbeit, gemäß dem am 21. März bei Eröffnung des ersten Deutschen Reichstages vom Kaiser selbst gesteckten Ziele, wonach „die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein möge, sich in dem Wettkampfe um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen“. So reich an Thätigkeit und Erfolgen auf dem Gebiete des inneren Ausbaus wie der äußeren Politik ist dieser letzte Abschnitt im Leben des Kaisers, daß wir darauf verzichten müssen, hier auch nur eine Aufzählung, geschweige denn eine ins Einzelne gehende Darstellung derselben zu versuchen.

Der Lebensabend unseres entschlafenen Kaisers wurde namentlich von zwei Aufgaben, welche er als die wichtigsten zur Festigung [250] des Reiches betrachtete, ausgefüllt: möglichste Entwicklung und Ausbildung der deutschen Wehrkraft zum Schutze des Vaterlandes gegen Angriffe von außen und möglichste Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen auf gesetzlichem Wege. Die so eigenartig gestaltete deutsche Sozialpolitik ist seiner persönlichsten Inangriffnahme zu verdanken. Den äußeren Anstoß hierzu gaben die das ganze Volk mit höchster Entrüstung und Abscheu, den Kaiser aber mit tiefschmerzlichsten Empfindungen erfüllenden Verbrechen eines Hödel und Nobiling am 11. Mai und 2. Juni 1878. Nach dem zweiten Attentate erschien der Zustand des von den Geschossen Nobilings schmachvoll verwundeten greisen Herrschers wegen des erlittenen starken Blutverlustes immerhin bedenklich. Durch Verordnung vom 4. Juni wurde daher dem damaligen Kronprinzen die Stellvertretung des Kaisers und Königs in der oberen Leitung der Regierungsgeschäfte übertragen. Die kernhafte Natur, die aufopfernde Pflege der Kaiserin und der Großherzogin von Baden ließen den Monarchen, wenn auch langsam, die Folgen der Verwundungen überstehen. Heldenhaft und selbstlos, nur von der Sorge für das Staatswohl und die Seinigen geleitet, erwies sich auch in dieser schweren Prüfungszeit der Kaiser wieder. Im Juli war die Genesung bereits soweit vorgeschritten, daß er nach Babelsberg übersiedeln konnte, wo er in den stillen schattigen Gängen des von ihm selbst angelegten Parks, wie so oft, auch diesmal wieder für Gemüth und Körper Erquickung und Stärkung fand. Schon am 29. Juli durfte er zur Kur nach Teplitz abreisen, wo er den Besuch des Kaisers von Oesterreich empfing. Nach weiterer Kur in Gastein, Baden-Baden und Wiesbaden kehrte er endlich nach fünfmonatiger Abwesenheit, neu für seinen Herrscherberuf gekräftigt, nach Berlin zurück.

So viel glänzende und begeisterte Einzüge in seine Hauptstadt Kaiser Wilhelm auch erlebt hatte – wärmer, inniger und jubelnder ist der Empfang, sinniger waren die Beweise der Liebe, die Art der Ausschmückung, strahlender und allgemeiner ist abends die Erleuchtung der Häuser bis in die entlegensten Straßen noch nie gewesen wie am 5. Dezember 1878! Durch seinen Sinn aber zog in diesen bewegten Stunden nur der eine Gedanke, wie dies Volk, welches ihn so liebte, auch in sozialer Hinsicht gehoben werden könnte.

Von dieser Zeit an reiften in der Reichsregierung die Pläne für den Ausbau jener organischen Gesetzgebung zum Schutze und zur Verbesserung der Lage der Arbeiter, mit welcher das Deutsche Reich allen anderen Staaten zu leuchtendem Beispiel voranschreitet und für welche Kaiser Wilhelm in seinen berühmten Botschaften vom 17. November 1880 und 14. April 1883 mit größter Energie und Herzenswärme eintrat.

Der Manöverwagen des Kaisers Wilhelm I.

Welcher Förderung Handel und Gewerbe – seit 1884 auch die junge Kolonialpolitik des Reiches – sich unter der Friedensregierung des Kaisers bis zuletzt zu erfreuen hatten, ist allbekannt. Einem zugleich dem deutschen und internationalen Schifffahrtsverkehr wie der Verstärkung unserer Wehrkraft zur See dienenden Zwecke entsprang der Plan des zum Theil aus Reichsmitteln zu bauenden Nord-Ostseekanals, dessen Grundsteinlegung zu Holtenau bei Kiel am 3. Juni 1887 unter einer der nationalen Bedeutung entsprechenden Feierlichkeit in Gegenwart des Kaisers vor sich ging. Damit war endlich ein großes Werk begonnen, dessen Ausführung bis zur Einigung des Vaterlandes als ein in unerreichbarer Ferne schwebendes Ziel patriotischer Wünsche erschien. – Es sei hier die Erwähnung der Fertigstellung und Einweihung eines Denkmals angeschlossen, welches ebenfalls lange Zeit als unvollendetes Wahrzeichen der vergeblichen deutschen Einheitsbestrebungen betrachtet wurde. Wir meinen den Kölner Dom.

Die Schlußsteinlegung in der Kreuzblume des südlichen Domthurms war vom Kaiser aus Pietät gegen seinen Bruder Friedrich Wilhelm IV., der das Dombauwerk so mächtig gefördert hatte, auf den 15. Oktober, den Geburtstag des verstorbenen Königs, im Jahre 1880 angesetzt worden. Von dem auf dem Domplatz errichteten Kaiserzelte aus sah Wilhelm I., umringt von vielen deutschen Fürsten, umwogt von einer zahllosen festlichen Menge, erwartungsvoll dem feierlichen Augenblick entgegen, wo die im Südthurm hängende Kaiserglocke, als Zeichen, daß das Riesenwerk vollendet, zum ersten Mal ihre gewaltige eherne Stimme ertönen lassen würde, verkündend:

„Des Reiches erzener Herold nun
Die Wacht am Rhein verseh’ ich;
Daß am heimischen Herde die Völker ruhn,
     Auf heil’ger Warte steh’ ich!
Niemals im Hader der Partei’n
Soll meine Stimm’ erschallen;
Ich ruf im Fest- und Friedensschein
All-Deutschland in die Hallen.
Vom hochaufstrebenden Glockenthurm;
Weit über die Lande seh’ ich;
Ich übertöne Kampf und Sturm;
      Dem Deutschen Reich erfleh’ ich:
           Daß Fried’ und Wehr
           Ihm Gott bescher’!“

„Fried’ und Wehr!“ Für beides war Kaiser Wilhelm bis zu seinem Ende unermüdlich thätig. In letzterer Hinsicht begnügte er sich nicht nur, auf gesetzlichem Wege die Heer- und Wehrordnung immer mehr zu verbessern, sondern ohne jede Schonung seines alternden Körpers pflegte er auch den praktischen Militärdienst durch alljährliche Abhaltung von Besichtigungen, Paraden und Manövern wechselnd in den verschiedenen Provinzen und deutschen Ländern. Bei diesen Veranlassungen besuchte der Kaiser auch wiederholt die Reichslande Elsaß-Lothringen, so 1877, 1886, und es gelang ihm auch hier, sich die allgemeinen Sympathien für seine hoheitsvolle und herzgewinnende Persönlichkeit zu erringen. Die Rüstigkeit des Kaisers und sein nach wie vor scharfer militärischer Blick strafte die Aeußerung Lügen, welche er im Bedauern darüber, daß er nicht mehr reiten könne, 1886 zu einem höheren Offizier scherzend gethan haben soll: „Wenn ich ein gewöhnlicher General wäre, so hätte ich schon längst den Abschied!“

Kaiser Wilhelm bediente sich, wie hier erwähnt sein möge, während der letzten Lebensjahre, um den Mangel der Reitfähigkeit auszugleichen, eines eigens für ihn gebauten Manöverwagens, dessen sinnreiche Einrichtungen ihm ermöglichten, lange Zeit, ohne zu ermüden, stehend die Paraden und großen Truppenübungen mit seinem nimmermüden Feldherrnauge zu verfolgen und zu überwachen.

Unter den sich während der letzten beiden Jahrzehnte im Leben des Kaisers drängenden militärischen Gedenktagen war der 1. Januar 1887, welcher sein achtzigjähriges Militärdienstjubiläum brachte, der bedeutungsvollste. Der Kronprinz entbot zu diesem Tage an der Spitze der Generale seinem königlichen Vater und Kriegsherrn den Gruß des ganzen Heeres. Hiernach schloß der Kaiser den Sohn bewegt in seine Arme. Dann ging er auf den Feldmarschall Moltke zu, umarmte auch diesen in herzlichster Weise und dankte ihm für seine unvergleichlichen Dienste. Beim Festmahle trank er zum Abschiede auf die Armee, indem er die Hoffnung ausdrückte, daß sie immer das bleiben werde, was sie bisher gewesen und bis jetzt sei, wenn sie auch weiter festhalte an den drei Grundsäulen ihrer Tüchtigkeit. „am Ehrgefühl, an der Tapferkeit, am Gehorsam!“ –

„Fried’ und Wehr!“ Sehen wir nun in zusammenfassendem Ueberblick auch, wie Kaiser Wilhelm für das erste köstliche Gut sorgte, wie er nach einer durch kriegerische Erfolge zu Gunsten Deutschlands bewirkten gewaltigen Machtverschiebung doch kein anderes Streben im Auge hatte, als dem Deutschen Reiche eine ungestörte Entwickelung und Europa den allgemeinen Frieden zu bewahren.

Schon sofort im Sommer des Jahres 1871 begann die Friedensarbeit des Kaisers, in welcher er vom Fürsten Bismarck in so genialer Weise unterstützt wurde. Der gleichzeitige Aufenthalt beider in Gastein wurde zur Wiederherstellung intimerer [251] Beziehungen mit dem österreichischen Kaiserstaate benutzt, wozu schon die maßvollen Bedingungen des Prager Friedens den Weg erleichtert hatten. Zwischen den Bevölkerungen Deutschlands und Oesterreichs ist ja die Stammessympathie stets lebendig geblieben. Die Trennung war schmerzlich, aber nach der ganzen Gestaltung der vielsprachigen habsburgischen Monarchie politisch notwendig und die blutige Auseinandersetzung von 1866 nur gegen die frühere Wiener Kabinettspolitik gerichtet gewesen.

„Euch Brüdern nimmer galt der Krieg,
Nur jetzt vergeßnen Tücken! –
Habt Dank, daß ihr uns dann zum Sieg
So treu gedeckt den Rücken!
Und ob getrennt durch äußre Macht –
Laßt Brust an Brust uns stehen!
Und streitet in der Geistesschlacht,
Wo Deutschlands Banner wehen!“

Gleiche Sorgfalt wurde auf die Erhaltung der guten nachbarlichen Beziehungen zu Rußland gelegt.

In der Zeit vom 5. bis 11. September 1872 zog die Dreikaiserzusammenkunft – welche von einer Zusammenkunft der drei Kanzler, Bismarcks, Gortschakows und des an die Stelle Beusts getretenen Andrassy, begleitet war – die Augen der ganzen Welt nach Berlin. Die hierdurch bekräftigte Friedensliga der drei Reiche übte auch auf andere Staaten, so Italien, große Anziehungskraft aus, wie der Besuch Viktor Emanuels in Berlin im September des folgenden Jahres bezeugte.

