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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[201]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman von E. Marlitt.       Vollendet von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Claudine hatte ihre Reise aufgegeben. Als sie der Herzogin von ihrer Absicht sprach, war dieselbe in leidenschaftliches Schluchzen ausgebrochen: „Ich kann Sie nicht halten, Claudine, gehen Sie!“ Und da hatte sie, erschreckt und gerührt zugleich, versprochen zu bleiben. Nun kam der Hofwagen, der sie nach Altenstein holte, täglich früher. Die Neigung der fürstlichen Frau zu dem stillen schönen Mädchen wuchs eben täglich, und sie war jetzt ruhig, ganz ruhig; sie fuhr in der Herzogin Wagen spazieren und saß in dem Boudoir derselben, vorlesend oder plaudernd. Zuweilen freilich trat der Herzog unangemeldet und rasch ein, von einem Freudenruf der fürstlichen Frau begrüßt, aber Claudine fürchtete seine Begegnung nicht mehr. Keiner jener heißen Blicke war ihr mehr gefolgt; keine Silbe hatte er zu flüstern versucht; sie wußte, er hielt sein fürstliches Wort. Sie kannte ihn genau durch seine Mutter; wie manchen tollen Streich hatte die alte Herzogin gelegentlich von ihm erzählt, von den Sorgen, die er ihr bereitet, von den Gebeten, die sie im heißen Flehen um diesen Sohn gesprochen vor dem Betschemel ihres Schlafzimmers unter dem Muttergottesbilde, über welchem die silberne kleine Lampe hing, daß er nicht untergehen möge in dem wilden Treiben seiner Jugend! „Und,“ hatte die alte Dame dann hinzugefügt, „es war doch nur überschäumende Jugendlust; sein Herz blieb edel; er war zu lenken, wenn man das richtige Wort fand.“ Und Claudine meinte, sie habe das richtige Wort gefunden. Sie gehörte zu den edlen Naturen, die nicht ruhen, bis sie das Gute in einer Menschenseele entdeckt haben; die suchen und suchen und, wenn sie das Gold gefunden, keine Grenzen kennen im Verzeihen.

Sie verzieh dem Herzog stillschweigend die Beleidigung, die er ihr zugefügt, als sie sah, wie ritterlich er seine Leidenschaft bekämpfte, wie er sich bemühte, gegen seine Gemahlin geduldiger zu sein, als vordem; wie er in ihr die Freundin dieser Gemahlin ehrte. Sie sei gefeit als solche gegen Lieb und Haß – das war ihr Glaube geworden. An die Herzogin-Mutter schrieb Claudine; es waren dankbare, gerührte Worte, mit denen das schöne Mädchen ihr Glück pries, die bevorzugte Gefährtin der Herzogin sich nennen zu dürfen. „O, wenn Ew. Hoheit wüßten,“ hieß es darin, „wie glücklich ich bin in der Liebe und dem Vertrauen des edelsten Herzens; ich sinne nur darauf, wie ich vergelten kann, daß ich die Freundin dieser liebenswürdigen Fürstin geworden. Selbst das, was Ew. Hoheit zuweilen tadelten, ist beim näheren Kennenlernen kein Fehler mehr; Ihre Hoheit trägt nicht nur äußerlich die Liebe für ihren hohen Gemahl zur Schau, Ihrer Hoheit ganzes Sein und Wesen ist so in diese Liebe getaucht, daß Hoheit sich verstellen müßten, wollten sie dieselbe verbergen.“

Claudine schien lebhafter als seit langer Zeit. Sie konnte mit Ungeduld den Wagen erwarten, der sie nach Altenstein holte. In der durchgeistigten Atmosphäre, die um die kranke Fürstin wehte, fühlte sie ihr eigenes Leid kleiner werden. Die Herzogin


Prinz Friedrich Wilhelm und Prinz Eitel Friedrich von Preußen.
Nach einer Photographie von Selle und Kuntze in Potsdam.

[202] hatte eines Tages, schüchtern wie ein Pensionsmädchen, ein paar Hefte in Claudinens Hand gelegt; es waren liebliche kleine Gedichte, von ihr verfaßt. Zuerst jubelnde Lieder der Brautzeit, dann die tiefinnerlichen Glücksworte der jungen Ehefrau, und zuletzt die Verse, die sie aufschrieb an der Wiege ihrer Söhne. Vielleicht waren die Lieder zu zart, zu sentimental; aber wenn Claudine die anschaute, die sie gedichtet, so meinte sie, sie könnten nicht anders sein, als durchweht von überschwenglichem Glück und von todestraurigen Ahnungen.

Auch einige kleine Novellen waren darunter, eigenthümlich erdacht. Es gab da immer ein paar Menschen, die sich über alles lieben und – getrennt werden durch den Tod, durch einen tückischen Zufall, durch ein unabweisbares Verhängniß – niemals aber durch die Schuld des Einen oder Andern. Claudine hatte gestaunt über die traurigen Abschlüsse, aber nicht gewagt, darüber zu sprechen, weil sie fürchtete, die schon zur Schwermuth Geneigte noch trauriger zu machen.

So waren acht stille schöne Tage vergangen. Die Neuhäuser hatten diesen Frieden nicht gestört, wie die Herzogin anfänglich fürchtete. Prinzeß Helene war einige Male wie ein Wirbelwind in den Zimmern der Herzogin erschienen, hatte aber deutlich zu erkennen gegeben, daß sie die größtmögliche Eile habe, zu dem süßen Baby ihrer verstorbenen Schwester zurückzukehren. Die alte Prinzeß lag derweilen in Neuhaus auf einer Chaiselongue mit verletztem Fuß. Claudine sah Beate nur einmal flüchtig, als diese in aller Morgenfrühe nach dem Eulenhaus gewandert war, um sich nach einigen kleinen Prinzessin-Angewohnheiten zu erkundigen und eine Menge köstlicher Kuchenstückchen, Bonbons und Konfitüren abzuladen. Sie sprach sich anerkennend aus über die neue Einrichtung auf Eulenhaus, den Besuch des Fräulein Lindenmeyer betreffend; im übrigen war sie still und gedrückt und hatte auf Claudinens Frage ungeduldig die Schultern etwas gehoben und gesagt, sie wünsche weiter nichts, als vier Wochen älter zu sein. Es sei fürchterlicher, als sie sich gedacht; kein Winkelchen sei im ganzen Hause, wo man seines Lebens sicher wäre vor der Prinzeß, diesem Irrwisch, und Lothar erwidere ihre Klagen mit Achselzucken.

Claudine hatte das Haupt gesenkt, als käme jetzt ein Blitzstrahl, der die letzte Hoffnung vernichten müßte; aber Beate war still geworden und hatte dann von etwas Anderem gesprochen, nämlich, wie diese Berg doch täglich unangenehmer werde; sie habe entschieden einen sehr großen Einfluß auf die alte Prinzessin. „Mir kann es aber gleich sein,“ hatte sie noch hinzugefügt.

Heute, an einem echten köstlichen Sommertage, hatte die Herzogin den Thee im Parke befohlen, dort, wo die Waldbäume an den Garten stoßen, an jenem Platze, wo Joachims Weib für immer eingeschlafen war. Unter den alten Eichen schaukelte die Hängematte der Herzogin, und Claudine, im leichten weißen Kleide, saß neben ihr auf einem bequemen, mit Leinen überspannten Sessel aus Bambusstäben und las. Vor ihr auf dem Tischchen aus japanischer Flechtarbeit lag die unvermeidliche Wollstickerei der Frau von Katzenstein; diese selbst stand etwas seitwärts und bereitete den Thee. Im Schatten einer mächtigen Kastaniengruppe, von den Damen um die Breite des Kiesplatzes getrennt, spielte der Herzog Luftkegel mit den zwei ältesten Prinzen ,dem Rittmeister von Rinkleben und Herrn von Palmer; das Jubeln der Kinder, das Lachen und das Klappen der umfallenden Kegel tönte herüber und die Augen der Herzogin sahen mit glückseligem Ausdruck dorthin.

„Halten Sie ein, Claudine,“ bat sie jetzt. „Der Tag ist so schön, die Sonne so golden und diese Erzählung so düster. Heute erscheint mir das so unnatürlich – was glauben Sie, daß noch geschehen wird? Mit jenen Beiden in dem Buche, meine ich.“

„Hoheit, ich fürchte, es endet entsetzlich,“ sagte die junge Dame und gehorsam legte sie das Buch auf den Tisch.

„Er hat sich ja bereits Gift verschafft,“ gab die Herzogin zu.

„Ja,“ erwiderte Claudine, „sie wird sterben müssen.“

„Sie?“ fuhr die Herzogin erstaunt auf; „aber beste Claudine, welch entsetzliche Phantasie! Er selbst will sich vergiften, weil er fühlt, er kann mit ihr nicht leben, und ebenso wenig ohne die Andere.“

„Ich weiß nicht, Hoheit,“ stotterte das Mädchen, – „dem Gange der Geschichte nach vermuthete ich –“

„Bitte, geschwind das Buch!“ rief die Herzogin. Sie schlug es auf und las das Ende. „Mein Gott, Claudine, Sie haben Recht,“ sagte sie dann.

„Es ist psychologisch auch nicht anders möglich; wenn Hoheit der Charakterschilderung des Mannes gefolgt –“

„Es ist mir nichts Besonderes an ihm aufgefallen,“ unterbrach die Herzogin. „Nein, Claudine – das ist unwahr! Gott sei Dank, solche Phantasien gehören in die Rubrik des Wahnsinns. Wir wollen das Buch nicht weiter lesen; die Welt ist so schön und ich bin so froh, so leicht heute.“

Sie warf die seidene Decke zurück, die über ihr mattrothes, mit weißen Tüpfelchen gemustertes Foulardkleid gebreitet war, und winkte mit der Hand hinüber zu den Kastanien.

„Sehen Sie, Claudine, da kommt eben der Herzog; er scheint müde vom Spiel. – Mein lieber Freund, ich bin etwas zu faul heute für unsere Dominopartie, aber vielleicht übernimmt Fräulein von Gerold meine Stelle? – Bitte, das Tischchen hierher,“ befahl sie und wandte sich herum in der Hängematte, stützte das Haupt auf die Hand und sah zu, wie der Herzog Claudine gegenüber Platz nahm, die Steine vertheilte und die seinigen aufbaute.

Claudinens schlanke Finger begannen plötzlich zu zittern; sie neigte das schöne Gesicht tiefer über die schwarzweißen Steinchen und eine rosige Gluth stieg ihr bis unter das wundervolle üppige Blondhaar. Dort drüben, jenseit des Rasenplatzes, war etwas Blaues aufgetaucht – flatterte näher wie ein zierlicher Schmetterling und blieb dann mit einem Male regungslos stehen. – Und hinter diesem Blauen?

„Ah, mein Kind,“ sagte die Herzogin halblaut, „Sie scheinen zerstreut, der Herzog wird die Partie gewinnen.“

„O, das ist ja eine idyllische Gruppe; das ist, als habe Watteau sie arrangirt! Ich fürchte, Baron, wir stören,“ rief die in hellblaues Leinen gekleidete Prinzessin und wandte sich mit einem halb spöttischen, halb ärgerlichen Ausdruck nach rückwärts, wo ihre Mutter am Arme des Schwiegersohnes ging, gefolgt von dem Kavalier und der Hofdame. Und sie sah in Lothars Gesicht, das, wie aus Erz gegossen, keinen Zug veränderte.

Ihre Durchlaucht, die alte Prinzessin, nahm die Lorgnette vor die Augen und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: „En avant, mein Kind; Du wünschtest Elisabeth zu überraschen – übernimm also die Anmeldung – bitte!“

Prinzeß Helene bewegte sich vorwärts; aber sie flatterte nicht mehr, es war nur ein langsames Gehen und ihre schwarzen Augen sahen sehr unzufrieden drein. Sie klappte geräuschvoll ihr Sonnenschirmchen zu, als sie sich näherte, und blieb dann mit einer schmollenden Miene stehen. „Pardon, Hoheit, wenn ich störe –.“

Die Herzogin blickte auf und lachte. „Wo kommst Du her, Wildfang?“ und sie streckte ihr die Hand entgegen. „Bist Du über die Mauer geflogen, oder –?“

„Mit der Neuhäuser Equipage gekommen. Mama, Baron Gerold und die Andern sind dort hinten und bitten um den Vorzug, Hoheit begrüßen zu dürfen.“

Sie verneigte sich graziös vor dem Herzog und küßte die Hand der Herzogin. Claudine, die neben dieser stand, schien Ihre Durchlaucht nicht zu bemerken; sie begann mit komischem Eifer ihren Sonnenschirm zu schwenken, als wollte sie den Nahenden ein Zeichen geben, daß sie willkommen seien.

Der Herzog schritt der alten Prinzessin entgegen und führte sie seiner Gemahlin zu; Lothar kam bei der Begrüßungsscene neben Claudine zu stehen, aber vergeblich wartete sie auf ein Wort; sie erhielt nur eine stumme Verbeugung. Man nahm Platz; ein lebhaftes Gespräch entspann sich zwischen den fürstlichen Damen. Prinzeß Thekla bat um Entschuldigung, sich so unverantwortlich spät nach dem Befinden Ihrer Hoheit erkundigt zu haben; aber sie habe einen Unfall auf der Neuhäuser Schloßtreppe erlitten und sechs Tage lang Arnikakompressen auf dem Fuße gehabt; und Prinzeß Helenes Besuche wären auch so flüchtig gewesen, sie sei aus der Kinderstube und aus dem Neuhäuser Schlosse gar nicht wegzubringen; sie habe sich sogar von Fräulein Beate eine leinene Schürze geborgt und sei mit ihr in allen Wirthschaftsräumen umher gelaufen, auf dem Boden und in Keller und Speisekammer. Die alte Prinzessin drohte dabei scherzhaft ihrem Töchterlein mit aufgehobener Hand. „Gestern [203] ertappte ich sie in der Küche beim Himbeereinkochen! Ja, ja, verstecke nur Deine Arbeitsfingerchen!“

Die Herzogin wandte sich lächelnd an Prinzeß Thekla. „Wie befindet sich das Enkelkindchen?“ fragte sie.

„Nun, es erholt sich ja,“ antwortete die alte Dame widerwillig, „aber noch lange nicht genügend. Die gute Berg hat wohl die Vorschriften des Arztes, den der Baron sich ausgesucht, etwas allzu streng befolgt – niemals Medicin, aber dafür kühle Abwaschungen und frische Luft von früh bis Abends; das Kind ist dafür viel zu zart. Es bekommt jetzt als Präservativ gegen Erkältung Aconit und wird bis Mittags im Zimmer gehalten.“

„Mein Töchterchen läuft bereits ein wenig, wenn auch noch schwankend,“ fügte der Baron gelassen hinzu, „und da sie die normale Größe einer zweijährigen jungen Dame hat, klettert sie auf Sophas und Stühlen umher.“

„Noch lange nicht genug,“ wiederholte Prinzeß Thekla, ihn unterbrechend.

„Ich bin mit diesem Wenigen schon sehr zufrieden,“ erwiderte er.

Claudine hatte sich inzwischen freundlich zu Komtesse Moorsleben gewandt und fragte sie irgend etwas Gleichgültiges. Einige wenige Worte, wobei die lustigen braunen Augen der jungen Dame nach einer ganz anderen Richtung schauten, waren die Erwiderung.

Befremdet schwieg Claudine. Die kleine Prinzessin ihr gegenüber im Schaukelstuhl sah sie schon eine ganze Weile mit herausfordernden Blicken an. Claudine richtete ihre schönen blauen Augen ruhig und wie fragend auf diese dreisten schwarzen Sterne; da wandte sich der dunkle Lockenkopf und ein verächtlicher Zug flog um den fast zu vollen kleinen Mund.

„Die jungen Damen sollten eine Partie Croquet spielen,“ schlug die Herzogin vor. „Die Herren dort drüben werden sich gern betheiligen. Meine liebe Claudine, geleiten Sie die Prinzessin und Komtesse Moorsleben hinüber und geben Sie den Befehl zum Aufstellen der Reifen.“

Claudine erhob sich.

„Verzeihung, Hoheit, – ich danke!“ sagte Prinzeß Helene, „ich bin etwas ermüdet.“ Sie legte den Kopf an die Lehne des Schaukelstuhles und wiegte sich langsam. Komtesse Moorsleben setzte sich sofort wieder hin, als ihre Gebieterin refüsirte. Auch Claudine nahm ruhig Platz.

Es wurde Eis servirt und Thee und Kaffee in kleinen Sèvrestassen. Die Herren kamen jetzt vom Spielplatz herüber und gesellten sich zu den Herrschaften; Claudine sah plötzlich zwei Kavaliere hinter ihrem Stuhl, Herrn von Palmer und den Rittmeister von Rinkleben. Sie wandte sich zu letzterem und war bald mit ihm im Gespräch; sie kannte seine jüngere Schwester aus der Pension und fragte nach ihrem Ergehen; er gab einen langen Bericht über ihre Heirath und das Glück, das sie darin gefunden gegen alle Erwartung. Enge Verhältnisse, schmales Auskommen, und doch sei sie heiter und zufrieden.

