Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[77]

No. 5.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Was will das werden?

(Fortsetzung.)


11.

Es war also einmal ein armer Junge, der hieß Peter Lorenz, gerade wie ich.

Er war aber ‚oben vom Walde‘, wie sie in jener Gegend sagen. Und er durft’s gewiß sagen: sein heimisch Dorf lag nicht nur ganz ‚oben‘ auf dem Kamme, es war auch ganz ‚vom Walde‘ umgeben. Alles fürstlicher Wald. Es mochte eine Zeit gewesen sein, wo nicht aller Wald fürstlich war, oder aber die fürstlichen Hirsche haben es zu arg getrieben. Jedenfalls ging einer seiner Aelterväter zu schlimmer Stunde, da der Mond schien, in den Wald und schoß ein paar Hirsche todt, wofür er denn auf einen lebendigen Hirsch gebunden wurde, hinter dem man die Meute losließ, die das Thier zu Tode hetzte und zerriß und seinen Aeltervater auch, der aber hoffentlich vorher schon todt war.

Es mag der letzte Fall im Lande gewesen sein, wo man etwas so Gräßliches beging, und wohl schon ein paar Jahrhunderte her. Aber die Sage davon hatte sich erhalten, ja, war in einem Holzschnitte dargestellt worden, welcher in der einzigen Stube an der Wand dicht unter der Decke hing. Der arme Junge hatte ihn so oft angesehen: er konnte, wenn er wollte, die Augen fest zumachen und sah ihn doch: den Hirsch, der sehr lange, steife Beine hatte, mit dem armen nackten Menschen auf dem Rücken, voraufspringend vor vielen Hunden her, die auch alle auf sehr langen und steifen Beinen liefen, dem Walde zu, über welchem eine Sonne mit Strahlen nach allen Seiten aufging. Wieder über der Sonne war der liebe Gott mit Engeln und Teufeln zur Rechten und Linken und sonst noch Mancherlei, was der arme Peter aber nicht deutlich erkennen konnte, denn das Bild hatte an seiner Stelle schon viele, viele Jahre gehangen und war schier so schwarzbraun wie der wurmstichige Rahmen, von dem Rauch, der aus dem Flur, wo die Esse stand, fortwährend in die Stube kam. Sein Vater war aber Nägelschmied, und seine Väter waren Nägelschmiede gewesen, und wer weiß, ob auch nicht schon der unglückliche Aeltervater, und ob er nicht aus eben unserem Häuschen an jenem schlimmen Morgen hervorgegangen ist. Denn alt genug war es dazu: ganz klein, auf einem Unterbau von zerbröckelnden Steinen, mit einem steinernen Treppchen, dessen Stufen völlig ausgehöhlt waren; sonst aus Holz und Lehm, Alles so schief und krumm und durchlöchert und verwittert – es war ein Wunder, daß es so viele Winterstürme durchgehalten.

Der erste Versuch.0 Nach dem Oelgemälde von G. del Torre.

Denn es stürmte des Winters gar grausam da oben auf dem Walde, und es war dann bitterkalt und die Kinder froren erbärmlich, trotzdem das Feuer auf der Esse im Flure während des Tages nie ausging und die glühende Asche des Nachts sorgfältig zugedeckt wurde, bis der Vater sie, lange bevor der Morgen [78] graute, wieder anschürte. Er mußte aber wohl bei der Arbeit bleiben, der gute Alte: es waren da viele hungrige Münder zu stopfen, und Nägelschmieden ist ein kümmerliches Handwerk. Für einen Sack mit tausend Nägeln, von denen jeder einzeln auf dem Amboß gehämmert werden mußte, bekam er, wenn der Preis gut war, zehn Groschen und meistens weniger. Die Kinder wußten das am besten, denn wenn der Vater ein paar Säcke voll fertig hatte, mußten sie dieselben hinab in die Dörfer tragen, und es dauerte oft recht lange, bis sie ihre Waare los wurden, und hatten dabei gar viel von Wind und Wetter und schlechten Menschen auszustehen. Es gab aber auch hier und da gute, die Mitleid mit den armen Kindern hatten und ihnen die Nägel abnahmen, die sie manchmal gewiß nicht einmal brauchen konnten. Auch konnten die armen Schelme nicht sagen, daß sie sich unglücklich fühlten. An das Frieren und Hungern waren sie gewöhnt, und sie froren und hungerten ja nicht immer. Besonders des Sommers nicht, wenn die Schwämme und die Beeren im Walde wuchsen, die sie einsammelten und mit denen die Buben sich auch manch guten Groschen verdienten, ebenso wie die Mädchen mit ihren Zöpfen, die ihnen abgeschnitten wurden, wenn sie lang genug waren, und welche die Mutter dann in der Stadt verkaufen ging.

Und dann war es gar herrlich des Sommers obem im Walde: der Himmel so blau und die Bäume so hoch und grün, und durch die hohen grünen Bäume schlüpften die goldenen Sonnenstrahlen und flogen die Vögel, die so lieblich sangen und von denen die Kinder jeden kannten, wie auch jede Pflanze und jedes Moos im Walde. Nicht dem Namen nach, außer solchen, die sie ihnen selber gaben, denn irgend welchen Unterricht, außer etwa einem Bischen Lesen und Schreiben während des Winters hatten sie nicht, und von dem Bischen vergaßen sie das Meiste im Laufe des Sommers wieder, und im Winter lag der Schnee oft wochenlang so hoch, daß sie nicht in die Schule konnten, welche überdies eine Viertelmeile entfernt lag. Sie wuchsen eben halb wild auf. Manche von ihnen waren, glaub’ ich, nicht einmal getauft, und daß der arme Peter nicht eingesegnet war, wußte er sicher. Du wolltest etwas sagen, Kind?“

Der Vater nippte an dem Wein. Ich hatte rufen wollen: Auch Du, Vater, bist nicht eingesegnet! aber ich mochte jetzt nicht an die Frage rühren. Ich mußte fürchten, daß darüber die Erzählung des Vaters von seinen Erlebnissen eine Unterbrechung erleide, und für den Augenblick flößte mir diese ein größeres Interesse ein, als meine eigenen Angelegenheiten. Dazu war in dem Ton des Vaters, während er, ohne zu stocken, ohne jemals nach einem Worte zu suchen, erzählte, etwas so erquicklich Schlichtes und Bescheidenes, daß es mir wie Musik klang und ich immer nur hätte zuhören mögen. Ich versicherte deßhalb heftig, daß ich nichts habe fragen oder sagen wollen und schenkte ihm, obgleich er sanft abzuwehren suchte, das Glas wieder voll. Er nippte abermals mit sichtbarem Wohlbehagen und fuhr fort:

„Du kannst Dir denken, daß die Kinder aus dem kleinen Hause mußten, sobald sie zu groß wurden für das Hausiren mit den Nägelsäcken, denn ohne das Mitleid der Leute hätte das Geschäft schon gar nicht rentirt. So wurden sie durch das Land zerstreut; einer ist aber geblieben und setzt das armselige Gewerbe des Vaters in dem armseligen Häuschen fort bis auf den heutigen Tag. Die Mutter, von der Peter ein Bild in der Seele hatte, als ob sie eine steinalte Frau gewesen wäre, obgleich sie gar nicht alt geworden sein kann, war schon vorher gestorben. Nun hatte sich auch der Vater die letzten Nägel zu seinem Sarge geschmiedet. Es muß sich wohl irgend ein Nachbar der armen Verwaisten angenommen haben – oder ein Ortsvorstand, obgleich Peter nie von einem solchen gehört – genug, man hatte einen entfernten Verwandten der Mutter in einer kleinen sächsischen Stadt am Fuße des Waldes ausfindig gemacht, zu dem er in die Lehre kam. Der Onkel, so nannte er ihn, war Steinmetz. Er hatte keine leichte Zeit bei dem Onkel. Es war ein gewaltsamer, jähzorniger Mann, der fortwährend auf Gott und die ganze Welt, besonders auf die Regierung schalt und, was für den armen Peter viel schlimmer war, bei der geringsten Veranlassung zuschlug – Peter meinte: oft nur, weil es ihm ein körperliches Bedürfniß war. Im Grunde war es ein braver Mensch, der das Gute wollte, so weit er es eben verstand, und alles an seine Ueberzeugung setzen konnte, wie er es hernach bewiesen hat. Der arme unwissende Junge vom Walde suchte ihm möglichst zu Dank zu leben und es wurde ihm das nicht schwer, denn er war von Natur fleißig und die Arbeit machte ihm Freude. Der Onkel fertigte zumeist Thürschwellen und Fensterrahmen aus Sandstein, aber auch Grabsteine und Kreuze aus Granit und einer schlechten Sorte Marmor. Manchmal wünschten die Kunden auch sinnbildliche Verzierungen: ein flammendes Herz oder ein Auge Gottes, schließlich sogar Engel und sonstige Figuren. Das war aber ein Kreuz und ein Leid für den Onkel, der sich auf dergleichen nicht verstand, und so war es denn eine große Erleichterung für ihn, als sich bald herausstellte, daß Peter für solche Dinge eine natürliche Begabung hatte. Ja, er brauchte in Kurzem selbst für die Engel nur noch eine ganz flüchtige Thonskizze zu machen und konnte dann sofort an die Ausführung in Marmor gehen. Der Onkel brummte freilich dazu, denn je bessere Sachen der Junge machen lernte, desto mehr Bestellungen der Art kamen; auch aus entfernteren Orten, einmal sogar aus Dresden. Dort hatte ein sehr berühmter Bildhauer eine seiner Arbeiten zu sehen bekommen und darauf bestanden, daß ein junger Mensch, der ohne alle Anleitung so etwas machen könne, ordentlich in die Lehre müsse. Der gute Mann hatte in seinem Leben mit ganz ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, und er ruhte nicht – der Onkel mochte wettern, wie er wollte – bis Peter zu ihm in das Atelier kam.“

Der Vater brach ab, führte mit zitternder Hand das Glas an den Mund, nippte hastig ein paar Tropfen, setzte das Glas wieder hin und versank in jenen ihm eigenthümlichen Zustand, in welchem er alles rings um sich her vergaß. Aber wenn dann meistens seine Stirn umwölkt und seine starren Augen trübe waren, so leuchtete jetzt förmlich sein ganzes Angesicht, während sein Blick groß und still wie auf einer weiten schönen Ferne ruhte. Das dauerte wohl eine Minute, während derer ich mich nicht zu regen, kaum zu athmen wagte. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, schaute auf mich, wie jemand, der aus einem tiefen Traum erwacht, und sagte, nun in einem ganz anderen, helleren Ton und offenbar ohne sich zu erinnern, daß er bis dahin von sich als von einer dritten Person gesprochen hatte:

„Wo war ich doch stehen geblieben? Ja so, in Dresden, bei Meister Rietschel. Ja, das war eine schöne Zeit, eine goldige Zeit! Mir ging’s wie dem Manne, der in eine Zauberhöhle kam, wo alles von Rubinen, Smaragden und Diamanten glänzt, daß er nicht weiß, wohin er zuerst greifen soll. Ich arbeitete Tag und Nacht, ich hatte ja so viel nachzuholen, wenn man das von einem sagen kann, der, wie ich, alles von Anfang an lernen mußte. Aber der Meister half, wo und wie er konnte, und ich fand gute Gesellen, die auch halfen; und machte solche Fortschritte, daß der Meister eines Tages sagte, was ich nun noch lernen könne, müsse ich aus mir selber lernen, Notabene, nachdem ich zuvor ein Jahr in Italien gewesen. Ein Stipendium hatte ich freilich nicht, brauchte ich aber auch nicht; ich hatte noch nicht verlernt, knapp zu leben und, wenn’s sein mußte, zu hungern. Auch hatte ich mir etwas Geld verdient und damit ging’s nach Italien. Ja, Kind, ich bin in Italien gewesen: in Florenz und Rom und weiter hinab bis Syrakus, wo ich eine herrliche Venus mit ausgraben half, von der ich an Ort und Stelle eine Kopie machte, die ich nach Hause schickte, und die mir ein tüchtiges Stück Geld eintrug, so daß ich noch ein zweites Jahr in Rom leben konnte wie ein Fürst. Bloß, daß der reichste Fürst gar nicht so glücklich sein kann, wie so ein armer Künstler, wenn er sich den Tag über rechtschaffen müde gearbeitet hat an einem Werk, von dem er sich Ruhm und Ehre verspricht; und nun des Abends auf dem Monte Pincio steht, wo einem die Stadt so zu sagen unter den Füßen liegt mit der grünen Campagna dahinter, in welche die Kuppel von St. Peter hoch hinaufragt – alles rosig und purpurn überglänzt von der untergehenden Sonne. Und er, der junge Mensch da oben, in all der Herrlichkeit doch eigentlich wieder nichts sieht, als das angefangene Thonbild, das er mit nassen Lappen zugedeckt hat, als er seine dunkle Werkstatt verließ. Nur ist es jetzt fertig und kein brauner Thon mehr, sondern glänzender Marmor, aus dem, wie aus einem Spiegel, all die Schönheit wiederstrahlt, die sich da tausendfältig vor ihm breitet.“

Der Vater schwieg, für den Moment überwältigt von seinen Erinnerungen; ich saß da, berauscht von dem Feuerwein und dem Märchen, das ich da vernahm. Denn das war doch gewiß ein [79] schönes Märchen: Italien, Rom, der Monte Pincio, die Peterskirche – ich brauchte ja nur die Augen aufzumachen. Da war die enge, dumpfe Werkstatt, in der es nach Leim und Firniß roch: und da stand der Sarg, der morgen früh fortgeschafft werden sollte, für die alte Mutter Möllern aus dem Spittel!

Der Vater mußte den Blick, mit dem ich unwillkürlich den Sarg betrachtet, aufgefangen haben.

„Es kommt schon,“ sagte er. „ich bin nun über die Höhe weg, auf der die Sonne so schön schien, und es geht bergab auf der Schattenseite: ich gehöre eben nicht zu den Menschen, die sich auf der Höhe halten können. Die müssen mehr Kraft haben, als ich, und, vor allem, nicht immer erst an andere denken und was wohl aus denen wird, wenn sie selbst, ohne sich umzusehen, ihren Weg gehen. Dabei kommt man nicht weit, aber ich habe immer gemeint, wenn Gott zugleich allmächtig und allgütig ist, kann er nur in seiner Weisheit herausgefunden haben, wie sich das zusammen reimt. Wir armen schwachköpfigen Menschen bringen es nicht fertig und haben nur die Wahl, ob wir unserem Ehrgeiz oder unserem Herzen folgen wollen. Und für mich ist dabei nicht einmal eine Wahl gewesen, und was mir mein Herz gesagt hat, das habe ich immer gethan, ohne mir erst lange darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich sage das aber, Kind, um dessen willen, was mir noch zu erzählen bleibt, und was ich selbst zum Theil nicht verstehen würde, wäre ich nicht überzeugt, es lag einmal in meiner Natur, so handeln zu müssen, und daß ich deßhalb wieder so handeln müßte, geriethe ich nochmals in dieselbe Lage und wüßte, was dabei für mich herauskommt.

