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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Was will das werden?
Roman von Friedrich Spielhagen
(Fortsetzung.)


Ich hatte das Bild meiner Mutter nicht wieder gesehen und scheute mich, den Vater zu bitten, es mir noch einmal zu zeigen. Es bedurfte dessen auch nicht, denn, als wäre es nun in meiner Seele, sah ich es vor mir mit den kleinsten Eigenheiten, sobald ich nur die Augen schloß. Besonders des Abends vor dem Einschlafen. Sogar des Nachts im Traum; nur daß ich es dann nicht festzuhalten vermochte, wie im Wachen, sondern es sich verwandelte, immer wieder in weibliche Gestalten: in Frau Hopp oder ihre Tochter Christine, die mir im Alter gleich war, oder in Frau Israel oder Jettchen. Und am Tage, wenn ich ihnen begegnete, sah ich sie, von denen ich geträumt hatte, mit scheuen Augen darauf an, ob sie mir wohl was sie doch im Traum gethan, einen Kuß geben würden, wenn ich sie darum bäte.

Denn dies, ein einziges Mal von einem weiblichen Munde geküßt zu werden, war bei mir zur fixen Idee, zu einem Verlangen geworden, das mich verfolgte, wie den Gelehrten, den Dichter das Problem, dessen Lösung ihnen vorschwebt, nur daß sie die fliehende, zerflatternde nicht ergreifen und festhalten können. Mein Problein wäre scheinbar leicht zu lösen gewesen: das Mädchen, das unsere kleine Wirtschaft besorgte, war ein hübsches leichtfertiges Ding mit blitzend weißen Zähnen in dem immer lächelnden großen Munde und großen grauen begehrlichen Augen. Sie hätte mich sicher geküßt, wenn ich sie darum bat, ja, es fehlte nicht viel, so hätte sie es ungebeten gethan; aber ich hatte sie einmal des Abends in der Dämmerstunde auf dem Wall zwischen den Haselbüschen den tollen August küssen sehen – von ihr wollte ich keinen Kuß. Und wenn ich es mir recht überlegte, von den Anderen auch nicht. Am wenigsten von Frau Israel, deren kleine kurzsichtige Augen beständig zwinkerten und stets etwas geröthet waren, und in deren Munde zwei obere Schneidezahne über die Unterlippe so weit vorragten, daß ich alles Ernstes zu überlegen begann, ob die gute Frau beim besten Willen wirklich einen Kuß geben könne und Emil, der „oft“ von ihr geküßt sein wollte, nicht aus Pietät gelogen habe. Bei Frau Hopp waren dergleichen Ausstellungen nicht zu machen; auch wußte ich, sie würde den armen Jungen aus reiner Gutherzigkeit so oft geküßt haben, wie er wollte. Aber gerade das war es. Ihr Kuß hätte mir immer noch viel höher gestanden, als der der hübschen Marie; aber ein rechtes Verdienst wäre doch dabei nicht gewesen. Sie küßte eben Mann und Kinder, Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen – alles, was ihr in den Weg kam. Und dann, sie hatte ihr dickes blondes Haar nie ordentlich gemacht und trug beständig ausgetretene Schuhe. Und darin glich ihr Christine wie ein kleineres Ei dem größeren, nur daß dazu der Wildfang immer ein Kleid anhatte, das irgendwo aus der Naht geplatzt und ebenso irgendwo zerrissen und – wenigstens während des Sommers – mit den

Hans Joachim von Zieten.
Nach dem Townley’schen Kupferstiche aus dem Jahre 1786.

[58] Flecken derjenigen Kirschen betupft war, die gerade reif standen, und die sie sich mit Vorliebe selbst aus den Bäumen holte.

So blieb denn freilich niemand übrig, als Jettchen Israel, und sie war es, welche ich als Königin auf den leerstehenden Thron meines Herzens setzte. Nicht ohne einiges Zaudern. Denn in Wirklichkeit trug ich nicht das mindeste Verlangen danach, gerade von ihr geküßt zu werden, worauf es mir doch, als auf die Lösung des Problems, in erster Linie ankam. Aber eben weil der Preis des Sieges ein rein idealer war – die Tilgung eines Unrechts, das an mir geschah, und das ich immer mehr als eine Schmach zu empfinden begann – desto rühmlicher schien mir der Sieg, desto heroischer der Kampf. Es war die reine Don-Quixoterie. Der edle Don ist ja nicht blind, er sieht die Windmühlen, er sieht die Schafheerde, so gut wie Sancho; aber er will sie nicht sehen; sie sollen nicht sein, was sie sind; sie sollen das sein, wozu er sie macht und machen muß, oder er ist nicht der Ritter ohne Furcht und Tadel, der eine aus den Fugen gegangene Welt einzurichten hat, sondern mag ruhig nach Hause gehen und mit seinem Sancho Kohl pflanzen und Schweine hüten.