„O ja,“ stimmte die junge Dame bei; „es läßt sich mit ein wenig Zufriedenheit das engste kleine Heim ganz köstlich ausschmücken.“

„Das redendste Beispiel giebt gnädiges Fräulein selbst; Eulenhaus ist ein Idyll, ein Traum, wo Sie walten wie eine Fee des Behagens,“ fiel Palmer ein. „Das Bewußtsein freilich, daß dies nur eine Episode ist, hilft wohl diesen Zauber vollenden; es ist leicht, zufrieden zu sein, schaut man in der Ferne einen Tempel des Glückes.“

Claudine sah ihn fragend an.

Er lächelte vertraulich und langte sich den Krystallbecher mit Eis von dem Tischchen an seiner Seite.

„Etwas dunkel, Herr von Palmer; ich verstehe Sie nicht,“ sagte Claudine sich wendend.

„Wirklich nicht? Ah, meine Gnädige, bei Ihrer glänzenden Fassungsgabe. Es muß Ihnen doch sehr heimisch hier vorkommen,“ fuhr er ablenkend fort, „hoffentlich ist die Zeit nicht mehr fern, wo Sie definitiv den Sitz Ihrer Väter wieder beziehen. Die ewigen Fahrten von und nach dem Eulenhause sind doch lästig, meine ich, und noch dazu in nächster Zeit, wo die Festlichkeiten sich jagen werden in Altenstein und Neuhaus.“

„Ich habe heute Unglück, Herr von Palmer; schon wieder will mir der Sinn Ihrer Rede nicht klar werden.“

„So betrachten Sie doch die Worte prophetisch, Fräulein von Gerold!“ sagte eine helle Stimme, und der Erbprinz, ein bildschöner Junge von zwölf Jahren mit den großen schwärmerischen Augen seiner Mutter, rückte mit seinem Tabourett zu Claudinen hinüber; „Propheten redeten ja immer dunkel,“ setzte er hinzu.

„Bravo, Hoheit!“ rief Herr von Palmer lachend.

„Ich wollte, Herr von Palmer hätte wahr geweissagt,“ fuhr der Erbprinz fort und sah mit der knabenhaft kecken Bewunderung seines Alters auf das schöne Mädchen. „Sie könnten wohl ganz zur Mama kommen, gnädiges Fräulein. Mama sagte erst gestern zu Papa, es würde nett sein, wenn Sie nicht immer wieder fort führen.“

Herr von Palmer lächelte noch immer.

„Das kann ich leider nicht, Hoheit, ich habe daheim meine Pflichten,“ erwiderte Claudine ruhig; „wie gern käme ich sonst nach meinem lieben Altenstein!“

„Es ist eine köstliche Besitzung,“ lenkte der Rittmeister ab, „welch wundervoller Garten!“

„Er war Großpapas Steckenpferd,“ bemerkte Claudine traurig.

„Sie haben hier immer mit Ihrem Bruder und andern Kindern ‚Räuber und Prinzessin‘ gespielt, als Sie noch klein waren?“ fragte der Erbprinz, ohne einen Blick von dem Gesicht der jungen Dame zu wenden.

„Dort unten,“ nickte sie und wies nach links, „an der Mauer, wo die kleine Pfortenthür ist; die wurde dann zu Ausfällen benutzt.“

„Herr Rittmeister,“ rief Prinzeß Helene jetzt laut, „ich möchte nun doch eine Partie Croquet machen! Kommen Sie, Isidore!“

Die Komtesse und der Rittmeister erhoben sich und eilten nach dem Rasenplatz; Prinzeß Helene zögerte noch. „Baron,“ sagte sie dann zu Lothar von Gerold, und ihre Stimme hatte plötzlich etwas Bittendes, „sind Sie nicht auch dabei?“

Er erhob sich und schaute sie an, während er sich zustimmend verneigte. „Haben Durchlaucht schon alle Personen befohlen, die Theil am Spiel nehmen sollen?“ fragte er dann.

„Warum? Sie sehen ja, wir sind Zwei zu Zwei.“

„Nicht mehr als Vier? Ah so! Hoheit!“ wandte er sich an den Erbprinzen; „Prinzeß Helene wünscht Croquet zu spielen – ich weiß, wie Sie das Spiel lieben.“

Der Fuß der kleinen Durchlaucht trat merklich ungeduldig den Rasen.

„Ich muß bedauern,“ erwiderte der Prinz ernsthaft; „Fräulein von Gerold hat soeben versprochen, mir den Platz zu zeigen, wo ich am besten eine Festung bauen kann mit meinem Bruder. Das ist mir interessanter.“

Baron Lothar lächelte. Er blieb einen Moment stehen und sah, wie der junge Prinz Claudine mit einer allerliebsten Wichtigthuerei den Arm bot.

Die Herzogin folgte dem schönen Mädchen am Arme des Knaben mit erstaunter Miene. „Warum spielt Fräulein von Gerold nicht mit?“ fragte sie den Baron.

„Hoheit, Prinzeß Helene wählte soeben selbst ihre Partner,“ erwiderte er.

„Bitte, Baron,“ sagte die Herzogin liebenswürdig, aber bestimmt, „gehen Sie Ihrer Kousine nach und sagen Sie ihr, wie sehr ich bedaure, daß man vergaß, sie aufzufordern, und bringen Sie sie womöglich zurück; der Hofmeister des Erbprinzen, der dort eben kommt, wird so lange Ihre Stelle übernehmen.“

Der Baron verbeugte sich und ging, sich bei der Prinzeß zu entschuldigen und dem Hofmeister, einem liebenswürdigen, aber etwas damenscheuen Herrn, den Hammer in die Hand zu drängen. Dann schlug er langsam und auf Umwegen die Richtung ein, die seine Kousine genommen.

Die Nase der alten Prinzeß war während dieses Vorganges plötzlich spitz und weiß geworden.

„Verzeihung, Hoheit,“ sagte sie und setzte die zierliche Tasse klirrend auf das Tischchen; „Helene hatte sicher nicht die Absicht, zu kränken; sie meint es sicherlich nur gut, sie liebt Eure Hoheit schwärmerisch. Ihr ehrliches Herz geht eben immer mit ihr durch, und –“

„Ich sehe nicht ein, was die Ehrlichkeit damit zu thun hat, liebste Tante,“ erwiderte die Herzogin und ihre Wangen färbten sich purpurn vor Erregung.

[204] Herr von Palmer sah zu dem Herzog hinüber, der von diesem kleinen Wortwechsel nicht die geringste Notiz nahm. Hoheit spielte mit seinem Monocle, indem er ernsthaft der weißen schwebenden Mädchengestalt nachschaute, an deren Arm zutraulich der Erbprinz hing und sie nach allem Möglichen befragte. Sie war schon eine ganze Weile in dem dichten Gewirre eines Jasminbosquetts verschwunden; da wandte der Herzog langsam den Kopf zurück und begegnete den Augen der Prinzeß Thekla; sie sahen noch funkelnder aus als sonst, es lag ein verbissener schadenfroher Ausdruck über ihrem mageren Gesicht.

„Er macht zeitig die Kour,“ sagte der Herzog unbefangen; „der Junge ist ja Feuer und Flamme!“

„Und guten Geschmack hat er auch,“ ging die Herzogin fröhlich auf den Scherz ein.

„Das hat er von seinem Papa,“ schrillte die Stimme der alten Prinzessin, und das liebenswürdigste harmloseste Lächeln der Welt verdrängte für einen Moment die Verbissenheit. Sie sah aus, als hätte sie nie ein Wässerchen getrübt, und setzte sich noch einmal so aufrecht in ihren Stuhl zurück.

Der Herzog nahm verbindlich den Hut ab und verneigte sich vor ihr.

„Ja, meine allergnädigste Tante, ich sah stets lieber eine schöne Frau, als eine häßliche, und wenn Sie meinen, der Erbprinz habe diese Eigenschaft von mir, so machen Sie mich sehr glücklich; ich danke Ihnen.“

In Herrn von Palmers scharfgeschnittenem Gesicht wetterleuchtete es vor unterdrückter Heiterkeit. Es war ja unbezahlbar; wenn die Berg das hören könnte! Prinzeß Thekla zupfte nervös an den Spitzen ihres Taschentuches; die Herzogin aber warf dem Gemahl einen bittenden Blick zu; sie kannte vollauf seine Antipathie gegen Tante Thekla. Die stammte noch aus seinen Jünglingsjahren, wo diese besagte Tante, mit einem hervorragenden Talent für Spionage begabt, seine tollen Streiche auskundschaftete, um sie bei der Herzogin-Mutter gesprächsweise anzubringen; natürlich nicht immer ganz der Wahrheit gemäß. – Jetzt würdigte sie Seine Hoheit keines Wortes mehr; sie wandte sich zu der Herzogin und überschüttete sie mit wahrhaft unheimlichen Freundlichkeiten, die eine mitleidige Färbung hatten, wie man zu Leuten zu sprechen pflegt, die unverschuldet einen großen, großen Kummer tragen; eine Freundlichkeit, die nervöse stolze Naturen bis aufs Blut peinigen kann.

Die Herzogin verstand sie nicht, aber sie litt unter all den Fragen und Rathschlägen und Erkundigungen, und als endlich Prinzeß Thekla seufzte: „Wenn ich nur ganz gewiß wüßte, ob Eurer Hoheit dieses Altenstein gut thun kann?“ ward sie ungeduldig und bat, man möge sie hinaufführen, sie fühle sich ermüdet.

Das galt als Zeichen zum Aufbruch; in kurzer Zeit war der Platz unter den Eichen leer, lagen die bunten Kugeln verlassen auf den Wegen, und auf der Chaussee rollten die beiden Prinzessinnen nebst ihrer Begleitung Neuhaus zu.

(Fortsetzung folgt.)




Aus dem Leben des Kaisers Wilhelm I.[1]
(Fortsetzung.)
Mannesjahre des Prinzen Wilhelm.

Ehe wir den Lebensgang des Prinzen Wilhelm weiter verfolgen, müssen wir den Gelöbnissen, welche er bei seiner Konfirmation ablegte, besondere Beachtung schenken. Der Prinz stand damals bereits in seinem 19. Lebensjahre; bei solcher Reife des Alters und dem Ernst seines Wesens darf man annehmen, daß die „Lebensgrundsätze“, welche der Hofprediger Ehrenberg mit Erlaubniß des Konfirmanden als Druckschrift erscheinen ließ, von dem Prinzen selbst verfaßt wurden und der ungeschminkte Ausdruck seiner Anschauungen sind. Für die richtige Beurtheilung seines Charakters und das Verständniß vieler Handlungen des späteren Fürsten ist daher die Kenntniß wenigstens der wesentlichsten dieser Lebensgrundsätze unerläßlich. Es sind dies namentlich die folgenden:

„Ich freue mich dieses (meines hohen) Standes nicht um der Auszeichnung willen, die er mir unter den Menschen verleiht, auch nicht um der Genüsse willen, die sich mir in demselben darbieten, sondern um deswillen, daß ich in demselben mehr wirken und leisten kann. Mein fürstlicher Stand soll mich immer an die größeren Verpflichtungen, die er mir auferlegt, an die größeren Anstrengungen, die er von mir fordert, und an die größeren Versuchungen, mit denen ich zu kämpfen habe, erinnern.

Ich will nie vergessen, daß der Fürst doch auch Mensch – vor Gott nur Mensch ist und mit dem Geringsten im Volke die Abkunft, die Schwachheit der menschlichen Natur und alle Bedürfnisse derselben gemein hat, daß die Gesetze, welche für andere gelten, auch ihm vorgeschrieben sind und daß er, wie die Anderen, einst über sein Verhalten wird gerichtet werden.

Mir soll alles heilig sein, was dem Menschen heilig sein muß.

Auf Gott will ich unerschütterlich vertrauen, ihm alles anheimstellen und mir im Glauben an seine Vorsehung einen getrosten Muth zu erhalten suchen.

Ich will an meiner Geistes- und Herzensbildung unablässig arbeiten, damit ich als Mensch und als Fürst einen immer höheren Werth erlange.

Ich weiß, was ich als Mensch und als Fürst der wahren Ehre schuldig bin. Nie will ich in Dingen meine Ehre suchen, in denen nur der Wahn sie finden kann.

Die Vergnügungen des Lebens will ich in Unschuld genießen und mich durch den Genuß derselben stärken zu des Lebens Pflichten, nie aber diesen Genuß mir zu einer wichtigen Angelegenheit machen oder als ein fürstliches Vorrecht ansehen.

Meine Kräfte gehören der Welt, dem Vaterlande. Ich will daher unablässig in dem mir angewiesenen Kreise thätig sein, meine Zeit auf das beste anwenden und so viel Gutes stiften, als in meinem Vermögen steht.

Ich will ein aufrichtiges und herzliches Wohlwollen gegen alle Menschen, auch gegen die Geringsten – denn sie sind alle meine Brüder – bei mir erhalten und beleben.

Ich achte viel höher, geliebt zu sein, als gefürchtet zu werden oder bloß ein fürstliches Ansehen zu haben.

Ich will das Verdienst aufmuntern und belohnen – und besonders das bescheidene und verborgene ans Licht ziehen.

Den Unglücklichen, die meinen Beistand suchen, oder von denen ich sonst erfahre, vornehmlich Wittwen, Waisen, Bejahrten, Männern, die dem Staate treu gedient, und ihren in Armuth Zurückgelassenen will ich Helfer und Fürsprecher sein, wie ich es vermag.

Für den König, meinen Vater, hege ich eine ehrfurchtsvolle und zärtliche Liebe. Ihm zur Freude zu leben, will ich mich auf das angelegentlichste bemühen. Seinen Befehlen leiste ich den pünktlichsten Gehorsam. Den Gesetzen und der Verfassung des Staates unterwerfe ich mich in allen Stücken.

Die Tugenden der Königin, meiner vollendeten Mutter, sollen mir unvergeßlich sein, und das Andenken der Verklärten soll bei mir stets in einem gerührten und dankbaren Herzen wohnen.

Meinen Geschwistern gelobe ich zärtliche Liebe und allen Mitgliedern der Familie, welcher ich angehöre, eine treue Ergebenheit.

Den Pflichten des Dienstes will ich mit großer Pünktlichkeit nachkommen und meine Untergebenen zwar mit Ernst zu ihrer Schuldigkeit anhalten, aber ihnen auch mit freundlicher Güte begegnen.

Verderbte Menschen und Schmeichler will ich entschlossen von mir werfen. Die Besten, die Geradesten, die Aufrichtigsten sollen mir die Liebsten sein. Die will ich für meine wahren Freunde halten, die mir die Wahrheit sagen, wo sie mir mißfallen könnte.“

Dies die bezeichnendsten Stellen aus den Lebensgrundsätzen. „Die Welt wird sehen, mit welchem Ernst und mit welcher

[205]

Am Feinde.
Nach dem Oelgemälde von W. Schuch.

[206] Theilnahme Sie die höchsten Angelegenheiten des Menschen in Erwägung gezogen haben“ – schrieb Ehrenberg in den Widmungsworten der Druckschrift an den Prinzen. Die Welt hat mehr als dies gesehen; sie hat seitdem durch sieben Jahrzehnte die Thaten des Prinzen, nachmaligen Regenten, Königs und Kaisers mit den Worten dieses Gelöbnisses vergleichen können und erkannt, daß dieselben sich vollständig mit einander decken. Die eiserne Pflichttreue, die Geradheit und Einfachheit seines Wesens, das Gottvertrauen und die Demuth, die Pietät und Dankbarkeit gegen alle, welche ihm im Leben nahe gestanden, die Menschenfreundlichkeit, die Unbestechlichkeit und Gerechtigkeit seines Urtheils; alle diese trefflichen Charaktereigenschaften, die Freund und Feind an unserem dahingeschiedenen Kaiser bewunderten, finden wir schon in den Lebensgrundsätzen aufs deutlichste ausgeprägt, viele seiner späteren Regierungshandlungen klar vorgezeichnet.

Ehe er jedoch dazu kam, obige Grundsätze auf dem Throne zur Geltung zu bringen, galt es zunächst, während eines langen Zeitraums den Pflichten des militärischen Dienstes nachzukommen.

Bei seiner großen Veranlagung für diese Laufbahn, welche sich nicht nur auf dem Execirplatze und Manöverfelde, sondern für die eingeweihten Kreise auch in vielfacher schriftstellerischer Thätigkeit äußerte, konnte es dem ganzen an einem raschen militärischen Aufrücken in der dem Kriege folgenden Periode nicht fehlen.

So wurde er am 30. März 1817 zum Oberst, am 6. Juni zum Chef des Infanterie-, jetzt Königs-Grenadierregiments, am 28. Februar 1818 zum Kommandeur der ersten Garde-Infanteriebrigade und schon am 30. März desselben Jahres zum Generalmajor ernannt.