Bis zu Ende des russisch-türkischen Krieges blieb das Dreikaiserverhältniß ungetrübt bestehen, und auch nach dem Vertrag von St. Stephano übernahm Fürst Bismarck mit Zustimmung des Kaisers auf dringenden Wunsch Rußlands die Geschäfte eines ehrlichen „Maklers“. Vom 13. Juni bis 15. Juli 1878 tagte der europäische Kongreß zur Lösung der orientalischen Wirren unter Vorsitz des deutschen Reichskanzlers in Berlin. Die Rolle Deutschlands als führende politische Macht, die Stellung Kaiser Wilhelms als Hort des europäischen Friedens war damit allseitig anerkannt.

Aber die Niederlage, welche die Diplomatie Gortschakows durch ihre eigene Unfähigkeit auf dem Kongreß erlitt, und welche dieser – obschon es aktenmäßig festgestellt ist, daß Bismarck alle russischen Anträge unterstützte – der Hinterhaltigkeit des deutschen Reichskanzlers in die Schuhe schob, ward in der Folge die Veranlassung zum langsamen Erkalten der bisherigen Herzlichkeit zwischen den beiden Nachbarn. Es kam so weit, daß Gortschakow geheime Unterhandlungen über ein russisch-französisches Bündniß anknüpfte. Da entschloß Bismarck sich in klarer Erkenntnis der Lage, an die Stelle des seinen Dienst versagenden Dreibunds das Zweikaiserbündniß treten zu lassen.

Sein pflichttreuer Herrscher aber, so schwer ihm die theilweise Abwendung von seinem früheren besten Alliierten und theuren Verwandten auch wurde, fügte sich wie stets auch hier der Forderung, welche die in erster Linie stehende Sicherheit des Reiches an ihn stellte.

Wie scharf die Leiter der auswärtigen deutschen Politik damals in die Zukunft geschaut hatten, bewiesen am deutlichsten die Enthüllungen der jüngst verflossenen Zeit.

Jenes Vertheidigungsbündniß des Deutschen Reiches mit Oesterreich-Ungarn bildete fortan den festen Kern, um den sich nach und nach die neue große Friedensliga krystallisierte. Wenn die friedliche Entwickelung der europäischen Kulturvölker durch viele Jahre von kriegerischen Unternehmungen verschont wurde, und wenn trotz der gespannten Weltlage auch heute der Friede für lange Zeit gesichert erscheint, so verdankt dies Europa in erster Linie der weisen Politik Kaiser Wilhelms I. und seines treuesten Rathgebers. Italien war die erste Macht, welche den Anschluß an die Friedensliga wünschte und erhielt; Rumänien, Serbien, Spanien und andere Staaten suchten ebenfalls Fühlung mit dem Bande der beiden mitteleuropäischen Kaiserreiche zu bekommen. Die Besuche der fremden Fürstlichkeiten am Hoflager des Deutschen Kaisers zu Homburg v. d. H. im September 1883 legten beredtes Zeugniß hierfür ab. Inmitten einer glänzenden Versammlung auswärtiger gekrönter Häupter und Prinzen, wie der Könige von Spanien und Serbien, der Thronfolger von Portugal und England, der Herzöge von Cambridge und Connaught – deutscher Fürsten, wie des Königs von Sachsen, der Großherzoge von Hessen und Sachsen-Weimar, und der Vertreter fast aller Armeen der Welt nahm Kaiser Wilhelm in Begleitung des Kronprinzen und seiner Enkel, des Prinzen Wilhelm und des Erbgroßherzogs von Baden, die Paraden und Manöver des XI. Armeekorps ab. Er stand auf der Höhe seiner Macht und seines Einflusses in Europa – ein Friedensfürst im vollsten Sinne des Wortes.

Und während der König Alfons von Spanien auf seiner Rückreise über Paris von denn Pöbel Frankreichs ausgepfiffen und als „Ulanenkönig“ beschimpft wurde, ging Kaiser Wilhelm von Homburg auf den Niederwald und enthüllte, umgeben von zahlreichen deutschen Fürstlichkeiten, Vertretern der gesammten Armeen und der Nation unter denn Jubelrufe der Tausende und aber Tausende, welche auf den sonnigen Höhen des Rheingaues, auf den beflaggten Schiffen des grünleuchtenden Stromes dem erhebenden Schauspiel beiwohnten – das Nationaldenkmal zum Gedächtniß der in Frankreich Gefallenen, zur bleibenden Erinnerung an die Heldenthaten der deutschen Heere und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches.

Wahrlich, eine würdigere Antwort auf diese damalige und seitdem, wie oft schon, immer wieder erneute Herausforderung unserer unversöhnlichen Nachbarn jenseit der Vogesen konnte es nicht geben. Auf den Wink des Kaisers fiel die Hülle. Kanonen donnerten, Trompeten schmetterten und tausendstimmig stieg aus dem weiten Rheinthal das Schutz- und Trutzlied der Deutschen, „die Wacht am Rhein“, zur Höhe empor. Droben aber, die in herrlichem Erzbilde enthüllte Germania,

– – sie steht in erhabener Schau,
Als wolle sie Künftiges lesen –
Zu Füßen des Rheines leuchtender Gau,
Fern dämmernd die ernsten Vogesen.
So hält sie im Frieden die heilige Wacht –
Doch ruft man sie frevelnd zum Kriege,
Dann steigt sie gerüstet hernieder zur Schlacht
Und führt uns von neuem zum Siege.

(Schluß folgt.)




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Josias.
Eine Geschichte aus alter Zeit von Fanny Lewald.
(Schluß.)

Alle unsere Verhältnisse waren von meinem Vater auf das sorgfältigste geordnet. Wir waren reiche Leute. Es haftete keine Schuld auf meinem Gute, außer dem eingebrachten Vermögen meiner Mutter, das ich ihr zu verzinsen hatte. Als das Ende des August und mit ihm meine Mündigkeit gekommen war, legte der Graf mein Vermögen in meine Hände, und ich konnte nach eigenem Ermessen vorwärts gehen. Die Ernte war sehr reich ausgefallen, ich hatte mit einem eigenen Boten einen Erntekranz nach Berlin auf meines Vaters Grab geschickt, geflochten aus den Aehren, zu denen er noch die Saaten hatte streuen lassen, und der Erntetanz und das Erntebier hatten unseren Leuten nicht gefehlt.

Mit dem Beginn des Herbstes gab es mehr und mehr für mich zu thun. Die Bestellung der Felder, der Forst nahmen mich in Anspruch. Ich hatte die beiden letzten Jahre nur mir selbst und dem Genuß gelebt; ich fand jetzt in der Arbeit fast größere Befriedigung als in dem Reiseleben; und betraf ich mich darauf, daß ich nach einem Vorwand suchte, der mich nach Dambow führen konnte, so wies ich ihn zurück. Neben meinen anderen Beschäftigungen spielte ich Komödie mit mir und betrog, wie ich wußte, mich mit tugendhafter Lüge.

Sah ich doch an jedem Sonntag in der Kirche, wie Franull sich immer strahlender entfaltete! Konnte ich sie doch ungestört

[252]

Selig entschlafen. Von W. Kray.
Photographie im Verlage der Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vorm. Fr. Bruckmann in München.

[253] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [254] beobachten, wenn sie die Blicke niedersenkte in das Gesangbuch, wenn ihre Augen sich auf den Pfarrer richteten; aber wenn sie dieselben erhob, wenn sie mich streiften, – nicht wie eine Heilige sah sie aus! Sie war mit ihrem goldgelockten Haar die strahlende, farbenprächtige Aurora, die auf den Bildern der alten Meister mich entzückt – die Aurora, die dem Sonnengott voranzieht, das glorreiche Licht des Tages zu verkünden. Mit meiner Andacht freilich war es schlecht bestellt.

Wir sprachen den Grafen und seine Tochter nach wie vor an jedem Sonntag nach dem Gottesdienste, und da Franull, immer mehr zur Dame werdend, an sicherer Haltung gewann, wurde ganz von selbst unser Verkehr einfach und natürlich. Ich freute mich dessen; denn was sollte daraus werden, wenn sie und ich es einander gegenüber nicht vergessen konnten, daß sie einmal ein Kind gewesen war; wenn ich es überhaupt nicht lernte zu vergessen, wenn ich dem Grafen meine Liebe für die Komtesse verrieth und ihn damit nöthigte, mir den Zutritt zu ihr zu versagen? – Aber mit aller meiner Weisheit und Vernunft stand ich dabei doch immer auf dem alten Fleck! Ich liebte die Komtesse. Ich liebte die Jungfrau mit Leidenschaft, die ich als ein Kind geliebt; doch des Grafen Mahnung hatte ich nicht vergessen. Ich war Herr über mich geworden – und ich blieb es, bis auf die eine letzte Stunde.

Kaum ein Monat verging, in welchem ich nicht ein- oder zweimal nach Dambow kam, und immer fand ich Gäste dort. Sie gehörten meistens den Berliner Adelskreisen an; denn der märkische Landadel, der immer sehr ausschließlich gewesen, war dies seit dem Ausbruch der französischen Revolution nur noch mehr geworden, und der Graf hatte sich demselben nicht genähert, weil er sich der Möglichkeit nicht aussetzen durfte, seine Tochter nicht nach seinen Wünschen aufgenommen zu finden. Es sah so am Ende des vorigen Jahrhunderts ganz anders bei uns aus als jetzt; denn es hat sich viel geändert gleich nach den Freiheitskriegen, in denen alle Stände unter einander in Reih und Glied für das Vaterland gefochten, in denen der verwundete Grafensohn im Bürgerhause, der Sohn des Handwerkers seine Pflege gefunden von der Fürstentochter Händen!

Der Graf hatte, seit er die Tochter anerkannt, sich an eine bestimmte Jahreseintheilung für seine Lebensweise gewöhnt. Im Frühjahr besuchte er Karlsbad; im Winter verlebte er während der Gesellschaftszeit zwei Monate in Berlin, und die Tochter und Madame Fleuron waren dabei seine beständigen Begleiter. Die Komtesse müsse l’usage du monde gewinnen, sagte der Graf. Madame Fleuron, die mit meiner Mutter eng befreundet war, gab zu verstehen, daß er sie natürlich zeitig zu verheirathen denke, damit sie nicht allein stehe in der Welt, wenn er früher oder später abgerufen werden sollte. In ihren Verhältnissen konnte sie so auch eines Beschützers und Haltes weniger entrathen als jedes andere Mädchen, obschon ihr beständiges Zusammenleben mit älteren Personen sie in gewisser Hinsicht, trotz der Lebhaftigkeit ihrer Empfindung, weit über ihre Jahre selbständig und reif gemacht.

‚Und hat der Graf einen bestimmten Gatten für sie im Auge?‘ fragte einmal meine Mutter die Gouvernante.