Ich war also wieder in Dresden, den Kopf und die Mappe voll von allerhand schönen Entwürfen, wie sich da ein paar auf das Blatt verirrt haben. Ich hatte ein eigenes Atelier, wohnte aber wieder bei der Wittwe, bei der ich als Schüler gewohnt. Sie hatte eine einzige Tochter, die noch halb ein Kind war, als ich nach Italien ging, und inzwischen zur Jungfrau herangewachsen war. Das arme Mädchen that mir bitter leid. Der Vater war seiner Zeit ein geschätztes Modell gewesen – weißt Du, was das ist, Kind? – Gut! – aber als Trunkenbold gestorben, nachdem er die Seinen in tiefes Elend gebracht. Auch die Mutter hatte kein gutes Leben geführt und, grausam heftig, wie sie war, ihre schlimmen Launen immer an dem armen Kinde ausgelassen. Ich hatte es stets zu trösten gesucht und, so weit ich vermochte, in Schutz genommen und ihr gesagt, wenn ich als ein reicher und berühmter Mann wieder käme, wollte ich für sie sorgen. Nun war ich freilich noch lange kein berühmter Mann und reich war ich gewiß nicht, aber ihr ging es mißlicher als je. Sie war in ihrer Weise hübsch geworden, und die Mutter wollte sie zwingen, auch Modell zu stehen, was für ein ordentliches Mädchen unmöglich ist. Ich sah keine andere Rettung für sie, als daß ich sie zu meiner Frau machte. Das brachte mich in meinem Geschäfte just nicht weiter und, wie ich bald sehen sollte, in meiner Kunst zurück. Die Kameraden schalten oder spotteten und gingen mir aus dem Wege; auch der Meister war sehr unzufrieden, ließ mich aber deßhalb nicht fallen, sondern suchte mich zu fürdern, wenn auch nicht mehr so eifrig wie früher, und wandte mir einen und den andern Auftrag zu.

Es wollte mir nichts Rechtes mehr gelingen. Der Künstler muß in seinem Hause eine reine wohlige Luft athmem, und wenn es nicht der Fall ist, spürt man es bald an seinen Werken: es liegt kein Glanz mehr darauf, oder aber sie werden aus Schwächlichkeit übertrieben, wie Jemand, der fühlt, daß er Unrecht hat, heftig wird. Ich merkte es wohl, lange bevor die Anderen es mir sagten. Das machte mir tiefen Kummer, hauptsächlich meines Meisters wegen, der so große Hoffnungen auf mich gesetzt hatte, die ich nun so gründlich täuschen sollte. Ich selbst that mir wohl auch leid, aber noch viel mehr leid würde mir meine Frau gethan haben, hätte ich sie entgelten lassen, woran sie doch im Grunde unschuldig war. Und mußte ich meinen Traum vom Monte Pincio fahren lassen, dereinst ein großer Künstler zu werden – ein guter Gatte und ein guter Vater konnte ich immer sein, und je mehr mein Talent nach der andern Seite abzunehmen schien, desto kräftiger entwickelte es sich nach dieser, wie denn die verstümmelte Natur sich immer wieder zu helfen sucht. Auch die Liebe ist eine Kunst, zu der man, glaube ich, das Talent mit auf die Welt bringen muß. Dies Talent hatte ich, und das konnte mir Niemand und nichts rauben. Ich liebte meine Frau von ganzem Herzen, trotzdem wir wenig zu einander paßten, und ich war überselig, als uns unser Otto geboren wurde. Dann nach ein paar Jahren kam auch der August, und ich hätte so still in meinem Winkel weiter leben können – kein selbständiger Künstler mehr, aber doch ein treuer und gesuchter Gehilfe – wäre nicht das Jahr Achtundvierzig über uns hereingebrochen.

Wenigstens über mich brach’s herein. Ich hatte mich im Leben nicht um Politik gekümmert, wußte gar nicht, daß es so etwas auf der Welt gab. Plötzlich redete alle Welt davon – viel thörichtes Zeug, wie ich jetzt wohl sehe; aber auch Manches, das ich für recht und billig schon damals hielt und dafür halte bis auf den heutigen Tag. Ich hatte mir früher die Fursten als gräßliche Wütheriche vorgestellt, die ihren Spaß daran hatten, arme Menschen nackt auf einen Hirsch zu schnüren und sie von wilden Hunden zerreißen zu lassen, und mich schrecklich vor ihnen gefürchtet. Das that ich jetzt nicht mehr; aber eine Abneigung gegen sie und ein leises Mißtrauen war mir in der Seele sitzen geblieben. Ich hielt dafür, daß Menschen, die nie gefroren und gehungert hatten, nicht wissen könnten, wie den armen Leuten zu Muthe sei und was sie bedürften, und schon deßhalb nicht richtig für diese Bedürfnisse sorgen könnten beim besten Willen. Und weiter, daß sie diesen Willen oft genug gar nicht haben würden, denn es sind ja schließlich doch auch nur Menschen, und der weiseste der Menschen hat gesagt: wo unser Schatz ist, da ist auch unser Herz.

Der Schatz der Fürsten aber ist ihre Macht und Herrlichkeit, von der sie nicht lassen und lieber ihr Leben daran setzen, wie es denn so Manche gethan haben. Mit einem Worte, Kind, ich war von jeher Republikaner gewesen, ohne es zu wissen, und war es jetzt wissentlich, oder wäre es doch gern gewesen, wenn es sich hätte machen lassen. Das schien nun nicht der Fall; aber dann, meinte ich, sollten die Fürsten wenigstens ihre Völker regieren, wie diese regiert sein wollten, denn die Völker seien nicht der Fursten wegen da, sodern umgekehrt, und wenn das deutsche Volk einen Kaiser wollte, dem die anderen Fürsten gehorchen sollten in allen großen Angelegenheiten, so dürfe Der, welchem es die Krone böte, nicht Nein sagen. Das schien mir Alles so sonnenklar, und ich begriff gar nicht, wie die Leute darüber so lange Reden halten konnten, wie der Onkel seiner Zeit gethan hatte. Und richtig, da war auch der Onkel. Er hatte gehört, daß es bei uns in Dresden bald losgehen werde, und war herbeigeeilt mit seiner treuen Büchse, um für ,die gute Sache‘ zu kämpfen und zu fallen, wen’s denn sein müsse. Nun, Kind, es ging los, und er hat für die Sache, die er für die gute hielt, gekämpft und ist gefallen an meiner Seite auf der Barrikade in der Schloßstraße, mitten durch seine breite Brust und sein braves Herz geschossen.“

Der Vater strich sich nachdenklich durch den grauen Bart. Mein Blick blieb mit einem ehrfurchtsvollen Schauder auf der verstümmelten Hand haften; ich brauchte jetzt nicht mehr zu fragen: warum hast du nur vier Finger? wie an jenem Morgen, als der Major hier in der Werkstatt war und auch danach fragte, und der Vater die leise Antwort gab, die ich nicht verstand. Ach, wie vieles brauchte ich jetzt nicht mehr zu fragen! und wie vieles hatte ich doch noch zu fragen! Meine Seele war in einer zitternden Erregung, als wüßte sie, daß dieser Abend über mein Leben entscheiden sollte.

„War er auch dabei, der Major?“

Der Vater nickte.

„Als blutjunger Lieutenant. Sie hatten ein paar Regimenter aus Preußen kommen lassen; dabei ist er auch gewesen. Er hat mich sogar selbst gefangen genommen und mir auch wohl das Leben gerettet. Denn die wüthenden Soldaten wollten uns alle todt schlagen, obgleich wir uns nicht mehr wehren konnten; und er hat sich mit gezogenem Degen zwischen sie und uns geworfen. Er erinnert sich natürlich des armen blutenden zerschundenen Barrikadenmannes nicht mehr; ich habe ihn sofort wieder erkannt, als ich vor acht Jahren hierher kam: ich meine, er hat sich seitdem kaum verändert.“

„Und dann hast Du wohl gefangen gesessen, Vater?“

„Dann habe ich gefangen gesessen – in Waldheim in Sachsen; man hatte mich auf Lebenszeit zum Zuchthaus verurtheilt.“

„Auf Lebenszeit!“ rief ich entsetzt.

[80] „Der Tod wäre mir freilich lieber gewesen,“ erwiderte er mit seinem schwermüthigen Lächeln, „aber man fragte mich eben nicht. Ebensowenig, ob ich das Tischlern verstehe, wozu man mich kommandirt hatte, als neine Hand so weit geheilt war. Siehst Du, Kind, so bin ich Tischler geworden und auch sogleich Sargtischler. Denn es waren viele von uns in einem jämmerlichen Zustande ins Gefängniß gekommen; gar manchem zehrten Kummer, Gram und Verzweiflung am Herzen und die bange Sorge um die Ihren, die sie oft hilflos zurückgelassen; dazu die veränderte Lebensweise und – genug, der Tod hielt reiche Ernte, besonders in den ersten Jahren, und ich hatte vollauf Gelegenheit, mich in meiner neuen Kunst zu üben. Mein Fleiß und meine Geschicklichkeit blieben nicht unbemerkt; man machte mich zu einer Art von Oberarbeiter und gewährte mir sogar einen kleinen Nebenverdienst, worauf ich es eben abgesehen hatte. Konnte ich doch so aus dem Gefängniß heraus für Frau und Kinder, wenn auch kümmerlich, sorgen; das Uebrige, hoffte ich, würden ja wohl barmherzige Menschen thun. Da – Kind, erschrick nicht! – da eines Tages läßt mich der Direktor rufen, um mir mitzutheilen, daß meine Frau sich habe von mir scheiden lassen, wozu sie, als Gattin eines zu entehrender Strafe Verurtheilten – abgesehen von der Lebenslänglichkeit der Strafe – berechtigt sei. Und wieder ein paar Monate später folgte dieser Mittheilung die andere, daß sie geheirathet habe. Ich war darauf gefaßt gewesen, aber die Wahl, die sie getroffen hatte, erschreckte mich: ein früherer Kollege von mir, der aber bereits, ehe ich nach Waldheim kam, in Trunk und Wüstheit schier verkommen und in den Maitagen als Spion und Verräther der Sache, zu der er sich scheinbar bekannte, gebrandmarkt war. Und ich wußte, wer die Aermste, die nie einen eigenen Willen hatte, zu diesem Schritt gedrängt, der sie ins Verderben führen mußte – sie und meine unglücklichen Kinder. Sie war für mich verloren und war verloren, und der barmherzige Tod hat denn auch bald ein Einsehen gehabt und sie erlöst. Aber die Kinder! die Kinder! Die mußte ich zu retten suchen. Acht Tage später war ich aus dem Gefängniß entsprungen.“

„Hurrah!" rief ich und schlug dann die Augen nieder, beschämt von der tiefen Schwermuth, die aus dem Auge des Vaters blickte, trotzdem er über meinen knabenhaften Enthusiasmus zu lächeln versuchte.

„Nun ja," sagte er, „es war schon eine schöne Sache, wieder einmal die Luft außerhalb der Gefängnißmauern zu athmen und die Bäume des Waldes über mir rauschen zu hören. Und dazu hatte ich jetzt Tag und Nacht Gelegenheit, denn ich lebte im Walde – in meiner Heimath – ,oben auf dem Walde‘, weißt Du – wie in der Kinderzeit: von Beeren und von dem Brot, das mir der Bruder Nagelschmied und die anderen verstohlener Weise reichten, wie ich denn auch verstohlener Weise manchmal in einer ihrer Hütten schlief. Denn sie waren mir fortwährend hart auf der Spur, wie es denn auch thöricht von mir gewesen war, gerade nach der Heimath zu fliehen, wo sie mich am ehesten suchen mußten. So konnte ich denn auch nicht daran denken, zu den Kindern zu gelangen, trotzdem ich wußte, wo sie sich befanden. Es war gekommen, wie ich gefürchtet: der schlechte Mensch hatte sie aus dem Hause gejagt – sie und die Großmutter, trotzdem gerade diese ihm die Tochter ausgeliefert. Ich mußte also weiter und gelangte unter mancherlei Gefahren immer durch Wald und Oeden auf Pfaden, die nur Kohlenbrenner und Schmuggler kannten, über die Grenze nach Böhmen, wo ich mich einigermaßen sicher fühlen durfte und bald die Kinder sammt der Großmutter nachkommen lassen konnte. Ich hatte nämlich, von einigen Gesinnungsgenossen unterstützt, das im Gefängniß erlernte Handwerk wieder aufgenommen; an die Kunst dachte ich nicht mehr; sie war und blieb mir ein Heiligthum, dessen ich mich unwürdig gemacht hatte und das ich nie wieder betreten durfte. Auch nicht wieder betreten wollte trotz des Zuredens Deiner Mutter. Ich weiß nicht, ob sie es gutheißen würde, daß ich Dir dies alles erzähle; aber –“

Der Vater machte eine kleine Pause, sich die Lippen zu netzen. Ich wagte nicht, die Augen aufzuschlagen, damit er das Fieber der Erwartung, von dem ich fühlte, daß es in ihnen brennen müsse, nicht sehen möge. Meine Mutter! Zum ersten Male trat sie in die Erzählung ein. Woher? Wie? mir siedete das Blut in den Schläfen, während ich so da saß mit, wie ich glaubte, unbefangener Miene. Sie möchte auch wohl anderen so erschienen sein; aber für das zartbesaitete Herz des Mannes mir gegenüber, das nur im Mitgefühl lebte, gab es keinen Schein.