Welches Vertrauen König Friedrich Wilhelm III. in die militärischen Fähigkeiten seines Sohnes damals bereits setzte, geht daraus hervor, daß er während seiner Reise nach Petersburg dem kaum einundzwanzigjährigen Prinzen am 21. Mai 1818 die obere Leitung aller Militärangelegenheiten übertrug.

Am 22. März 1825, dem achtundzwanzigsten Geburtstage des Prinzen, wurde dieser durch seine Ernennung zum kommandirenden General des dritten Armeekorps ausgezeichnet, und endlich am 18. Juni, dem zehnten Jahrestage des Sieges bei Belle-Alliance, zum Generallieutenant befördert.

Besonders innig gestalteten sich in diesem Lebensabschnitte die Beziehungen des Prinzen Wilhelm zum russischen Kaiserhofe. Die Ahnung der Königin Luise, daß ihrer Tochter Charlotte noch einmal „eine glänzende Zukunft beschieden“ sei, hatte sich durch die Vermählung derselben mit dem Großfürsten Nikolaus von Rußland am 13. Juli 1817 erfüllt. Damals war dem Prinzen Wilhelm die Aufgabe zugefallen, seine geliebte Schwester dem künftigen Gatten in St. Petersburg zuzuführen. Seine bald darauf, 15. Februar 1818, erfolgte Ernennung zum Chef des Regiments Kaluga, in dessen Reihen er einst seine Feuertaufe empfangen, zeigte, wie hoch Kaiser Alexander den Prinzen schätzte. Galt diese erste für die Vermehrung der Welt- und Menschenkenntniß des Prinzen bedeutsame russische Reise, welche sich bis Moskau ausdehnte, einem frohen Ereigniß, so war der Zweck der zweiten Fahrt an den Zarenhof ein um so ernsterer. Diesmal, nämlich im Januar 1826, wohnte er als Vertreter seines Vaters dem Leichenbegängniß Kaiser Alexanders I., des treuen Alliirten Preußens, bei. Obschon der Schwager des Prinzen als Nikolaus I. nunmehr den Thron bestieg und seine Schwester Charlotte unter dem Namen Alexandra Feodorowna Kaiserin von Russland wurde, war sein Schmerz um den Verstorbenen gleichwohl ein gewaltiger. Er bezeichnete den Todesfall als ein entsetzliches Unglück, das Europa getroffen habe. „Ich gestehe,“ schrieb er am 16. Dezember 1825, „mein Innerstes ist wie umgekehrt; ich kann es noch immer nicht fassen, daß dieser herrliche Mann, diese großartige Seele, dieser Herrscher im wahren Sinn des Wortes nicht mehr ist! Und was verliere ich persönlich nicht im Kaiser!“

Im übrigen wäre über diesen wesentlich der immer höheren Vervollkommnung in seinem militärischen und künftigen Feldherrnberufe gewidmeten und auch durch keine großen historischen Ereignisse bezeichneten Lebensabschnitt des Prinzen Wilhelm für den Biographen nicht viel zu berichten, wenn nicht neuere Veröffentlichungen uns einen dankenswerthen Einblick sowohl in die Gemüthsstimmungen wie ist die politischen Auffassungen des Prinzen gerade in jenen Tagen gewährten. Es geschieht dies namentlich durch die Briefe, welche in den Denkwürdigkeiten aus dem Leben des schon wiederholt genannten Generals Oldwig von Natzmer (von einem Neffen des Verstorbenen im Jahre 1887 herausgegeben) mit Erlaubniß des Kaisers Wilhelm abgedruckt worden sind.

Natzmer, in welchem König Wilhelm nach seinem eigenhändigen Vermerk auf den ihm 1861 zur Durchsicht gegebenen Briefen „einen treuen bewährten Freund beweinte, an welchen ihn die dankbarsten Erinnerungen knüpfen,“ ist nicht nur ein hervorragender militärischer Lehrmeister und Berather des jungen Prinzen, sondern auch sein Vertrauter in der zarten Herzensangelegenheit gewesen, welche ihn während der zwanziger Jahre in Freud und Leid bewegte. Es handelt sich um die Neigung des Prinzen zu seiner Kousine und Jugendgespielin, der lieblichen Prinzeß Elise Radziwill, Tochter des Fürsten Anton Radziwill, Statthalters des Großherzogthums Posen, und der Prinzessin Luise von Preußen, einer Schwester des bei Saalfeld gefallenen Prinzen Louis Ferdinand.

General von Natzmer war ins April 1820 als Divisionskommandeur von Berlin nach Breslau versetzt worden. Darauf schreibt Prinz Wilhelm am 30. Mai desselben Jahres:

„Von unserer Trennung mag ich nicht mehr reden. Sie wissen, was Sie mir durch die lange Reihe von Jahren, die wir beisammen verlebten, geworden sind, und wie verbindlich ich Ihnen stets bleiben muß für die Zeit, wo wir in näherer Verbindung zu einander standen. Freunde vergessen sich nicht in der Entfernung: dies soll, denke ich, unser Fall sein.“ Ein schönes, den fürstlichen Schreiber als Menschen ehrendes Wort.

Aus demselben Briefe ersehen wir, daß die Aerzte dem Prinzen damals eine Badereise anempfohlen hatten.

„Genehmigt hat sie der König, doch sich vorläufig für Teplitz erklärt; sämmtliche Fakultät findet es aber für das erste Mal zu angreifend für mich,“ schreibt der Prinz, „und dringt auf Warmbrunn, weil die thüringischen Bäder zu entfernt. Wie gerne ich nach Schlesien käme, wissen Sie, einmal Sie zu sehen, zweitens weil ich im Lande bleibe; morgen soll es sich entscheiden. Karl (sein jüngerer Bruder) und ich gehen nach Stargard, von dort nach Stralsund und Rügen.“

Es war aber offenbar noch ein dritter Magnet, welcher den Prinzen gerade in die schlesischen Bäder zog. Wiederholt werden im weiteren Verlauf des Briefes Festlichkeiten bei der Prinzessin Luise Radziwill erwähnt, vom Abend vorher eine musikalische Soireé, bei welcher der nach Berlin berufene Spontini eingeführt; wurden dann fährt der Prinz fort:

„Wie mir Prinzeß Luise (Radziwill) mitgetheilt hat, denkt sie Anfang Juli nach Salzbrunn zu gehen und dann nach Landeck. Auch aus dieser Rücksicht ginge ich gern nach Warmbrunn.“

Auch die Prinzessin Luise Radziwill wandte sich um Rath wegen ihrer Badereise an Natzmer. Dieser entschied sich dafür, der Familie Radziwill als Wohnung das nahe bei Warmbrunn gelegene Fürstenstein zu empfehlen. Die Prinzessin war dankbar für die getroffene Wahl und schreibt an Natzmer unter dem 22. Juli 1820:

„Die Reise des Prinzen Wilhelm ist nun auch entschieden, er geht nach Schlesien … Prinz Wilhelm will über Fürstenstein reisen. Ich hoffe, Sie erwarten ihn bei uns. “

An dem gleichen Tage berichtet Prinz Wilhelm seinem älterem Freunde mit sichtbarer Genugthuung ebenfalls , daß der König auf den wiederholten Rath der Aerzte Bad Landeck für ihn bestimmt habe, und fügt hinzu:

„Ich gedenke, den 6. August bis Glogau zu gehen, das erste Bataillon meines Regiments und die Festung, den 9. Liegnitz, 10. Schweidnitz, das zweite und Füsilierbataillon zu sehen, Mittags nach Fürstenstein und den 12. über Peterswaldau nach Landeck zu gehen. Ich freue mich außerordentlich der Reise!“

Der Herausgeber der Denkwürdigkeiten, Gneomar Ernst von Natzmer, bemerkt an dieser Stelle: „Der Prinz interessirte sich für die junge Prinzeß Elise Radziwill. Als ihr Zusammentreffen in Schlesien viele in der Meinung bestärkte, daß an eine Verbindung zu denken sei, beunruhigte dieser Gedanke den Prinzen, sobald er davon hörte. Er schüttete darüber sein Herz zu Natzmer aus, der sein Vertrauter war.“

[207] Welchen Inhalt diese Briefe gehabt, geht aus der in der Vorrede der Denkwürdigkeiten mitgeteilten Eingabe des Herausgebers an Kaiser Wilhelm vom 11. November 1878 hervor, worin die Entscheidung desselben darüber eingeholt wurde, ob das ihm eingereichte Schriftstück über die Beziehungen des Kaisers zur Familie Radziwill dereinst veröffentlicht werden dürfe, wenn der Kaiser nicht mehr hienieden sein werde.

„Was Ew. Majestät aber auch beschließen werden,“ heißt es in der Anfrage, „ich bin stolz, daß ich vor so vielen in das Herz meines Königs diesen Blick thun durfte! Möchte ich nur Ew. Majestät mit der Erinnerung eine, wenn auch vielleicht wehmütige Freude bereitet haben.“

Schmückung zur Trauung.
Originalzeichnung von H. Lüders.

Die aufmerksame Durchsicht des vom Kaiser sofort und ganz mit großem Interesse gelesenen Manuskripts rief nach der durch Hofrath Schneider erteilten Antwort das Bedenken des Kaisers wach, ob die Veröffentlichung der Briefe desselben, welche die intimsten und zartesten Verhältnisse einer dem königlichen Hause so nahe stehenden und befreundeten fürstlichen Familie berührten, auch wohl nur als Zugabe zu dem Lebensbilde eines Anderen geraten sei.

Von der Veröffentlichung dieser Briefe mußte hiernach abgesehen werden. In den Denkwürdigkeiten wird daher die Bemerkung über das Verhältniß des Prinzen Wilhelm zur Prinzessin Elise Radziwill mit den Worten geschlossen:

„Wir müssen uns leider darauf beschränken, auszusprechen, daß der noch so jugendliche Prinz auch hierin den Weg der Pflicht zu gehen wußte.“ –

Prinz Wilhelm mußte den Traum seiner Jugendliebe den höheren Rücksichten der Hof- und Staatspolitik opfern. Daß dies nicht ohne lange und schwere innere Kämpfe geschah und ihm der Aufenthalt in Berlin in jenen Jahren häufig peinlich und drückend war, geht aus zahlreichen Aeußerungen an Natzmer hervor. Diesen hatte der aus Anlaß der Revolution im Königreich Neapel am 20. Oktober1820 in Troppau zusammenberufene europäische Kongreß als Begleiter des Kronprinzen nach dort geführt; später machte er als preußischer Militärbevollmächtigter bei den gegen Neapel operirenden österreichischen Truppen den Feldzug mit. Damals, am 19. Dezember 1820 schrieb ihm Prinz Wilhelm:

„Ich wollte, ich wäre an Ihrer Stelle und könnte fort nach Italien.“ Und am 3. Februar 1821: „Wenn Sie Roma superba passiren und in dem herrlichen Italien Luft und Landschaft in vollen Zügen genießen, so denken Sie zuweilen desjenigen, der gern jetzt weit von Berlin wäre.“ Ferner am 26. Mai 1821: „Wenngleich in kriegerischer Hinsicht bei dem Feldzuge nicht viel zu profitiren war, so haben Sie doch ein herrliches Land kennen gelernt und das kriegerische Leben und Treiben wieder gekostet, was beneidenswerth genug, besonders für jemand, dem Kopf und Herz zerspringen möchte!“

Es gab indeß ein Vergessen des Jugendtraumes, und in einem neuen dauernden Glücke fand der Prinz den lange schmerzlich entbehrten Seelenfrieden wieder.

Nachdem der Kronprinz seit dem 29. November 1823 mit der Prinzessin Elisabeth von Bayern in kinderloser Ehe vermählt war und im Winter von 1826 zu 1827 die Verlobung des jüngeren Bruders, des Prinzen Karl, mit der Prinzessin Maria von Sachsen-Weimar erfolgte, drängte man seitens des Hofes immer stärker darauf, daß auch Prinz Wilhelm endlich seine Wahl unter den Töchtern eines regierenden Hauses treffe. Fiel ihm aus den angedeuteten Gründen der Entschluß hierzu auch anfänglich recht schwer, so unterwarf er sich doch dem Wunsche des Königs, der wohl in diesem Winter bereits die Möglichkeit einer Doppelverbindung seines Hauses mit dem von Weimar in Rechnung zog.

Der Prinz hatte deshalb dem befreundeten Hofe damals bereits einen Besuch abgestattet, über welchen er seinem oft genannten Vertrauten unter dem 21. Dezember 1826 berichtet: „In Weimar habe ich eine sehr angenehme Zeit verlebt, obgleich [208] es Momente gab, die mir sehr schmerzlich sein mußten. Der Befehl zu dieser Reise ist ein Beweis, daß mir das Leben nicht leicht gemacht wird. Abgesehen hiervon war der Aufenthalt charmant.“

Ueber den Eindruck, den unser Prinz am weimarschen Hofe machte, urtheilt Freiherr v. Gagern. „Prinz Wilhelm ist die edelste Gestalt, die man sehen kann, der Imposanteste von allen; dabei schlicht und ritterlich, munter und galant, doch immer mit Würde. Unsere Prinzessin Augusta schien ihn sehr anzuziehen.“ Eine gleichzeitige Schilderung dieser auch von Goethe „so bedeutend wie liebenswürdig“ genannten Prinzessin in einem Briefe Wilhelm v. Humboldts an Stein lautet. „Ihr lebendiger und durchdringender Geist spricht aus ihrem Blick; ihre Züge sind im höchsten Grade bedeutungsvoll und ihre ganze Gestalt wird sich in einigen Jahren gewiß noch schöner, als sie jetzt schon erscheint, entwickeln.“

Erst bei einem zwei Jahre späteren Besuche des Prinzen in Weimar erfolgte am 19. Oktober 1828 sein Eheversprechen mit der am 30. September 1811 gebornen Prinzessin Augusta, woran sich am 11. Februar 1829 die feierliche Verlobung anschloß.

Am 11. Juni desselben Jahres wurde im königlichen Schlosse zu Berlin mit aller Pracht die Vermählung des ritterlichen, charakterstarken Sohnes der Königin Luise mit der anmuthigen, hochgesinnten Enkelin Karl Augusts, des Freundes unserer Dichterheroen, gefeiert und damit eine Verbindung geknüpft, welche sich im Laufe der .Zeit immer inniger gestaltete und beiden fürstlichen Gatten wie dem Lande zu hohem Segen gereichte.

Rosenmond – wie lag die Welt
Licht- und glanzumflossen,
Als das junge Fürstenpaar
Ew’gen Bund geschlossen!
Tief im Herzen blühte auf
Rothe Himmelsrose:
Liebe, die kein Frost versehrt
Und kein Sturmgetose.“

Kaiser Nikolaus und seine Gemahlin, die Schwester des Bräutigams, hatten durch ihre unerwartete Ankunft die Freude des Hofes noch vermehrt. So konnte vor der Trauung die Krone auf dem Haupte der zukünftigen Königin von Preußen und Kaiserin von Deutschland unter Hilfeleistung dreier ihr verwandter hochfürstlichen Frauen, der Kronprinzessin Elisabeth, der Kaiserin von Rußland und der Großherzogin von Sachsen-Weimar, befestigt werden.

Die kirchliche Weihe vollzog der evangelische Bischof Eylert. General v. Natzmer, welcher der Hochzeit seines prinzlichen Freundes beiwohnte, berichtet darüber. „Die Vermählung ist glücklich vollzogen. Die Prinzeß sah sehr hübsch aus, war während der Trauung gerührt und nachher ungemein heiter und vergnügt. Die Gratulationskour (am folgenden Tage) hat die Prinzeß meisterhaft abgehalten; sie dauerte über zwei Stunden; aber die Prinzeß hat jedem so Hübsches und Passendes gesagt, daß alles enchantirt war.“ Ueber das Benehmen des Prinzen während der Reise von Weimar nach Berlin berichtet derselbe Beobachter: „Der Prinz war voller Attentionen für die Braut, auch Frau v. Hopfgarten (die Begleiterin der Prinzessin) entzückt über sein Benehmen.“

Am Tage nach der Vermählung bezog das junge Paar das Tauentziensche Haus Unter den Linden Nr. 37, welches dem Prinzen ursprünglich als Dienstwohnung überwiesen war. Später kaufte er dasselbe und ließ es in dem einfach würdigen Stil ausbauen, in welchem wir es alle als königliches, später kaiserliches Palais kennen. Den Gatten erblühte in dieser ihrer Häuslichkeit ein reines Glück.