Madame Fleuron entgegnete, sie wisse das nicht, aber sie glaube, daß eine entfernte Verwandte des Grafen an die Komtesse für einen ihrer Söhne denke.

‚Was hilft das Denken der Mütter,‘ sprach die meine, ‚wenn Gott nicht die Herzen der Kinder lenkt!‘ – und ich hatte keine Mühe zu verstehen, was sie damit meinte. Ich hatte es abgelehnt, eine meiner Kousinen zu heirathen die Tochter des Rechnungsrathes, in dessen Hause ich dereinst gelebt, und ich mußte lächeln als Madame Fleuron tröstend versicherte, was nicht geschehen sei, könne deshalb noch immer werden und der rechte Augenblick erfüllte oft plötzlich, was man vergebens lange erwartet!

Nun, er ist nicht gekommen, dieser Augenblick für mich, aber für die Verwandte des Grafen, welche sich Franull zur Schwiegertochter ausersehen, kam der Augenblick; und wir kannten die Verwandte bereits, sowie den Sohn, für den sie um die schöne reiche Erbin warb.

Schon bei meiner Heimkehr von der Reise hatte ich die Baronin von Klothen einmal in Dambow getroffen. Sie war älter als meine Mutter, dem Grafen irgendwie, aber sehr entfernt verschwägert, eine Frau von sanfter, vornehmer Haltung, mit klugen Augen und freundlichem Ton in der Sprache. Vermögend von Hause her, hatte sie einen Herrn von Klothen geheiratet, welcher Hofmarschall eines der Prinzen und ein schöner Lebemann gewesen war. Er hatte das Vermögen der Frau verspielt, war zeitig gestorben und hatte die Baronin mit ihren drei Söhnen in beschränktesten Verhältnissen zurückgelassen. Mit dem Beistande, welchen der Hof ihr gewährt, hatte sie die Söhne zu braven Männern erzogen. Des Vaters Beispiel hatte ihnen zu einer heilsamen Lehre gedient. Die beiden Jüngeren waren im Militär. Der Aelteste, Baron Hans von Klothen, der viel Sprachtalent besaß und sich eine schöne allgemeine Bildung angeeignet hatte, wurde im Ministerium des Auswärtigen beschäftigt. Er war ein paar Jahre älter als ich und ein schöner Mann.

Die Baronin kam allmählich häufiger zu Besuch nach Dambow und verweilte bei jeder Rückkehr länger. Sie war von zarter Gesundheit, versicherte, die Ruhe thue ihr so wohl; und da sie sich anspruchslos erwies, war sie dem Grafen eine angenehme Gesellschaft, ein gutes Vorbild für Franziska, die sich bald an sie gewöhnte, weil die Baronin sich ihr mit Vorliebe gefällig zeigte. Es währte denn auch nicht lange, bis man in der Pfarre davon sprach, Madame Fleuron denke daran, in ihre Heimath nach der Schweiz zurückzukehren, und die Baronin werde sie ersetzen, weil der Graf eine Dame neben sich haben müsse, die hoffähig sei und seine Tochter an den Hof begleiten könne. Im Rentamte zu Benwitz und in der übrigen Nachbarschaft ging das Gerücht, der Graf werde sich mit der Baronin verheirathen.

Seit ich zum ersten Male den schönen Baron Hans neben Franull gesehen hatte, wußte ich, was ich davon zu halten hatte, und es war das so auch völlig in der Ordnung: es mußte so, es konnte gar nicht anders sein. Ob sie Baron Hans oder einen andern Edelmann zum Gatten nahm – erleben, erleiden mußte ich es einmal.

Die Thatsache, daß Madame Fleuron entlassen wurde, ergab sich bald als richtig. Im zweiten Frühjahre nach meiner Uebernahme von Schönfelde, als wieder die Badereise nach Karlsbad vor der Thür stand, fuhr an einem Nachmittage der gräfliche Wagen bei uns vor, der Diener meldete die Frau Baronin, Madame Fleuron und die Komtesse von Dubimin!

Was hatte das zu bedeuten? – Die Baronin war nie zuvor in unserem Hause gewesen. Franull hatte es seit lange nicht mehr betreten, der Graf war stets allein gekommen und ich hatte mir das zu erklären gewußt; denn Franull hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie Vorliebe für mich hegte, und er kannte ihre Natur und behandelte sie danach.

Die ganze Liebe, welche das arme Kroatenkind für ihn gefühlt, hatte es mit seinem Blute auf die Tochter vererbt, die bei ihrem frühreifen und scharfen Verstande nebenher klar einsah, was sie der Zärtlichkeit ihres Vaters verdankte. Er durfte sicher sein, alles von ihr zu erlangen, wenn er sie nicht durch Strenge an die Wissenskraft erinnerte, die sie ebenso geerbt hatte von ihm, mit dem stolzen Sinn der Grafen von Dubimin, wie von dem Kind des Volkes. – Was war geschehen, das den Grafen bestimmte, von dem bisherigen Verhalten abzuweichen? – Weil ich es nicht enträthseln konnte, regte es mich auf.

Ich eilte, unsere Gäste zu empfangen, auch meine Mutter kam ihnen entgegen. Ich hatte der Baronin den Arm zu bieten; sie sagte meiner Mutter, da sie fortan in Dambow leben werde, habe sie gewünscht, sich ihr als Nachbarin vorzustellen Madame Fleuron sprach von ihrer Abreise und wollte mit diesem Besuche zugleich Abschied nehmen. Es war die Rede davon, die freundliche gegenseitige Gesinnung auch ferner aufrecht zu erhalten zwischen den Hausfrauen von Schloß Dambow und Schönfelde. Es wurde, während wir durch den Garten nach der Mooshütte schritten, viel leeres Höflichkeitsstroh gedroschen. Ich half dabei, wie sich’s gebührte. Die Komtesse ging ruhig nebenher.

Ich athmete auf, als ich die Baronin in die Hütte geleitet, als die beiden fremden Damen sich aus dem Kanapée niedergelassen hatten, als man den Kaffee trank und ich endlich, etwas seitab sitzend mit Franull, sie fragen konnte, was uns die Ehre verschaffe, auch sie einmal wieder bei uns begrüßen zu dürfen.

‚Mein Verlangen hierher zu kommen und die gute Tante Klothen! Ich bin auf Probe in Vakanz!‘ gab sie mir zur Antwort, ohne eine Miene zu verziehen.

[255] ‚Wie soll ich das verstehen, gnädigste Komtesse?‘ fragte ich wieder.

‚Erklären Sie sich’s vorläufig wie Sie wollen! Ich sag’ es Ihnen später!‘

Die Unterhaltung mit den Andern ging daneben ruhig fort, und während mich die Ungeduld verzehrte, wurde mir die Gelassenheit Franulls nur räthselhafter. Nahezu eine Stunde mochte so hingegangen sein, als die Damen sich erhoben, eine Promenade durch den Garten zu machen, den ich in den letzten beiden Jahren nach der Forstseite eröffnet und so weit ausgedehnt hatte, daß er sich parkartig in den Wald hineinzog und verlief. Bei dem Herumgehen war es leicht für mich, an Franulls Seite den Anderen ein Ende voraus und aus dem Hörbereich zu kommen. Als sie das bemerkte, fing sie von selber zu sprechen an.

‚Sie wundern sich, mich hier zu sehen, Herr Courville!‘ sagte sie, ‚aber ich hoffe, Sie werden sich noch mehr gewundert haben, mich hier nicht gesehen zu haben seit Ihrer Rückkehr. Daran aber trage ich allein die Schuld.‘

‚Sie, Komtesse? Sie wollten also nicht mehr zu uns kommen?‘

‚Ich hatte mir selbst die Möglichkeit dazu verscherzt, durch mein ungehöriges Betragen bei Ihrem ersten Besuche in Dambow, nach Ihres guten Vaters Tod. Ich lerne es leider etwas schwer, mich zu bemeistern; ich tanze dann immer auf dem Seil! Vor Ihnen kann ich das ja sagen!‘ schaltete sie mit einem spöttischen Lachen ein, das sie viel älter erscheinen machte, als ihre sechzehn Jahre. ‚Vor andern betrage ich mich schon völlig comme pur sang. Ich wollte, Sie sähen mich in Berlin!‘

‚Ich bin glücklich genug, Sie hier zu sehen, Komtesse!‘ entgegnete ich ihr. Ich durfte ihr auf dem Weg nicht folgen, den sie eingeschlagen. Ich wollte das Vertrauen des Grafen verdienen, wollte, und das war doch die Hauptsache, mich der Freude nicht berauben, sie auch künftig wieder zu sehen in meinem Hause.

Sie nahm jedoch die Worte, die wie eine leere Höflichkeit klingen sollten, in ihrem wahren Sinne.

‚Und glauben Sie, daß ich nicht ebenso von Herzen froh bin, hier zu sein?‘ fiel sie mir in die Rede mit der Lebhaftigkeit, mit welcher sie zu sprechen gewohnt war. Ich habe lange darnach getrachtet, hierher zu kommen, Ihre Mutter und Sie in dem Garten, in dem Hause wiederzusehen, in welchem ich willkommen und geliebt war, bevor man sich anderwärts entschloß, mich auch nur zu bemerken. Ich sehnte mich förmlich darnach, in das Haus zu kommen, in dem ich meine arme Mutter nicht zu verleugnen brauche, wie ich es ja sonst überall – außer in der Pfarre – thun muß, wenn ich ihr gleich sein will in ihrer Liebe und in ihrem Gehorsam für den besten aller Väter, wenn ich seinem Willen und seinen Plänen nicht entgegenhandeln will. Glauben Sie es mir, Josias! ich tanze auf dem Seil! Aber ich falle nicht hinunter. Wir Dubimins haben feste Köpfe. Um mich soll mein Vater keine trübe Stunde haben!‘

‚Komtesse Franziska! nicht weiter!‘ meinte ich, und Gott weiß, was es mich kostete. ‚Wenn der Herr Graf, die Frau Baronin es hörten, wie Sie die schmerzliche Vergangenheit heraufbeschwören!‘

‚Sind Sie auch pedantisch geworden, wie der Kandidat, wie die gute Fleuron? Wollen Sie mich nicht den Tugendpreis genießen lassen, den Tag, den ich mir von der Tante Klothen dafür errungen, daß ich jetzt ganz comme il faut und durchaus präsentabel bin? Schämen Sie sich, Josias! Könnte ich denn meinen Vater lieben, anbeten, wie ich es thue, wenn ich meine Mutter zu vergessen im Stande wäre? Ich kenne Sie nicht mehr, Josias! Hatten Sie nur Mitleid mit dem Kinde, als es scheel angesehen wurde, und nicht mehr mit mir?‘

‚Mitleid mit Ihnen, Komtesse! die Sie –‘

Sie ließ mich nicht weiter sprechen.