„Armes Kind,“ sagte er, mir über den Tisch hinüber die verstümmelte Linke auf meine Hand legend; „sieh, noch einen Finger gäbe ich darum oder ein paar, könnte ich Dir nach so manchem Leid und Weh, von dem ich zu berichten hatte, nun von lauter freundlichen und erfreulichen Dingen erzählen. Aber so wenig wie ich mir den Finger wieder wachsen lassen kann, wie nöthig ich ihn oft brauchte, so wenig kann ich die Geschichte meines Lebens, die jetzt auch die Deiner Mutter und Deine eigene wird, anders und heller machen, als sie in Wirklichkeit war, wie gern ich’s möchte. Ich möchte Dir vor allem einen recht wackeren Mann zum Vater geben; aber das ist Dein Vater nicht gewesen. Er hat Deine Mutter, die, als eine Waise, bei entfernten Verwandten im südlichen Rußland aufgewachsen ist, wie es scheint, nur eines nicht unbedeutenden Vermögens willen geheirathet, das sie besaß, und das er bereits nach wenigen Monaten zum größten Theil durchgebracht hatte, als er in einem kleinen Neste da unten in der Krim starb. Da bist Du auch geboren – auf einer Reise, die Deine Mutter zu ihm, der sie verlassen hatte, unternahm, nachdem er sie in zu später Reue an sein Sterbebett gerufen. Deine Mutter hatte sich dann nach Deutschland begeben, woher sie ursprünglich stammte, weil ihr die zweite Heimath so schwer verleidet war, und um ihre Gesundheit, welche arg gelitten hatte, wiederherzustellen. Da hat sie hier an verschiedenen Orten gelebt unter ihrem Mädchennamen – Katharina Frank – Dein Vater hieß Herzog – war übrigens auch ein Deutscher – meistens in Bädern, eben ihrer erschütterten Gesundheit willen. Und eben war sie wieder auf der Reise nach einem böhmischen Bade, als sie in unserm kleinen Orte liegen bleiben mußte, da eine schwere Krankheit, mit der sie sich wohl schon länger getragen hatte, und die durch einen großen Schrecken befördert sein mochte, welchen sie auf der Reise gehabt, zum Ausbruch kam. Es scheint, daß sie selbst und Du, Kind, in irgend welcher Lebensgefahr gewesen seid, aus der man Euch nur eben noch gerettet hat. Ich nehme das aber aus den Phantasieen an, von denen sie während ihrer Krankheit fortwährend gequält wurde, und die ich wohl mit anhören mußte, da sie in meiner kleinen Wohnung lag. Es gab wohl einen elenden Gasthof im Orte, aber der Wirth wollte die Kranke, die ihm die anderen Gäste verscheuchte, in seinem Hause nicht dulden, so nahm ich sie auf und pflegte sie, so gut es ohne Arzt und Apotheker möglich war, mit Hilfe einer barmherzigen Schwester, welche der Geistliche des Ortes herbeigeschafft hatte. Der Geistliche war in seiner Weise ein guter Mann, und er mochte es für seine weitere Pflicht halten, daß, nachdem er die leibliche Krankheit hatte bekämpfen helfen, er nun auch die gefährdete Seele retten müsse. So wurde Deine Mutter katholisch, Kind, und ich wäre es ihr zu Liebe beinahe geworden, denn ich liebte sie sehr, Deine Mutter, und hätte für sie jedes andere Opfer gern gebracht. Nur lügen konnte ich nie, und ein katholisches Bekenntniß, oder irgend ein religiöses Bekenntniß wäre für mich eine Lüge gewesen. Anders aber wollte der Priester uns nicht zusammengeben, und als er es zuletzt dennoch that, war es ein segenloser Bund. Fern sei es von mir, Deine Mutter anzuklagen! Sie hat mir nie verhehlt, daß sie mich nur aus Freundschaft und Dankbarkeit für das, was ich an ihr und Dir getan, heirathen könne; und wenn ich trotzdem hoffte, daß sie mich, den verkommenen Künstler, der zum Handwerker geworden war, und den schon damals das feuchte Loch, in welchem ich in Waldheim drei Jahre lang geschlafen, zum alten Mann gemacht hatte – daß sie mich dennoch dereinst lieben lernen würde, so war das nur einer von den vielen unerfüllten Träumen meines Lebens. Vielleicht wenn ich wieder Künstler und ein berühmter Künstler geworden wäre! Die Möglichkeit dazu war wenigstens gegeben. Mein guter Meister hatte, ohne mein Hinzuthun und Wissen, bei dem Könige von Sachsen meine Begnadigung ausgewirkt; ich hätte, wenn nicht in Dresden, wo es nicht wohl gegangen wäre, so doch wo anders mein Heil versuchen können. Ich aber wußte, daß meine Kraft gebrochen war, daß alles Mühen und Ringen vergeblich sein und mir nur die Ruhe rauben würde, die sich nun doch nach den harten Stürmen in meiner Seele eingefunden hatte, und mir süßer dünkte als alles irdische Glück.

[81]

Das Junggesellenhaus auf Bilibili.
Nach einer Skizze von Dr. O. Finsch gezeichnet von A. von Roeßler.

[82] So dachte auch Deine Mutter, nur freilich in ihrer Weise. Wir kamen überein, daß wir in der Freundschaft, zu der wir uns verbunden, neben einander für unsere Kinder leben wollten an einem stillen Ort, möglichst abgeschieden vom Getreibe der Welt. So sind wir aufgebrochen, einen solchen Ort zu finden. Und zuletzt hierher in unsere Stadt gekommen. Die abgesonderte Lage, die ernste Nähe des Meeres, die Sonntagsruhe in den alterthümlichen Straßen sogar an einem Werkeltage gefielen uns gar wohl, und ich armer Thor glaubte, es würde noch alles gut werden. Deine Mutter nahm sich, wie sie versprochen, mit treuem Ernst der Kinder an, ertrug geduldig die schlimmen Launen der Großmutter, und, wenn ich Dir ein guter Vater war, meinte ich – es hat nicht sein sollen. Kaum ein Jahr, nachdem wir uns hier niedergelassen, begannen bei Deiner Mutter die Folgen jener schweren, wohl miemals recht ausgeheilten Krankheit und des grausamen Herzeleids, welches sie so früh erfahren mußte, deutlicher hervorzutreten, daß sie allmählich so wurde, wie Du sie ja nur noch kennst: voll Abscheu vor der Welt, ängstlich jeden Verkehr meidend außer mit dem Einen, dem sie anvertraut hat, was sie das Heil ihrer Seele nennt. Daß sie darüber auch der Freundschaft vergessen, die sie mir einst versprochen – ich habe über etwas, das nur mich selbst betrifft, auch wenn’s mich hart trifft, zu klagen verlernt. Aber daß sie verlernt hat, Dir Mutter zu sein, wie es andere Mütter ihren Kindern sind – das beklage ich tief. Aber, Kind, beklagen und verklagen, nicht wahr, das sind zwei verschiedene Dinge? Wir dürfen nicht vergessen: sie ist eben krank. Und, nicht wahr, Kind, wenn Du auch so Deiner kranken Mutter nie recht hast froh werden können, wir beide haben doch manche gute Stunde zusammen gehabt, wie auch diese wieder eine war? Und nun, Kind, das letzte Glas, wie das erste, auf Dein Wohl!“

Er schenkte die Neige aus der Flasche in unsere beiden Gläser, sorgfältig darauf achtend, daß in meines mehr kam, als in seines. Als wir die geleerten Gläser wieder niedersetzten, überkam mich plötzlich – ich wüßte nicht zu sagen, woher, es wäre denn aus dem Umstande, daß der Wein, den wir getrunken, ein ausländischer südlicher war – der sonderbarste Einfall, der mir das Blut im Herzen jählings stocken machte, als wenn mir jeder Tropfen, den ich von diesem Wein getrunken, zu Gift werden müßte.

„Was hast Du?“ fragte der Vater, erschrocken über meine veränderte Miene. „War etwas in dem Wein?“

„Ja,“ sagte ich, „es war etwas in dem Wein; und es thut mir bitter leid, daß wir ihn getrunken haben. Der Wein kommt von dem Manne, der meine Mutter unglücklich gemacht hat und Dich und mich – uns alle!“

Der Vater schüttelte den Kopf.

„Es kann ja sein,“ erwiderte er, „obgleich es mir sehr unwahrscheinlich däucht. Indessen, wenn es wäre: der Wein wird dadurch nicht schlechter, und soll man seinen Feinden sieben Mal siebzig Mal vergeben – wie oft muß man es seinem Vater, Kind!“

„Ich habe keinen Vater, ich will keinen Vater, als Dich allein,“ rief ich, aufspringend und mich in seine Arme stürzend. „Die Andern sind alle schlecht und feige und drücken sich um die Wahrheit herum. Du, Du allein bist gut und tapfer und verachtest die Lüge.“

Und ganz außer mir warf ich mich von Neuem in seine Arme. Er war kaum weniger erregt als ich, suchte mich aber mit gütigen Worten zu beruhigen, sich dabei anklagend, daß er mich durch seine Erzählung in so große Aufregung versetzt habe.

Ich ließ ihn nicht ausreden.

„Nein, nein!“ rief ich. „Du brauchst Dir nichts vorzuwerfen. Ich hätte Ursache mir zu zürnen, weil ich Dich nicht schon längst gebeten habe, mir alles zu sagen. Ich hätte mir dann diese letzten schrecklichen Stunden erspart. Von jetzt an bist Du mein Pastor und mein Beichtiger, und wenn ich wieder in Noth bin, wie heute, dann komme ich zuerst zu Dir, dem Todten, der seine Todten begräbt!“

„Was willst Du damit sagen, Kind?“ fragte er sanft.

„O,“ rief ich wild. „es ist nur eine Erinnerung an die letzten Worte des Herrn Pastors, und auf Dich hatte er sie gemünzt.“

„Der Todte seine Todten!“ murmelte er.

Er war an den Sarg getreten, auf den er den rechten Arm lehnte, und blickte nachdenklich vor sich nieder.

„Der Todte seine Todten!“ murmelte er noch einmal. Und dann, die Augen erhebend und mich mit seinem schwermüthigen Lächeln anlächelnd:

„Ja, Kind, darin hat der Mann so unrecht nicht; nur ist es anders, als er’s gemeint hat. Sieh, Kind, ich habe vorhin gesagt, daß alle meine künstlerischen Hoffnungen und Entwürfe längst in mir gestorben sind. Das ist auch wahr, insofern, als ich weiß, daß keine, keine, zu fröhlichem Leben wieder erwachen wird. Aber begraben habe ich meine lieben Todten noch nicht, oder begrabe sie doch nur einen nach dem anderen in jedem Sarge, der da zur Thür hinausgeht. Ich brauche sie nicht zu rufen, sie kommen von selbst und sitzen oder stehen bei mir, während ich die Bretter schneide und hoble und leime, wie sie vor mir saßen und standen, damals in den Römischen Tagen: nur daß sie jetzt alle fertig sind, und schöner fast, als ich sie damals geträumt – mir wird es manchmal recht weh ums Herz, wenn ich sie dann in den Sarg lege und sage: Ade! auf Nimmerwiedersehen! Denn die ich einmal so eingesargt habe, die kommen nicht wieder, die sehe ich nicht wieder. Heute –“

Er schlug die Augen nieder und fuhr mit geisterhaft leiser Stimme fort:

„Heute, als ich so eifrig arbeitete, kam eine Gestalt, an die ich nie wieder gedacht seit achtundvierzig, und die ich mir damals so ausgeträumt, trotzdem ich längst wußte, daß ich keine Kraft mehr hatte, sie auszuführen und keine Zeit in dem Waffenlärm auf den Barrikaden; die Gestalt eines Jünglings, der den Genius des Volkes darstellen sollte, das sich, erwachend, auf sein Freiheitsrecht besinnt. Aber heute wollte die Gestalt mir nicht wieder deutlich werden, und je eifriger ich mich darum mühte – auch das Blatt da geholt hatte, meiner Erinnerung wo möglich nachzuhelfen – desto mehr verwandelte sie sich aus dem, was ich noch dunkel wußte, in etwas Anderes, Neues – in Dich, Kind; nahm Deine Gestalt, Deine Züge an, daß ich schier erschrak und sehr traurig wurde, weil mir war, als müßte ich nun nicht Dein Bild, sondern Dich selbst hier in den fertigen Sarg legen und sei dann allein – ganz allein. Bis ich mich besann, wie kindisch das doch sei, und daß Dein Geburtstag sei, und ich die Flasche da hinstellte, aus der ich mit Dir auf Dein Wohl trinken wollte. Und das habe ich gethan – jeden Tropfen – von ganzem Herzen auf Dein Wohl, und daß Dir in Erfüllung gehen möge und zur Wirklichkeit werde alles, was ich für mich nur habe träumen dürfen: Glück und Liebe und hohe Künstlerschaft und ein einiges Deutschland, in dem nur freie Menschen leben. Und daran soll der Wein, in welchem ich Dir das getrunken habe, nichts ändern, er mag nun kommen, woher und von wem er will. Der Wein, den der Priester spendet, ist auch nicht heilig von Haus aus – er wird nur heilig durch die Liebe. Und an ihre Göttlichkeit und Wahrheit, an ihre Kraft und ihren Segen glaube ich und sonst an nichts, denn alles Andere ist nur Menschenwitz und Menschenwahn und Lug und Trug. Und so, Kind, obschon ich ein einfältiger, unwissender Mensch bin, der überall sonst im Leben und mit allem Schiffbruch gehabt hat und vom berühmten Künstler, den er sich einst träumte, zum Sargtischler geworden ist, den Niemand kennt – eines – das Beste – habe ich doch gerettet: ein Herz voll Liebe zu aller Welt und in Sonderheit zu Dir, mein verlassenes, geliebtes Kind. Und nun, Kind, ob Dir die Priester fluchen – wer flucht, der hat die Liebe nicht. Die Liebe kann nur segnen, und mit dieser meiner Liebe segne ich Dich.“

Ich hatte, als er zu reden anhub, am Tisch gestanden, das Herz voll Groll und Haß, wie sie urplötzlich gewaltsam in einem Knabenherzen auflodern, das sich gegen ein Unrecht aufbäumt, welches dem Verstand wie im Blitz klar geworden ist. Dann war es zuerst der unbeschreiblich milde Klang seiner Stimme gewesen, der in meine Seele gefallen war, wie Oel in wildbewegte Brandungswogen. Aber noch immer waren es nur Worte gewesen, die an mein Ohr schlugen, und deren Sinn ich nicht verstand. Und so wäre es auch wohl geblieben, hätte ich nicht nun doch die in dumpfem Unmuth niederwärts blickenden Augen [83] aufgeschlagen. Und hätte ihn gesehen, wie er da stand, überflossen vom sanften Licht der Lampe, er, der lange vor der Zeit zum Greise gewordene Mann mit der kahlen Stirn, den verwitterten, vergrämten Zügen und dem grauen Bart – an dem Sarge, den sein emsiger Fleiß so sorgsam hergestellt für die alte verlassene Spittelfrau. Und als er jetzt die verstümmelte Hand, wie beschwörend, gegen mich streckte, während die träumerischen Augen von einem Glanze leuchteten, der nicht mehr irdisch schien – da war es der Anblick dieses guten, edlen Menschen, der eindringlicher zu mir sprach, als seine Worte. Da war es dieser gute, edle Mensch, vor dem ich, als er nun geendet, anbetend in die Kniee sank.

Und dann lag ich in meinem Bett mit gefalteten Händen und starr offenen Augen, während in einem breiten Mondstreifen auf der Wand die vom Wind durchzausten dürren Zweige des Kornelkirschbaums vor dem Fenster unheimlich tanzten – und wollte beten für alle Menschen. Ich konnte es nicht. Ich konnte für alle Menschen beten, für den Pastor, der dem Vater geflucht hatte, konnte ich es nicht. Nicht für ihn und nicht für den andern, der um meine Mutter schlich. Und nicht einmal für die Mutter selbst, die nichts von mir wissen wollte und nichts von dem Manne da unten, der jetzt auf dem harten Lager in der dumpfigen Werkstattskammer ruhte und der tausendmal besser war als sie.

Ich wälzte mich unruhig hin und her, und eine große Angst befiel mich, daß ich nun doch nicht die Liebe hätte, und daß mich der Vater umsonst gesegnet. Dazu fiel mir ein, was er von der Liebe gesagt, daß sie sich so wenig übertragen und lehren lasse, wie die Kunst; daß wir ihr wahres Geheimniß nur aus uns selber schöpfen, nur aus uns selber lernen können. Würde ich es je lernen?

So rang in bitterer Selbstqual die junge Menschenseele nach Licht und Klarheit, wie draußen über Land und Meer der Aequinoktiensturm wühlte und brauste.

Nur daß in der Natur die Zeiten des Jahres nach ewigen Gesetzen in unwandelbarer Folge sich aneinander reihen, und das arme trotzige Menschenherz nimmer weiß, ob seinem stürmenden Frühling je ein stetiger Sommer folgen wird.

(Fortsetzung folgt.)

Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa.“[1]

I. 0Astrolabe-Bai bis Festungs-Kap.
Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen).


Abfahrt von Sydney. – Mioko. – Ankunft in Astrolabebai. – Erste Begegnung mit Eingebornen. – Aeußeres. – Bekleidung. – Schmuck. – Kunstfertigkeiten. – Lebensweise. – Hausthiere. – Häuser. – Bevölkerung. – Insel Bilibili. – Junggesellenhaus, ein Kunstbau der Steinzeit. – Schönes Küstenland. – Töpferei.

Topffabrikation in Bilibili.