„Prinz Wilhelm ist glücklich und zufrieden,“ schreibt General v. Brause im folgenden Winter. „Die Prinzessin ist heiter und gefällt allen, die sie näher kennen lernen.“

Noch höher wuchs die häusliche Zufriedenheit, als dem Paare am 18. Oktober 1831, dem Jahrestage der Völkerschlacht bei Leipzig, ein Erbe geboren wurde, welcher in der Taufe am 13. November die Namen Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl empfing. Ihm folgte als zweites und letztes Kind erst am 3. Dezember 1838 eine Tochter, Luise, nach ihrer königlichen Großmutter genannt.

Auch während der dreißiger Jahre blieb die Thätigkeit des Prinzen fast ausschließlich militärischen Angelegenheiten gewidmet.

Das Jahr 1838 brachte ihm am 30. März die Ernennung zum kommandirenden General des Gardekorps und zum Generalinspekteur der vierten Armeeabtheilung. Seinen hierdurch wiederum erweiterten militärischen Aufgaben wurde er jedoch 1839 durch eine schwere Erkrankung an einer Brustfellentzündung mit nachfolgendem Kuraufenthalt in Ems, Baden, der Schweiz und Oberitalien für längere Zeit entzogen.

Der letzte Befehl des Königs Friedrich Wilhelm III., welchen Prinz Wilhelm auszuführen hatte, war die Leitung der militärischen Anordnungen bei der Grundsteinlegung zum Denkmal Friedrichs des Großen am 1. Juni 1840. Doch der Tod stand schon auf der Stirn des Vaters geschrieben, als dieser mit fast erlöschenden Blicken der Feierlichkeit von dem Fenster seines Palais aus zuschaute. Der 7. Juni erlöste den König von seinen Leiden, nachdem Prinz Wilhelm vorher noch die traurige Aufgabe gehabt, seiner Schwester Charlotte, der Kaiserin von Rußland, nach Küstrin entgegenzureisen, um sie auf den Anblick des sterbenden Vaters vorzubereiten. Ein Tagesbefehl des Prinzen vom 10. Juni verkündete, daß es der Wunsch des verklärten Monarchen gewesen, durch die Reihen des Gardekorps seiner letzten Ruhestätte zugeführt zu werden. Diese fand Friedrich Wilhelm III. am 11. Juni an der Seite der Königin Luise im Mausoleum zu Charlottenburg: von da an für den pietätvollen Sohn eine doppelt geheiligte Stätte ernster Erinnerung und andachtsvoller Erhebung.

(Fortsetzung folgt.)




An die Kaiser-Wittwe und -Mutter.

Dich traf das schönste Loos von allen deutschen Frauen
Und keine ward so hoch wie Du beglückt!
Sie alle durften nur verehrend aufwärts schauen;
Als Gattin hat er Dich ans Herz gedrückt:
Den Kaiser liebten sie, des Volkes Schutz und Wehr –
      Dir war er mehr!

Dich traf der größte Schmerz von allen deutschen Frauen,
Solch Leid ward keiner sonst im Vaterland!
Wohl weinten sie, als ihm genaht des Todes Grauen,
Du sahst sein brechend Auge Hand in Hand.
Ach, allen starb in ihm der Kaiser mild und hehr –
      Dir starb noch mehr!

In ihren Kindern schenkt der Himmel Trost den Frauen,
Den Müttern, welchen er den Gatten nahm,
Und Muttersorge darf auf seine Gnade bauen,
So trau’ auf ihn in Deinem Muttergram!
Er spende seinen Trost der Trauer rings umher –
      Doch Dir noch mehr!

[209]
Trauertage und des großen Kaisers Leichenbegängniß.
Von Hermann Heiberg.

Ganz Berlin hatte sich in ein Trauerhaus verwandelt. Kein Gebäude im Osten, Süden Westen und Norden der Kaiserstadt, das nicht durch ein stummes Zeichen an dem ungeheuren Schmerze sich betheiligte, der das Volk ergriffen hatte. Hing keine Fahne auf das Dach herab, waren die Etagen nicht umflort, in den Schaufenstern die Büsten des großen Todten nicht umhüllt von düsteren Stoffen, so sah man doch Männer, Frauen und Kinder, in dunkle Gewänder gekleidet, ein- und ausgehen. Jedes Haus machte dadurch den Eindruck, als sei hier, gerade hier, ein theurer Todter zur Ruhe gegangen. Wohin das Auge

Leichenbegängniß Kaiser Wilhelms: Die Spitze des Trauerzuges.
Originalzeichnung von F. Wittig.

blickte, der Ausdruck eines tiefen, nachhaltenden Schmerzes. Mit den äußeren Bildern deckten sich die Empfindungen. Jedem war zu Muthe, als sei aus seiner Familie jemand dahingegangen, als ob ihn persönlich ein ungeheurer Verlust betroffen habe. Denn man trauerte nicht allein um den ersten Kaiser des neugeeinten Deutschen Reiches, nicht allein um den Sieger, der sich einen Ruhm sondergleichen erworben, sondern auch um den Mann, der sich durch seltene Pflichttreue auszeichnete und in dem sich alle Tugenden eines Fürsten und Menschen vereinigten. Und welche Masken auch sonst die Menschheit vorsteckt, in dieser grandiosen Trauer der Stadt Berlin war kein Falsch. Sie war so echt wie die Thränen eines unschuldigen Kindes. Greise und Unmündige weinten und schluchzten beim Bekanntwerden des Geschehenen.

An jenem Tage der Todesnachricht trat der Direktor einer öffentlichen Lehranstalt in den Kreis der Schüler und sagte mit zitternder Sprache: „Unser Kaiser ist gestorben , liebe Kinder! Geht still nach Hause.“ Er wandte sich ab, seine Stimme erstickte, und unter den Knaben war keiner, der sich nicht das Naß aus den Augen wischte.

Wohin man in dieser Trauerwoche den Weg nahm, stieß man in Berlin auf die Ausdrücke des Schmerzes. Und in diesen Schmerz mischte sich noch – eine Tragik ohnegleichen. Da wir Menschen sind, hat Recht auf Würdigung, was in dem Innern einer menschlichen Seele sich regt. Wir trauern doppelt!

„Obschon mit Wunden tief geschlagen,
Heißt’s nun fast größ’res Leid noch tragen!“

Im Charlottenburger Schloß stand des großen Kaisers Sohn am ersten Tage nach seiner Ankunft, stand der deutsche Kaiser Friedrich früh morgens und blickte hinaus auf den todten Schloßhof und auf die kahle Chaussee! Nicht unter den Linden inmitten der Stadt, umjubelt von seinem Volke. Kein Palais, umgeben von Tausenden; keine Wallfahrt zu dem Erben des Thrones! Kein mächtigeres Aufzucken in den Seelen, nun, da sie ihn vor sich sahen in seiner herrlichen, kraftvollen Erscheinung! Der große Kaiser Wilhelm todt, der edle Kaiser Friedrich am Leben, aber von tückischer Krankheit erfaßt! Das ist für ein Volk Tragik, namenlose Tragik!

Und dann kam der 16. März, an welchem dem verstorbnen Monarchen die letzte Ehre erwiesen wurde. Von diesem erhebenden Trauerakte werden noch die kommenden Geschlechter sprechen. Es übte durch die Theilnahme der Bevölkerung einen Eindruck ohne Gleichen!

Die Linden waren eine Trauer- – eine Todesstraße geworden. Wer in den vorangehenden Tagen das Aufbauen beobachten konnte, den mußte Bewunderung erfüllen! Wie durch Zauber entstand das Alles , wuchs alles gleichsam aus dem Boden: Postamente, Pyramiden, Pavillons, Säulen, Masten, Baldachine, Zelte, Nischen, Stangen, Embleme, Velarien, Fahnen, [210] Dekorationen – es ist schier unbegreiflich, daß das Alles in so kurzer Frist erdacht, entworfen und ausgeführt worden ist.

Das Giebelfeld am Dom war mit riesigen Goldpalmen dekorirt, die Façade schwarz drapirt, die Säulen vergoldet, der Platz mit Tannen umstellt. So auch trugen das große Schloß, das Zeughaus, die Universität, die Akademie Abzeichen der Trauer. Die neue Wache war nach zwei Seiten kreisrund erweitert, wirkte wie ein antiker Tempelvorbau und war so glücklich erfunden, in der Wirkung so imposant, daß das schnell hergestellte Werk in seiner würdevollen Einheit werth wäre, der Stadt erhalten zu bleiben oder als Modell einem Bau gleicher Art zu dienen.

Mit Flor und Reisig dekorirt, erhoben sich vor dem Opernplatz vier Pavillons. Ueberall ernste, fromme Sprüche. Von der Schloßbrücke, an der hohe Masten mit Trauersegeln hervorragten bis zu diesen Pavillons waren die umschließenden Gebände selbst eine natürliche Seitendekoration. Von dort waren durch Flor und Grün verbundene Trauerstangen mit wimpelnden schwarzen Fahnen aufgestellt. Eine Kapelle, düster ausgeschlagen, inmitten eine goldene Trauergestalt, geschmückt mit einem Kreuze, stand vor dem Hauptportal der Universität Unter den Linden, und vor deren Eingang ragten schwarze Pyramiden empor. Sah man von hier bis ans Brandenburger Thor hinab, so glaubte man eine Gräberstraße zu erblicken. An dem ganzen Mittelweg erhoben sich schwarz ausgeschlagene, mit Sammt drapirte Postamente, welche Feuerschalen trugen und durch lang herabhängende Flor- und Tannengewinde verbunden waren, während ein riesiger Pavillon mit der Kaiserkrone, ein gewaltiger und imposanter Aufbau, in der Mitte hoch emporragte.

An der Charlotten- und Wilhelmstraße befanden sich größere Postamente, die ebenfalls schwarzumschleierte Urnen oder Feuergefäße trugen. Den Schluß am Pariser Platz bildeten zwei Pyramiden, auf denen goldene Adler ihre Schwingen erhoben, ganz wie sie auch am Eingang der Linden sich befanden.

Von unvergeßlicher Großartigkeit war das Brandenburger Thor mit seinem gewaltigen, machtvollen Unterbau. Säulen, Giebel und Sims waren mit schwarzen Stoffen drapirt, die Stufen zur Attila mit dunklem Tuch ausgelegt. Die Siegesgöttin schien in eine durchsichtig düstere Wolke gehüllt. Vier schräg gestellte Riesenstangen in schwarz und weißen Farben und mit gewaltigen Quasten hielten ein dunkles Velarium, das weit in den Pariser Platz mit seinen kolossalen, schwarzbeschlagenen Tribünen zu beiden Seiten des Bürgersteiges hineinragte.

Den Schluß der Gesammtaufstellungen bildeten hinter dem Brandenburger Thor und an der Siegesallee hohe Obelisken mit Fahnenstangen und dreieckige Pyramiden mit Feuerschalen, alles schwarz, alles in Trauerfarben. Und diese Trauerfarben auch an den Häusern Unter den Linden mit ihren Tausenden und aber Tausenden von schwarzgekleideten Menschen, welche die Wege bevölkerten, aus den Fenstern, von den Balkonen, von den Dächern herabschauten. Das ganze Reich, insbesondere die Provinzen, hatten ihre Massen ausgeströmt. Alle Hôtels, auch Privatwohnungen waren überfüllt von Zugereisten. Die Züge aus Norden, Westen, Osten und Süden trafen mit großen Verspätungen ein.

Schon um acht Uhr morgens entstand ein ameisenartiges Gewimmel in den nach den Linden einmündenden Straßen. Einzelne Fenster waren für unverhältnißmäßige Preise vermietet.

Namentlich durch die Wilhelm-, Friedrich-, Behren- und Charlottenstraße zogen Massen, die nach Hunderttausenden zählten, und im Ganzen mögen wohl am Begräbnißtage 800 000 Menschen unterwegs gewesen sein. Endlich gegen 11½ Uhr hatte sich alles überall postirt. Die nicht in Betracht kommenden Straßen waren wie ausgestorben; aber unter den Linden, und namentlich in der Charlottenburger Chaussee bis ans Schloß standen die Zuschauer Kopf an Kopf. Dort war jeder Baum besetzt; Tribünen wurden improvisirt; Droschken, Equipagen, Fuhrwerk jeder Art mit ihren Sitzen und Kutscherböcken dienten als Auslugpunkte. Freilich, der Naturfreund sah mit Schmerz, wie vieles zerstört ward, so selbst junge Bäume zerknickt und ausgerissen wurden, sofern sie dem andrängenden Publikum Hindernisse boten.

Von wesentlichen Unglücksfälle hat man nichts gehört; ein wahrhaft überraschendes Resultat, wenn man Zeuge war von den Massen und ihrem Ungestüm. So aber boten die Linden ein ruhiges Bild, und als sich später die langen, dichten Reihen lösten, war zu einer Entfaltung Raum, der in anderem Falle nicht vorhanden gewesen und wodurch sicher viel Unglück herbeigeführt worden wäre. Ueber fünf Stunden hatten diejenigen geharrt, die vor acht Uhr die Linden betraten. Ein eisigkalter Wind wehte und durchfröstelte die Menschen. Draußen vor dem Brandenburger Thor ein großes, weißes Leichenfeld der ausgestorbenen Natur; hier eine Todtenfeier mit Fackeln, umflorten Lichtern, Laternen, mit düstern Fahnen, schwarzen Draperien.

Endlich ertönten die Salven. Der Gottesdienst im Dom war beendet; der Zug setzte sich in Bewegung. Als die langgezogenen Klänge des Chopinschen Trauermarsches erschollen, als nun im ernsten, gemessenen Schritt die Regimenter und Bataillone zu Pferde und zu Fuß vorüberzogen, da ging durch die gesammte Menge ein Schauer – eine tiefe Bewegung. Nun sollte sich auch der letzte Akt in dem Dasein des großen Monarchen vollziehen. Kaiser Wilhelm, der erste deutsche Kaiser der neu geeinigten Nation, ward in die Gruft gebracht.

Pausen entstanden; der Zug stockte; die Trauermärsche verhallten. Dann wieder neue Regimenter, neue Klänge. Schier endlos schien der Zug. Die Trommler der Bataillone ließen ab und zu einen kurzen, gedämpften Wirbel ertönen, der etwas unheimlich Ergreifendes hatte. Nun kam die Artillerie, dann Garde du Korps zu Pferde. Bunte Bilder und doch immer tiefernst, würdig, weihevoll, der großen Todtenfeier angemessen. Dann erschienen die Fouriere, die Marschälle, das Hauspersonal, die Diener, Lakaien, die Leibpagen in rothen Röcken mit umflorten Dreimastern und in dunklen Gamaschen ohne Rockbekleidung trotz der scharfen Kälte, hochaufgerichtet, stramm wie alle, die bisher vorübergezogen.

Nach ihnen die Leibärzte und Kammerherren, die Geistlichkeit und nun, als anziehendstes Bild neben dem eigentlichen Kondukt, die Minister mit den Reichsinsignien, die von ihnen auf Goldbrokatkissen getragen wurden.

Und endlich die sterbliche Hülle des großen Kaisers. Die Köpfe entblößten sich, soweit man sehen konnte. Die Menschen weinten vielfach in stummer Rührung um ihren geliebten, vielgeliebten Kaiser. Acht schwarze Pferde mit Atlasdecken, welche mit silbernen Adlern durchwirkt waren, zogen den von acht Stabsoffizieren geführten Wagen. Der purpurne, mit Gold verzierte Sarg stand hoch auf dunklem Grunde, umgeben von Blumen und Kränzen. Ein goldenes Kreuz und ein Ritterhelm mit herabgelassenem Visir, der letztere hoch hervorragend, schmückten den Sargdeckel. Vier Ritter des Schwarzen Adlerordens trugen die Zipfel des schwarzen Leichentuches, während der Baldachin an vergoldeten Stangen von 12 Generalmajors gehalten wurde.

Ein Lambrequin mit goldenen Zacken, auf welchem Adler eingewirkt waren, umsäumte den Baldachin, den zwölf Adler überragten. Unter den Schwingen dieser Sinnbilder von Kühnheit, Kraft und Muth war des großen Kaisers Leiche gebettet. Nun kam des verstorbenen Monarchen Leibpferd. Die alten Sagen der Geschichte drängten sich dem Beschauer auf. Das treue Schlachtroß folgt dem gefallenen Helden, schreitet seiner Bahre, gleichsam mitempfindend, nach.

Dem General v. Pape, der, umgeben von zwei General-Adjutanten, das Reichspanier trug, folgte allein Kronprinz Wilhelm, ernst, gemessen, nicht um sich schauend, sichtlich ergriffen, nur von dem einen Gedanken bewegt und so nicht nur durch seine hohe Stellung jeden Blick fesselnd. Hierauf schritten drei Fürsten, der König der Belgier, der König von Sachsen und der König von Rumänien. Dann schloß sich Prinz Heinrich von Preußen an. Von dem bisherigen langsam würdigen Schritte abweichend, drängten sich zahllose Fürsten, Abgesandte, Generale, Minister, Präsidenten und höhere Offiziere, die so rasch vorübereilten, daß es kaum möglich war, den Einzelnen ins Auge zu fassen.