‚Ja, Mitleid mit mir! Trotz all des Glanzes! trotz der Liebe meines Vaters! O, wir haben nicht Zeit, viel Worte zu verlieren, und Sie dürfen mit mir nicht umgehen wie die Männer, die der reichen Erbin huldigen! – In Verhältnissen, wie den meinen, wird man zeitig klug. Ich habe sehen, hören, verstehen gelernt in dem Alter, in welchem andere Kinder mit der Puppe spielen. Ich übersehe meine Zustände sehr klar und ich kenne meine Pflichten ebenso.‘

Diese Seelenstärke hatte ich nicht in ihr vermuthet – aber sie rief die meine auf, so schwer es mir ward, mich zu behaupten.

Ruhig und ernst, als hämmerte mir das Blut nicht in den Schläfen, als zöge mein Herz mich nicht, niederzuknieen vor ihr, sagte ich:

‚Ich weiß das, fühle das ja alles; aber wohin soll Sie’s führen?‘

Sie blieb stehen, sah mich an; dann gab sie mir die Hand. ‚Sie haben Recht!‘ sagte sie; ‚und nun ist’s ja auch gut. Nun habe ich, was ich gewollt, was mir gefehlt hat!‘

Ihr Ton, ihre Mienen waren wie umgewandelt. Sie blickte mir fest ins Gesicht und wiederholte: ‚Nun habe ich, was ich gewollt!‘

‚Und was ist das? Was hat Ihnen gefehlt? Was haben Sie gewollt?‘

‚Ich habe mir’s einmal vom Herzen sprechen wollen, was mir seit lange, und vollends seit ich die Gräfin Dubimin geworden bin, wie eine schwere Last auf dem Herzen gelegen hat, und‘ – sie reichte mir abermals die Hand – ich behielt sie in der meinen – ‚ich habe, wie Sie, nicht Bruder und nicht Schwester, ich habe keine Mutter, keine Kindheits-, keine Jugendfreundin, niemand als meinen Vater. Aber ich weiß es jetzt, ich weiß es ganz bestimmt; jetzt habe ich an Ihnen den Freund gefunden, dem ich mein Herz ausschütten kann, wenn es einmal mir gar zu schwer ist. Sie sind der Freund, der mir gefehlt hat, trotz der Liebe meines Vaters – der Freund in der Noth meines Alleinseins!‘

‚Ihr Freund auf jede Probe!‘ betheuerte ich, ihre Hand an meine Lippen pressend, und ich durfte ihr nicht sagen: ‚ich bete Dich an!‘ Ich durfte ihr nicht die stolze Stirn küssen, nicht die Thränen fortküssen, die in ihren Augen perlten und die sie zu zerdrücken strebte, als sie mit lächelndem Munde, die Hände zusammenschlagend, ausrief:

‚Gottlob! nun ist mir wohl, nun bin ich nicht mehr allein! Ich habe einen Vertrauten, einen Freund! Ach, Josias! Sie wissen nicht, was das für mich heißt und wie ich’s Ihnen danke!‘

Es war gut für mich, daß aus der Seitenallee die drei Frauen heraus- und vor uns hintraten, daß ich ihrem Lob der neuen Anlagen zu begegnen, mich mit ihnen zu beschäftigen hatte, und daß die Anwesenheit unserer Gäste nicht mehr lange währte.

Ich sprach Franull nicht mehr allein; sie sah heiter und zufrieden aus, redete mit voller Unbefangenheit zu mir. Eine Schwester konnte sich dem Bruder gegenüber nicht sicherer und ruhiger betragen. Mir war nichts weniger als brüderlich zu Muthe. Ich war ans Kreuz geschlagen und sollte lächeln! Ich brachte es zu Stande. Ich hielt auch Stich, als meine Mutter mir später von dem Aufsehen erzählte, welches die Schönheit der Komtesse in Berlin erregte; aber die alten Maler, welche uns die lächelnden Märtyrer gemalt, haben sehr wohl gewußt, was sie thaten, wenn sie dieselben meistens von Menschen umgeben dargestellt haben!

Als ich mich endlich allein fand, brach der Schmerz wild in mir hervor. Ich fragte mich wieder und wieder: was ist es mit der Gewalt unserer Liebe, wenn diejenige sie nicht empfindet, der sie geweiht ist, die wir mit aller ihrer Gluth umfassen? Sah, fühlte Franull es nicht, daß sie mein ganzes Dichten und Trachten war? Klang nichts in ihrer Seele wieder von alledem, was die meinige erfüllte? Oder betrog sie sich? Wußte sie alles und wollte sie mir helfen fortzukommen über das Unabänderliche? Ich fand mich nicht zurecht. – Ich bewunderte sie, ich segnete sie, ich grollte ihr, ich nannte sie fühllos! Ich verwünschte alle ihre Bewunderer und Bewerber, Hans von Klothen an ihrer Spitze! Ich verwünschte des Grafen Liebe für seine Tochter, ihre Anerkennung und die ehrbare Bürgerlichkeit meiner Familie. Es stand ja das Alles mir entgegen. Ein Landloser, ein Landstreicher hätte ich sein mögen wie der Kroat, und mit ihr, dem ehrlos geborenen Kinde, fortziehen mögen in die weite Welt, über das Weltmeer hinweg, mir meine eigene Welt, mein Liebesglück, mein täglich Brot und meinen eigenen Namen und meine eigene Ehre zu erringen! Die ganze wilde Phantastik, die tolle Ungerechtigkeit der heißen Leidenschaft hatten sich meiner bemächtigt! Und Franull ging in beglückender und beglückter Kindesliebe ruhig ihres Weges, als hätte sie kein Herz in der Brust! Stützen wollte sie sich an mir, halten wollte sie sich an mir, sich halten an mir! Und ich war selber ein Haltloser, der empörten Sinnes, nur gebunden durch die Macht der Gewohnheit, der Erziehung, in der Tretmühle des Alltagslebens, dies [256] Leben und sich selbst verfluchte, während er, sich selber darob verspottend, an jedem Tage sein Tagewerk abhaspelte, wie es eben als ein gebotenes vor ihm lag.

An jedem Morgen fragte ich mich: wird heute die Nachricht kommen, daß sie der Graf verlobt hat? – Und wenn der Gedanke daran mich genugsam gequält, so wünschte ich: wär’s doch erst geschehen, damit ich Ruhe fände! Aber sie waren im Bade gewesen, heimgekehrt, hatten uns besucht, wir hatten den Besuch erwidert, und alles war still, war geblieben wie bisher, und es kamen sogar weniger Gäste in das Schloß als in den beiden letztverwichenen Jahren; denn die wachsenden Schrecken der französischen Revolution nahmen dem grundbesitzenden Adel das Gefühl der Sicherheit, in welchem er bisher überall und vornehmlich bei uns in der Mark gelebt. Was jenseit des Rheines geschehen war, konnte auch bei uns geschehen. Wie von einem fernen, furchtbaren Erdbeben fühlte man den eigenen Boden unter den Füßen mit erzittern, und die großen Weltereignisse, ebenso wie das Stillleben, das mich für den Augenblick umgab, fingen doch an, mich allmählich zu beruhigen. Wie nach einem hitzigen Fieber kam ich zur Besinnung. Ich nannte mich einen Thoren, daß ich mich und mein Glück so wichtig genommen! Was war der Einzelne werth! Was war an mir gelegen, wenn ein Herrscherpaar enthauptet worden war, wenn täglich Bessere, Wichtigere als ich ihr Leben lassen mußten auf offenem Platze unter Henkers Hand!

Nun gut! Ich war nicht glücklich! Ich konnte es nie werden! Aber weshalb sollte ich mich des Guten, das ich noch genießen konnte, nicht erfreuen? Ich konnte jetzt sie öfter, immer öfter sehen! Der Graf, der sich wieder an Geselligkeit gewöhnt, sah mein Kommen gern, forderte mich dazu auf; Franulls heiterer Gleichmuth machte ihn sicher, wiegte mich ein. Ich fing an, mir in der Entsagung zu gefallen; ich bildete mir ein, meine Leidenschaft in einen Kultus verwandelt zu haben. Es waren sanfte, schöne, glückselige Tage voll lauter Selbstbetrug, und es war niemand, der uns darin störte; am wenigsten die Baronin, die gute Tante Klothen, wie sie ein Jeglicher im Hause, so in der ganzen Gegend hieß.

Die beiden jüngeren Söhne der Baronin standen im Heere jetzt an der Grenze; Baron Hans war schon vor Jahr und Tag als Legationssekretär der Gesandtschaft in Wien beigegeben. Er schrieb sehr regelmäßig. Die Briefe wurden im Schlosse viel besprochen, die Berichte von dem Leben am österreichischen Hofe, die Schilderungen der verschiedenen Personen waren sehr interessant; die Grüße an die Komtesse, an die holdselige gnädige Kousine, an den schönen Wildfang, fehlten nie. Ab und zu, wenn die Entsendung eines sich gefällig erweisenden Kuriers es ermöglichte, überschickte Baron Hans seiner Mutter ein Geschenk, und es lag dann irgend eine elegante Kleinigkeit dabei, von welcher der Absender erhoffte, daß Komtesse Franziska es nicht verschmähen würde, sie anzunehmen; und diese Zwischenfälle erregten stets Freude, wie jede Abwechslung in dem gleichförmigen Dasein auf dem Lande. Ich sah und erfuhr das Alles. Manchmal, wenn ich meine ruhigen Tage hatte, nahm ich’s wie ein Selbstverständliches hin; an anderen Tagen, wenn Franulls Zutraulichkeit meine Leidenschaft mehr als sonst erregte, fand ich es unerträglich, neben ihr den Tag der Entscheidung erwarten zu sollen. – Nun ist’s genug! Heute bist Du zum letzten Male in Dambow gewesen! sagte ich mir, wenn ich sie verlassen. Und ehe die Woche zu Ende war, fand ich mich auf dem alten Punkte, die Tage zählend, die seit meinem letzten Besuche im Schlosse verstrichen waren, und überlegend, wann die gebotene Zurückhaltung es mir gestatten würde, wieder gen Dambow zu reiten und sie wieder zu sehen. Das Ende stand so doch vor der Thür bald genug; aber von den in Paris zum Tode Verdammten drängte sich so auch keiner dazu, die Guillotine zu besteigen! Jeder Tag, jede Stunde des Ausschubs war Gewinn und Glück!

Und so ward es noch einmal Sommer und Herbst und Winter und Frühling, und wie unser Herrgott seine Sonne scheinen ließ über Gerechte und Ungerechte und über all mein Glück, all meine Verzweiflung, so ließ er es auch wachsen und gedeihen um uns her, und Franull blühte in ihrem achtzehnten Jahre schön wie die Natur um sie her! Und in Dambow stand die Karlsbader Reise vor der Thür. Sie sollte wie immer am ersten Juni angetreten werden, am neunundzwanzigsten Mai fuhren meine Mutter und ich nach Dambow, die Herrschaften noch einmal zu sehen, bevor sie gingen.

Dort angelangt, fanden wir den Grafen nicht zu Hause. Er war zu einer Taufe in der Nachbarschaft und wurde erst am Abend zurückerwartet. Wir wurden wie immer herzlich empfangen, erfuhren gleich bei der ersten Unterhaltung mit den Damen, daß die Baronin und die Komtesse, seit wir sie zuletzt gesehen, in Berlin gewesen waren, Einkäufe an Kleidern, Putz und Schmuck zu machen; und während die Baronin meiner Mutter eine und die andere dieser Herrlichkeiten zum Ansehen herbeiholen ließ, schlug die Komtesse mir vor, in den Garten hinauszutreten.