Die nothwendigen Veränderungen und die Ausrüstung der „Samoa“ hatten viel mehr Zeit, als vorauszusehen war, erfordert, und so konnten wir erst in der ersten Hälfte des September 1884 Sydney verlassen. In Australien geht nämlich meist Alles langsam, und man scheint dort das Yankeewort „time is money“ nicht zu kennen; wenigstens ließ sich in Sydney kein Handwerker finden, um bei einem Tagelohn von 14 Mark noch 4 Mark für eine Extrastunde zu verdienen.

Wir liefen zunächst Mioko, das Hauptetablissement der Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee-Inseln zu Hamburg, in der Herzog York-Gruppe an, um unsere Vorräthe zu löschen, und gingen in den ersten Tagen des Oktober nach Neu-Guinea weiter, und zwar war Astrolabe-Bai unser nächstes Ziel. So heißt eine ausgedehnte Einbuchtung ziemlich unterm fünften Grade südlicher Breite, die in den zwanziger Jahren zuerst von dem französischen Seefahrer Dumont d’Urville mit dem Schiffe „Astrolabe“ gesichtet, seither aber erst 1871 von N. de Micluho-Maklay, einem russischen Reisenden, besucht wurde. Er brachte hier fünfzehn Monate zu, hat aber über seine Erlebnisse kaum etwas veröffentlicht.

Die Reise verlief, mit Ausnahme eines kurzen Zusammentreffens mit Eingeborenen der French-Inseln, nördlich von Neu-Britannien, die sich sehr scheu zeigten, ereignißlos. Die See war, wie so häufig in diesen Breiten, glatt wie ein Spiegel und schien wie ausgestorben, denn nur selten ließen sich Meeresvögel sehen und zwar Fregattvögel, braune Tölpel (Sula) und schwarze Meerschwalben (Anous).

Am Morgen des vierten Tages hatten wir die Küste von Neu-Guinea vor uns – ein Anblick, der Alle befriedigte und überraschte, und dampften in die weite Astrolabe-Bai hinein. Sie ist von dicht bewaldeten Bergreihen umschlossen, hinter denen wiederum höhere Gebirgsketten, nach Süden zu das über 10 000 Fuß hohe Finisterregebirge, vorragen, welche das Landschaftsbild zu einem sehr anziehenden gestalten. Längs der Küste dampfend spähten wir vergebens nach Eingeborenen oder deren Niederlassungen, nirgends war eine Spur derselben zu entdecken! Astrolabe-Bai schien todt! Da, in weiter Ferne, zeigte sich plötzlich ein heller Fleck, den unsere Seefahrer für das Segel eines Schiffes ansprachen, und schon erging man sich in Betrachtungen über das bevorstehende Zusammentreffen mit Rassegenossen. Aber das angebliche Segel blieb unverändert und erwies sich später als eine Gruppe einfarbig gelbbelaubter Bäume. Solche gelbe Bäume, die sich schon von Weitem so auffallend in der meist einfarbig

[84]

Krieger von Bilibili.

dunkelgrünen Ufervegetation markiren, sind, wie wir später inne wurden, ein ziemlich sicheres Zeichen von dem gleichzeitigen Vorhandensein menschlicher Ansiedelungen und werden offenbar von den Eingeborenen kultivirt. Dasselbe gilt für diesen Theil Neu-Guineas, ja für die ganze Nordostküste, bezüglich der Kokospalme, die in Astrolabe übrigens sehr spärlich vorkommt.

Wir waren in der südöstlichsten Ecke der Bai, dem sogenannten Constantin-Hafen, zu Anker gegangen, aber noch immer ließen sich keine Eingeborenen sehen; nur einige Vogelstimmen machten sich bemerkbar. Und diese noch spärlich genug, denn die heiße Nachmittagssonne brannte mächtig herab, und dann schweigt die Vogelwelt meist; nur das Schäkern des nimmermüden Lederkopfes (Tropidorhynchus), die tiefe Baßstimme des Raben (Corvus orru) und kreischende Papageien und Kakadus lassen sich vernehmen. Plötzlich wird die Ruhe durch den Ruf „Kanaka! Kanaka!“ unterbrochen! Das scharfe Auge unserer Mioko-Schwarzen hat Eingeborene in dem Uferdickicht entdeckt. Und wirklich! Da hockt eine lange Reihe dunkler Gestalten, regungslos und bewegungslos wie Bildsäulen; Pfeil und Bogen oder den Wurfspeer sorglich im Arm haltend. Ich ließ sogleich das Boot klar machen und mich ans Ufer rudern. Aber unsere Schwarzen hatten keine Eile, denn sie fürchteten sich, wie stets bei solchen Gelegenheiten, und unseren weißen Matrosen ging es nicht besser. „Es ist doch nicht egal, ob man in die Brust oder in den Rücken gespeert wird!“ meinte Peter und drehte seine Vorderseite den gefürchteten „Wilden“ zu, als wir ihnen längst in Pfeilschußweite nahe waren. Und den „Wilden“ ging es ebenso, das heißt, sie fürchteten sich nicht minder! Kaum stieß das Boot auf Grund, so sprang ich ins Wasser, ging unter unsere neuen Freunde, vertheilte allerlei Kleinigkeiten, schüttelte Dem die Hand, umarmte Jenen und hatte in kurzer Zeit ihr Vertrauen so gewonnen, daß ich gleich eine ganze Bootsladung Eingeborener mit an Bord brachte.

Was die Letzteren anbetrifft, so unterscheiden sie sich in keiner Weise von Bewohnern der Südostküste Neu-Guineas oder Papuas überhaupt, zu denen alle Melanesier gehören. Wie diese sind es mehr oder minder dunkelbraune, zuweilen fast schwarze Menschen, mit kräuslichem, wolligem Haare, machen also ganz einen negerhaften, aber keineswegs abstoßenden Eindruck. Obwohl sie im Ganzen schwächlicher sind als ihre dunklen Brüder in Neu-Britannien, ist ihre Erscheinung schon deßhalb ansprechender, weil sie Alle wenigstens eine gewisse Bedeckung tragen, während jene völlig nackend einhergehen, wie wir dies zuletzt auf den French-Jnseln sahen. Die Männer schlagen ein breites Stück Tapa, das heißt Zeug aus dem Baste des Papiermaulbeerbaumes, sorgfältig um die Hüften; die Weiber, ja selbst ganz kleine Mädchen, sind mit einem langen bis über die Kniee herabfallenden Röckchen aus gespaltener Palmfaser bekleidet. Im Uebrigen kommen noch verschiedene Zierrathen, meist aus Muscheln, Hundezähnen, Fruchtkernen u. dergl. in Betracht, und außerdem bei festlichen Gelegenheiten Bemalen mit rother, schwarzer und weißer Farbe, den Urfarben des Menschengeschlechts. Ausputz von Blumen und buntgefärbten Blättern, neben Federschmuck, spielen eine Hauptrolle, und zwar wiederum vorzugsweise für das starke Geschlecht; denn die Weiber werden bei allen diesen Völkern sehr bescheiden bedacht. Sie entbehren in Astrolabe-Bai sowie fast an der ganzen Nordostküste sogar der Tätowirung, die sonst für das schöne Geschlecht eine besondere Körperverzierung bildet. Ich könnte noch gar Mancherlei über diese Eingeborenen berichten, muß mich aber leider auf Weniges beschränken. Vor Allem ist hervorzuheben, daß sie keine Menschenfresser sind, wie meist irrthümlich von allen Bewohnern Neu-Guineas geglaubt wird. Im Gegentheil, je mehr wir mit ihnen bekannt wurden, um so mehr lernten wir sie als Menschen schätzen, auf welche die landläufige Bezeichnung „Wilde“ in keiner Weise paßt, da sie bereits auf einer gewissen Kulturstufe, derjenigen der Steinzeit, stehen. Dafür sprechen nicht nur ihre socialen Einrichtungen, sondern auch ihre sorgsam gepflegten Pflanzungen und die Geschicklichkeit in Anfertigung verschiedenartiger Geräthe und Zierrathen, die zuweilen von wirklicher Kunstfertigkeit zeugen. So z. B. die geschmackvollen Muster, welche auf Bambusbehältern oder breiten Armbändern aus Schildpatt nur mit Hilfe von Muschel- und Steinwerkzeugen eingravirt werden. Auch in Holzschnitzereien sahen wir sehr beachtenswerthe Leistungen, nicht bloß in Schüsseln und anderen praktischen Geräthschaften, sondern in Erzeugnissen, die ihre Herstellung jedenfalls idealen Eingebungen verdanken. So fand ich im Dorfe Bongu eine an acht Fuß hohe menschliche Figur, einen Papua darstellend, welche sich dreist mit den bewunderten Figuren der Maoris in Neu-Seeland messen durfte. Wie bei diesen scheinen solche hier „Tselum“ genannte Holzbildhauereien Ahnenfiguren darzustellen und haben mit „Götzenbildern“, für welche sie das Laienauge so gern hält, offenbar nichts zu thun.

Wie alle Melanesier sind die Eingeborenen von Astrolabe-Bai hauptsächlich Vegetarianer, die je nach der Saison verschiedene Feldfrüchte in sorgfältig bearbeiteten und eingezäunten Plantagen ziehen. In erster Linie kommen Yams, Taro, Bananen und Zuckerrohr als Kulturgewächse in Betracht; außerdem liefern Sago- und Kokospalme reichlich Nahrungsstoff. Neben Tabak, der in Neu-Guinea ohne Zweifel einheimisch ist und in Gestalt von Cigarretten geraucht wird, ist die Betelnuß ein beliebtes Reizmittel; bei festlichen Gelegenheiten wird Kawa, hier Keu genannt, getrunken. Es finden sich also als seltene Ausnahme alle drei Anregungsmittel der Südseevölker hier vereint vertreten. Salz ist, wie fast allenthalben in der Südsee, unbekannt.

Als Hausthiere züchtet man das Schwein, und zwar Abkömmlinge des wilden, von dem Neu-Guinea zwei Species besitzt, sowie den Hund, eine kleine unansehnliche, dingoähnliche Rasse, die, wie der Papuahund allenthalben, nicht bellt, sondern nur heult. Hunde und Schweine werden übrigens nur bei Festen aufgetischt, welche die Papua sehr lieben und mit großer Beharrlichkeit, oft mehrere Tage lang, feiern. Da wird gar manchem Borstenthiere der Garaus gemacht, und die Festtheilnehmer bringen oft von weither ihren Antheil zu dem Picknick herbeigeschleppt. Wie die Abbildung (S. 85) zeigt, wird dabei mit den Schweinen nicht gerade glimpflich verfahren. Die Kannibalen Neu-Irlands transportiren ihre Kriegsgefangenen, die zum Schlachten bestimmt, in derselben empörenden Weise.

Hühner werden nicht des Fleisches und der Eier, sondern mehr der Federn wegen gehalten, da auch hier lange, namentlich weiße Hahnenfedern für Kopfputze sehr beliebt sind. Von wilden Thieren ist dem Papua wohl Alles recht, was seine Beute wird, und er ist darin wenig heikel. Außer Kängurus, Kuskus und anderen Beutelthieren, fast den einzigen Repräsentanten der Vierfüßler in Neu-Guinea, jagt man allerlei Vögel, besonderes den Kasuar, dessen hartes, zähes Fleisch beliebt ist, verschmäht aber auch Saurier, namentlich Krokodile und die großen Eidechsen (Monitor) nicht, ebenso wie große Insekten (Käfer und deren Larven), allerlei Weichthiere etc. Und daß der Fischfang eine nicht ganz untergeordnete Rolle spielt, dafür sprechen die sorgfältig gestrickten Netze und allerlei Angel- und Fanggeräthe. Alle diese [85] Speisen werden nur im gekochten Zustande genossen, und zwar kocht man in Töpfen, ein weiterer Fortschritt gegen die östlichen Melanesier!

Es erübrigt noch ein Wort über die Wohnungen zu sagen. Die Häuser sind niedrige Pfahlbauten und bestehen im Wesentlichen aus einem hohen, gradfirstigen Dache, das aus einer Art Riedgras sehr sorgfältig hergestellt wird. Da die Häuser hauptsächlich als Vorrathskammern oder zum Schutze während der Nacht oder bei schlechtem Wetter dienen, so ist die innere Einrichtung sehr einfach. Längs der Wand sind Bänke aus gespaltenem Bambus errichtet, Barla genannt, die Schlafstätte der Männer; in der Mitte befindet sich die Feuerstätte; doch wird meist im Freien gekocht. Die Häuser gruppiren sich ohne besondere Ordnung zu Dörfern, die stets etwas im Urwalde auf einem freien, von Kokospalmen beschatteten Platze liegen. Sie sind meist nur klein, wie die ganze Bevölkerung von Astrolabe-Bai nicht erheblich ist; nach Maklay zählt sie nur etwa 4000 Eingeborene, die in 84 Dörfern siedeln.

Meine Geschäfte waren beendet, die Eingeborenen hatten auf meinen Wunsch noch einen großen Tanz mit Gesang, Sel-mun, zum Besten gegeben, wobei die zum Theil kunstvoll geschnitzten hölzernen, mit Monitorhaut überspannten Trommeln zur Geltung kamen, und wir rüsteten zur Abreise. Für unsere Zwecke war es zunächst von größter Wichtigkeit, einen guten Hafen zu entdecken, denn „Port Constantin“ ist kaum als guter Ankerplatz zu bezeichnen. Die Bai selbst gleicht einer weiten offenen Rhede, ist aber nicht frei von Korallriffen, auf welche die „Samoa“ nahezu gerieth, als wir vor der Insel Bilibili an- und ablagen. Die freundlichen Bewohner dieser Insel waren uns schon gleich bei unserer Ankunft in ihren großen und schönen Segelkanus entgegen geeilt, hatten uns wiederholt im anderen südlichen Ende der Bai besucht, und so konnten wir ihre Einladung nicht ausschlagen. Bilibili ist eine kleine, nahe der Küste gelegene Insel aus Korallfels und mit üppiger Baumvegetation, darunter auch ziemlich viel Kokospalmen, bedeckt. An der Westseite dehnt sich ein weißer Sandstrand aus, auf dem nicht weniger als dreizehn stattliche Kanus, bunt bewimpelt und mit allerlei Ausputz verziert, lagen. Das gab im Verein mit den idyllisch unter dem Gelaube mächtiger Bäume versteckten Häusern des Dorfes ein gar liebliches Bild. Dazu das Gewimmel fröhlicher brauner Menschen, die mit grünen Zweigen winkten und bald in Kanus ankamen und uns an Land einluden.

Transport lebenden Schlachtviehes auf Neu-Guinea.

Wir eilten, ihnen zu folgen, und Waren überrascht von der Fülle neuer und interessanter Eindrücke. Alles zeugte hier von Wohlhabenheit und Behaglichkeit, die Häuser, obwohl von ähnlicher Bauart, waren größer und stattlicher, als wir sie bisher sahen, ebenso die mit reichem Ausputze versehenen Eingeborenen selbst. Sie zeigten sich anfangs ziemlich scheu, namentlich kostete es Mühe, die schlanken braunen Mädchen heranzulocken, die in ihren bunten Grasschürzchen, reich mit Schmuck und Muscheln und Hundszähnen behangen, das Haar mit brennendrothen Hybiskusblumen geschmückt, gar niedlich aussahen. Einige kleine Geschenke machten sie bald zutraulicher, und Eine um die Andere kam zögernd heran, um ihre Gabe an Glasperlen oder rothem Zeuge in Empfang zu nehmen und dem weißen Fremdlinge schüchtern die Hand zu geben. Unter diesen Mädchen gab es übrigens viele recht hübsche Gestalten von tadellosem Körperbau und mit recht artigen Gesichtchen.