Die gemessene Ordnung verschwand leider schon mit dem Erscheinen der Kammerherren und Kammerjunker und wurde erst später bei dem Kondukt und endlich am Schluß durch die Truppen wieder hergestellt.

Als diese nun auch vorübergezogen, lösten sich die dichtgedrängten Massen unter den Linden und jeder suchte, [211] besonderen Zweck verfolgend, so schnell wie möglich den vordem so schwererrungenen Platz zu verlassen.

Als der Trauerzug die Siegesallee erreicht hatte, gaben die Stabsoffiziere die Führung an acht Lieutenants von den Leibregimentern ab. Auch die den Baldachin tragenden Generale wurden von Hauptleuten abgelöst, und die Spitze des Gefolges nahm in den bereitstehenden Wagen Platz.

Die Könige, Fürsten und Prinzen fuhren nach Charlottenburg.

Vale senex imperator! Fahre wohl, greiser Kaiser! stand an dem Siegesbogen des Brandenburger Thores, und auf der Thiergartenseite des Thores „Gott segne deinen Ausgang!“ Einfache, durch ihre Einfachheit unendlich ergreifende Inschriften.

Wenn die Leser dieses Blatt an die Hand nehmen, ruht Kaiser Wilhelm, dem die Stadt Berlin diese letzten Worte zurief, in der Tiefe des Mausoleums in Charlottenburg. Man wird dahin wallfahrten Jahrhunderte und drüber hinaus. Wie man nicht in Potsdam gewesen sein kann, ohne in der Garnisonkirche in dem kargen, kalkweiß gestrichenen Grabgewölbe den einfachen, völlig schmucklosen, grauen Sarg Friedrichs des Großen gesehen zu haben, so wird auch der Fremde nicht nach Berlin kommen, ohne das Charlottenburger Mausoleum in Augenschein zu nehmen, das durch Bauart und Lichteinlaß an und für sich eine Todtenkapelle ist, wie es vielleicht wenige giebt.

Drei große preußische Herrscher, Fürsten, welche die gesammte Welt mit Staunen, Ehrfurcht und Bewunderung erfüllt haben, liegen nun begraben: der große Kurfürst, der große Friedrich und der große Kaiser Wilhelm der Erste!

Wer dem letzteren nachfolgt in seinen Tugenden, wird ein ganzer Mann sein. Und ganze Männer braucht die Zeit, braucht das heutige Dasein: der Staat und die Familie. Das gegenwärtige wie das nachfolgende Geschlecht kann den großen Todten nicht besser ehren, als daß es in seine Fußstapfen tritt, und da er ein leuchtendes Beispiel bleibt, wird er noch weit über das Grab hinaus im deutschen Volke wirken, welches ihm eine Liebe entgegentrug, die in der Weltgeschichte wohl nicht ihresgleichen gehabt hat. – Friede seiner Asche!

Am Mausoleum zu Charlottenburg.
Originalzeichnung von H. Lüders.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Josias.
Eine Geschichte aus alter Zeit von Fanny Lewald.
(Fortsetzung)

Der nächste Tag verging – so fängt das neue Kapitel an in der Tante Tagebuch – und noch ein anderer. Bei allem, was ich that, dachte ich nur an Josias, an den Grafen, an Franulls Tod und an ihr Kind. Ich träumte davon in der Nacht. Ich schien mir älter geworden und kam mir wichtiger vor, weil ich das Vertrauen unseres Freundes gewonnen hatte, und auch – ich schildere mich nicht besser, als ich mit meinen zwanzig Jahren war – weil ich mich im Besitze eines Geheimnisses wußte, das meinen Eltern vorenthalten worden. Ich wartete ungeduldig auf die Stunde, in welcher ich wieder einmal mit Josias allein sein würde; er jedoch suchte offenbar nicht nach der Gelegenheit, und nicht mich allein wollte es bedünken, als sei er nicht so gut aufgelegt wie bis dahin.

Am dritten Nachmittag fuhr der Vater wie an jedem Sonnabend, und es war ein solcher, zur Stadt ins Geschäft, sich die Wochenrechnungen vorlegen zu lassen. Die Mutter, Josias und ich waren allein beisammen und sie sagte zu ihm, allerdings sei es nicht schicklich, einem Gaste bemerkbar zu machen, daß man an ihm seine gewohnte gute Laune vermisse; es sei ihr jedoch so viel werth, ihn unter unserm Dache zufriedenzustellen, daß sie ihn bäte, ihr zu sagen, ob er irgend etwas entbehre oder ob etwas geschehe, was ihm nicht zusagend sei und was man ändern könne.

[212]

Leichenbegängniß Kaiser Wilhelms: Unter den Linden.
Originalzeichnung von O. Gerlach.

[213] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [214] „Nein nein, Madame!“ rief er, „wie können Sie mich für so anspruchsvoll halten, daß ich nicht in jedem Augenblick dankbarst die herzliche Freundschaft und Vorsorge empfände, mit der es Ihnen gefällt, mich zu umgeben! Nur mit mir bin ich unzufrieden; denn ich habe mich verfehlt gegen die Gastfreundschaft und gegen die Zuversicht, die Sie mir gewähren. Ich habe Fränzchen ohne Ihre Zustimmung zur Vertrauten meiner Vergangenheit gemacht, in welcher – ich darf das sagen – ich mich keiner Verschuldung anzuklagen habe, die man einem jungen Mädchen zu verbergen hätte. Aber es ist gesündigt worden gegen die Sittlichkeit und gegen die Sitte innerhalb des Kreises, in welchem ich meine Kindheit und erste Jugend zuzubringen gehabt, und das hat seinen Schatten geworfen auf meinen Lebensweg. Davon habe ich mit Franziska gesprochen, während ich zugleich die Forderung an sie gestellt, gegen jedermann, also auch vor Ihnen zu verschweigen, was sie von mir gehört. Das war beides ein Unrecht gegen Sie, meine Freundin! Wollen Sie’s verzeihen?“

Die Mutter, zuerst betroffen, hatte doch das sich nie verleugnende Zartgefühl unseres Freundes anzuerkennen; aber er ließ ihr zu der Entgegnung nicht die Zeit, sondern bat sie, ihm zu gestatten, daß er auch sie in sein Vertrauen ziehe; und mit ebenso raschen als sicheren Zügen schilderte er ihr, wie er dazu gekommen, mit mir von seinen Erlebnissen zu sprechen, und theilte ihr in kurzem Umrisse mit, was er mir in Ausführlichkeit berichtet.

Als er bis zu dem Punkte gelangt war, zu welchem er neulich seine Erzählung geführt, sagte die Mutter mit ihrem sanften Ernste, indem sie ihm die Hand gab:

„Sie machen sich einen Vorwurf nicht ganz ohne Grund, denn Sie haben Franziska verleitet, nicht aufrichtig gegen mich zu sein. Mag sie sich das vergeben, wenn sie’s kann! Sie, mein Freund, haben Ihre Buße gethan; und nun, da wir beisammen sind, Mutter und Tochter, wie es sich gebührt, erzählen Sie ihn uns weiter, den Roman Ihres Lebens, der uns so weit näher angeht als die Erfindung der Dichter oder die Erlebnisse von uns fremden Menschen, welche uns zugetragen werden in dem täglichen Verkehr der Gesellschaft, die doch auch nicht frei ist von Schuld und Fehle, so wenig wie der Graf und wie die Frau, die ihn verrathen. Erzählen Sie! Wir hören Ihnen mit dem Herzen zu.“

Josias küßte ihr die Hand; ich that desgleichen; sie wehrte es mir nicht, und nach ihrer wiederholten Aufforderung sagte er:

„Die Geburt jenes Kindes war mein Schicksal! Doch würde sie in jenen Tagen keinen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht haben, wäre es nicht eben das Kind der schönen Tänzerin gewesen, deren Sturz vom Seile zu meinen lebhaftesten Erinnerungen gehörte, und wäre diese nicht gestorben. Nun war sie hin und die kleine Franull war eben da.

Gegen die Gewohnheit der letzten Jahre vergingen jedoch mehrere Wochen, bevor der Graf wieder bei uns in Schönfelde erschien. Der Vater war einmal ohne die Mutter nach Dambow gefahren, man hatte den Grafen nicht eingeladen, und er hatte sich nicht ansagen lassen. Darüber waren wir bis in den Anfang des Dezembers gekommen. Der Schnee lag schwer auf Feld und Wald. Der Herbst war sehr naß gewesen; dazwischen hatte es gefroren und wieder gethaut; die Wege waren zwischen Halten und Brechen fast grundlos. Es war mit den Wagen kaum durchzukommen. Das bot für eine Unterbrechung des Verkehrs zwischen den Gutsnachbarn den natürlichsten Vorwand. Da kam endlich nach klarem Tage und scharfem Frost ein Abend, den der Mond erleuchtete, daß es von den Zweigen und Aesten unserer Ulmen flimmerte wie die Sterne am Himmel und man mit Vergnügen hinaus sah aus den Fenstern in die Weite; und ich hatte noch nicht lange in dem vorgebauten Erker gestanden, als zwei Reiter sichtbar wurden und einritten in den Hof. Es war der Graf, gefolgt von seinem Reitknecht.

Der Vater eilte ihm entgegen; gleich darauf traten sie in das Zimmer. Die Begrüßung war die herzliche wie stets, die Unterhaltung beim Abendessen heiter, und als dann Doktor Hartusius, was er sonst nicht zu thun pflegte, sich gleichzeitig mit mir entfernte, blieben der Graf und meine Eltern noch über die sonst gewohnte Zeit beisammen. Es war gegen Mitternacht, als er Schönfelde verließ, und am nächsten Sonntage speisten wir alle bei ihm in Dambow.

Erst viel später habe ich erfahren und begreifen können, was an jenem Abende zwischen dem Grafen und den Eltern zur Sprache gekommen war. Wir lebten, ich muß das vorausschicken, damals ja noch in den Zeiten, in welchen auch bei uns in der Mark die Leute noch Hörige, wenn schon nicht mehr im strengsten Sinne des Wortes Leibeigene waren. Sie waren noch an die Scholle gebunden; ihr Fortgehen, ihr Heirathen hingen ganz von dem Belieben des Gutsherrn ab, und die Sittlichkeit hatte darunter zu leiden, daß es von dem Herrn abhing, ob er einem Ehepaare ein Unterkommen an einer Kathe geben oder nicht geben wollte.

Knechte und Mägde nahmen es leicht mit ihrem Verkehr; die Gutsherren sahen durch die Finger, ließen geschehen, was sie nicht hindern konnten; und ein Kind mehr, das in guten Zeiten nicht schwer mit durchzufüttern war, wurde bald zu einer Arbeitskraft, die man brauchen konnte. Nur schlug man bei der Geburt solcher Kinder, am wenigsten wenn sie im Gutshause oder an den Schlössern stattgefunden hatte, nicht an die große Glocke. Man gab die Kinder fort zur Pflege und wahrte die äußere Sitte.

Daß der Graf dies nicht gethan, er, gegen dessen persönlich ernste, ehrbare Lebensführung, seit er in Dambow lebte, nie der Schatten eines Zweifels laut geworden war, daß er, indem er das Kind der Seiltänzerin im Schlosse behielt, ein öffentliches Aergerniß verursachte und sich dem fremden Urtheil ohne alle Nothwendigkeit preisgab, das hatten meine Eltern, eben weil er ihr Freund war und sie streng auf Zucht und Anstand hielten, ihm verargt; denn sie hatten ihn als ihren Freund zu vertreten vor allen Denen, die nicht seine nahen Freunde waren und die ihm seine Abgeschiedenheit als Hochmuth und als Stolz auslegten, obschon sie den Anlaß kannten, der ihn in sich zurückgewiesen.

Er hatte denn es natürlich sofort empfunden, daß meine Eltern sich von ihm zurückgehalten, und er war, wie er gesagt, gekommen, sich zu erklären, sich mit ihnen wieder in das Gleiche zu setzen. Er hatte meine Mutter gefragt, ob sie ihn hören wolle. Wie hätte sie ihm das verweigern können? Und zum ersten Male hatte er darauf vor den Eltern von der nicht zu vergebenden tödlichen Kränkung gesprochen, die er durch seine Frau erlitten.

,Wie jeder, der überhaupt von mir weiß.‛ hatte er gesagt, ,werden auch Sie es wissen, welch ein Geschick mich getroffen, was mich in die Einsamkeit getrieben. Ich habe mich loszureißen gehabt von meiner ganzen Vergangenheit. Ich habe verzichtet auf den Dienst in meines König’s Heer, nach allen Seiten mußte ich mich durchschlagen mit harter Gewalt. Man stößt eine Frau, die man frei gewählt, die man sehr geliebt, der man, weil man selbst Vertrauen verdiente, fest vertraut – man stößt ein Kind, das unseren Namen getragen, an das man sein Herz gehängt, seine Hoffnungen geknüpft, nicht leichten Sinnes von sich. Ein Edelmann giebt sich nicht ohne die äußerste Nothwendigkeit dem Gerede der Menge preis. Ein Mann, der sich in langen Kriegen, in blutigen Schlachten bewährt, schreitet zu keinem Zweikampf ohne die unabweislichste Pflicht, sein Leben an die Vernichtung des Mannes zu setzen, der den schnödesten Verrath an ihm geübt – da man so ein Weib und ein Kind nicht tödten kann! – Es ist mir hart ans Leben gegangen! Die vernarbte Wunde schmerzt, da ich sie berühre, in diesem Augenblicke. Wäre mein Gewissen nicht rein – die Menschenverachtung, der Unglaube an die Wahrheit irgend einer Liebe, hätten mich zum Menschenhaß getrieben. Die Erinnerung an die Liebe, die ich für Vaterliebe gehalten, die ich gehegt für den Knaben, der nicht der meine war, hat mich durch all die Jahre zweifeln machen selbst an der Wahrhaftigkeit meines eigenen Empfindens. Weder die Verurteilung der Schuldigen, noch die mir seit Jahren wieder bewiesene Gnade meines Königs hatten mir die Lust am Leben wieder gegeben in der liebeleeren Einsamkeit, in der ich gelebt in meinem Hause. Ich that meine Schuldigkeit – Sie haben es ja gesehehen – gegen die Leute, die abhingen. von mir, die von den Verhältnissen auf mich gewiesen waren – aber ich that sie kalten Herzens. Sie waren mir gleichgültig wie alles! Da warf der Zufall – oder sagen wir der Himmel – mir das todwunde Mädchen in die Arme. Ihre Hilfsbedürftigkeit, ihre Schönheit, ihre Verlassenheit rührten mich, ihre Dankbarkeit wendete ihr meine Sorge zu; die Reinheit ihres Herzens erquickte mich, wie den Verschmachtenden der frische Quell, der vor ihm hervorsprudelt, wo er ihn am wenigsten vermuthet. Wie an ein [215] Kind hatte ich allmählich mein Herz an sie gehängt, bis ich sie zu lieben begonnen, bis die Menschennatur, mächtig in ihr wie in mir, ihre Liebe für mich, meine Leidenschaft für sie erweckte und uns verbunden hat. – Wäre es möglich gewesen, ohne noch einmal den Kampf mit den Verhältnissen aufzunehmen durch eine Mesalliance ohnegleichen, ich hätte Franull geehlicht. Denn die Liebe, an die ich nicht mehr geglaubt, sie hat sie für mich gefühlt. Sie hat mich geliebt wahrhaft, ganz ausschließlich, mit aller Kraft ihrer starken, ungebrochenen Natur! Und trotz meiner sechsundvierzig Jahre habe auch ich sie sehr geliebt. Nicht daß sie vom Leben scheiden mußte und von dem Kinde – daß sie von mir gehen sollte, das war ihr letzter Schmerz – ihre letzte Klage – ihr letztes Wort, mit dem sie mir das Kind ans Herz gelegt, und an meinem Herzen werde ich es halten! Die Tochter eines freiherrlichen Hauses ist mir zum Fluch geworden; das Kind des niedrigsten Volkes hat ihn von mir genommen, diesen Fluch, hat mich erlöst, der Liebe wiedergegeben. Und nun –‛

Er vollendete nicht. Der Vater reichte ihm die Hand; er küßte die Hand meiner Mutter. Sie sagte, als sie mir später einmal davon gesprochen, des Grafen Ergriffenheit, der Zwang, den er sich angethan mit seinem Bekenntniß, habe sie überwältigt, obschon sie im Grunde nichts erfahren, als was sie sich selber hatte sagen können; und trotz der geforderten Gewissenhaftigkeit, mit welcher sie und mein Vater auf Zucht und Anstand hielten, hätte sie empfunden, daß außergewöhnliche Schicksale eine außergewöhnliche Charakterentwicklung erzeugen und darum eine besondere Beurtheilung und Behandlung verlangen. Und so hatte denn trotz des Widerstrebens, das meine Mutter gegen die Vorgänge gehegt, die Freundschaft zwischen meinen Eltern und meinem Pathen an dem Abende eine neue Befestigung erhalten, eben weil man es erkannte, wie wichtig es sei, ihm beizustehen, daß er an der Tochter vergüte, was er an der Mutter gefehlt.