Das war oftmals geschehen, seit sie mich zu ihrem Vertrauten gemacht. Sie hatte dann in aller Seelenruhe mit mir von jenen kleinen Ereignissen geplaudert, die sich zugetragen; sie hatte auch von den Büchern gesprochen, mit denen sie sich grade beschäftigt; ab und zu war von den Hilfsleistungen die Rede gewesen, mit welchen der Graf jetzt mehr noch als zuvor sich seiner Unterthanen annahm, und bei denen er die Baronin und die Komtesse sich zur Hand gehen ließ, um eben ein gutes Verhältniß zwischen der Herrschaft und den Leuten fortbestehen und die Leute nicht aufsässig werden zu machen; und von dem Allen hatten wir verhandelt, als wäre ich wirklich ihr ein Bruder, nur ein Bruder … nicht aber ich!

An dem Abende jedoch waren wir schon ein ganzes Ende vom Schlosse entfernt, ohne daß sie ein Wort gesprochen, und mir war es gleich am Anfang aufgefallen, daß ein Schatten über ihrer Stirn lag. Sie war trotz ihrer Freundlichkeit ernster gewesen, als sie sich zu zeigen pflegte. Es überfiel mich eine Bangigkeit. Ich mußte wissen, was es mit ihr war.

‚Sie sind so schweigsam, theuerste Komtesse! Darf ich fragen, was Sie innerlich beschäftigt? Denn beschäftigt sind Sie!‛ sagte ich.

,Wie Sie mich kennen!‛ entgegnete sie mir, sah aber zu Boden, nicht mir ins Gesicht. ,Es ist wirklich eine Fügung Gottes, daß Sie grade heute noch gekommen sind, denn ich wäre sehr ungern fortgegangen, ohne daß Sie’s wußten; und seit all den Tagen habe ich gesonnen und gesonnen, wie ich es Ihnen kundthun sollte; denn Ihnen schreiben konnte ich doch nicht!‛

‚Sie wollten mir schreiben, daß Sie am ersten Juni reisen werden? Das stand ja fest, als ich die Ehre hatte, Sie zum letzten Mal zu sehen!‛

‚Nein! das nicht!‛ sprach sie mit einer Befangenheit, die mich mit ergriff und mich erschreckte.

‚Aber was dann? was dann wollten Sie mir schreiben?‛

‚Was Sie –‛ ihre Stimme wurde immer weniger sicher – ‚was Sie, Courville! – Sie, der Sie mich kennen – ja – mein Vertrauter, mein vertrauter Freund sind! Wissen mußten Sie’s vor allen Anderen.‛

‚Reden Sie! reden Sie! was soll ich erfahren?‛ rief ich mit angstvoll dringender Bitte. Ich konnte ja nicht zweifeln, was es war.

Sie stockte, nahm sich zusammen und sagte: ‚Es ist eigentlich kindisch, daß man so davor bangt, so etwas auszusprechen etwas, was sich die Spatzen auf den Dächern schon lang erzählt haben.‛ Und wieder stockte sie.

Wie um mich, um sie zu halten, hatte ich ihre Hand ergriffen. Mir schauderte vor dem Wort, das ich hören mußte. Sie hielt meine Hand in der ihren fest.

‚Ich sehe, Sie wissen’s!‛ begann sie aufs neue, ‚also kann ich kurz sein! Wenn wir nach Karlsbad kommen, finden wir den Vetter Klothen schon dort, und – dann – nun Sie wissen’s ja! Dann wird unsere Verlobung gefeiert!‛

‚Franull! Franull!‛ schrie ich auf, meiner selbst nicht mächtig; aber in demselben Augenblicke hing sie an meinem Halse, preßten wir Brust gegen Brust, brannten meine Lippen auf den ihren, und bebend unter meinen Küsten, rief sie: ‚Ich hab’s ja nicht gewußt, nicht geahnt! – Wie konnte ich, da es ja immer, immer so gewesen ist!‛

‚Franull!‛ rief ich wieder, ‚immer! immer so gewesen!‛ Ich kannte sie, mich selber nicht mehr … Der jähe Wechsel war zu groß!

‚Immer! immer!‛ sprach sie mir nach. ‚Ja! jetzt weiß ich’s! jetzt! Ich habe Dich geliebt, geliebt wie die Augen in meinem Kopfe, ohne je daran zu denken, daß ich sie habe. Und weil’s immer so gewesen, hab ich’s nicht bemerkt! Es war [257] mit mir geboren, glaub’ ich! mit mir geboren wie die Liebe für meinen Vater!‛

Sie ließ die Arme sinken, machte sich von mir los – ich wollte sie halten.

‚Laß mich! laß mich!‛ stieß sie hervor. ,Mein Vater! ach! mein Vater!‛ und heiße Thränen entströmten ihren Augen.

Wie ein Blitzstrahl war das Wort niedergefahren zwischen ihr und mir.

‚Er wird nicht unerbittlich sein!‛ sagte ich trotz der Gewißheit, daß er’s sein würde.

Es war uns nicht zu helfen.

‚Er wird unerbittlich sein, er muß es sein!‛ sagte Franull. ‚Ich habe ihm, er hat dem Vetter sein Wort gegeben! Ich, grad’ ich darf meinem Vater mein Wort nicht brechen, und er bricht auch das seine nicht. – Andere Töchter mögen’s können! Aber es ist nicht zwischen mir und meinem Vater wie zwischen andern! Oder könntest Du mich lieben, könnte ich vor ihm, vor Dir die Stirn erheben, wenn ich ehrlos handelte gegen ihn, der mir mehr gegeben als das Leben, der mir seine ganze Liebe gegeben, seine Ehre, seinen Namen? Der sein Leben neu auferbaut hat in seiner Liebe für meine Mutter und für mich?‛


‚Und mit der Liebe, die Du, Du Abgott meiner Seele, mir eingestehst, mit der Leidenschaft, die uns durchzittert in dem seligen Augenblick, den Du geruht an meiner Brust, mit dieser Liebe willst Du Dich einem Anderen anverloben, willst Du das Weib werden eines Anderen?‛

‚Mach’ mich nicht wahnsinnig!‛ flehte sie, die Hände zusammenschlagend und wie im Gebet zu mir erhoben.

‚Besinne Dich!‛ mahnte ich, auf ihre Liebe bauend, und hoffend – ich wußte nicht worauf; denn daß der Graf sie mir nicht geben würde, darüber konnt’ ich mich nicht täuschen, hätt’ ich’s auch gewollt.

‚Ja!‛ sagte sie, ‚ich besinne mich! ich komme zur Besinnung!‛ Und wieder sank sie mir ans Herz, wieder hielt ich sie umschlungen. Dann richtete sie sich auf, und mit einer Stimme, deren Wehklage in mir nachtönen wird in meiner letzten Stunde, sprach sie. ‚Nun geh – und laß mich gehen!‛

‚Aber was soll denn werden aus Dir, aus mir?‛

‚Was aus mir werden soll? Was zu sein ich eben jetzt vergessen: meines Vaters Eigenthum und Hans von Klothens Frau, zu der er mich bestimmt. Kein Athemzug soll je daran erinnern, daß ich Dich geliebt, daß ich es Dir gestanden, daß ich diesen Augenblick der Freiheit und des Glücks gekannt! Ich muß es vergessen, Dich vergessen – vergiß auch Du!‛

Die gewaltsame Fassung, zu der sie sich zwang mit ihrer jungen Kraft, brachte mich außer mir, ich grollte ihr darüber. Unfähig, den Gedanken zu ertragen, daß sie mich liebend, geliebt von mir, einem Andern angehören solle, rief ich: ‚Franull! bedenke, was Du thust, entehre Dich nicht, unsere Liebe nicht! Thust Du’s, so ist’s mein letzter Tag!‛

Ihre Arme waren schlaff herabgesunken, sie trat vor mir zurück, starren Angesichtes. Sie sah sich selbst nicht ähnlich. Ich rief sie an, sie gab mir keine Antwort. ‚Franull, sprich, Franull! Sage mir wenigstens, daß Du mich hörst!‛

‚Ich darf Dich nicht hören, ich höre Dich auch nicht. Die Franull ist jetzt gestorben. Ich muß sie vergessen, Dich vergessen, diese Stunde! Alles! Alles! Kein Wort mehr zwischen Dir und mir! Und kannst Du nicht leben – nun! Mach’ mich nicht wahnsinnig!‛ rief sie noch einmal, sich selber unterbrechend. ‚Soll ich denn leben mit dem Bewußtsein, Dich in den Tod gejagt zu haben?‛

,Lebe! Lebe! Du Engel meines Lebens!‛ rief ich. ‚Lebe, Franull! Ich will nicht kleiner sein als Du! Ich will leben, weil Du leben mußt! Es soll kein Schatten fallen auf Deine Zukunft! Aber vergessen kann ich nicht! Ich will’s im Herzen tragen für uns beide, will’s bewahren in mir, unser ach! so kurzes leidensvolles Glück! Und nun ein letztes Lebewohl! – Leb’ wohl!“ Und noch einmal hielt ich sie – dann war’s zu Ende!“




Josias fuhr sich mit der Hand über die Stirn und trocknete sich dabei die Augen, die ihm feucht geworden waren.

„Josias! guter Josias!“ rief ich, „ach! nun verstehe ich’s! Nun weiß ich, was Du gemeint, als Du das Wort gesprochen, das mich damals so schwer gekränkt hat, als Du den Werther einen Feigling, einen Deserteur genannt, der sein Leiden höher angeschlagen als das Leiden und als das Glück der Geliebten!“

Er wiegte schweigend das Haupt. Meine Mutter fragte, was meine Worte bedeuteten. Ich hatte es ihr zu erklären, und wie ich es gethan – ich konnte mir nicht helfen, und warum sollt ich’s nicht? – da kniete ich vor ihm nieder und küßte ihm die Hand.

„Recht so!“ sagte die Mutter. „Verdient es einer, daß man ihn mit Verehrung liebt, so ist es unser Freund! – Jetzt erst sind Sie ganz der Unsere, wir die Ihren! – Und nun nur noch das Eine: Wie ward’s danach mit Ihnen? Haben Sie die Gräfin in der That nicht mehr wiedergesehen?“

„In den ersten Jahren sah ich sie nicht! – Ich hatte es zu vermeiden für uns beide. Später habe ich sie oft gesehen, zuerst einmal, als sie an mir vorüberfuhr Unter den Linden, an ihres Vaters Seite, ihr Gatte und zwei schöne Knaben mit einer Wärterin ihr gegenüber – und später bin ich ihr öfters begegnet, noch ganz neuerdings habe ich sie im Theater gesehen mit ihrem Mann, mit ihren verheiratheten Kindern. Das Leben hat eine heilende Kraft und die Narben hören auf zu schmerzen. Daß ich aber über jenen ersten Tag hinweggekommen bin, das ist mir heute noch ein Räthsel.