Mehr als Alles dies erregte unsere Aufmerksamkeit aber das große Versammlungshaus, von welchem die beigegebene Abbildung (S. 81) eine gute Vorstellung giebt. Wir hatten große Häuser, die als gemeinschaftlicher Versammlungsort der Männer oder zur Beherbergung fremder Gäste dienen, Buambramra genannt, schon in anderen Dörfern von Astrolabe-Bai gesehen, aber nie zuvor und, wie ich gleich hinzufügen will, auch später nie eins, welches sich mit diesem messen konnte. Wie die Abbildung zeigt, besteht es im Wesentlichen aus einem bis zum Erdboden herabreichenden Dache, das in der Vorderfront von einem 25 Fuß hohen mit durchbrochenem Schnitzwerk versehenen Mittelpfeiler getragen wird. Die Schnitzerei stellt vier männliche und zwei weibliche nackte Papuafiguren dar, die, wie die übrigen den Giebel zierenden Schnitzereien von Fischen und anderen Thieren, bunt bemalt sind, wodurch der Reiz der Originalität nur noch erhöht wird. Die seitlichen Trägerbalken dieses merkwürdigen Gebäudes sind je mit einer an 5 Fuß hohen männlichen Papuafigur verziert, die in staunenswerther Weise aus dem Balken selbst gezimmert wurden und an diesem gleich dem Gliede einer Kette hängen. In der That ein wahres Kunstwerk für Steinbeile und Muschelwerkzeuge, das den Erbauern zur hohen Ehre gereicht. Sie verstanden mein Lob sehr wohl, denn Jeder deutete mit Stolz an, daß er mitgeholfen habe. Ohne Anstand gestattete man den Eintritt in das Innere. Wie stets enthielt es nur wenige Gegenstände. So die großen aus einem an 10 Fuß langen ausgehöhlten Baumstamm gefertigten Trommeln, die mit einem Stock geschlagen weithin Signale geben und sonst bei Festlichkeiten dienen, wie die kleineren sanduhrförmigen Handtrommeln. Bemerkenswerth waren große runde, mit Schnitzerei und Malerei verzierte Kampfschilde von gewaltiger Schwere, denn einzelne wogen 10 Kilo. Zahlreiche Unterkiefer von Schweinen dienten als Erinnerung an große Festlichkeiten, wie dies alle Melanesier lieben. Den Haupttheil des Inneren bildete ein an 8 Fuß hohes Gerüst aus gespaltenem Bambu, welches als Schlafstätte dient, denn diese großen Häuser sind der Aufenthalt der unverheiratheten Männer, also eigentliche Junggesellenhäuser! Aus diesem Grunde ist dem weiblichen Geschlecht der Zutritt verwehrt, ein Verbot, das durch besondere Tabuform erhöhte Bedeutung erhält und so leicht zu mythischen und religiösen Betrachtungen verleitet.

Nachdem wir mit der Besichtigung und dem Studium des Dorfes, das noch ein zweites Versammlungshaus aufweist, fertig waren, machten wir einen Spaziergang durch die Insel, die einem malerischen Park der Tropen zu vergleichen ist. Auf den [86] gewaltigen Baumriesen, darunter vielen Brotfruchtbäumen, wimmelte es von weißen Fruchttauben (Carpophaga spilorrhoa), von denen uns bald eine Menge zur Beute fiel. Wie überall bei diesen Naturkindern hatte der erste Schuß immer dieselbe Wirkung: allgemeines Geschrei und wilde Flucht! Aber bald gewöhnte sich die reifere Jugend an den Knall und bewunderte staunend die Wirkung der ihnen unbekannten, unheimlichen Waffe. Bei einem späteren Ausfluge an der Küste bemühten sich die Eingebornen bereits, unsere Ueberlegenheit in ihrem Interesse nutzbar zu machen: wir sollten einen ihnen feindlichen Stamm bekämpfen und vernichten! Dabei hatten sich zahlreiche Krieger in vollem Waffenschmucke unserem Zuge angeschlossen, dem ich einige Skizzen verdanke, welche dem lebensvollen Bilde zu Grunde liegen.

Selbstredend beschränkten wir uns auf eine friedliche Exkursion, um die Küste kennen zu lernen, die Bilibili gegenüber aus niedrigerem Lande besteht, das von mäßigen Hügelreihen begrenzt wird, denen erst weiter im Innern höhere Gebirgszüge folgen. Wir bewunderten die sorgfältig angelegten Plantagen, welche die Insulaner hier besitzen und die beredtes Zeugniß für die außerordentliche Fruchtbarkeit des Bodens ablegen. Ja! Diese Küste ist reich, und die Bilibiliten, geschützt auf ihrer Insel, scheinen die wahren Patrizier derselben zu sein. Dazu verhilft ihnen nicht allein ihr Ackerbau, sondern auch ihre Industrie, denn die Insel ist berühmt wegen ihrer Töpferei, deren Erzeugnisse von der Flotte weithin vertrieben werden. Die Fabrikation liegt ausschließlich in den Händen der Frauen und geschieht in derselben einfachen Weise wie an der Südostküste Neu-Guineas, wo Port Moresby das Centrum der Töpferei und des Topfhandels bildet. Die Töpfe werden nur mit Hilfe eines flachen Steines und eines flachen Schlägels verfertigt, gleichsam aus dem Klumpen Lehm getrieben, was ein ganz wunderbares Augenmaß erfordert. Der Brennproceß ist ein ziemlich oberflächlicher und demzufolge das Fabrikat nicht von bemerkenswerther Haltbarkeit.

(Schluß von Artikel I folgt.)

Nachdruck verboten.0
Alle Rechte vorbehalten.

Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Lotte fuhr jäh aus dem Schlafe und starrte mich entsetzt an, die ich, das Taschentuch gegen den Mund gedrückt, mich mit Gewalt zur Ruhe zwingen wollte. „Um Gotteswillen, Tone, was ist geschehen?“ rief sie und strich sich die wirren Haare aus den Schläfen.

„Nichts, Lotte, nichts; nur eine Bestellung habe ich für Dich, aber werde erst ruhig.“

„Eine Bestellung? – Hattest Du nicht geschrien?“.

„Ich stieß mich, Prinzeßchen; darf ich sprechen?“

„Das klingt ja so feierlich, Tone.“

„Es ist auch etwas Ernstes, Lotte.“

Nun wurde sie unruhig. „So rede doch!“ rief sie.

„Fritz Roden liebt Dich, Lotte, und bittet, Du möchtest seine Frau werden.“

Lotte sah mich einen Augenblick starr an, dann warf sie sich zurück und lachte, lachte, bis ihr die Thränen aus den Augen flossen. Wie das vom Herzen kam! So wie Lotte, so ansteckend, so echt und hübsch habe ich nie wieder lachen gehört. Ich schlang meine Arme um sie und lachte ebenfalls – aber mit brennendem Weh; es war ein trauriges Lachen.

„O Gott, o Gott, ich sterbe!“ rief sie endlich und trocknete die Augen.

Weißt Du denn nicht, daß er Dich liebt? Hast Du es nie bemerkt?“ fragte ich und barg mein Gesicht in ihre Hände.

„Ach, nun freilich. Er ist verliebt schon seit dem ersten Tage; ich müßte ja blind gewesen sein, hätte ich es nicht bemerkt. Aber daß er mich heirathen will, das ist so – so –“ und wieder brach sie in erstickendes Lachen aus.

„Aber da ist nichts zu lachen!“ rief ich empört und faßte ihre Schulter. „Lotte, sei ernsthaft, ich bitte Dich!“

Da wurde sie still und sah mich an.

„Wie siehst Du denn aus?“ fragte sie. „Weißt Du was – nimm Du ihn, bitte; ich – ich danke.“

„Liebst Du ihn denn nicht, Prinzeßchen, garnicht ein bischen?“ forschte ich. „Lotte, um des Himmels willen, sei ernsthaft! Meinst Du, es ist eine Rose, die Dir geboten wird? Es ist ein treues Herz, eine leidenschaftliche Liebe, das unbedingte Vertrauen eines ehrenhaften guten Menschen –“

„Ach, werde nur nicht sentimental,“ schmollte sie.

„Lotte,“ bat ich, „das ist doch keine Antwort! Ich will ja nur, daß Du überlegst. Niemals würde ich zureden, wenn ich nicht wüßte, er hat Dich lieb, wie nur ein Mann ein Mädchen lieb haben kann! Und daß Du ihn wieder lieben wirst, lieben mußt, denn er ist unbeschreiblich gut –“

„Ah bah! ’s ist ein Unsinn, Tone; schlaf wohl!“ unterbrach sie mich.

„Nein, nein, Lotte, versprich mir, daß Du, wenn Du Dich mit ihm verlobst, Dir alle Mühe geben willst, seine Liebe zu vergelten; nur mit diesem Vorsatz, Lotte, – sonst sag ihm ein ehrliches Nein. Er darf nicht unglücklich werden.“

„Wie tragisch!“ rief sie, „laß Dir nur den Schlaf nicht darüber vergehen. – Ich bin recht müde und habe heute schon genug über mich nachdenken müssen auf Großmamas Befehl.“

Sie schlang die Arme um meinen Hals und gab mir einen Kuß; und ehe ich noch mit meiner Toilette fertig war, schlief sie schon tief und fest.

Armer Fritz!

Ich that kein Auge zu in dieser Nacht; erst gegen Morgen kam der Schlummer, traumlos, aber schwer und beängstigend. Als ich erwachte, erblickte ich die Großmutter an meinem Bette.

„Bist Du krank, Tone? – Um Gotteswillen, werde nur nicht krank!“

„Ich bin ganz gesund,“ gab ich zurück, indem mir langsam die Erinnerung an das Gestern kam. „Ich stehe sogleich auf!“

„Ich hörte Dich stöhnen,“ antwortete sie, „ich bin schon so lange wach; ich habe mit Dir zu sprechen, Tone – schläft sie?“ forschte die alte Frau und deutete nach Lottes Bette.

„Ja, sie erwacht nie vor acht Uhr.“

„Erschrick nicht, Tone, ich habe einen Brief von Hans,“ flüsterte Großmutter.

„Wie geht es ihm? Was will er – was sagt er zu Papas Tode?“ fragte ich.

Großmutter hob den Kopf, strich sich nervös die weißen Haare zur Seite und raunte mir zu: „Schlecht, Tone, es geht ihm schlecht; er war krank und verlangt Geld, umgehend Geld, eine nicht unbedeutende Summe.“

„Krank? Ach, Großmama – und wir, wir haben nichts!“

„Nein, wir haben nichts,“ wiederholte sie, „ich kann ihm nicht helfen, und wenn er stirbt und verdirbt, wie er droht, so – muß er sterben und verderben; ich bin am Ende!“

Ich antwortete nicht, ich wußte, daß sie Recht hatte.

„Ich wollte Dich nur bitten, daß Lotte nichts erfährt; Du weißt, wie sie an ihm hängt. Sie würde sich bis zur Exaltation gehen lassen und, wie gesagt, es ist ihm ja doch nicht zu helfen.“

„Willst Du antworten, Großmama?“

„Nein!“ erwiderte sie.

„Wie viel verlangt Hans?“

„Achthundert Thaler! Er habe Gelegenheit, sich an einem Geschäft zu betheiligen, von dem er sich reichen Gewinn verspricht. Ich würde ihm ja gern diesen letzten Versuch ermöglichen, aber –“ sie zuckte die Schultern – „wo soll ich es herbekommen? Du mußt auch auf Lotte einwirken; sie war gestern Abend recht ungebärdig, sie kann sich noch immer nicht klar machen, daß wir für Luxusausgaben nichts mehr übrig haben. Da kam sie plötzlich und hatte einen langen Bestellzettel an die Düsseldorfer Firma geschrieben, lauter Malutensilien, ich glaube für beinahe [87] zehn Thaler. Ich schlug es ihr ab; da hat sie geweint, als sei ihr das Schlimmste widerfahren. Mit Hans seinem Unglücksbrief erhielt ich aber zu gleicher Zeit auch noch eine Rechnung von Gerson über ein neues schwarzes Kostüm, das sich Lotte bestellt hat und das heute eintreffen muß. Es ist wahrlich unnöthig für Rotenberg; ich weiß nicht, wie ich es bezahlen soll! Nun, es geht, so lange es geht!“

Sie zuckte die alten müden Schultern, wandte sich und ging hinaus.

Es giebt Tage, an denen man meint, es könne nicht hell werden. Zeiten, da man glaubt, die Sonne scheine nie wieder; wie ein Alp liegt das Dasein auf der wunden Seele. –

Ich stand auf und kleidete mich an. In der Küche rumorte schon die alte Ausgeherin; nun kam sie in das Vorderzimmer, und ich härte ihre Stimme:

„Fräulein! Fräulein Tone!“

Was war es doch, was sollte sie doch? Ach so – das Wort an Fritz Roden, das eine Wort, um das er gebeten – Ich hatte es nicht.

Vorsichtig wollte ich an Lottes Bette vorüber; da packte eine kleine Hand die Falten meines Kleides.

„Tone, einen Moment,“ bat die weiche Mädchenstimme.

„Was willst Du, Lotte?“

„Tone, ich habe furchtbar geträumt, aber ich weiß, das thut man zuweilen; ich wollte Dich jetzt nur fragen , hältst Du Fritz Roden für einen anständigen Charakter? Sag’s ehrlich, Tone – Du weißt, was ich darunter meine – großmüthig, in keiner Weise egoistisch und kleinlich, ein Kavalier?“

„O Gott, Lotte, frage mich nicht!“ bat ich. Ich hielt ihn ja für den Besten auf der Weltl

„Doch, antworte! Glaubst Du, daß er ein Gentleman ist?“

„Ja, das glaube ich,“ murmelte ich.

Sie schwieg und sah zu mir empor, das Antlitz weiß wie die Spitzen ihres Nachtjäckchens, erschreckend ernst das junge Gesicht.

„So laß ihn kommen,“ sagte sie und warf sich herum.

„Du wolltest?“ stotterte ich. „Lotte, liebst Du ihn denn wirklich, sonst – – Mein Gott, Lotte –“

„Ich will!“ klang es halb erstickt aus den Kissen zurück.

Fast schwindelnd trat ich in das Wohnzimmer. Die Frau stand noch dort und wartete auf Geld zum Einkaufen von Milch und Semmel. Ich riß ein Blättchen aus meinem Haushaltungsbuch, schrieb ein „Ja!“ darauf, knickte es und fügte die Adresse hinzu.

„Geben Sie es auf der Domaine ab an Herrn Roden, aber ihm selbst.“

Die Frau machte ein schlaues Gesicht und ging; an der Thür blieb sie stehen.

„Dann haben die Leute doch Recht,“ plapperte sie. „Na, ich spreche nicht darüber, Fräulein von Werthern.“

„Worüber?“

„Daß der Fritz Roden Ihr Schatz ist! Aber das muß wahr sein, er kriegt ’ne gute Frau. Wenn Sie Hochzeit halten, da gehe ich in die Kirche. Sie glauben’s nicht, Fräulein, aber Der hätte ’ne Jede kriegen können, die ganzen vornehmen Fräuleins sind ihm nachgelaufen; aber die Rodens haben sich immer etwas Apartes ausgesucht. Na, entschuldigen Sie nur, Fräulein, ich besorg’s schon.“

Sie ging. Ich hatte kein tadelndes Wort für die Dummdreistigkeit der Frau; ich schlug die Hände vor das Gesicht. Fritz Roden – mein Schatz! Ach, großer Gott.