So sah ich denn auch Jettchen vollkommen, wie sie war: ein in seinem Wachsthum verkümmertes, linkisches, verschüchtertes Mädchen, das, wenn sie sprach (was sie selten that), stark lispelte und dazu mit ihren sanften scheuen braunen Augen überall hinblickte, nur nicht auf den, welcher mit ihr redete. Aber ich wollte sie so nicht sehen; in meines Geistes Aug’ war sie die Rose von Saron, eine schlanke Palme in der Wüste, ein Reh, das unter Lilien weidet; war sie vor allem Rebekka, die Tochter Isaak’s von York. Hieß doch ihr Vater wirklich Isaak und konnte ich mir doch einbilden, daß in den stets verschlossenen Räumen des oberen Stockes im Giebelhause all’ die märchenhaften Schätze aufgehäuft waren, welche das Auge des treuen Schweinehirten blendeten, als sich ihm die Geheimnisse des Judenhauses in York öffneten. Da zu der Rebekka selbstverständlich ein Ivanhoe gehörte, so war ich offenbar der nächste zu dieser rühmlichen Rolle, in die ich mich mit um so größerer Leidenschaft warf, als ich bald heraus fand, daß sie nicht minder schwierig als rühmlich sei. Denn woher in aller Welt die belagerte Burg nehmen, in deren Erkerzimmer die schöne Jüdin den kranken Helden pflegt (während der grimme Front de Boeuf ihren altem Vater auf einem Rost braten will)? woher das stolze Templerschloß, in dessen Hof ich um sie, die bereits auf dem Scheiterhaufen steht, auf Tod und Leben mit dem wilden Templer kämpfe? Es fehlte eben in traurigster Weise an allen und jeden Requisiten, aber wann hätte sich ein Knaben-Jünglingsherz durch den Mangel an dergleichen Kleinigkeiten irre machen und von seinem Ziele abschrecken lassen! Zuerst konnte ich noch immer indirekt dadurch mich als Jettchens Ritter erweisen, daß ich ihren Bruder vor seinen diversen Feinden in Schutz nahm, und das that ich denn auch auf die geringste Veranlassung hin in so übertriebener Weise, daß ich mit meiner Freundschaft für den „Judenjungen“ binnen kurzem zum Gespött der gesammten Sekunda geworden war. Sodann, wenn die Abenteuer dem Helden nicht in den Weg kommen wollen, muß er sie eben aufsuchen und bei dem Bestehen derselben daran festhalten, daß er mit jeder kühnen That, auch wenn die Beziehung auf seine Dame unerfindlich ist, doch stets seiner Dame dient und einen Schritt weiter thut auf dem steilen und rauhen Wege zu dem erhabenen Ziel.

So war es ein steiler Pfad, den ich auf Wendeltreppen und Leitern mit dem „Mallen Heinrich“ bis auf die oberste Galerie des Nikolaithurms hinaufklomm und weiter bis in die höchste Spitze unter dem Wetterhahn. Das Letztere aber that ich mit ganz augenscheinlicher Gefahr meines jungen Lebens, weil der „Malle Heinrich“ von der Galerie aus, trotzdem die Sonne glorreich leuchtete und eine große Flucht Tauben den Thurm umkreiste, so weit er auch die blöden Augen aufriß oder mit den zugekniffenen in die Sonne blinzelte, keine Spur von blauen, grünen und rothen, Ringel-ringel-rosenkranz tanzenden Engeln entdecken konnte. Ach, er entdeckte sie auch oben durch die schmale Luke unter dem Wetterhahn nicht und fing, während er da auf der Leiter hockte (die ich der sehr fraglichen Sicherheit wegen unten hielt), so bitterlich an zu weinen, daß mir vor Mitleid mit dem armen Menschen und vor Sorge um ihn (und auch wohl ein wenig um mich), trotzdem ein fürchterlicher Wind durch die Ritzen pfiff, der helle Angstschweiß von der Stirn tropfte und ich trotz meines Heldenthums Gott dankte, als wir endlich aus der wackelnden Thurmröhre heraus und die Leitern und Treppen hinab wieder unten auf dem grasdurchwachsenen Pflaster des Kirchhofs standen.