Als sie mich verlassen hatte, ging sie nach der andern Seite, ohne sich umzublicken, dem Schlosse zu und entschwand mir in der Thür von ihres Vaters Arbeitsstube. Ich sah ihr nach, wußte, daß ich allein sei, und sah sie doch noch immer so deutlich vor mir stehen, daß ich mich halten mußte, nicht die Arme auszustrecken ins Blaue. Mir bangte für meinen Verstand. Ich schaute um mich her! Die Bäume, der Garten, es war alles so


Eine Münchener Japanerin.
Nach dem Oelgemälde von F. Dvorak.

[258] wie sonst – da blinkte etwas an der Erde! Ihr kleiner Ohrring war es! Ich hob ihn auf. Er war ein Heiligthum für mich! Er hatte ihr gehört, sie hatte ihn getragen. Er war mir zugefallen!“

Von der Uhr des Wirthschaftshauses schlug es sieben. Das war die Stunde, zu welcher unser Kutscher den Befehl erhalten hatte, vorzufahren. Ich ging nach dem Balkon vor der Baronin Zimmer, wo wir die Damen verlassen. Ich fand nur meine Mutter.

‚Wo bist Du denn geblieben? Was ist vorgegangen? Die Komtesse ist unwohl aus dem Garten gekommen, hat sich zurückgezogen, ohne bei uns vorzusprechen; die Kammerjungfer ist es der Baronin melden gekommen; sie hat sich zu ihr begeben und ist noch nicht zurückgekehrt. Was ist geschehen? warum hast Du sie nicht hineingeleitet, wenn sie sich nicht gut befunden?‛ fragte meine Mutter in sichtlicher Bestürzung.

‚Sie hat mich geheißen, ihr nicht zu folgen. Es hatte sie plötzlich ein jäher Schmerz in der Brust befallen.‛

Ich fügte weiter nichts hinzu, ich fühlte, daß ich keinen Glauben fand, daß das Mutterauge nicht zu täuschen war. Die Baronin kam dann auch herbei, da das Rollen des Wagens sie gerufen. Sie sprach leichthin über den kleinen Anfall, den wohl die Hitze dem vollblütigen lieben Kinde zugezogen! Sie hatte am wenigsten Grund, mein Bleiben zu wünschen.

Wortkarger hatten wir den Weg von Dambow nach Schönfelde nie zurückgelegt, und wie große Aufregungen den Menschen hellseherisch machen, merkte. ich es meiner Mutter an, daß ihr das Herz befreit war, daß sie in ihrer Liebe und Sorge für mich aufathmete wie nach einem schweren Gewitter, das man lang heraufziehen sehen und das sich nun entladen. Wozu hätte sie auch führen fallen, die Leidenschaft, die ich von früher Jugend an für Franull gehegt? – Es war ein Glück, daß der Graf die Tochter verlobt, daß sie aus unserer Nähe fortkommen würde durch ihre Heirath; weit fort! – Es war die Rede von Klothens Versetzung nach Petersburg! – Es würde doch endlich mit mir von einer schicklichen Heirath zu reden sein, ich würde doch zu Vernunft kommen müssen.

Nichts von dem Allen wurde unterwegs gesprochen! Ich aber hörte das Alles heraus aus meiner Mutter gelegentlichen Bemerkungen während unseres Abendessens. Und bei dem Allen wußte ich im Grunde doch nicht, was ich hörte oder sprach!

Zur Vernunft kommen! Zu Verstand kommen! Ich fühlte nur zu sehr, wie sehr ich’s nöthig hatte, mich zusammen zu nehmen, wenn ich ihn nicht verlieren wollte.

Ich sprach laut mit mir selber! ich weinte! ich warf mich auf mein Lager in der Einsamkeit meines Zimmers und sprang wieder auf! Verachten Sie mich nicht, meine Freundin! Lächle nicht über den Greis, mein Kind! Die Leidenschaft in einer gesunden Seele ist eine dämonische Kraft! – Ich hatte die Pistole in der Hand! Der Gedanke an Franull hielt mich zurück! Es lag so lang, so grau, so öde vor mir, das Leben, das zu leben ich ihr gelobt.

Durch einen Zufall griff ich in die Tasche. Ihr Ohrring kam mir in die Hand. Ich drückte ihn an meine Lippen. Ihr warmes Blut hatte gegen ihn pulsirt, sie hatte ihn lange, lange getragen. Ich preßte ihn mit fester Hand mir durch das Ohr – ich trage ihn noch heute! Er soll begraben mit mir werden.

Und wie dem verirrten Wanderer in tiefem Dunkel ein Stern auftaucht, so leuchtete inmitten meiner Verzweiflung der Gedanke in mir auf: ‚Sie hat Dich doch geliebt! von je geliebt! Sie will es, daß Du lebst, und Du bist glücklicher als sie. Du brauchst sie nicht zu vergessen! Du bist frei – und bleibst es!‛ Wollte ich nicht verzweifeln, so mußte ich mich zwingen, es lernen, mich glücklich zu preisen.“

„Und Sie haben es gelernt! Sie haben es vermocht, Josias,“ sagte die Mutter, „sich und Ihr Leben zu einer Freude für andere zu machen. Sie haben empfunden, daß eine große Liebe den Menschen, dem sie zu Theil wird, erhebt, ihn adelt, ihn für sich selber heiligt; und wie Franull Sie geliebt, so haben Sie bleiben, so haben Sie sich selber sehen wollen für und für! O! nun versteh’ ich alles! Darum haben Sie beharrt in der Tracht, die Sie an jenem Tag getragen.“

„Ja! darum!“ bekräftigte Josias. „Ihr feines Herz hat es errathen. Zuerst war’s eine Schwärmerei. Alles, was sie, was Franull berührt, war zur Reliquie für mich geworden Dann befing mich die Gewohnheit und der Reiz des Eigenwillens.“

„Und so – ach Josias!“ rief ich aus, „wenn Du wüßtest, was für Kopfzerbrechen es mich gekostet, wenn sie sagten, Du seiest ein Original! – So bist Du zum Original geworden!“

Er lächelte. „Thörichte, liebe Franull!“ sagte er, aber die Mutter meinte: „Hätten wir viele solche Originale wie Sie, die Glück zu finden wissen in dem Wohl der Andern, wenn ihnen selber das Leben nicht gewährt, was sie für sich erstrebt! Was aber haben Sie gemacht mit Schönfelde und wie hat Ihre Mutter sich darein gefunden, daß Sie es verkauft?“

„Sie hat es nicht erlebt!“ antwortete Josias seufzend. „Es war so gekommen, wie Franull es mir gesagt. Sie war verlobt worden in Karlsbad, ihre Hochzeit war für den Herbst anberaumt. Ich wollte, durfte nicht in Schönfelde sein in jenem Zeitpunkte. Ich hatte wenig Mühe, meine theure Mutter zu einer Reise in den Süden zu überreden. Sie hat selber an eine solche oft gedacht, sie geplant mit meinem Vater für die Zeit meiner Rückkehr von meiner Reise. Wir machten uns im Beginn des Septembers auf den Weg, und sie genoß die Herbstmonate wie den Winter in Oberitalien und in Rom mit großer Freude; aber der tiefe Süden zeigte sich ihr verderblich. Ein Malariafieber, das sie befallen in Neapel, entriß sie mir. Ich kehrte gegen den folgenden Winter allein nach Schönfelde zurück. Der Graf Dubimin-Klothen, so nannte sich der Legationssekretär jetzt mit königlicher Bewilligung, hatte seine Flitterwochen in Dambow und Berlin verlebt und sich dann mit seiner Gemahlin nach Petersburg begeben auf seinen Posten.

Ich sah den Grafen, meinen Pathen, nach wie vor. Er und Frau von Klothen blieben mir wohlgesinnte Freunde, und ich behielt Schönfelde noch mehrere Jahre, bis es feststand, daß Graf Hans sich vom Dienste zurückziehen und mit seiner Frau und seinen Kindern bei seinem Schwiegervater in Dambow leben würde, welches er ja dereinst zu übernehmen hatte. Damit war mein Entschluß gefaßt.

Der älteste meiner Berliner Vettern war ein tüchtiger Landwirth geworden und ein Mann von Ehre durch und durch. Er hatte eigenes Vermögen von Haus aus und eine reiche, wackere Frau! Er war ein Courville, den die Familie hoch zu halten hatte.

Ihm habe ich Schönfelde abgegeben. Es ist heut noch im Besitz unserer Familie, und der König hat meinem Nachfolger in neuester Zeit den erblichen Adel verliehen. Sie nennen sich jetzt Courville von Schönfelde! Das Uebrige – nun, das wissen Sie! und möge es bleiben zwischen Ihnen, meine Freundin, Ihrem theuren Mann und diesem Kinde und mir so wie bisher! Sie drei haben mich’s vergessen machen, daß ich einsam dastehe in der Welt!“

„Und die Gräfin?“ fragte meine Mutter.

„Ich glaube, Ihnen schon gesagt zu haben, daß ihre Ehe eine durchaus glückliche geworden ist. Graf Hans ist nach allem, was ich von ihm erfahren, ein Edelmann im besten Sinne und ihrer werth. Ihr Vater hat Freude erlebt an der Tochter, dem Schwiegersohn, den Enkeln. Und hat die Gräfin von mir gehört, nun! ich hoffe, sie wird nichts von mir vernommen haben, was mich des Glücks unwerth gemacht, ihre Liebe besessen zu haben, ihre erste Liebe gewesen zu sein.“




Damit endet die Erzählung in der Tante Franziska altem Tagebuche; und es steht noch mancherlei darin, das fremd klingt in unsern Tagen. Aber wir wollen sie nicht schelten, die Zeit der romantischen Liebe! Drängt sich mir doch selber oft genug die Frage auf: ist das, was an die Stelle der Romantik getreten, besser, edler, erhebender als ihre süße Schwärmerei?

Die Antwort darauf wird verschieden genug ausfallen! – Ich für mein Theil halte die meine zurück – doch ist sie vielleicht darin zu erkennen, daß ich die Geschichte des Josias eben des Erzählens werth gefunden. Sind die Leser der gleichen Meinung, nun so erzähle ich wohl noch eine oder die andere, wie es kommt.

[259]
Blätter und Blüthen.