Auf den Gütern in der Nachbarschaft aber fand man sich auch bald mit dem anfangs unglaublichen, viel besprochenen und viel verspotteten Entschluß des Grafen ab. Hatte man doch überall in der Welt, auf dem Lande wie in den Städten, überall wo man unter Menschen lebte, manches zu sehen und zu wissen was nicht zu sehen und nicht zu wissen man sich den Anschein geben mußte, manches und vieles geschehen zu lassen, was man nicht ändern konnte! – Warum sollte man dem Grafen, der ohnehin niemand in den Weg kam, der den Sonderling spielte, nicht die Grille durchgehen lassen, sich zu seiner Gesellschaft statt eines Pudels oder eines Papageis das Kind einer Landstreicherin auffüttern und aufziehen zu lassen? Was er nachher damit machen würde, das wäre seine Sache; was daraus werden würde, das werde man ja erleben. – Das sagte diese, das sagte jener, und man meinte damit fertig zu sein. Und doch, eben weil man auf dem Lande lebte, wo die Neuigkeiten eines Tages die des andern nicht so rasch verdrängen, blieb das Kind im Schloß zu Dambow gleichsam ein öffentliches Geheimniß, blieb es unter allgemeiner Aufsicht und der Gegenstand neugierigen Uebelwollens.

Es lebten rund um Dambow auf den adligen Gütern, auf den Herrensitzen und Schlössern gar zu viel alte und junge Edelfräulein, die bereit gewesen wären, den Grafst Dubimin in rechtschaffener, christlicher Ehe über seine Vergangenheit zu trösten und die Mutter seiner Kinder zu werden. Warum mußte er denn sein Herz hängen an das Kind einer Zigeunerin!

Glücklicherweise schadeten aber das Gerede und das Uebelwollen dem Gedeihen des Kindes nicht, das ja nicht schuld war an seinem Dasein. Es kam natürlich in seiner ersten Lebenszeit nicht zum Vorschein, wenn ein Gast im Hause war, was selten genug geschah; und als ich es bei einem Besuche, zu dem wir nach Dambow geladen waren, zum ersten Male sah, war Franull schon zwei Jahre alt.

Wir hatten im Schlosse gespeist und gingen darnach in den Garten hinaus, in welchem, wie immer in der guten Jahreszeit, unter den Linden, vor denen sich der Rasenplatz ausbreitete, der Kaffee getrunken und zugleich die eben in voller Pracht blühenden Rosen an Augenschein genommen werden sollten; und da saß mitten auf dem Rasen die kleine Franull, hell von dem warmen Sonnenlicht umfluthet, eine Menschenknospe, schöner als die ganze Rosenpracht umher.

Den Grafen sehen, sich auf die Händchen stützen, um schneller aufzustehen, ihm mit vorgestreckten Aermchen entgegeneilen: das war das Werk einer Minute. Des Grafen ernstes Antlitz erhellte sich bei dem Anblicke. Er ging ihr entgegen, hob sie empor, und ich höre noch den Ausruf meiner Mutter: ,Das ist ja ein engelschönes Kind!‛

Man sah dem Grafen an, wie wohl ihm die Bewunderung seines Kindes that.

,Nicht wahr?‛ sagte er, ,sie ist ein liebes Geschöpf! Jeden Morgen, wenn man sie mir bringt, freue ich mich über sie; jeden Abend freue ich mich, daß ich sie am Morgen wieder sehen werde. Ihre Fröhlichkeit, ihr Lachen erhellen mir die Tage! Franull, wie lieb hast Du mich?‛

,So! so lieb!‛ rief sie und schmiegte ihr blondes Lockenköpfchen an des Grafen gebräuntes und gefurchtes Antlitz.

Der Graf küßte sie, setzte sie auf den Boden; meine Mutter machte sich entzückt mit ihr zu schaffen; die Wärterin wollte sie auf den Arm nehmen und sich mit ihr entfernen.

,Nein! Nicht mit Lise!‛ rief sie, sich sträubend. ,Gehen! gehen!‛ Und wohl weil ich ihr zunächst stand, langte sie nach meiner Hand und sagte: ,Komm, Du!‛

Wie alle Burschen meines Alters hatte ich mir aus Kindern nie etwas gemacht. Jeder Spitz und jeder Jagdhund waren mir lieber gewesen als ein kleines Kind; aber daß dieses Kind von seltener Schönheit war, das mußte auch der Achtloseste bemerken, und die selbstwillige Freundlichkeit, mit der die Kleine sich an mich hing, sich meiner bemächtigte, gefiel mir. Ich fragte, ob ich mit ihr spielen solle.

,Ja! Du sollst!‛ rief sie und zog mich mit sich fort, während ich meine Mutter scherzend sagen hörte. ,Wie sie befehlshaberisch ist! – Wo soll’s denn hin?‛

,Wohin sie will!‛ rief ich zurück. ,Ich weiß nicht.‛

Ach, ich wußte es freilich nicht! – Und ich hatte den Tag schnell genug vergessen, den bald darauf kam ich in die Stadt, und erst viele, viele Jahre später habe ich dieses Nachmittages wieder gedacht, und wie oft gedacht wie heute!

Da wir Reformirte waren, hatte nie davon die Rede sein können, mich zum Konfirmandenunterricht nach Benwitz zu schicken, wenngleich die Eltern die dortige lutherische Kirche regelmäßig besuchten, weil eben keine reformirte in unserem Bereiche vorhanden war. Aber zum Genuß des heiligen Abendmahls waren die Eltern alljährlich zweimal nach Berlin gefahren, und es hatte immer festgestanden, daß ich im vierzehnten Jahre zu meinem Onkel nach Berlin gegeben werden würde, der dort die Stelle eines Rechnungsrathes bekleidete, um von da ab auch das französische Kolleg zu besuchen und den Religions- und Konfirmandenunterricht in unserer Kirche zu genießen.

Als ich mit Doktor Hartusius nach Dambow hinüberritt, mich von meinem Herrn Pathen vor meiner Uebersiedelung in die Stadt zu verabschieden, während der Doktor, der durch Vermittelung unserer Familie eine Anstellung am französischen Kolleg erhalten, sich ihm gleichzeitig ebenfalls empfehlen wollte, sah ich mich beim Fortgehen überall nach Franull um. Ich hätte das fröhliche Kind gern wiedergesehen. Nach ihm zu fragen wagte ich nicht, und ich würde Franulls gewiß bei dem völlig neuen Leben nicht mehr gedacht haben, wenn nicht in meines Onkels Haus ein kleines ihr gleichalteriges Mädchen gewesen, das mich oftmals zu Vergleichen zwischen ihm und Franull veranlaßte, die immer zu Gunsten der Letzteren ausfielen, und das steigerte sich mit den Jahren.

Es verstand sich von selbst, daß ich alle meine Ferien bei den Eltern in Schönfelde verlebte, und ebenso, daß ich dabei jedesmal meinen Herrn Pathen in Dambow besuchte, zu dem wir dann regelmäßig auch eine Einladung erhielten; und jedesmal, wenn ich nach Dambow kam, fand ich, daß Franull ungewöhnlich rasch heranwuchs, daß sie immer schöner, immer klüger, immer zutraulicher zu mir wurde; und kehrte ich dann nach Berlin zurück und sah dort in den Hofkarossen und sonstigen vornehmen Equipagen die kleinen Fürstenkinder und Komtessen spazieren fahren, so gefielen mir die auch sehr wohl; aber mit Franull waren sie sammt und sonders doch nicht zu vergleichen.

(Fortsetzung folgt.)
[216]

Der Leichenwagen Kaiser Wilhelms am Brandenburger Thor vom Thiergarten aus gesehen.
Originalzeichnung von F. Wittig.

[217]
Die Bekämpfung der entstehenden seitlichen Rückgratsverkrümmungen.
Von Dr. Schildbach.

Es führen viele Wege nach Rom; so wird auch die seitliche Rückgratsverkrümmung, oder, kürzer bezeichnet, die Skoliose, auf mancherlei Weise behandelt und theilweise geheilt. Unter „Skoliose“ verstehe ich hier nur die aus schlechten Körperhaltungen und einer unerkennbaren Neigung des Organismus entstehenden Verkrümmungen, nicht die selteneren aus anderen Ursachen hervorgegangenen und am allerwenigsten die spitzwinkligen Entstellungen, welche die Vereiterung eines oder mehrerer Wirbelkörper zur Ursache haben und also im Wesen verschieden sind von der Gewohnheitsskoliose.

Nicht mit einer Aufzählung aller der verschiedenen Heilmethoden will ich die Leser ermüden; nur hervorheben möchte ich, daß ich kein Freund der ausschließlichen Behandlung mit Filzkorsetts oder Gipsmiedern bin, sondern das Hauptgewicht auf die Gymnastik lege, weil nur durch sie das Endziel meiner Behandlungsweise erreicht wird, nämlich daß der Verkrümmte die Fähigkeit erlangt, sich selbst nach Möglichkeit gerade zu richten.

Armheben seitwärts.

Auch die Skoliosen habe ich hier nicht im Sinne, welche schon länger bestehen, einen höheren Grad erreicht und eine gewisse Festigkeit oder Starrheit erlangt haben. Solche können nur in orthopädischen Anstalten mit einigem Erfolg behandelt werden. Ich meine vielmehr jene im Entstehen begriffenen nachgiebigen Verkrümmungen, welchen man so häufig im frühen Schulalter begegnet. Sie können ganz leicht im Elternhause behandelt und geheilt werden.

Einseitiges Tiefathmen.

Freilich ist es nicht das Richtige, wenn da manche sagen: „Es wird sich verwachsen.“ Wenn nichts oder nicht das Richtige dagegen gethan wird, so wird es sich in der Regel nicht verwachsen, sondern allmählich zu einer stärkeren, auch durch die Kleider bemerkbaren Skoliose ausbilden. Auch der Rath genügt nicht, den andere zu geben pflegen. „Lassen Sie das Kind turnen!“ Das gewöhnliche Turnen kann allerdings vorbeugend gegen Skoliose wirken, aber nicht heilend; um das zu erreichen, müssen bestimmte einseitige Haltungen und Uebungen vorgenommen werden. Dazu einige ohne alle Apparate anwendbare Uebungen anzugeben, ist der Zweck dieses Aufsatzes.

Ziemlich häufig kommen Verkrümmungen vor, welche in der Höhe der Schulterblätter ihren Gipfel haben Wenn ich die betreffenden Kinder daraufhin untersuche, so sorge ich dafür, daß sie gerade, das heißt mit geschlossenen, gestreckten Beinen und schlaff hängenden Armen vor mir stehen und mir den Rücken zuwenden. Dann ist es leicht, mit dem Zeige- und Mittelfinger längs der Wirbelsäule abzugehen und sich von ihrem geradlinigen oder verkrümmten Laufe zu überzeugen. Dann pflege ich alle zu untersuchenden Personen die Vorbeughalte einnehmen zu lassen, das heißt, ich lasse sie mit gestreckten Beinen und schlaff herabhängenden Armen sowie etwas vorgeneigtem Kopfe sich so weit vorkrümmen, bis der Kopf sich mit dem Becken in gleicher Höhe befindet. In dieser Haltung verschwinden Verkrümmungen ersten Grades, während bei solchen zweiten Grades auf der Seite, nach welcher die Verkrümmung gerichtet ist, der Rücken sich etwas höher zeigt als auf der andern Seite. Zuweilen zeigt sich erst bei der Vorbeughalte, ob das Kind überhaupt verkrümmt ist und in welcher Weise, nämlich bei solchen, welche vorher eine „ Paradestellung“, das heißt eine straffe Haltung mit zurückgezogenen Schultern eingenommen haben. Solche Personen zeigen auch erst nach ihrer Wiederaufrichtung die natürliche Stellung der Schulterblätter und lassen erkennen, ob dieselben gleich hoch und weit genug hinten stehen.

Zeigt sich auch bei der Vorbeughalte seitliche Ausbiegung und die Erhöhung der einen Seite, so sollen die Patienten einem Spezialisten vorgeführt und womöglich in einer orthopädischen Anstalt untergebracht werden. Wenn dagegen in dieser Haltung von seitlicher Ausbiegung sich nichts oder wenig zeigt und auch von seitlicher Erhöhung sich keine oder nur eine geringe Spur bemerkbar macht, dagegen nach dem Aufrichten eine seitliche Abweichung und oft auch eine ungleiche Stellung der Schulterblätter sichtbar wird, so lasse man die Patienten die hier beschriebene Uebung machen.

Nehmen wir den häufigeren Fall an, daß die Wirbelsäule in der Höhe der Schulterblätter nach rechts ausgebogen sei. Dann empfehle ich: Armheben seitwärts, rechts (mit Belastung) bis Klafterhalte. Der Patient, straff stehend, hebt, die Hohlhand nach vorn gekehrt, die gestreckten Arme so weit, bis der linke Arm senkrecht in die Höhe, der rechte wagrecht nach außen gestreckt ist. Dieses „wagrecht“ ist aber nicht ganz genau zu nehmen, vielmehr ist es besser, den Arm nach der Hand zu ganz wenig ansteigen zu lassen. Beide Schultern müssen dabei möglichst tief gehalten werden. Ganz falsch und wahrhaft schädlich für den Rücken ist es, die rechte Schulter hoch und den Arm etwas gesenkt zu halten. Aber auch die linke Schulter hoch zu heben, ist nicht gut; beide müssen in gleicher Höhe stehen. Die Seitstreckhalte des rechten Armes soll dieser Seite eine stärkere Belastung geben und sie dadurch veranlassen, sich einzuziehen und nach links zu rücken. Wenn dies nicht hinreichend geschieht, so gebe man in die rechte Hand ein Gewicht oder eine Hantel von ein bis drei Pfund, je nach den Kräften. So stehe der Patient ein bis drei Minuten und lasse dann die Arme seitwärts wieder sinken, um nach kurzer Ruhe die Uebung zu wiederholen. So ungefähr zwanzigmal nach einander, täglich mindestens zweimal.

Die Uebung muß anfangs immer unter Aufsicht und nöthigenfalls mit Hilfe geschehen. Nützlich ist es, zuweilen den Oberkörper entblößen zu lassen, damit man sich von der Richtigkeit und Wirkung der ausgeführten Uebung genau überzeuge und sehe, welche Hilfen am besten zum Ziel führen.

Für diese Uebung passen, wie schon oben bemerkt, nur Verkrümmungen, welche den oberen Theil der Wirbelsäule betreffen, genauer gesagt, welche sich zwischen dem 1. und 8. Brustwirbel befinden und ihren Gipfel in der Gegend des 4. oder 5. Brustwirbels haben. Von der Wirkung der Uebung überzeugt man sich selbst am besten, wenn man sie bei bloßem Oberkörper richtig ausführen läßt. Dann wird man im günstigen Fall sehen, wie die Verkrümmung ganz oder beinahe verschwindet.

Eine andere Maßnahme empfehle ich bei Verkrümmungen unterhalb des 8. Brustwirbels, bei solchen also, welche die untersten Brustwirbel und die Lendenwirbel einnehmen. Häufig werden mir Kinder gebracht mit der Bemerkung der Angehörigen, daß eine Hüfte höher werde als die andere. Zuweilen ist diese Bezeichnung richtig, zuweilen falsch. Häufig nämlich – und zwar weit öfter, als ich es früher für möglich gehalten habe, bemerkt man, wenn man bei der Untersuchung die flachen Hände auf beide Hüftkämme legt, daß eine Hand tiefer liegt als die andere. Dann sind die Beine nicht gleich lang. In solchen Fällen findet man einen Unterschied von höchstens 1½ cm, häufig von 1 cm und weniger. Dann ist es nöthig, daß man die tiefere Seite dauernd erhöhe. Das geschieht für die Zeit des Gehens und Stehens dadurch, daß man in den Schuh zwischen Brandsohle und äußerer Sohle eine Korksohle einlegen läßt von der nöthigen Stärke, z..B von 1 cm. Das Oberleder deckt die Seiten dieser Korksohle [218] und wird an der äußeren Ledersohle befestigt, genau wie an dem Stiefel der gesunden Seite. Das Oberleder wird auf diese Weise um die Dicke der Korksohle höher, ein Umstand, den Fremde gewöhnlich gar nicht bemerken. Freilich läßt sich diese Maßregel nur beim Anfertigen der Schuhe ausführen. An gebrauchten Schuhen läßt sich die Sohle nur durch Aufnähen weiterer Ledersohlen erhöhen, wodurch die Schuhe aber schwer werden und dem Auge sofort auffallen. Den Absatz allein zu erhöhen, widerrathe ich entschieden.