Und rauh war auch der Pfad, den ich mit Fritz Brinkmann (Kutscher Brinkmann’s Sohn) gegen Sturm und Wellen nach unserm Ankerplatz unter dem Wall an einem dunkeln Herbstabend zurückkreuzte. Fritz Brinkmann, mit dem ich das alte halbverrottete Boot in wochenlanger Arbeit kalfatert und segelfertig gemacht hatte, war der Meinung gewesen, wir sollten uns zu der Probefahrt einen stilleren Tag mit Nord-West wählen, da wir heute bei dem scharfen Südost leicht zu weit vom Lande ab- und in die See treiben konnten, auch wenn sich „die“ Boot regieren lasse, was er für sein Theil noch gar nicht beschwören wolle. Das war gewiß sehr verständig, und da Fritz bereits Halbmatrose war (sein Schiff lag im Hafen, um Israel’schen Weizen nach England einzunehmen), so mußte er die Sache auch kennen. Aber wo wäre das Abenteuer geblieben, wenn man die Gefahrlosigkeit des Unternehmens beschwören konnte! So that er mir denn den Willen (wie ich auch sonst das fragliche Glück hatte, die Menschen mir leicht willfährig zu machen), und wir segelten stolz aus unserer Bucht, um drei Stunden später, nachdem wir Mast und Segel verloren, heimzukehren, dem Tode nur um eines Haares Breite entronnen und von der fürchterlichen Arbeit des Ruderns so erschöpft und zerschlagen, daß, als wir „die“ Boot endlich wieder auf den Strand gezogen hatten und nun vom Strand aus den Wall hinauf mehr krochen als schritten, die verthierten Piraten, welche ich so oft an eben dieser Stelle bekämpft, Mitleid mit den armen Schiffbrüchigen gehabt haben würden.

Wenn ich nun so die Genossen zu meinen Abenteuern nahm, wie diese selbst, aus dem Stegreif, so bleiben jene Streifereien in meiner Erinnerung die herrlichsten, wo ich auszog, Niemand zur Begleitung als meine allzeit geschäftige Phantasie. Und ich dann, müde vom Umherstreifen, im dichten Forste dem Winde lauschte, der in feierlichen Cadenzen durch die hohen Fichtenwipfel strich, hingelagert am Rande des Grabens, in dessen braun-klarem Wasser die Käfer geschäftig ruderten, während das Abendroth immer tiefer zwischen den dunklen Riesenstämmen entglomm und am grünlichen Himmel über dem Walde die goldene Sichel des Mondes heller erglänzte, den Träumer zur Heimkehr mahnend, und nun dem Heimkehrenden, ehe er sich’s versah, die Nacht hereinbrach, die ihm vertraute Gegend in Dunkel und Geheimniß hüllend, aus der die Möglichkeit aller Gefahren von rechts und links hervorzulugen und zu wispern schien, und der melancholisch ahnungsvolle Ruf der wilden Schwäne, die unsichtbar hoch über ihm gen Süden zogen, in seinem jungen Herzen ein Bangen und Sehnen wachrief nach einem Glück jenseit der Erdenschranken, für das Menschenworte keinen Ausdruck haben.

Und für das er nun doch, war er in sein Kämmerchen zurückgekehrt, beim Schein des Lämpchens über Büchern und Papier nach einem Ausdruck suchte in holperigen Versen und unreinen Reimen, die, wenn sie keine Poesie waren (für die er sie hielt), im Gebiet der Prosa gewiß ebenso wenig eine Stelle fanden.

Bei diesem ritterlich-poetischen Mühen war nun das eigenthümlich, daß ich über den Mitteln anfing das Ziel aus dem Auge zu verlieren. Apoll schien mir zuzuwenden, was Amor, in dessen Dienst ich mich doch wußte, nicht gewähren mochte, bis der Gott seinen Heiligen doch auf einem seiner wunderbaren Wege dahin führte, wohin er selbst nun schon gar nicht mehr wollte.