Rudolf Falb. Unsere Leser wird es gewiß interessiren, das Porträt Falbs kennen zu lernen, welcher durch seine Erdbebentheorie die allgemeine Aufmerksamkeit aus sich gelenkt hat und der in einem Artikel (vergl. S. 244) dieser Nummer seine Ansichten auch vor den Lesern der „Gartenlaube“ erörtert. Wir fügen dem Porträt noch einige biographische Daten bei. Rudolf Falb wurde am 13. April 1838 zu Obdach in Steiermark geboren; er studirte in Graz Theologie und wirkte zwei Jahre als katholischer Geistlicher. Später wandte er sich anderen Studien zu, namentlich der Mathematik, Physik und Astronomie. Im Jahre 1868 gründete er die populäre astronomische Zeitschrift „Sirius“ und veröffentlichte im Jahre 1870 seine „Grundzüge zu einer Theorie der Erdbeben und Vulkanausbrüche“. Nach einem längeren Aufenthalt in Wien, wo er am Polytechnikum Geologie studirte, begab sich Falb auf Reisen und widmete sich namentlich in Südamerika vulkanischen und archäologischen Forschungen. Die Resultate der letzteren legte er in den Werken „Das Land der Inka in seiner Bedeutung für die Urgeschichte der Sprache und der Schrift“ und „Die Andessprachen“ nieder. Abgesehen von seiner Erdbebentheorie ist Falb auch durch seine Ansichten über den Einfluß des Mondes auf die Witterung bekannt geworden. „Wetterbriefe“ und „Das Wetter und der Mond“ sind die Titel zweier Schriften, in welchen er diese Fragen behandelt hat. Falb, der in den siebziger Jahren zur protestantischen Kirche übergetreten war, lebt augenblicklich mit seiner Familie in Leipzig. Zur Verbreitung seiner Anschauungen hat er auch sehr viel durch die volksthümlichen Vorträge beigetragen, die er in vielen Städten gehalten hat.

*

Rudolf Falb.

Die Benediktinerabtei Alpirsbach. (Mit Illustration S. 245) Weit oben an dem nördlichsten Quellstrang der Kinzig liegt in tiefer Waldeinsamkeit, umgeben von schönen grünen Hügeln, aus denen rundliche Granitfelsen vorschauen, und durchrauscht von dem forellenreichen klaren Bergwasser des noch jungen Flüßchens die merkwürdige ehemalige Benediktinerabtei Alpirsbach, eine Stiftung der Hohenzollern.

Rotmann von Hausen, Adalbert von Zollern und Graf Alwig von Sulz beschlossen, hier auf eigenem Grund und Boden ein Kloster für Mönche zu bauen, die der Regel des heiligen Benedikt folgten. Um das Jahr 1100 stand schon die große Klosterkirche, die heute noch steht. Die ursprüngliche Anlage ist fast noch unberührt erhalten. Es ist eine große dreischiffige Säulenbasilika mit Vorhalle, Querschiff und drei halbrunden, jetzt gothisch veränderten Chören im Osten. Am Ostende des nördlichen Seitenschiffes steht ein hoher Thurm, so daß, von Osten her gesehen, die Kirche einen höchst malerischen Anblick bietet. Ueberwältigend aber ist der Eindruck, wenn man durch die mit weiten lichten Rundbögen sich öffnende einfach gehaltene Vorhalle hineintritt in das Innere: schwere, starke, mit den Schäften je aus einem Buntsandsteinblock gearbeitete Säulen tragen auf ihren Würfelknäufen die Rundbögen, auf denen das gegen 70 Fuß hoch aufsteigende, 30 Fuß breite Mittelschiff ruht. Die Nebenschiffe sind halb so hoch und halb so breit. Flache Holzbalkendecken überspannen alle Räume; aus mäßig großen Rundbogenfenstern strömt eine Fülle von Licht, besonders ins Hochschiff. Die Schlichtheit aller Formen läßt den Einklang der Verhältnisse ganz klar erkennen. Dazu kommt noch der mildrothe Ton des Schwarzwaldsandsteines in den unteren, eine stil- und maßvolle Bemalung in den oberen Theilen.

An die Langseite der Kirche stößt südlich das längst verlassene Kloster, halbverfallen und theilweise in Privathänden - aber reizend ziehen sich noch die mit reichen Netzgewölben überspannten Hallen des großen spätgothischen Kreuzgangs hin; auch der Kapitelsaal, aus der Zeit der Gründung stammend, ist noch erhalten. Oben läuft in Schutt und Trümmern das ehemalige Dorment mit den früheren Zellen der Mönche hin. Hart an der Kirche steht die große Sakristei, ein prächtiges Werk aus dem Beginn des 13. Jahrhunderts, mit herrlich schlanken Säulenbündeln, auf denen kelchförmige Blätterkapitäle die stolzen Rippenkreuzgewölbe tragen.

Die Geschichte des Klosters weicht nicht ab von der gewöhnlichen der anderen. Erst große Blüthe, dann meist ein merkliches Sinken, besonders im 15. Jahrhundert.

Im Herbst 1885 wurde mir das hohe Glück zu Theil, den damaligen Kronprinzen des Deutschen Reichs, jetzigen Kaiser, auf seinem Gang durch die Hallen der von seinen Ahnen gegründeten Abtei zu begleiten.

An das Hauptportal im Westen, das noch durch die alte, mit Metallornamenten beschlagene Thür verschlossen wird, ließ der Kronprinz eine Leiter anlegen und stieg hinauf zu dem so merkwürdigen Relief, das sich im großen halbrunden Bogenfelde, über dem eigentlichen Eingang, befindet und in die Zeit der Gründung zurückreicht. Man sieht hier Christus als Weltheiland jugendlich dargestellt; er sitzt in dem mandelförmigen Heiligenschein auf dem Regenbogen, segnend mit der Rechten, in der andern Hand das Buch des Evangeliums auf das Knie stützend. Zwei herschwebende Engel mit langen Flügeln halten den großen Heiligenschein. Unten knieen zwei kleinere Gestalten: links vom Beschauer ein Mann in Klostertracht, rechts eine Frau in der Laientracht damaliger Zeit. Jener Mann ist wahrscheinlich Adalbert von Zollern, der Hauptstifter der Abtei, die Frau seine Gemahlin. Urkundlich ist bezeugt, daß Adalbert schon im Jahre 1101 im Kloster Alpirsbach Mönch geworden ist, ohne Zweifel nach dem Tode seiner Gemahlin.

Die Arbeit dieses Reliefs zeichnet sich aus durch feine zarte Ausführung, die Bewegungen der Gestalten sind ernst und feierlich, die Gewänder ganz fein gefältelt, das Ganze trefflich in den halbrunden Rahmen hineingepaßt. Eine andere, aber viel rohere Bildhauerarbeit, jetzt in der nahen Stadt Freudenstadt, ein alterthümlicher Taufstein mit Figuren, soll gleichfalls aus dem Kloster stammen. Es sind Darstellungen, die noch an die heidnische Zeit der Deutschen gemahnen.

Eduard Paulus. 


Selig entschlafen. (Mit Illustration S. 252 und 253.) Den Lesern unseres Blattes ist aus vielen Zeichnungen das hervorragende Talent Wilhelm Krays bekannt. Wir bringen hier sein Gedenkblatt auf den Tod des Kaisers Wilhelm zum Abdruck, welches in der Verlagsanstalt von Bruckmann in München erschienen ist. Es athmet den idealen Schwung, durch den sich die Bilder des gefeierten Künstlers auszeichnen. Der Kaiser, von Hermelin und langer Sammetdecke umhüllt, die Hände gefaltet, ruht auf seinem Ruhekissen; die anmuthigen Engel tragen ihn der himmlischen Heimath zu, aus der ein Sonnenstrahl herniederfällt und die Gruppe verklärt, die dem Künstler vorzüglich gelungen ist und in deren Darstellung er seine ganze Eigenart bewähren konnte.[2]

 


Die deutsch-ostafrikanische Gesellschaft hat den zehn Kilometer breiten Küstenstreifen vor dem deutschen Gebiete jetzt gewonnen, welcher im Londoner Vertrage noch dem Sultan von Sansibar vorbehalten war, jetzt aber durch einen Vertrag mit diesem an die Gesellschaft übergegangen ist, und zwar noch unter günstigeren Bedingungen als diejenigen sind, welche die Engländer für ihre weiter nördlich gelegenen Küstenstriche erreicht haben. Der Vertrag ist auf 50 Jahre abgeschlossen, kann aber auch dann nur mit Zustimmung beider Kontrahenten gekündigt werden. Die deutsche Kolonie hat damit einen sehr wichtigen Erwerb gemacht, denn der Besitz der Seeküste ist für sie eine Lebensfrage. Bisher hatte sie nur zwei Freihäfen, Pangani und Dar-es-Salaam, in denen sie das Zollrecht besaß, doch diese waren bei weitem nicht ausreichend für die Bedürfnisse der Aus- und Einfuhr und der Sultan konnte den Karawanenverkehr nach dem Innern bei Zwistigkeiten mit den Deutschen über andere Hafenplätze leiten, so daß das Zollrecht in jenen ganz werthlos wurde; jetzt besitzt sie dasselbe in zwölf Häfen, welche den Verkehr vermitteln. Uebrigens wollen jetzt die Engländer von Mombas aus durch das Gebiet des Kilimandscharo eine Eisenbahn nach dem Binnensee, dem Viktoria Njansa, bauen und zwar wahrscheinlich südlich um das Hochgebirge herum, so daß die Bahn auch durch deutsches Gebiet führen und die deutsche Gesellschaft Anteil haben würde an den Zolleinnahmen der Bahn. Nach diesen neuesten Mittheilungen, welche Dr. Peters bei seiner setzigen Anwesenheit in Deutschland gemacht hat, sind für das Gedeihen unserer Kolonie in Ostafrika die erfreulichsten Aussichten vorhanden.

 


Der Harzer Kanarienvogel. Die Reinzucht von Thieren hat erstaunliche Resultate erzielt. Glänzenden Erfolg weisen die Andreasberger Kanarienvogelzüchter durch standhafte Reinzucht des sogenannten Harzer Kanariensängers auf. Es ist sehr interessant, diese durch langen Zeitraum mit mühevoller Sorgfalt aufs feinste herausgebildeten Leistungen des Vogels zu studiren. Wir erwähnen in der demnächst scheinenden zweiten Auflage unserer „Thiere der Heimath“, welche C. F. Deikers Meisterhand mit Aquarellen geziert hat, daß der Harzer Kanarienhahn ersten Ranges berufen sei, mit der Nachtigall um den Rang zu streiten, wobei wir natürlich eingedenk bleiben des urwüchsigen Schlags des [260] Sängers der Freiheit. Neuerdings haben wir, um an dieser Stelle unser Urtheil abzugeben, von der Handlung Konrad Langes in Andreasberg zwei Exemplare bester Qualität bezogen, welche den hohen Anforderungen des feinen Geschmacks vollkommen entsprechen und als würdige Repräsentanten ihrer einzig dastehenden Rasse gelten können. Die Harzer Sänger werden in Anbetracht des Vogelschutzgesetzes für das Reich unstreitig eine noch größere Zukunft haben und Ersatz bieten müssen für den Ausfall beliebter Insektenfresser. Der Gesang der erwähnten beiden Vögel läßt sich in technischen Ausdrücken, oder besser gesagt in solchen der Reinzüchter, kurz also charakterisieren: Sie bringen die gezogene Hohlrolle, die Knorre, Kingel und Pfeife in hoch- und tiefgehenden Reintönen fehlerlos. Kein Ton berührt irgendwie unangenehm das Ohr, der Gesang schmeichelt sich in seiner weichen, sanften, melodischen Weise und Ausprägung und feinem Silberklang wohlthuend ein. Pianissimo beginnt das Schwirren, schwillt allmählich an zum Forte und geht dann über in die wunderbare Hohlrolle; der Gesang ergeht sich in tiefen, weichen Volltönen oder wird hinauf getragen zur Höhe in Flötentönen und Trillern. Außerordentlich wohlthuend klingt das zarte, gesättigte Tremulando. Der Vortrug wird natürlich doppelt schön und wirksam bei vollem Behagen und gehobener Stimmung des Sängers. Auch die Locktöne sind zart und lieblich, erklingen in verschiedenen Tonlagen und begleiten das anmuthige Gebahren der zutraulichen Thierchen, welche beim Versetzen des Käfigs an einen andern Ort unverdrossen ihren entzückenden Gesang fortsetzen.