Um elf Uhr war alles in Ordnung, den Freier zu empfangen. Großmutter saß im schwarzen Seidenkleid auf ihrem Lehnstuhl; sie hielt das Strickzeug in der Hand, aber die Nadeln rührten sich nicht: sie war noch immer starr ob der unerwarteten Thatsache, daß Fritz Roden und Charlotte Freiin von Werthern ein Paar werden sollten. „Die Lotte meint er, wirklich die Lotte?“ hatte sie mich schon dreimal gefragt.

„Ja, liebste Großmama!“

„Und sie will ihn? Lotte, Du willst Fritz Roden heirathen?“

„Ja!“ kam es zum wer weiß wievielten Male von den Lippen des Mädchens. Sie stand mit verschränkten Armen am Kachelofen, hatte die Schultern in die Höhe gezogen und sah aus, als ob sie fror, blaß und so eigen. Die prachtvollen Zöpfe, die sie sonst auf dem Rücken herabhängen ließ, hatte sie am Hinterkopf aufgesteckt. Sie machte den Eindruck, als sei sie um Jahre gealtert, und doch war sie wunderbar schön, schöner als ich sie je gekannt.

Als die bekannten Schritte auf der Treppe erklangen, ward sie noch um eine Schattirung bleicher; es war, als wollte sie davonlaufen; dann blieben ihre umherirrenden Blicke an einem Bilde hängen über dem Sofa – Hans in voller Uniform; eine große prächtige Photographie, die erst neuerdings bezahlt worden war von dem letzten Rest meines ersparten Taschengeldes. Sie schüttelte sich nervös und blieb.

Die Großmutter schritt zur Thür hinüber, und auf sein Klopfen öffnete sie selbst. In dem Augenblick, da er hereinkam, ging ich in das Schlafzimmer und zog die Thür hinter mir zu. Nichts hören! Nichts sehen! Nur allein – am liebsten todt! schrie es in mir. Konnte es möglich sein, konnte man solche Qualen erdulden und nicht vergehen? Und so stand ich und hörte das Sprechen, das gedämpft und undeutlich an mein Ohr schlug, hörte den bewegten Klang heraus, der gestern in seiner Stimme bebte; ich sah sein Gesicht vor mir, so ernst, so zuckend vor Bewegung, und ich hielt den Drücker der Balkonthür krampfhaft gefaßt und schaute hinaus in das winterlich öde Land, arm an Allem, sogar an Hoffnung!

Dann leise Schritte hinter mir. Sie war an meiner Seite plötzlich auf einen Stuhl gesunken. So sieht doch keine selige Braut aus!

„Geh mit,“ stotterte sie und packte meine Hand, „ich soll zu seiner Mutter.“

Sie sah mich so flehend an, ich konnte nicht widerstehen. Wir nahmen Hüte und Mäntel und kamen zusammen in das Wohnzimmer zurück. Er hielt Großmutters Hände und sprach. Ihn, den Stillen, hatte das Glück redselig gemacht; es waren Betheuerungen der innigsten Liebe und Dankbarkeit, und die alte Frauenhand strich uber den blonden Männerkopf: „Ich glaube Ihnen, lieber Roden, ich glaube Ihnen!“

Ich reichte ihm die Hand, aber ich konnte ihn nicht ansehen. Er flüsterte mir herzlichen Dank zu und drängte nun zum Aufbruch. „Meine Mutter wartet,“ sagte er.

„Tone kommt mit,“ erwiderte Lotte wie ein ängstliches Kind. Er schwieg; er hatte sich gefreut, allein mit ihr zu sein, aber sie zog mich an den Falten des Kleides nach, und so schritten wir Drei den langen mit Buchsbaum eingefaßten Weg hinunter. Er führte die schlanke Gestalt, die kaum die Fingerspitzen auf seinen Arm gelegt hatte. Am Hofthor zog sie die Hand zurück. „Es geht sich besser allein auf dem Pflaster.“

„O, thue mir den Gefallen!“ flehte er und bot den Arm aufs neue, „dort steht die Mutter am Fenster.“

Und nun gingen sie neben einander über den Hof, an den Ställen vorüber dem Wohnhause zu. Auf die Schwelle war Frau Roden getreten, als sich das junge Paar näherte. Die hellen Thränen rannen ihr aus den Augen, wie sie Lotte beide Hände entgegenstreckte. „Das walte Gott!“ sagte sie und zog das Mädchen an ihr Herz. Und als wir im Wohnzimmer standen, da sprach sie noch einmal: „Das walte Gott! Ach, machen Sie den Jungen glücklich, er ist mein Einziger – –“

Sie setzte sich in ihren Stuhl und schluchzte in das große Taschentuch laut und bitterlich. Lotte stand ruhig daneben. Sie und wir Alle mußten fühlen, daß die alte Frau an ihrer Fähigkeit, den Sohn zu beglücken, zweifelte. Zumal der Bräutigam empfand es bitter.

„Mutter!“ rief er fast streng.

Und nun trocknete sie die Augen, und um es gut zu machen, trippelte sie an den Schreibtisch und nahm aus einem Fach ein blitzendes Schmuckstück in Form eines Kreuzes, dessen Mitte ein sprühender Brillant bezeichnete.

„Das,“ sagte sie, und aus den Thränen leuchtete es freudig verschämt auf, „das schenkte mir mein guter Mann an unserem Verlobungstage; nehmen Sie es – möge es eine so herzlich glückliche Braut schmücken, wie ich es gewesen bin.“

Das schöne Mädchen hielt das funkelnde Kreuz in der Hand, ohne das geringste Zeichen von Bewegung; dann beugte sie sich, bot den Mund zum Kuß und stammelte einen Dank. Fritz Roden aber öffnete die Thür und rief in den Flur hinaus mit seiner Löwenstimme: „Heda, Leute! Mamsell, Rike, Minna! kommt [88] einmal herein!“ Und als das ganze Gesinde herzulief, bis auf die letzte Küchenmagd, die Knechte und den kleinen Stallbuben, da faßte er das Prinzeßchen um die feine Taille und sagte: „Da, seht meine Braut, ihr Leute! Morgen könnt Ihr die Verlobung feiern, die Mamsell mag sich einrichten dazu. Na, David, komm her und gieb mir die Hand. Als wir beiden Liebesleute uns zuerst gesehen, da hast Du uns gefahren; Du hast die Braut hereingeführt, und zur Trauung sollst Du uns wieder fahren! Nicht wahr, Lottchen?“

Ob sie an jenen Abend dachte? Und an ihre spöttischen Bemerkungen? Sie starrte über die Leute hinweg ins Leere hinaus und mählich stieg eine Purpurröthe in ihr Gesicht. Mit einer hastigen Neigung des Kopfes schien sie zu bejahen, dann wandte sie sich rasch. Fritz Roden mußte allein die glückwünschenden Händedrücke in Empfang nehmen, und sie stand am Fenster mit finster zusammengepreßten Lippen. In ihrer Haltung lag etwas Ungeduldiges, als möchte sie eine Last von den Schultern werfen.




Zwei Wochen waren vergangen seit jenem Verlobungstage; eine wunderbare Spanne Zeit! Wie Blei lag es auf allen Gemüthern; das einzig Strahlende waren Fritz’ Augen. Jeden Tag um fünf Uhr erschien er bei uns und blieb bis zum Abend. Gewöhnlich hatte er beim Eintreten die linke Hand, die ein Päckchen trug, auf dem Rücken versteckt, um dasselbe mit glücklichem Lächeln und möglichst unbemerkt in Lotte’s Arbeitskörbchen zu verbergen oder ihr unversehens in den Schoß zu legen. Es waren wunderliche Präsente mitunter, wie sie eben ein Mensch, der à tout prix schenken will, in einer kleinen Stadt aufzutreiben vermag; elegante Papeterien mit bemalten Briefbogen, Arbeitstaschen mit unbrauchbaren Scheren und Fingerhüten, die viel zu groß waren für Lotte’s Fingerchen, Parfüms, die geradezu schrecklich rochen, und dann mal wieder ein köstlich duftender Veilchenstrauß, der wohlthuend abstach gegen die anderen Sachen. Ich konnte mich nie entschließen, Lotte beim Empfange dieser Gaben anzusehen, sie paßten so ganz und gar nicht für sie, und doch waren sie alle freudig gegeben, mit so inniger Liebe ausgesucht, daß ich sie um jede einzelne beneidete.


Sie stellte sie alle mit einander in einen großen Kommodenkasten, den sie eigens zu diesem Zwecke leerte. Und sie konnte seinen fragenden zärtlichen Blicken mit einer Konsequenz ausweichen, die bei ihrem sonst so lebhaften Augen- und Mienenspiel zu einer förmlichen Leistung der Selbstbeherrschung wurde. Ueberhaupt war sie stiller geworden und hatte ein stolzes Wesen angenommen, das einen minder begeisterten Bräutigam, als Fritz Roden, schon nach drei Tagen zur Verzweiflung gebracht haben würde, womit sie ihn aber so unbemerkt lenkte, als sei er eine ihrer Puppen vom Kindertheater, die sie an seidenen Fädchen tanzen ließ. Nie nahm sie seinen Arm, wenn wir spazieren gingen, und sie hatte sanft, aber bestimmt abgelehnt, Besuche bei den Honoratioren zu machen, weil – sie noch in zu tiefer Trauer sei.

Er ließ es gelten, er ließ eben Alles gelten. Er kam nicht mehr in Stulpenstiefeln, weil sie geäußert hatte, er sehe aus wie ein Verwalter; er trug keine bunten Kravatten mehr, weil sie behauptete, es sei unfein. Er hatte ein langes Schreiben an die Domainenverwaltung gerichtet mit der Bitte, ihm den völligen Ausbau der oberen Etage des Gutshauses zu gestatten, und er wollte ihr künftiges Zimmerchen hellblau dekoriren, weil ihr das reizeud stehen müsse und weil doch Blau ihre Lieblingsfarbe sei.

Großmutter saß apathisch dabei. Sie hatte sich sehr verändert, die alte Frau, gleichsam als ob die Folgen der traurigen Schicksale sich geltend machten, nun die Aufregung vorüber. Sie war zusammengesunken, geistig und körperlich. Frau Roden kam zuweilen mit dem Sohne, und dann blieben die beiden alten Damen in Großmutters Stube und sprachen von längst vergangenen Zeiten; Fritz saß der Lotte gegenüber, und ich allein an meinem Nähtische.

Nun war es dicht vor Weihnacht, ein häßlicher regnerischer Tag. Lotte hatte die Arme über einander geschlagen und sah zum Fenster hinaus; sie wandte dem Bräutigam das Profil zu, und er schien gänzlich in ihren Anblick versunken. Keiner sprach ein Wort.

Endlich wendete sie sich. „Nicht wahr, Fritz,“ sagte sie ganz unvermittelt „Du bist ein sehr wohlhabender Mann?“

Er stutzte und lachte und reichte ihr die Hand. „Nun, Prinzeßchen, wir haben schon zu leben.“

„Ich will Dich etwas fragen,“ sprach sie weiter, „aber Tone soll es nicht hören.“

Ich stand auf und ging hinaus. „Ich werde unterdeß für den Kaffee sorgen,“ sagte ich freundlich.

Nach einer Viertelstunde kam ich in das Schlafzimmer und sah die Thür geöffnet nach der Wohnstube; im Begriff zu schließen, hörte ich Fritz sagen:

„Alles was Du willst, Lotte – das nicht! Es wäre ein Leichtsinn.“

Nach einer Weile kam Lotte herein, ging vor den Spiegel und ordnete die Löckchen; ich sah, wie ihre Hände zitterten und wie dunkelrothe Flecke auf ihren Wangen brannten.

„Tone,“ sagte sie, „wir glaubten doch einmal, er wäre ein Gentleman? Wir haben uns Beide geirrt.“ Mit einem heftigen Ruck stieß sie den Toilettekasten zu und nahm Hut und Mantel, „ich komme bald zurück, Tone; übernimm Du derweilen die Unterhaltung meines Bräutigams.“ Und fort war sie.

Als ich ganz bestürzt in das Zimmer zurückkehrte, fand ich ihn vor den Familienbildern und mit zusammengezogenen Brauen Hans betrachtend.

„Wo ist Lotte?“ forschte er.

„Ausgegangen, Fritz. Wußten Sie es nicht?“

„Nein!“ Er schien unruhig. „Sie hat mir etwas übel genommen,“ setzte er hinzu. „Wissen Sie, wohin der kleine Trotzkopf gelaufen ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Sie wird bald wiederkommen.“

„Nun ich werde versucheu, sie einzufangen,“ meinte er ruhig und ging ebenfalls. Aber es gelang ihm nicht; sie kam allein zurück.

„Wo bist Du gewesen, Lotte?“ fragte ich.

„Da draußen – ein wenig herum,“ war die Antwort.

Nach einer kleinen Weile kam auch Fritz Roden, Er trug wie immer ein Paket in der Hand, legte es neben Lotte’s Tasse und sah sie bittend an. Aber, siehe da! zum ersten Male war die Liebesgabe für sie gar nicht vorhanden; nicht einmal aus Versehen streifte sie ihr Blick, so dicht sie sich auch neben der Tasse befand.

„Nicht trotzen, Prinzeßchen!“ sagte er endlich scherzend.

Sie sah ihn groß an; eine namenlose Verachtung lag in dem Blicke. „O nein,“ sprach sie, „aber ich möchte Dich nicht zum Leichtsinn verleiten – ich nehme nichts wieder.“

Er lachte herzlich auf. „Lotte,“ rief er, „das war so recht wie ein Weib gesprochen, dem man einen Wunsch versagen mußte. Ihr Mädchen und Frauen seid kostbar in Eurem Gekränktsein! Sieh mal, Schatz, es sind Pralinées von Suchard, und die kleine niedliche Bonbonnière dazu.“ Er hatte das Paket geöffnet und hielt ihr die Schachtel hin.

„Ich bin kein Kind – ich danke!“ erwiderte sie, nahm einen frischen Zwieback und biß hinein, daß er zersplitterte.

„Soll ich fortgehen?“ fragte er, noch immer heiter.

„O bitte!“ erwiderte sie mit einer graziösen Handbewegung nach der Thür. – Es wäre allerliebst gewesen, hätte sie dazu gelacht. So mußte es verletzen.

Fritz Roden sprang auf. „Dann lebe wohl und besinne Dich eines Bessern.“

Sie erhob sich ebenfalls. „Adieu!“

An der Thür zögerte er: Aerger und Lachen kämpften in seinem Gesichte. Er kam nochmals zurück, hob ihr Kinn sanft in die Höhe und fragte: „Haben wir uns lieb – oder nicht, Lotte?“

„Ich glaube. es verlohnt sich, darüber nachzudenken,“ erwiderte sie.

„Lotte!“ rief er erschreckt. Aber sie entschlüpfte ihm und lief in die Schlafstube. Er stand noch ein Weilchen, dann ging er und vergaß, mir Adieu zu sagen. – –

Mir war die Scene völlig unverständlich. „Lotte,“ sagte ich und kam ihr nach, „ich will mich nicht in Eure Angelegenheiten mischen, aber es war nicht recht von Dir, ihn so zu verabschieden!“

„O, Der!“ klang es verächtlich. Sie saß vor dem winzigen Ofen, hatte die Füße gegen den Vorsprung der Thür gestemmt und ließ den Schein der Flamme uber die zierlichen Stiefeletten

[89]

Zwei Familien.
Nach dem Oelgemälde von Max Weese.