Beim anhaltenden Sitzen lasse man auf der niedrigen Seite ein Buch von entsprechendem Durchmesser unter die Gesäßhälfte legen. Beim Stehen lasse man vor allem das einseitige Stützen auf das längere Bein nicht zu, weil bei der schlaffen Nebenstellung des andern Beines allemal die Schuhe an sich tiefere Hüfte sich senkt und so die Verkrümmung stärker wird.

Um aber die Verkrümmung in nicht zu langer Zeit dauernd zu beseitigen, muß vorübergehend die niedrige Seite übermäßig erhöht werden. Das läßt sich bei allen Uebungen im Stand und bei vielen Geräthübungen leicht ausführen Wenn es die linke Seite ist, nach welcher sich die Wirbelsäule ausgebogen zeigt, sodaß der linke Tailleneinschnitt verringert oder verschwunden ist, während die rechte Hüfte stark vorspringt, so gebe ich auf den Uebungstafeln bei den Standübungen an: „Linken Fuß erhöht“; bei den Leiterübungen mit aufgestemmten Füßen: „ Rechten Fuß tiefer“, das heißt, ich lasse den rechten Fuß von unten an die Sprosse sich anlegen, auf welcher der linke sich anstemmt; und bei manchen Hang- oder Stützhangübungen lasse ich die linke Hüfte heben oder beide gestreckte Beine nach links bewegen.

Solche Uebungen lasse ich in beiden Fällen machen, sowohl wenn eine einfache untere Ausbiegung vorhanden ist, als auch, wenn ich es mit einer statischen Verkrümmung zu thun habe, wenn also das eine Bein kürzer ist als das andere.

Eine derartige Erhöhung des einen Beines läßt sich leicht mit der ersten Uebung verbinden, was geschehen muß, wenn eine doppelte Verkrümmung da ist, wenn z. B. der obere Theil der Wirbelsäule nach rechts, der untere nach links ausgebogen ist. Dann lautet meine Vorschrift. „Armheben seitwärts, rechts mit Belastung bis Klafterhalte, linken Fuß erhöht.“

Die häufigste Verkrümmung, welche aber von den Angehörigen oft gar nicht bemerkt wird , ist die flache Ausbiegung nach links über die ganze Länge der Wirbelsäule. Häufig bemerkt man dabei auch eine höhere Stellung des linken Schulterblatts. Solche geringe Verkrümmungen zeigen sich meist in den ersten Schuljahren, gewöhnlich in der Zeit vom 8. bis 10. Lebensjahre. In manchen Fällen gleicht sich diese Verkrümmung allmählich wieder aus; in vielen Fällen aber entsteht, wohl durch die Schreibhaltung, allmählich in der Höhe der Schulterblätter eine zweite Verkrümmung nach rechts, während die vorher lang gewesene Ausbiegung nach links sich auf den untersten Theil der Wirbelsäule beschränkt. Zuweilen bleiben auch die obersten Wirbel, in der Höhe des Nackens, nach links abgewichen. In dieser Weise entstehen die meisten zwei- und dreifachen Skoliosen.

Bei dieser langen linksseitigen Verkrümmung empfehle ich für die häusliche Behandlung das „Einseitig Tiefathmen“ (vergl. Abbildung S. 217). Der Patient hebt den gestreckten rechten Arm bis zur Hochstreckhalte, stemmt die linke Hand, alle Finger nach vorn gerichtet, nahe der Achselhöhle in die linke Seite und holt dann möglichst tief Athem, wobei er während des Einathmens den Druck der linken Hand allmählich nach Kräften verstärkt und bei der Ausathmung mit dem Druck nachläßt.

Mit diesen einfachen und überall ausführbaren Uebungen würden sich die meisten stärkeren Skoliosen verhüten lassen; nur müssen die Uebungen ganz sorgsam und gewissenhaft ausgeführt und überwacht werden. Ich wende mich mit diesen Zeilen hauptsächlich an die Mütter, welche mit sorgsamem, liebendem Auge ihre Lieblinge überwachen.

Noch besser ist es freilich jedenfalls, wenn durch Verhütung schlechter Gewohnheitshaltung, Vermeidung schiefen Sitzens beim Schreiben, Einführung guter Schulbänke die Entstehung auch der unbedeutendsten Verkrümmung der Wirbelsäule verhütet wird. Dahin aber wird es wohl niemals kommen, und so habe ich mich durch vorstehende Lehren wenigstens bemüht, die Zahl der ausgebildeten Skoliosen zu verringern.

Ich habe aber damit durchaus nicht Wasser auf die Mühle der Kurpfuscher leiten wollen, welche grade in der Orthopädie so häufig sind und ohne wissenschaftliche Vorbildung alle möglichen orthopädischen Formfehler in Behandlung nehmen. Auch bei orthopädischen Fällen, von deren Heilung so oft das Lebensglück abhängt, muß, wie in allen Krankheiten, allemal ein Arzt zugezogen werden.




Blätter und Blüthen.

Liszt in Berlin. Niemals hat ein musikalischer Virtuose, ein junger Meister solche Lorbeern geerntet, solche Begeisterung erweckt wie Franz Liszt in seiner glänzenden Konzertperiode von den Jahren 1840 bis 1847. Und in dieser Periode bildet wiederum sein Aufenthalt in Berlin 1842 den glänzendsten Abschnitt. In der eingebenden Biographie „Franz Liszt“ von L. Ramann, von deren zweitem Band die erste Abtheilung vorliegt (Leipzig, Breitkopf und Härtel), findet sich eine Darstellung aller Huldigungen, welche Franz Liszt damals in der preußischen Hauptstadt zu Theil wurden – und diese Darstellung ist um so interessanter, als sie zugleich eine Charakteristik jener Zeit ist. Nach der Thronbesteigung des kunstsinnigen Königs Friedrich Wilhelm IV. regte sich nicht nur neues politisches Leben, auch eine Begeisterung für die Kunst, die nicht recht wußte, wohin sie sich wenden sollte, ob sie mit dem König für Ludwig Tieck und die Romantiker und Bauten des Mittelalters schwärmen, ob sie sich für die Sänger der politischen Freiheit wie Georg Herwegh, der ja auch von dem König empfangen worden war, enthusiasmiren sollte. Und in diese Epoche allgemeiner geistiger Erregung fiel die Kunstreise von Liszt und sein Aufenthalt in Berlin; und da das Klavier ein neutraler Boden war, so wandte sich ihm die ganze in Fluß gekommene Bewegung zu, alle Parteien vereinigten sich in der Bewunderung des Virtuosen und die ganze nervöse Erregtheit jener Epoche kam dabei mit ins Spiel.

Wenn wir heute von jenen Huldigungen lesen, so erregen sie bei uns ein Gefühl der Verwunderung. Vom 27. Dezember 1841 bis 2. März 1842 gab Liszt mehr als 20 Konzerte, eine Weltlitteratur in Noten. Die Kritik war überschwenglich. Rellstab rühmte seine scharf ausgeprägte Rhythmik, seine flammenden Accente,. sein Zusammenfassen der Ton- und Satzgruppen zu Gedankengängen, seine märchenhafte Technik, die jede Nüance der Empfindung vom seelischen Hauch bis zur höchsten Gluth und Gewalt der Leidenschaft wiedergab. Oktaven, Doppelgriffe, Passagensprünge aller Art habe er mit einer Hand ausgeführt, wie mit zwei Händen, mit einer Sicherheit und Leichtigkeit, die man bisher nicht für menschenmöglich gehalten. Der vierte Akt von Meyerbeers „Hugenotten“ wurde am Klavier im weißen Saale des Königsschlosses vorgespielt. Liszt vertrat hierbei den instrumentalen Theil und spielte ihn aus der Partitur, jede Hand ein Orchester! Nur zwölf Konzerte gab er für sich, die übrigen zu wohlthätigen Zwecken. Drei derselben hatte er der studirenden Jugend gewidmet. Bei ihr hatte er eine Begeisterung erweckt, die zu solchem Sturm anschwoll, daß, als er nach einem Konzert, um nach Hause zu fahren, seinen Wagen bestieg, die Studentenschaft die Pferde ausspannte und ihn unter lautem Hochruf der umstehenden und bis zum Hôtel ihn begleitenden Volksmassen nach Hause fuhr. Er verkehrte mit den ersten wissenschaftlichen und künstlerischen Größen der Hauptstadt; besonders aber zeichneten ihn der Hof und König Friedrich Wilhelm IV. aus.

Darüber erfahren wir einige wenig bekannte Anekdoten. Der König hatte ihm nach einem Konzert im Opernhaus einen kostbaren Brillantring durch seinen Adjutanten überreichen lasten. Brillanten waren das bei jedem Virtuosen gebräuchliche Geschenk des Hofes. Liszt aber hielt sich für etwas Höheres als die gewöhnlichen Virtuosen: er sah in diesem Geschenk eine Beleidigung und warf das kleine Etui in die Koulissen mit den Worten. „Ich brauche ja so etwas nicht!“ Noch ehe der Kavalier, der das Geschenk überreicht hatte, den Vorgang begriff, sprang eine Dame aus den Koulissen hervor und reichte ihm das Etui mit dem Ausruf: „Herr Liszt – aus lauter Freude lassen Sie ja das Geschenk aus den Händen fallen!“ Diese Geistesgegenwart Charlotte von Hagens rief seine Besonnenheit zurück und sich gegen den Kavalier wendend, sprach er:

„Majestät sind sehr gütig gegen mich.“

Vor der gefeierten Schauspielerin aber verbeugte er sich ehrerbietig und zog ihre Hand an seine Lippen mit den Worten.

„So eine wohlthätige Hand muß man segnend küssen.“

Das Etui aber nahm er nicht. Später verlieh ihm der König den Orden Pour le mérite, der weder vorher noch nachher einem Virtuosen zu Theil geworden.

Es hatte sich das Gerücht verbreitet, Liszt habe mit einem sehr glücklichen Spieler, dem Baron von Rosenberg, gespielt und sei von diesem ruinirt worden. Eines Abends wurde er in das Palais der Prinzeß Wilhelm, der jetzigen Kaiserin-Wittwe, befohlen, die ihn in ihrem Wohnzimmer empfing, ihn fragte, ob ihm nichts fehle, ob er nicht der Freunde bedürfe, er habe Verluste gehabt. Liszt war sehr erstaunt, und sein Erstaunen wuchs, als ihm die Prinzessin ein Portefeuille einhändigte, das ihn aus seiner Verlegenheit und von Rosenberg befreien würde. Das Portefeuille enthielt 20 000 Thaler. Nun klärte sich die Sache auf, und Liszt erklärte, daß er ein Gelübde gethan, nie um Geld zu spielen.

In Berlin reihte sich Fest an Fest. Konzerte, Aufführungen im Opern- und Schauspielhaus, Privatgesellschaften hatten nur Werth, wenn [219] Liszt anwesend war. Man konnte Konzertanzeigen lesen mit der Bemerkung: Liszt wird anwesend sein. Familien, die er besuchte, bewahrten Tassen und Gläser, aus denen er getrunken, als Reliquien. Die Akademie der Künste ernannte ihn zu ihrem Mitglied, die Vorstände der von ihm bedachten Wohlthätigkeitsanstalten bereiteten ihm Ueberraschungen. Einmal erhielt er einen Morgenbesuch von einhundert Kindern, von denen keines über sechs Jahre alt war; sie wollten ihm im Namen von tausend anderen Kindern danken, reichten ihm Kränze und streuten ihm Blumen. Ein Hauptfest war das Festmahl im Jägerschen Saal, an welchem sich die angesehensten Männer der Künste und Wissenschaft betheiligten. Die Festlichkeit gipfelte in einer Ehrengabe, die Liszt von einer Deputation überreicht wurde, welche aus Vertretern der in Berlin gepflegten Künste, dem Maler Wach, dem Architekten Steir, dem Bildhauer Rauch und den Musikern Meyerbeer und Mendelssohn, bestand. Das Geschenk war ein goldenes Medaillon, das nach einer in Paris auf Liszt geprägten, aber sehr vergrößerten Medaille angefertigt war; dem Genius, dem Künstler von Geist und Gemüth, dem Ehrenmanne von Gesinnung und Charakter war es gewidmet. Am Tage seiner Abreise erwartete ihn ein mit sechs Schimmeln bespannter Wagen; der Künstler wurde unter dem Jauchzen der Menge fast die Treppe hinabgetragen und in den Wagen gehoben, wo er zwischen den Senioren der Studentenschaft Platz nahm. Dreißig einspännige Wagen mit Studirenden und zahllose andere folgten ihm; Volksgedränge überall, nicht nur Straßen und Plätze, auch die Fenster der Häuser waren besetzt, aus denen Kränze und Sträuße ihm zuflogen, und selbst die Chaussee draußen bis zur „neuen Welt“ war mit einer großen Menschenmenge bedeckt.

Rellstab nannte Liszts Aufenthalt in Berlin ein Ereigniß des öffentlichen Lebens. Ein Vergleich zwischen damals und jetzt mag uns zeigen, daß wir jetzt ein wahrhaftes öffentliches Leben besitzen und bei aller Anerkennung des künstlerischen Verdienstes solche übertriebene Huldigungen für einen Meister des Klavierspiels eine Unmöglichkeit geworden sind.
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Prinz Friedrich Wilhelm und Prinz Eitel Friedrich von Preußen. (Mit Illustration S. 201.) Ein idyllisches Bildchen – eine friedliche Kahnfahrt auf stillem Teich – aber es sind kleine Kahnfahrer, denen eine bedeutsame Zukunft winkt; die Söhne des Kronprinzen Wilhelm. Wie fest und sicher steht der eine da und führt das Ruder! Das ist der älteste Sohn, Prinz Friedrich Wilhelm, geboren zu Potsdam den 6. Mai 1882; der kleine Eitel Friedrich aber, geboren zu Potsdam den 7. Juli 1883, sitzt so lieb und traulich im Kahn, der Leitung des Bruders vertrauend, wenn er auch mit dem Händchen am Schiffsrand sich festhält. Und jener künftige Gebieter der deutschen Marine, der sich so tapfer für den Seedienst vorbereitet, hat außer seinem Brüderchen noch zwei Geschwister zu Hause, den Prinzen Adalbert, geboren 14. Juli 1884 und den Prinzen August Wilhelm, geboren 29. Januar 1887. Möge den Kindern des Kronprinzen und seiner Gemahlin, der Prinzessin Auguste Viktoria, von denen uns zwei aus unserem Bildchen mit so lieben Gesichtern ansehen, eine glückliche schöne Zukunft beschieden sein.
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Ein weiblicher Werther. Es ist bekannt, welchen seltenen Erfolg Goethes „Werther“ nicht nur in Deutschland, sondern auch bei allen europäischen Nationen hatte. Ueber Goethes „Werther“ in Frankreich berichtet Ferdinand Groß in einer interessanten Studie. Das Gespräch Napoleons und Goethes über Werther ist bekannt; weniger bekannt sind die verschiedenen Nachbildungen, welche Werther in der französischen Literatur und zwar bis in die neueste Zeit erfahren hat; darunter ist am interessantesten die „Werthérie“ von Pierre Perrin, welche in Paris im Jahre 1791 erschien, eine Verweiblichung und zugleich eine Verspottung des „Werther“, in welcher an allen Aeußerlichkeiten der goetheschen Dichtung festgehalten wird: die Heldin Augustine beginnt ihre brieflichen Bekenntnisse mit dem Zugeständniß, daß sie an der Welt, in der man sich amüsirt, Gefallen finde; sie betont die Leidenschaftlichkeit ihres Wesens und bezeichnet es als ihr Unglück, daß sie nichts schwächlich empfinden könne. In einer der künstlichen Grotten, die im Geschmack des vorigen Jahrhunderts gehalten sind, trifft sie mit ihrer Mutter ein Männerquartett; darunter ist Hertzberg, die männliche Lotte. Er ist ebenso geistreich wie gefühlvoll, und wenn Hertzberg dem Mädchen zum Abschied die Hand drückt, fühlt sich Werthérie elektrisirt. Hertzberg wohnt in Basel, doch er besucht sie in Zürich, ihre Schwärmerei ist im Zunehmen. „Er liest ihr einmal eines jener zärtlichen Bücher vor, die zur Zeit in Mode waren, er benetzt eine besonders rührende Stelle mit seinen Thränen und Küssen – sie drückt später diese Stelle tausend und tausende Male an ihre Lippen. Er betrachtet im Garten eine Rose, Werthérie findet nachts nicht eher Ruhe, als bis sie sich vom Lager erhoben und diese Rose gepflückt hat, um sie zeitlebens wie ein Heiligthum zu bewahren.“

Da kommt die Stunde einer schrecklichen Entdeckung. Werthérie erfährt, daß Hertzberg verheirathet ist; mit Frau Hertzberg ist der weibliche Albert auf den Plan getreten. Werthérie macht sich die bittersten Vorwürfe, sie sieht keinen andern Ausgang, als freiwillig aus dem Leben zu gehen: sie nimmt Opium und stirbt daran. Ihre Kammerfrau läßt ihr einen Grabstein setzen mit der Inschrift – „Werthérie – schön, tugendreich und zu gefühlvoll – ist, siebzehn Jahre alt, gestorben. Die Liebe hat sie getödtet. Wanderer, lies, weine und zittre!“

Wie das Schlußwort dieser Grabschrift und manche andere Stellen des Werkes beweisen, ist es zum Theil eine Parodie, im Ganzen eine Mischung von Ernst und Scherz. Jedenfalls zeigt diese Erzählung aber, wie volksthümlich Goethes „Werther“ damals in Frankreich war, denn auch Parodien sind nur dort möglich, wo das Publikum mit dem Original vollständig vertraut ist.
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Der Soxhletsche Milchapparat für Säuglinge. Wenn eine deutsche Hausmutter alten Schlages nur einen Blick auf die nachstehende Abbildung werfen, die vielen Flaschen, Gestelle, Büchsen, Pfropfen und Gläser sehen sollte, dann würde sie bedenklich den Kopf über die neumodische Sitte schütteln, welche gar ein ganzes chemisches Laboratorium in die Kinderstube bringt. Sie würde gewiß für den alten guten Brauch eintreten, bei dem sie selbst und ihre Kinder groß und kräftig geworden sind. Wenn die Hausmutter damit die natürliche Ernährung des Säuglings an der Mutterbrust meinen wollte, dann würden wie ihr von Herzen beipflichten, sonst aber müßten wir ihr die statistischen Tafeln der Kindersterblichkeit entgegenhalten und ihr erwidern, daß die künstliche Ernährung des Säuglings besser gehandhabt werden muß, damit nicht so viele schöne Hoffnungen der Eltern schon im Keime erstickt werden.