Adolf und Karl Müller.     






Der letzte Namenszug des Kaisers Wilhelm. Mag derselbe auch bereits in Millionen von Abdrücken verbreitet sein, er darf in unserer „Gartenlaube“, welche sich in vielen Familien von Geschlecht zu Geschlecht forterbt, nicht fehlen; er bleibt denkwürdig für alle Zeiten, ein historisches Dokument, welches für jeden Deutschen etwas unendlich Rührendes hat.

Es war der 9. März, als Fürst Bismarck in tiefbewegter Rede dem Reichstage Kunde gab vom Hinscheiden des großen Kaisers; er erklärte, daß er in den letzten Tagen von dem hochseligen Herrn, in Bethätigung seiner Arbeitskraft, die ihn nur mit dem Leben verlassen, die vorliegende Unterschrift erhalten, welche ihn ermächtigte, den Reichstag in der üblichen Zeit nach Abmachung seiner Geschäfte zu schließen; er habe die Bitte an den Kaiser gerichtet, nur den Anfangsbuchstaben des Namens zu unterzeichnen. Der Kaiser habe darauf erwidert, daß er glaube, noch den vollen Namen unterzeichnen zu können. Und so ist dies denkwürdige Aktenstück ein Beweis der seltensten Pflichttreue des Monarchen und es bleibt bedeutsam, daß es der Vertretung der deutschen Nation, daß es dem Reichstage galt. Es fehlt in diesem kaiserlichen Namenszug kein Buchstabe, und auch nicht der große Federzug, mit dem er seine Unterschrift abzuschließen pflegte.
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Ein Lichtbild zu einem Schattenbilde. Wir haben in unserer vorigen Nummer von dem übertriebenen Luxus eines amerikanischen Geldfürsten gesprochen, welcher den Ehrgeiz hatte, vor allen andern in der französischen Gesellschaft zu glänzen. Ihm gegenüber wollen wir diesmal das Bild eines andern amerikanischen Millionärs stellen, welcher seinen Reichthum zum Besten seiner Landsleute und seines Vaterlandes verwendete. Die Zeitungen berichteten vom Tode William Wilson Corcorans in New-York, welcher bei Lebzeiten und in seinem Testament die verschiedenartigsten gemeinnützigen Schenkungen machte. Er war in Georgetown geboren, kaufte dort den Bauplatz des Oak-hill-Friedhofs, verbesserte ihn mit einem Kostenaufwande von 120 000 Dollars und machte ihn seiner Vaterstadt zum Geschenk. Die Corcoran-Galerie begründete er 1857 mit 300 000 Dollars und stiftete einen Fonds von einer Million Dollars zur Erhaltung derselben; auch schenkte er derselben nach dem Kriege seine eigene werthvolle Gemäldesammlung. Zum Angedenken an seine verstorbene Gattin gründete er die Luisenheimath, eine Stiftung, in welcher gebildete, durch Schicksalsschläge verarmte Frauen Aufnahme finden. Er hat damit einem Bedürfniß Rechnung getragen, welches jedenfalls überall tiefempfunden wird, denn die Armuth in Proletarierkreisen mag die Wohlthätigkeit in hohem Maße herausfordern; an jener verschämten Armuth der gebildeten Stände, die den Kampf ums Dasein ebenso mit Noth und Entbehrung kämpfen müssen wie die Nothleidenden der untersten Klassen, aber dabei noch den Verzicht auf gewohnte geistige Lebensgenüsse schmerzlich empfinden, geht sie oft achtlos vorüber, da sich dieselbe nicht in ihren Weg stellt. Die 300 000 Dollars, welche Corcoran für diese Stiftung ausgesetzt hat, sollten ganz besonders andere Geldmächte, doch auch den Staat und die Kommunen zur Nacheiferung anspornen. Corcoran machte außerdem dem Washington-Waisenhause, der Kolumbia-Universität, der Universität von Virginia, andern Instituten und einigen Kirchen beträchtliche Geschenke. Gegen diese großen menschenfreundlichen Thaten verschwinden freilich ein Damenmantel aus Paradiesvogelfedern und Knallbonbons mit Modekostbarkeiten und Pretiosen, wie sie im Hause des Silberfürsten von Nevada an der Tagesordnung sind.
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Eine Münchener Japanerin. (Mit Illustration S. 257.) Der Künstler, dem wir das Bild der hübschen Japanerin verdanken, ist der durch seine originelle Auffassung und Gewandtheit in Führung des Pastellstiftes bekannte Franz Dvorak, dessen Talent gerade die charakteristischen Merkmale glücklich zur Geltung zu bringen weiß. Sowohl durch seine reizenden Kinderscenen als auch durch seine Porträts hat er rasch die Gunst des Publikums erworben. Auch bei unserem Bilde ist die originelle und malerische Tracht Japans so richtig erfaßt, daß man die hübsche junge Dame entschieden für eine Eingeborene des Reiches der aufgehenden Sonne halten könnte, während andererseits die Porträtähnlichkeit eine so eminente ist, daß die Bewohner des Isarathens ohne Mühe in ihr eine ihrer gefeierten Schönheiten erkennen werden. Schönheit und Wahrheit sind in dem hervorragenden Werk des jungen Künstlers verschmolzen, da in demselben die Darstellung ebenso wahr erscheint, wie das Original als schön bekannt ist.






Die Lorelei in Südamerika. Die Lorelei ist mit der Sagenwelt unseres Rheines aufs engste verknüpft; wohl niemand hatte geglaubt, daß sie wie unsere berühmten Sängerinnen und Schauspielerinnen eine Reise über den Ocean antreten werde, um drüben zu glänzen. Und doch ist dies der Fall, wenn es sich dabei auch nur um eine kolossale Statue der Lorelei handelt, welche der Bildhauer Albert Manthe in Berlin nach dem Gemälde von Sohn schaffen wird. Das Modell ist bereits für den Guß vollendet. Und diese Riesenlorelei soll auf einem Uferfelsen des südamerikanischen Riesenstroms, des Rio de la Plata, ihre Stätte finden. Ein in Buenos-Aires wohnender Rheinländer, der dort große und romantisch gelegene Ländereien besitzt, hat zur Erinnerung an seinen vaterländischen Strom die Lorelei beim Bildhauer bestellt und will nun in dieser aus der Tiefe des deutschen Dichtergemüths herausgeborenen Sagengestalt dem Deutschthum, das seine Kultur in jene ferne Zonen trug, ein dauerndes Denkmal errichten.
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Zu nichts tauglich! Goethe war ein Feind des Tabakrauchens und stellte einst die Behauptung auf, ein wahrhaft gebildeter Mann werde sicherlich niemals Tabak rauchen, wie er auch die feste Ueberzeugung habe, daß Lessing gewiß diesem narkotischen Kraute ebenfalls abhold gewesen sei. Ebert, der einstige Wolfenbüttler Bibliothekar, welcher bei dem Gespräch mit anwesend war, beschloß, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, und da Lessing selbst nicht mehr unter den Lebenden weilte, wandte er sich an eine alte in Wolfenbüttel wohnende Frau, welche einst dem Dichter jahrelang die Aufwartung besorgt hatte, mit der Frage, ob Lessing geraucht habe.

„Ja, qualmen und schreiben mußte der Herr Lessing von früh bis in die Nacht hinein,“ versetzte die Alte; „sonst aber war er auch zu gar nichts zu gebrauchen!“






Skat-Aufgabe Nr. 5.
Von K. Buhle.

Die Vorhand gewinnt mit folgender Karte:

(tr. Z.)
(c. Z.)
(car. Z.)
(tr. B.)
(p. B.)
(c. B.)
(car. B.)
(p. As.)
(p. Z.)
(p. K.)

Grün (p.)-Solo mit 85 Augen, obwohl die übrigen Trümpfe in einer Hand stehen und nur 7 Augen im Skat liegen. – Wie sitzen die Karten und wie ist der Gang des Spiels?






Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 4 auf S. 220:

Die Vorhand muß, um jedes Spiel (Frage, Tourné, jedes Solo, Grand und auch Null ouvert) zu gewinnen, zu den angegebenen 8 Karten: gW, sW, e9, g9, rZ, rO, r9, sO noch r7 und einen Wenzel[3] (am besten eWhinzubekommen. Die übrigen Karten sind dann so zu vertheilen: Skat: sZ und der dritte Wenzel (rW) und ferner:

Mittelhand: eO, e8, e7, gO, g8, g7, rD, s9, s8, s7,
Hinterhand: eD, eZ, eK, gD, gZ, gK, rK, r8, sD, sK.

Für Frage und Tourné bedarf die Spielführung keiner Erläuterung. In den Solospielen fordert der Spieler zunächst dreimal mit W und spielt dann r9 vor. Im Grand wird mit W einmal gefordert und sodan r9, und im Null ouvert sofort die r9 vorgespielt. –


  1. Nach Ernst Scherenbergs Gedenkbuch für das deutsche Volk „Kaiser Wilhelm I.“. (Leipzig, Ernst Keils Nachfolger.)
  2. Das Kunstblatt ist in fünf verschiedenen Größen zum Preise von 1 bis 12 Mark in jeder Kunst- und Buchhandlung vorräthig.
  3. Der Verfasser der Aufgabe hatte nur die Karten r/ und rW angegeben und eW und sZ in den Skat gelegt. Es kann aber auch, was der Verfasser und die Preisrichter anscheinend übersehen haben, der eW hinzukommen und rW in den Stat gelegt werden, womit für Grand sich überdies eine natürlichere Spielführung ergiebt.



Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)


H. B. in Jekaterinburg. Ludwig Ferdinand Stolle gehört zu den ältesten Mitarbeitern der „Gartenlaube“; er war am 28. September 1806 in Dresden geboren und starb dort am 29. September 1872. Seine Laufbahn war eine schriftstellerische; er lebte abwechselnd in Leipzig, Grimma und Dresden. In seinen „Ausgewählten Schriften“ finden sich die historischen Romane, welche Sie erwähnen. Wie ähnliche Romane von Rellstab, die ebenfalls Napoleon zum Helden haben, beruhen sie auf sorgfältigen geschichtlichen Studien, gönnen aber in der Ausmalung des Details der Phantasie ihr freies Recht. Seine „Ausgewählten Schriften“ (2. Aufl. 30 Bände) sind im Verlage von Ernst Keils Nachfolger erschienen. Stolles Roman „Die deutschen Pickwickier" ist einer der besten humoristischen Romane der Neuzeit.