[90] spielen. Es war tief dämmerig in dem Raume, ich konnte ihre Gesichtszüge nicht mehr unterscheiden.

„Ach, Lotte!“ bat ich.

„Ich habe geglaubt, eine Stütze würde er für uns sein,“ sprach sie, „habe gemeint, er könne uns aus unserem Elende emporheben – was hat es mich gekostet, ehe ich es vermochte zu ihm zu sprechen! Und was antwortet er mir nach allen Liebesbetheuerungen, nach der Versicherung, daß ein jeder Wunsch von mir Befehl für ihn?“ Und nun kopirte sie seine Stimme: „‚Nein, mein Kind, das verstehst Du nicht, bitte mich darum nicht!‘ – Gott im Himmel, Tone, ich bin mir vorgekommen wie eine Bettlerin, die man mit den Hunden vom Hofe jagt.“

„Er ist doch so vernünftig, Prinzeßchen: wenn er Dir etwas abschlug, war es zu Deinem Besten.“

„O ja, sehr vernünftig!“ klang es schneidend. „Aber diese Vernunft ist kalt wie Eis, man erfriert dabei. Rasches, warmes, leidenschaftliches Thun; ein Handeln, daß die Linke nicht weiß, was die Rechte giebt, ein Funke von Edelmuth – Du suchst ihn vergebens bei diesen Menschen, die ihr Leben verbracht haben, wie der Wurm im mehligen Körnlein. Ach, und an solchen Philister mußte ich gerathen!“

„Jetzt sage, was hat es gegeben?“

„O, Du wirst mich ja auch nicht verstehen. Hans will Geld„ muß Geld haben, oder er ist verloren.“

„Um Gotteswillen!“ rief ich, „Du hast ihn um – – für Hans – gebeten?“

„Ja, denn er steht mir am nächsten, und ich habe ihn am liebsten auf der Welt. Dein Gespräch mit der Großmutter habe ich angehört, am Verlobungsmorgen und –“ sie stockte – „aber ich hätte noch nichts gesagt, noch nicht; gestern Abend indeß, da erhielt ich einen Brief von Hans, und ich weiß nun, daß er dem Elend, dem Verderben anheim gegeben ist, wenn man ihm nicht hilft, bald hilft. Da,“ ihre Stimme war fast schrill, „da bat ich ihn, dem Hans zu helfen. Und er – er setzte sich aufs hohe Pferd; sprach davon, daß er für mich und Euch Alles thun wollte, daß er aber nicht leichtsinnig genug wäre, sein Geld auf die Art ins Wasser zu werfen, und daß man Hans nichts nützen, sondern ihm schaden würde, denn nur Elend, Hunger und Kummer könnten solche Natur zum ordentlichen Menschen machen, zu sich selbst zurückführen. O, er sprach sehr schön, sehr vernünftig und bürgerlich brav, aber er nahm dabei die Larve vom Gesicht, und ich sah in die Züge eines armseligen kleinlichen Menschen. Erbärmlichkeit – und kein Ende!“

„Nein!“ rief ich, „Lotte, Du übertreibst! Nein, er hat Recht, glaube mir, dem Hans hilft kein Geld, er würde es dort wie hier in einer Stunde verspielen. Habe Achtung vor dem Besitz, daran Arbeit und treue Pflichterfüllung hängen – das Geld wäre in einen Abgrund geworfen.“

Sie nahm die Kohlenzange und stieß sie in die Gluth, dann sprang sie auf und rang die Hände in einander. „Tone, ich glaube, ich hasse –“

Sie verstummte jäh, denn eben klopfte es an die Vorderthür. Ich ging hinüber, öffnete und erblickte den jungen Kutscher: er hielt ein Schreiben in der Hand und lachte verschmitzt.

„Für die Braut unseres Herrn,“ sagte er.

ich zündete ein Licht an, nahm das Schreiben und ging zu Lotte. Sie wußte kaum, sollte sie zugreifen oder nicht. Dann nahm sie es zögernd, öffnete das Kouvert und zog einen Brief hervor. Eine Postquittung über hundert Thaler lag darin, als Absender war Lotte vermerkt. Blaß wie der Tod ward sie, und hastig legte sie den Zettel auf die Kommode, an welcher sie stand. „Außerordentlich gütig!“ flüsterte sie ironisch. Nach mehreren Minuten erst las sie den begleitenden Brief und reichte ihn mir dann. Auch jetzt noch Moralpredigt,“ sagte sie und wandte sich ab. Fritz Roden aber schrieb:

„Ich kann Dich nicht traurig wissen oder mir zürnend, und zudem war es Deine erste Bitte an mich, mein Liebling. So habe ich denn, Deines Bruders augenblickliche Verlegenheit zu mindern, hundert Thaler an ihn gesandt. Mit derselben Post geht ein Brief an einen mir befreundeten Herrn in New-York ab, die Bitte enthaltend, sofort den Herrn Hans von Werthern im Spitale aufzusuchen, mit ihm über seine Zukunftspläne zu reden und mir umgehend das Resultat mitzutheilen. Meiner Hilfe bei günstigem Bescheid ist er sicher. Ich hoffe, Dir bewiesen zu haben, daß ich nicht so engherzig denke, wie Du anzunehmen scheinst; leichtgläubig und allzu vertrauend bin ich freilich nicht, ich kenne immer gern den Boden, auf den ich meinen Fuß setzen muß.

Und nun sei diese Angelegenheit abgethan, und ich bitte Dich, bei unserem morgenden Wiedersehen sie nicht zu berühren. Schlaf wohl, mein Lieb, und sei gut Deinem Fritz.“ 

Ich sah zu ihr hinüber und wunderte mich, daß sie nicht schon längst auf dem Wege war, ihm zu danken. Aber sie stand noch immer unbeweglich, und als sie sich endlich umwandte, war ihr schönes Gesicht so gleichgültig wie immer. Sie setzte sich zum Lampenlicht, nahm ein Buch und las.

(Fortsetzung folgt.)




Die Morphiumsucht.

Von Obermedicinalrath Dr. Landenberger (Stuttgart).

In dem milchigen Safte, welcher in den grünen Samenkapseln und Stengeln der Mohnpflanze enthalten ist, findet sich ein beim Eintrocknen jenes Safts gewonnener, harzähnlicher Stoff, das Opium, gleichzeitig eines der bekanntesten Gifte und der wichtigsten Heilmittel. In der ganzen civilisirten Welt seit langen Zeiten nach beiden genannten Richtungen gekannt und verwendet, ist das Opium namentlich im fernen Osten auch zu einem Genußmittel geworden, dessen oerbreiteter Gebrauch dort ungeheure Geldsummen verschlingt und aus dem Lande führt, indem das Rohprodukt meist aus Indien, wo eine starke Anpflanzung von Mohn statthat, in den Handel gebracht wird. Auch nach Europa, besonders nach einzelnen Seestädten, wie London, hat das Opium als Genußmittel seit langer Zeit Eingang gefunden, und es wird ihm dort in einzelnen „Opiumkneipen“ namentlich von Solchen gehuldigt, die seinen Genuß im Orient kennen gelernt haben. Der Verbrauch des Opiums – soweit es nicht in einem kleinen Bruchtheile medicinisch verwendet wird – geschieht dort in der Weise, daß dasselbe, in Pillen gedreht, aus Thonpfeifen geraucht wird, wobei der Raucher zunächst eine außerordentlich angenehme Aufregung der Sinne verspürt und hernach in traumreichen Schlaf versinkt, aus welchem er mit wüstem Kopf, abgespannten Nerven und allen Uebeln des mit „Katzenjammer“ bezeichneten Zustandes erwacht, welcher zunehmend so lange anhält, bis eine wiederholte Gabe des Mittels die traurigen Folgen wieder auf kurze Zeit verscheucht hat.

Der neuesten Zeit, den Fortschritten der Civilisation ist es vorbehalten gewesen, auch in die ganze alte Welt und nicht in die geringsten Schichten ihrer Bevölkerung ein dem Opium entnommenes Mittel einzuführen, welches feiner, aber auch gefährlicher als dieses, in kürzerer Zeit dieselben Wirkungen hervorruft und stets in weitere Kreise dringend eine nicht zu unterschätzende Gefahr für unsere Gesellschaft bildet. Das Morphium, dieser wirksamste Bestandtheil des Opiums, seit einer Reihe von Jahrzehnten den Aerzten als wohlthätigstes Mittel bekannt, wo es gilt, Schmerzen zu lindern und dadurch erregte Nerven zu beruhigen, ein Arzneimittel ersten Ranges, ohne welches man nicht Arzt sein möchte, wird leider in immer weiteren Kreisen als Genußmittel mißbraucht.

Dargestellt aus dem Opium durch einfache Scheidungsprocesse, erscheint das Morphium als kristallinisches weißes Pulver von geringem specifischen Gewicht und sehr bitterem Geschmack; es ist löslich in Wasser und in Weingeist, beim Erhitzen schmilzt es zunächst, um sodann vollständig zu verbrennen. Das Morphium ist demnach viel leichter verdaulich als das Opium, seine Löslichkeit in Wasser macht es geeignet zur Anwendung in Form von Einspritzungen unter die Haut, und gerade diese Anwendungsweise ist es, mit welcher am meisten Mißbrauch getrieben wird, aus welcher am häufigsten Morphiumsucht entsteht. Dies hat seine Ursache wohl darin, daß es keine Art der Anwendung des Morphiums giebt, welche gleich schnell und sicher wirkt, sodaß bei Leidenden schon nach der ersten Einspritzung und ihrer Wirkung das Vertrauen zu dem Mittel unbedingt feststeht. Die Einspritzung geschieht so, daß eine kleine Spritze, die ein Gramm [91] Flüssigkeit hält, mit der Morphiumlösung ganz oder theilweise gefüllt und dann nach einem Stich durch die Haut, welchen man mittels des nadelförmig zugespitzten Ausflußrohres der Spritze ausführt, unter die Haut entleert wird; der Einstich verursacht einen unbedeutenden Schwerz, der noch Niemand vom Morphiumgebrauch abhielt.

Die schnelle, sichere Wirkung der Einspritzung hat für Menschen die an sehr schmerzhaften Uebeln leiden, etwas ungemein Bestechendes; sie sind glücklich, ein Mittel gefunden zu haben, durch welches sie ihre Qualen vertreiben, wenigstens auf Stunden vergessen oder den oft langentbehrten Schlaf wieder finden können. Kleinere, im Gefolge der Einspritzung auftretende Unannehmlichkeiten wie Uebelsein, Brechneigung und wirkliches Erbrechen kommen kaum in Betracht gegenüber der zauberhaft wohlthätigen Hauptwirkung, sie werden bald vergessen und bei wiederholter Anwendung leicht überwunden. So kommt es, daß bei fortdauerndem Leiden die erlösende Einspritzung stets mehr begehrt wird, der Kranke die Zeit derselben kaum erwarten zu können glaubt; noch nicht vertraut mit den traurigen Folgen des Morphiummißbrauchs, setzt er, um in den Genuß der angenehmsten Empfindungen zu kommen, auch dem abnehmenden Uebel zunehmende Morphiumgaben entgegen; um in deren Besitz zu kommen, scheut er sich nicht, seine Umgebung und den Arzt zu täuschen. Einmal bekannt geworden mit den lockenden Genüssen des Morphiumrausches, kommt der Mensch, wenn er nicht ungewöhnlich willensstark ist, kaum noch davon ab, ehe er die tiefen Qualen des Morphiumelends durchgekostet hat. Es ist etwas Dämonisches in diesem Mittel, was die häufig wiederholte Steigerung seiner Gaben fordert: auf ungenügende Mengen folgt bald der jämmerlichste Zustand, das Gefühl körperlichen und geistigen Elends, Zittern, weinerliche Verstimmung, Reizbarkeit hohen Grades, Schwächedelirien, während genügende und besonders zunehmende Gaben wie mit Zauberschlag all diese Uebel verscheuchen, die angenehmste, gehobene Stimmung herbeiführen, im Körper ein Gefühl des Wohlseins und der Kraft erzeugen und alle Sorgen weithin verscheuchen. So benutzt der richtige Morphinist das geliebte Mittel nicht, wie viel geglaubt wird, um sich Ruhe und Schlaf zu verschaffen, sondern vorzugsweise, um sich der furchtbar lästigen, eben aus dem Morphium entstandenen Uebel zu entledigen, ganz ebenso, wie der Schnapstrinker immer wieder trinkt, um sich dem immer drohenden Katzenjammer zu entziehen. Bei vieler Aehnlichkeit, welche der gewohnheitsmäßige Mißbrauch des Morphiums mit dem des Alkohols hat, giebt es doch auch wichtige Unterschiede, welche das Morphium viel gefährlicher erscheinen lassen. Ist der Branntwein vorwiegend das Berauschungsmittel der ungebildeten Klassen, so ist das Morphium am häufigsten bei den Gebildeten zu finden; dem Genusse des letzteren wird regelmäßig sehr geheim gefröhnt, der Alkohol treibt auf die Gassen; der letztere wird meist ohne Steigerung der Gabe länger ertragen, das Morphium häufiger rasch gesteigert, bis es nicht mehr wirkt oder unendlicher Ekel, Schlaflosigkeit, Nervenzerrüttung, Geisteskrankheit eingetreten sind.

Thatsächlich enthalten die genannten Zustände die Aussichten, welche jedem Morphiumsüchtigen drohen, wofern er nicht zeitig umkehrt, und am sichersten, wenn er sich zum beständigen Steigern der Gaben verführen läßt. Es ist kaum glaublich, zu welchen Mitteln die Morphinisten greifen, um in den Besitz des einmal nöthigen Giftes zu gelangen, wie entsetzlich elend oft ihr Zustand ist, wenn sie in die Behandlung der Aerzte gelangen, von denen sie Errettung hoffen und erwarten.

Ein Morphinist, den ich mit bleibendem Erfolg heilte, hatte lange Zeit hindurch täglich drei Gramm Morphium verbraucht, zu dessen Ankauf sein ganzes Gehalt eben ausreichte; als er in Behandlung trat, rang er mit dem Entschluß des Selbstmords. Zwei Damen aus den besten Ständen, beide in den dreißiger Jahren, das Morphium als Genußmittel mißbrauchend, sind gehäuften Gaben desselben zum Opfer gefallen, und erst nach ihrem unerwarteten Tode ergaben angestellte Nachforschungen, daß und wie viel dieselben dem Gifte fröhnten. In solchen Fällen wiederhalt sich bei den „Einspritzern“ die sittliche Schwäche der Schnapstrinker, alle Rücksichten opfern sie blind dem ersehnten Augenblicksgenuß, sie sind in diesem, nur ein Ziel der Befriedigung kennenden Zustande zu Allem fähig, wenn es nur zum Zwecke führt. Als körperliche Vergiftungserscheinungen beobachtet man: Muskelzittern, Krämpfe, Lähmung der Schließmuskeln der Blase und des Mastdarms, Nervenschmerzen jeder Art, neben der eigenthümlich fahlen auf Blutleere und schlechte Ernährung deutenden Farbe der Haut, besonders des Gesichts und der matten, tiefliegenden verschleierten Augen. Diese schweren Störungen der Ernährung erklären auch, daß bei den Unglücklichen die oft zwanzig- bis dreißigmaligen Einspritzungen häufig örtliche Gewebsentzündungen an den Einspritzstellen hervorrufen, so daß Eiterbeulen und Pusteln in unzähliger Menge den Körper bedecken und abschreckende Geschwüre und Narben entstehen an den zum Einspritzen zumeist gewählten Stellen, an den Armen, der Brust, den Oberschenkeln etc., welche jede Bewegung der betreffenden Stellen, sogar das Liegen im Bett unerträglich machen, bevor nicht wieder eingespritzt ist.