Nach vielen Versuchen ist die medicinische Wissenschaft zu dem Ergebniß gelangt, daß gute Kuhmilch den besten Ersatz für die Mutterbrust bildet und allen Kindermehlen und -Extrakten vorzuziehen ist. Gleichzeitig aber beschränkte sie den Satz dahin, daß wir unter einer guten Kuhmilch nur eine solche von gesunden Kühen und eine von allen Zersetzungskeimen freie Milch verstehen dürfen. Um die erste Bedingung zu erreichen, hat man sog. Säuglings-Kuhställe unter ärztlicher Aufsicht errichtet und damit sehr gute Erfolge erzielt. Aber selbst der idealste Kuhstall vermag nicht eine Milch zu liefern, die von Zersetzungskeimen frei ist, und darum ist es die Pflicht der Mutter, diese Keime unschädlich zu machen, bevor die Milch dem Säugling verabreicht wird. Ein genügendes Abkochen der Milch, die peinlichste Reinlichkeit der Saugflaschen und Saugstöpsel genügen an und für sich zur Tödtung und Fernhaltung der Zersetzungs- und Gährungskeime, und eine Frau, die verständig genug ist, die Bereitung und Verabreichung der Nahrung für den Säugling selbst zu besorgen, und sich die Mühe nicht verdrießen läßt, für die peinlichste Reinlichkeit unablässig zu sorgen, wird mit der Kuhmilch die besten Resultate erreicht haben und glauben, ein Apparat, wie wir ihn abbilden, sei überflüssig.

Es mag sein; denn hier und dort wird ein und dasselbe Princip befolgt; die Zersetzungskeime sollen durch die Siedehitze getödtet oder wenigstens abgeschwächt werden. Der Soxhletsche Apparat bietet jedoch unendlich mehr Sicherheit als das schärfste Mutterauge; wir werden dies schon aus einer flüchtigen Beschreibung desselben ersehen.

Die Abbildung zeigt uns den Apparat in seinen Einzeltheilen, als ob er auf einem Tische vor uns aufgestellt wäre.

Der „Milchmann“ hat die Milch gebracht, und die Mutter tritt nun an ihr „Laboratorium“. Das Erste, was sie thut, ist, daß sie die Milch nach der Angabe des Arztes mit Wasser verdünnt. Dabei leistet ihr das rechts stehende Glas gute Dienste, dessen Inhalt durch eine Skala in Strichen angedeutet ist. Hierauf füllt sie die verdünnte Milch in die Flaschen, von denen 20 Stück dem Apparate beigegeben sind. Auch ein Gestell, auf welchem die gereinigten Flaschen aufbewahrt werden können, fehlt nicht. Eine jede der Flaschen faßt 150 Kubikcentimeter, und es müssen so viel Flaschen gefüllt werden, daß sie für einen Tagesverbrauch reichen. Die Flaschen werden mit besonders dazu beigegebenen Kautschukstöpseln verschlossen und in den Wassertopf (auf der Abbildung links) gestellt. Nachdem der Deckel auf den mit kaltem Wasser gefüllten Topf festgedrückt worden, läßt man das Wasser kochen. Nach etwa 5 Minuten öffnet man den Deckel und steckt in die Kautschukstöpsel kleine Glasstäbchen, wodurch die Flaschen luftdicht abgeschlossen werden. Jetzt kocht man bei festgedrücktem Deckel 35 bis 40 Minuten fort, hebt nach dieser Zeit die Flaschen aus dem Topf und läßt sie erkalten. Die so behandelte Milch hält sich bei Zimmerwärme 3 bis 4, und an einem kühlen Orte aufbewahrt 4 bis 5 Wochen, ohne zu gerinnen; gleichzeitig wird durch dieses Kochverfahren die Bildung der lästigen Milchhaut verhindert, welche die Saugvorrichtung verstopft und verunreinigt.

Soll nun eine Flasche dem Kinde gereicht werden, so stellt man sie in den kleineren mit Wasser gefüllten Topf auf den Herd oder auf eine Spirituslampe, bis die Milch trinkwarm wird, und erst unmittelbar vor der Verabreichung befestigt man die Saugvorrichtung an derselben.

Die Handhabung des Apparates ist, wie wir gesehen haben, keineswegs komplicirt, und doch sind dabei alle Bedingungen erfüllt, welche die Milch vor Zersetzung schützen, während bei den gewöhnlichen Aufbewahrungsmethoden der abgekochten Milch in Töpfen etc. die Mutter nie sicher sein kann, ob sich schädliche Keime der Milch beigemengt haben.

Professor Dr. Soxhlet hat die Fabrikation des Apparates der Firma Metzeler u. Komp. in München übertragen und denselben durch seinen Namenszug vor Nachahmungen geschützt; der Apparat ist vielfach geprüft worden, und die Erfolge sind von Autoritäten wie Professor Dr. F. Winkel „vorzüglich“ genannt worden. Auch wir empfehlen ihn den Müttern, die ihre Kinder selbst nicht stillen können.
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Am Feinde. (Mit Illustration S. 205.) Das ist ein inhaltschweres Wort, das auch dem Muthigsten das Blut für Augenblicke aus den Wangen treiben kann; denn es bezeichnet die Erwartung eines Ungewissen, die bange Stille vor dem Sturm, die Pause vor der Schlacht.

Ist das Ungewisse einmal erkannt, der Sturm mit Donner und Blitz losgebrochen, so löst sich’s wie ein Alp von jeder Brust und im Bewußtsein der Pflicht, im Vertrauen auf seine Führer geht der Soldat muthig der Gefahr entgegen.

Die Situation, die auf dem Bilde dargestellt wird, ist folgende: eine Armee – es ist, wie uns die Tracht belehrt, die des großen Preußenkönigs –

[220] ist in Feindesland eingerückt, überraschend schnell, wie das bei preußischen Armeen so Sitte ist. Noch hat sich kein Feind gezeigt; durch das Haideland geht der Marsch mit aller Vorsicht; ein Schleier von aufklärenden Reitertrupps verhüllt und schützt ihn, aber bald muß es zum Zusammenstoß kommen. Und doch klopft das Herz jetzt stärker, als der Husar auf schweißtreibendem Roß angesprengt kommt und dem Führer seine Meldung erstattet. Er ist von einem jener Spähertrupps entsandt, der auf den Feind gestoßen ist, vielleicht ein paar Schüsse mit ihm gewechselt, vielleicht auch nur aus aufwirbelndem Staubgewölk oder blitzendem Waffenglanz auf seine Nähe geschlossen hat. Der Führer mit seinem Stab reitet nun vor und läßt sich von dem Husaren die Richtung weisen. Ernst und ruhig sitzt er auf seinem Roß, das Fernrohr in der Hand, prüft das Gemeldete, späht hinaus mit festem sicheren Blick und überlegt im Geist schon die zu treffenden Maßregeln. Mehr Erregung verräth die Gruppe hinter ihm, der Adjutant und die Ordonnanz, die sich die Hand übers Auge hält, um besser zu sehen, während die andere in strammer Haltung dem Flüstergespräch der beiden lauscht.

Ein Befehl ist schon ergangen; der zweite Adjutant bringt ihn im Galopp zurück zu der lautlos harrenden Truppe, die wir nur in dunklen Umrissen wahrnehmen. Sie sieht ihn kommen. Was wird er bringen?

Vielleicht nichts von ernster Bedeutung, vielleicht hat sich die Patrouille da vorne getäuscht; vielleicht war’s nur ein harmloses Renkontre, das keine Folgen hat. Vielleicht aber auch bringt er das Signal zur Schlacht und in wenigen Augenblicken löst sich die Erstarrung, und die Kolonnen zu Fuß und zu Roß stürzen sich auf den Feind.


Dr. Karl Schildbach, der ausgezeichnete Orthopäde, ist am Morgen des 13. März in Leipzig gestorben. Dieser Todesfall verpflichtet die „Gartenlaube“, abermals einen Kranz auf das Grab eines alten treuen Mitarbeiters zu legen. Seitdem Schildbach, im erzgebirgischen Schneeberg am 1. Juni 1824 geboren, nach tüchtigen Studien in Leipzig und Heidelberg und nach lehrreichen Wanderjahren endlich in Leipzig festen Boden gefunden, 1859 Vicedirektor und 1861 Direktor der von Dr. Schreber begründeten „Orthopädischen Heilanstalt“ geworden, theilte er interessante Erfahrungen und Forschungen immer gern von Zeit zu Zeit dem Leserkreise unseres Blattes mit, wie dies noch in den letzten Wochen der Fall war. Auch als Mann und Bürger hochgeachtet, hat er opferbereit stets für das Wohl des Volkes gestrebt und die Ehre redlich verdient, die seinen Namen schmückt. Den letzten Beitrag aus der Feder Dr. Schildbachs bringt die „Gartenlaube“ in dieser Nummer.
Fr. Hfm.     


Deutsche Worte. Unter diesem Titel hat Otto v. Leixner (Berlin, Otto Janke) eine Sammlung von Skizzen über Litteratur, Kunst und gesellschaftliches Leben veröffentlich, denen sich eine Menge Sinnsprüche in Vers und Prosa anschließt: scharfe Beobachtung von Welt und Menschen prägt sich darin oft in glücklicher Fassung aus; das Ganze durchweht eine edle, dem Gemeinen feindliche Gesinnung. Wir theilen einige Proben aus dieser Spruchsammlung mit:

Menschen, welche mit dem Herzen übereinstimmen, dürfen mit dem Verstande auseinandergehen. In entscheidenden Augenblicken treffen sie doch zusammen.

Der größte Wunsch, den der Mensch hegen kann, ist, einmal nichts zu wünschen und doch fröhlich sein zu können.

Wenn ein Wasser getrübt ist, kann man nicht unterscheiden, ob es seicht oder tief sei. So prägt ein Unglücksfall auch oberflächlichen Menschen oft ein ernsteres Gepräge auf.

Alles läßt sich als Kunst betreiben, auch das Hoffen. Es giebt Hoffnungskünstler. Stets haben sie eine Hoffnung auf der Spule der Phantasie und wickeln, reißt der Faden plötzlich ab, frohgemuth einen andern auf und beginnen das Spiel von neuem. Leider läßt sich diese Fähigkeit nicht durch den Willen erreichen; sie ist angeboren wie die entgegengesetzte: die Gabe alles schwarz zu sehen.

Für sich soll man nicht leben, aber mit sich. Wenn das viele versäumen, so liegt die Ursache vielleicht darin, daß sie sich nach besserer Gesellschaft sehnen.
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Auf vielfachen Wunsch ließ die Verlagsbuchhandlung Ernst Keils Nachfolger in Leipzig von dem doppelseitigen Porträt „Kaiser Wilhelm I.“, welches als Trauerbeilage der „Gartenlaube“ erschienen ist, eine Anzahl von Lichtdrucken auf feinem Karton herstellen, die zu dem Preise von 3 Mark durch jede Buchhandlung oder die Verlagshandlung Ernst Keils Nachfolger in Leipzig zu beziehen sind.



Skat-Aufgabe Nr. 4[2]
Von Heinrich Mehnert in Dresden.
Wenn die Vorhand folgende acht Karten hat:
(p. B.)
(car. B.)
(tr. 9.)
(p. 9.)
(c. Z.)
(c. D.)
(c. 9.)
(car. D.)

welche zwei Karten müssen noch hinzukommen, damit sie damit bei ein und derselben Kartenvertheilung überhaupt jedes Spiel (Frage, Tourné, jedes Solo, Grand und auch Null ouvert) bei fehlerloser Spielführung gewinnen muß, und wie müssen die übrigen Karten vertheilt sein?


Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 3 auf S. 132:
Wie sich aus den ersten drei Stichen und den übrigen Bestimmungen der Aufgabe ergiebt, spielte die Vorhand Eichel (tr.) -Solo auf den folgenden Karten:
rW, sW, c9, c8, c7, gD, gZ, rD, rO, sD.
bei folgender Kartenvertheilung: Skat: sK, sO.
Mittelhand: gW, eK, eO, gK, gO, g9, g8, g7, sZ, S8.
Hinterhand: eW, eD, eZ, rZ, rK, r9, r8, r7, s9, s7.
Nach den drei ersten Stichen, auf welche die Gegner bereits 57 Augen erlangt haben. folgen nach:
4. rZ, r0, sZ, (-23) 5. r9, c8, gW (-2) 6. gO, eW, gD (-16)

womit die Gegner trotz der gleichen Vertheilung der Trümpfe 98 Augen hereinbekommen, bevor der Spieler zum Stich gelangt ist.



Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

B. H. in Berlin. Die „Garnisonkarte der deutschen Armee“ von Lieutenant Hans von Arnim (Verlag von A. Stephany in Berlin) bietet auch den nichtmilitärischen Kreisen ein willkommenes Orientirungsmittel. In derselben sind bereits die bis zum 1. April 1888 eintretenden Dislokationen berücksichtigt.

„Nonne“. Wir bitten um genaue Angabe Ihrer Adresse, um Ihnen direkt antworten zu können.

Schladminger Abonnenten. Der Schluß des Romans „Der Unfried“ von L. Ganghofer ist in Nr. 53 erschienen. In dem verflossenen Jahre haben unsere Abonnenten anstatt 52 Nummern 53 erhalten. Sollte Ihnen Nr. 53 nicht zugestellt worden sein, so verlangen Sie dieselbe von derjenigen Firma, bei welcher Sie auf das vierte Quartal des Jahrgangs 1887 der „Gartenlaube“ abonniert hatten.

Anfrage. Wer kennt ein zuverlässiges Mittel zur Vertilgung der amerikanischen Mehlmotte?

J. Sch. in Breslau. Vergleichen Sie gefl. den Artikel „Kloster Lehnin“ im Jahrgang 1882 der „Gartenlaube“ S. 129.

L. M. in Aurich. Nicht geeignet.

P. St. in Berlin. Eine Biographie W. Heimburgs mit dem Bilde der beliebten Erzählerin erschien bereits im Jahrgang 1884 der „Gartenlaube“.



In unserem Verlage ist soeben erschienen und durch beinahe alle Buchhandlungen zu beziehen:
Kaiser Wilhelm I.
Ein Gedenkbuch für das deutsche Volk.
Von Ernst Scherenberg.
Elegant in Leinwand gebunden Preis 1 Mark.
Inhalt: I. Glückliche Kinderzeit (1797–1806). II. Frühe Leidensjahre (1806–1810). III. Die Tage der Vorbereitung und Erhebung (1810–1813). IV. Während der Befreiungskriege (1813–1815). V. Mannesjahre des Prinzen Wilhelm (1815–1840). VI. Prinz von Preußen (1840–1858). VII. Prinzregent (1858–1860). VIII. König von Preußen (1861–1871). IX. Oberhaupt des Norddeutschen Bundes (1867–1870). X. Deutscher Bundesfeldherr (1870–1871). XI. Deutscher Kaiser (1871–1888).
Vorräthig in den meisten Buchhandlungen. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich unter Beifügung des Betrags in Briefmarken direkt an die
Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

  1. Nach Ernst Scherenbergs Gedenkbuch für das deutsche Volk „Kaiser Wilhelm I“. (Leipzig, Ernst Keils Nachfolger.)
  2. Diese Aufgabe ist im Problemturnier des vorjährigen Skatkongresses mit dem ersten Preise ausgezeichnet worden.