So treiben die Armen, zwischen Ueberreiz und trostloser Abspannung hin und herschwankend, dem häufig absichtlich gesuchten Tode oder, wenn es gut geht, dem Irrenhause, sonst einer Anstalt, einem Spital entgegen, wo, um sie von ihren Leiden zu befreien, die Abgewöhnungs-, die sog. Morphiums-Entziehungskur an ihnen gemacht werden muß. Diese unter Umständen höchst unangenehme Behandlung besteht darin, daß entweder schnell, mit einem Schlage, oder, was die jetzt gewöhnlichere Methode ist, allmählich dem Kranken der Genuß des Morphiums entzogen wird, indem zunächst der innerliche Gebrauch desselben Mittels oder anderer Opiate, des Bromkalis, Chloralhydrats an Stelle eines Theils der Einspritzungen gesetzt wird.

Die Entziehungskur kann nur mit vollem Einverständniß der Leidenden vorgenommen werden und schlägt fast regelmäßig fehl, wenn letztere sich nicht entschließen, in eine geeignete Anstalt einzutreten und ihren Willen ganz dem des leitenden Arztes unterzuordnen. Trotz dieses stets erlangten Einverständnisses erlebt der abgewöhnende Arzt selbst von sonst ehrenhaften Menschen, welche die dringendste Noth zum Entschluß der Entziehungskur trieb, häufig die unerwartetsten Täuschungen; eine geheim gehaltene, verborgene Spritze, ein Vorrath von Morphium, dessen Vorhandensein regelmäßig geleugnet wird, begleiten oft genug den „Einspritzling“ in die Klause der Entziehung, um bei geeigneter Zeit heimlich benützt zu werden.

Ein mir befreundeter, höchst ehrenwerther Kollege, starker Morphinist, an dem ich die Entziehungskur vornehmen sollte, da er durch Morphiumgenuß dienstunfähig geworden war, nahm es höchst übel auf, daß ich ihn aus dem zuerst für einige Stunden ihm angewiesenen Zimmer nach einem Bad, wo seine abgelegten Kleider durchsucht wurden, nun plötzlich in ein bereit gehaltenes anderes Zimmer bringen ließ. Die Nachforschung ergab aber, daß er in dem Ofen des ersten Zimmers eine Spritze und eine ganz bedeutende Quantität Morphium sorgsam versteckt hatte.

Ein Anderer, ebenfalls Arzt, scheinbar schon ganz abgewohnt, benutzte den ersten freien Ausgang, um sich Morphiumpillen zu verschreiben, die er als Abführpillen mir gegenüber deklarirte. So sind auch die Rückfälle nach der Abgewöhnung so häufig, daß dieselben 40 bis 60 Procent der Abgewöhnten betragen. Ob das neuerdings bei der Entziehungskur in Anwendung gebrachte Cocaïn hierin eine Besserung bringen wird, bleibt bei den wenigen Erfahrungen, die mit demselben gemacht worden sind, noch abzuwarten.

Angesichts der großen Gefahren aber, die unstreitig der Mißbrauch des Morphiums in stets zunehmender Weise gerade für die gebildeteren Kreise der Bevölkerung mit sich führt, dürfte es sich verlohnen, darauf hinzuweisen, was von Seiten der Gesetzgebung und der Einzelnen zu deren Abwehr geschehen kann. Hierher gehörte die scharfe Handhabung des bestehenden Verbotes der Repetition von wirksamen Arzneivorschriften in den Apotheken ohne neue ärztliche Verordnung, sowie die angemessene Bestrafung bei Uebertretungen dieser Vorschrift. Sehr wünschenswerth wäre sodann die Ueberwachung des Handels mit den verderblichen Morphiumspritzen und ihren Bestandtheilen, eines Handels, der eine von den Meisten ganz ungeahnte Größe des Absatzes an Nichtärzte ausweist. Außerdem wäre sehr zu wünschen, daß die in neuester Zeit überall entstehenden nützlichen Vereine gegen den Mißbrauch der alkoholischen Getränke auch den Morphiummißbrauch in den Bereich ihrer Aufgaben ziehen möchten.




[92]
Blätter und Blüthen.


Ein Turnfest. Noch ist der Festjubel nicht verrauscht, der im verflossenen Sommer in den Straßen Dresdens widerhallte; noch zittern seine Klänge in den Herzen deutscher Turner nach, die jenseit der Reichsgrenzen heiß um die Erhaltung ihrer Nationalität kämpfen, und wiederum wurde während der letzten Tage in den Mauern der sächsischen Hauptstadt ein Turnfest abgehalten, welches trotz seines lokalen Charakters doch eine allgemeine Beachtung verdient.

Am 17. Januar feierte der „Turnverein für Neu- und Antonstadt-Dresden“ das fünfundzwanzigjährige Jubiläum seiner Gründung, nahm von Nah und Fern Glückwünsche entgegen und durfte mit Stolz zurückblicken auf ein Vierteljahrhundert ernster Arbeit und erfreulichster Erfolge.

Das Vereinshaus des Turnvereins in Neu- und Antonstadt Dresden.

Im Jahre 1861 begann der Jubilar seine Thätigkeit mit nur siebzig Mitgliedern, aber auf eigene Kraft vertrauend, wuchs er mit der Zeit zu einer stattlichen Gemeinschaft heran, die heute über 600 aktive Mitglieder zählt und dank ihrer vortrefflichen Einrichtung zum Brennpunkt der turnerischen Bestrebung der Heimathstadt geworden ist. Es ist ihm gelungen, aus den kleinen Mitgliederbeiträgen und Veranstaltungen zu Gunsten des Vereins ein Vermögen von ungefähr 60 000 Mark anzusammeln, er besitzt ein eigenes Heim, ein großes mehrstöckiges Haus, an welches sich seit 1881 eine großartige Turnhalle anschließt – eine Halle, in welcher gleichzeitig 300 Manu den Turnübungen obliegen können, und welche die stattlichste und wohleingerichtetste unter allen Turnhallen Deutschlands sein dürfte.

Die „Neue Turnhalle“.

Wie selten ein anderer Verein, hat es gerade dieser verstanden, alle Stände, niedrige und höchste, in sich zu vereinigen, und war stets von einem Geiste beseelt, der das Gute, Edle und Wahre hochhält und für allgemeine Interessen rege Theilnahme bekundet. So werden gegenwärtig außer den Mitgliedern 400 Kinder, 125 männliche Personen bis zu achtzehn Jahren und 60 Damen von dem Verein im Turnen unterrichtet, so ist in seinem Schoße eine Sängerschaft entstanden, deren Leistungen oft allgemeine Anerkennung fanden, und so verfügt er über eine reiche, fleißig benutzte Bibliothek.

Möge der Muster-Verein noch lange blühen, „frisch, frei, fröhlich, fromm“ sein hohes Ziel verfolgen, möge er nach wie vor beitragen zur Kräftigung wahrer Vaterlandsliebe und Förderung echten Bürgersinnes!


Zwei Familien. (Mit Illustration S. 89.) Genau drei Wochen vor Ostern war es, als Mutter die sorglich gesparten Eier in das weiche Nest unter dem Herd legte und die große schwarze Henne darauf setzte. Drei Wochen sind eine lange Zeit. Wenn auch die Kinder anfangs noch oft unter den Herd geguckt und der Henne den und jenen Leckerbissen zugesteckt hatten, schließlich war das stille reglose Thier von ihnen gänzlich vergessen worden. Da eines Tags, wie Mutter eben den großen Kessel mit dem Badewasser vom Feuer nehmen will, hört sie zu ihren Füßen ein leises Piepen. Vorsichtig hebt sie die Henne vom Neste und, o Freude! – da kribbelt und krabbelt es in allen Farben durch einander, schwarz, gelb, braun und scheckig zwischen den zerbrochenen Eierschalen! Die Mutter zählt und zählt wieder, ja – weiß Gott! – das ganze Dutzend ist vollzählig, nicht ein einziges taubes Ei war im Neste, und wie munter zappeln die kleinen Kücken schon und purzeln, kopfüber, kopfunter, vom Neste herunter auf die Dielen. Nicht fünf Minuten vergehen, so ist die ganze Menschenfamilie in staunender Bewunderung versammelt um die piepende, pickende Hühnerfamilie, sogar der Vater verschmäht es nicht, die Sonntagspfeife im Munde, behaglich dem lustigen Treiben zuzuschauen.

Aber wie meisterhaft hat uns Weese die Art des Eindruckes geschildert, die jeder einzelne dieser Zuschauer empfängt! Das kleine Mädchen, welches so zärtlich das letztausgekrochene noch feuchte Küchlein in ihren Händen wärmt, wird die treueste Hüterin der Hühnerfamilie sein, während ihr bequem am Boden hingestreckter Bruder in seinen Schelmenaugen schon jetzt mehr als einen Schabernack ahnen läßt, den er sich später im Hühnerhof erlauben wird. Der älteste Knabe sieht mit ruhig gesetzter Miene zu, vielleicht überlegt er gar schon, wie viele Sonntagsbraten da mit der Zeit heranwachsen. Die Mutter aber drückt instinktiv ihr eigenes Nesthäkchen fester an die Brust und lächelt der treuen Mutter dort unten sympathisch zu. Entschieden kann es in der Thier- und Menschenwelt schwerlich zwei glücklichere Familien geben, als die beiden, welche unser Bildchen verewigt. C. Michael.     


Schulbäder. Unter den Reformen, die zum Zwecke der Gesundheitspflege in den Schulen angestrebt werden, verdient auch die Einrichtung einfacher Bäder in Schulgebäuden Beachtung und Nachahmung. Unter deutschen Städten besitzt Göttingen schon seit längerer Zeit Schulbäder, in welchen die Bade-Einrichtung aus drei Douchen mit ebenso vielen darunter angebrachten Zinkwannen besteht. Die Schüler und Schülerinnen baden während der Unterrichtszeit, und dank der eingeführten Bade-Ordnung kann eine mäßig stark besuchte Knabenklasse während einer Stunde unter den drei Douchen erfrischt werden. Für Mädchenklassen ist ein längerer Zeitraum erforderlich.


Zwei Denkmale. Während aus dem Norden unseres Vaterlandes eben ein warmer Aufruf ergeht, Beiträge für ein würdiges Fritz Reuter-Monument einzusenden, hat sich im Süden ein zweites Komité gebildet, welches die Verehrer der Muse Ottilie Wildermuth’s dafür gewinnen will, dem Andenken an die beliebte Dichterin ebenfalls ein einfaches Denkmal zu widmen. Die tief gemüthvollen und von echtem Humor belebten Dichtungen Reuter’s und die schlichten, innigen Erzählungen Ottilie Wildermuth’s sind zum Gemeingut des deutschen Volkes geworden, das jetzt auch gemeinsam Gelegenheit zur Bethätigung seines Dankes hat. Beiträge für das Reuter-Denkmal sind an Dr. Gustav Moeriës in Magdeburg, Gr. Münzgasse 2, für das Wildermuth-Monument an den Bankier Jäger in Tübingen, Uhlandstraße 2 zu richten.


Der Volta-Preis. Zu den höchsten Ehrenpreisen, welche für wissenschaftliche Arbeiten ausgesetzt sind, gehört der zu Ehren Volta’s, des berühmten Forschers auf dem Gebiete der Elektricitätslehre, gestiftete. Er beträgt 50 000 Franken und soll im Jahre 1887 für die beste Entdeckung zuerkannt werden, kraft welcher die Elektricität mit besonderem Vortheil zu verschiedenen Zwecken verwendet werden kann. Die Entscheidung ruht in Händen der Akademie der Wissenschaften in Paris; das Preisausschreiben ist jedoch gewissermaßen international, da Bewerber aller Nationen zugelassen werden. — i.     


Ein Tiroler Freiheitskämpfer, der im Jahre 1809 als Adjutant Hofer’s eine hervorragende Rolle gespielt hat, ist am 28. December 1885 zu St. Leonhardt im Passeyer gestorben – Josef Holzknecht, der Schwiegersohn Andreas Hofer’s und Kampfgenosse Speckbacher’s und Haspinger’s.


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

Anfrage. Ein beliebtes Spiel der Kinder ist, mit Bildern überzogene Würfel nach entsprechenden Vorlagen zusammenzusetzen. Leider werden diese Spielzeuge gar bald beschädigt. Aber durch Aufkleben neuer Bilder könnte geholfen werden. Ueberzeugt, daß wir im Interesse vieler Hausfrauen sprechen, richten wir an Lieferanten solcher Bilder die freundliche Bitte, ihre Adresse gefälligst der Redaktion der „Gartenlaube“ mittheilen zu wollen. B. in K.     

Antiquarius in Kr. Wir werden das betr. Unternehmen fortführen, aber nicht in den Zwischenräumen von fünf, sondern von zehn Jahren, da sonst die Ergänzungsgebäude zu schwach ausfallen würden.

Postkarte aus Hamburg. Wir haben bereits Anordnung getroffen, daß vom Jahrgang 1886 ab statt der schwarzen Jahreszahl auf dem Rücken der Einbanddecke eine vergoldete kommen soll, wodurch das Finden der einzelnen Jahrgänge wesentlich erleichtert wird.

K. P. in B. Herr Musikdirektor G. Rauchenecker, dessen Komposition zu dem Rittershaus’schen Chorliede preisgekrönt wurde, ist von Kassel nach Barmen verzogen.


Inhalt: Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 77. – Der erste Versuch. Illustration. S. 77. – Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa“. I. Astrolabe-Bai bis Festungs-Kap. Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen). S. 83. Mit Illustrationen S. 81, 83, 84 und 85. – Die Andere. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 86. – Die Morphiumsucht. Von Obermedicinalrath Dr. Landenberger (Stuttgart). S. 90. – Blätter und Blüthen: Ein Turnfest. Mit Abbildungen. S. 92. – Zwei Familien. Von C. Michael. S. 92. Mit Illustration S. 89. – Schulbäder. – Zwei Denkmale. – Der Volta-Preis. – Ein Tiroler Freiheitskämpfer. – Kleiner Briefkasten. S. 92.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Die „Samoa“ wurde im Auftrage des damaligen Komité der Neu-Guinea-Kompagnie in Sydney gekauft und ist ein hölzerner Schrauben-Dampfer von 121 Fuß (engl.) Länge, 111 Tons reg. und 35 Pferdekraft (nom.). Sie wurde 1883 in Neu-Süd-Wales gebaut und führte, ehe sie unter deutsche Flagge kam, den Namen „Sophia Ann“. Die Besatzung bestand aus 14 Mann, das Kommando führte Kapitän Eduard Dallmann aus Blumenthal, einer der erfahrensten Kapitäne unserer Handelsmarine und in weiteren Kreisen durch seine Reisen nach der Arctic und Antarctic sowie Sibirien bekannt. Leiter des ganzen Unternehmens war Dr. O. Finsch. Sämmtliche Illustrationen zu diesen Artikeln sind nach Originalskizzen und Angaben des Verfassers von A. von Roeßler gezeichnet.Anm. d. Red.