Es war an einem Frühlingstage in der Dämmerstunde. Ich war drüben bei Israels. Der Vater Isaak arbeitete in seinem Komptoir, die Mutter schaffte in der Küche an dem bevorstehenden Abendessen, Emil war auf irgend eine Kommission in die Stadt geschickt, so war ich mit Jettchen allein in der Wohnstube, wo es niemals sehr hell war und jetzt schon zu dunkeln begann. Ich erinnere mich nicht, mit ihr jemals vorher allein gewesen zu sein; aber ich kann nicht sagen, daß mir deßhalb heute das Herz lebhafter klopfte. Im Gegentheil: ich dachte gar nicht an sie, sondern saß in meine Träumereien [59] verloren da, während sie an dem klappernden Klavier leise, wie um mich nicht zu stören, phantasierte. Sie hätte mich gern stören mögen: es waren keine goldenen Träume, die mich umgaukelten. Ich hatte die Mutter wieder einmal eine volle Woche nicht zu Gesicht bekommen, und seit einigen Tagen war auch der Vater, verstimmt über eine dringende Arbeit, die ihm mißrathen war, gegen seine Gewohnheit theilnahmlos oder zum mindesten wortkarg für mich gewesen. Ich fühlte mich allein und verlassen wie noch nie in unserm einsamen Hause und war eben deßhalb hinüber zu Israels geflüchtet. So, in mich hinein brütend, hatte ich Jettchens Gegenwart und ihres Spiels gar keine Acht mehr gehabt, als sie plötzlich zu singen begann. Ich hatte sie noch niemals singen hören, und das war es auch wohl, was mich aufhorchen machte. Sie sang mit ganz leiser, überaus zarter Stimme, daß es wie Schwalbengezwitscher war und nur durch die rhythmische Folge und herrliche Reinheit der Töne zu Menschengesang zu werden schien. Auch verstand ich erst, trotzdem ich ihr ganz nahe saß, den Text nicht, bis auch der dem betroffen Lauschenden zum Bewußtsein kam: ein Lied, das ich nie zuvor gehört hatte und seitdem nie wieder gehört habe, ohne voll Rührung jener Stunde zu gedenken, das schöne Volkslied von jenem Armen, der sich so allein und verlassen weiß „wie der Stein auf der Straßen“. Wie paßte das doch so sonderbar auf mich und in meine Stimmung! Ich saß da mit starren Augen und klopfendem Herzen und regte mich nicht, als sie jetzt endete und die zarten Hände von den Tasten auf den Schoß gleiten ließ. Ein paar Momente blieben wir so still neben einander, bis sie auf einmal die Hände vor das herabgeneigte Gesicht drückte und bitterlich zu weinen anfing.

„Warum weinest Du, Jettchen?“ fragte ich erstaunt.

„Weil auch Du so allein und verlassen bist,“ flüsterte sie.

Das Wort, das ich nicht erwartet hatte, traf mich ins Innerste.

„Jettchen“ stammelte ich.

„Du armer Junge!“ rief sie schluchzend.

Und plötzlich hatte sie mich, der ich in meiner Erregung vom Stuhl aufgesprungen war, mit beiden Armen umschlungen und mich geküßt.

Und war dann, einem verschüchterten Vögelchen gleich, aus dem Zimmer gehuscht.

Ich aber stand an allen Gliedern zitternd da und suchte mir klar zu machen, daß Jettchen mich geküßt hatte, daß mich ein weiblicher Mund zum ersten Mal geküßt hatte.


8.

So war denn das große Problem auf eine für mich völlig unerwartete Weise gelöst, und wirklich kam von jenem Abend an nach dieser Seite eine gewisse Beruhigung über mich. Die Ritterthaten im Dienst der unbekannten Herzenskönigin waren für die Zukauft unnöthig geworden; an Stelle der glänzenden Träume war die bescheidene Wirklichkeit getreten; die in so viel Gedichten angeschwärmte Geliebte hatte sich in eine Schwester verwandelt. Denn das war mir Jettchen geworden: eine Schwester und Freundin, von der ich wußte, daß sie in ihrer bescheidenen Weise an meinem Wohl und Wehe herzlichen Antheil nahm, und auf die ich deßhalb einen Theil des Vertrauens und der Liebe übertrug, welche ich bis dahin ausschließlich dem guten Vater entgegengebracht hatte. Daß ich in diesem Verkehr, wo ich im Grunde immer nur Rath heischte und das kluge Mädchen Rath ertheilte, viel mehr der Empfänger als der Geber war, bemerkte ich nicht. Ich sah für jetzt und später in dem allen eine Art von Herablassung meinerseits und wurde in diesem Hochmuth durch das schüchterne Kind bestärkt, welches jede Gutthat in Worten und Werken, die sie mir erzeigte, als eine Ehre darstellte, welche ich ihr erwies.

Wie dem aber auch sein mochte, ich hatte nun eine Schwester, die nicht meine Schwester war, wie ich einen Vater hatte, der nicht mein Vater war; und von denen ich doch nur Liebes und Gutes empfing, das einzige Gute und Liebe, das mein liebebedürftiges Herz als solches anerkennen wollte: ein kostbarer Besitz, an den ich mir nicht rühren lassen durfte, es sei auch, von wem es sei.

Und nun mußte jener feurige Prediger, zu welchem ich seit einem Jahre in die Konfirmationsstunde ging, gerade an dieses mein Heiligstes rühren und mit, ach! wie rauher Hand! Da ich ihm auch später auf meinem wirren Lebenswege begegnet bin, als er und ich andere geworden waren, ist es mir nicht leicht, mir sein Wesen von damals zu vergegenwärtigen – ich sehe ihn eben zu deutlich, wie er heute ist. Und ich meine, er war damals der bessere Mann, trotzdem mir durch ihn viel Leid angethan ist. Denn er that es mir jener Zeit an aus seiner Ueberzeugung heraus, zur Rettung meiner Seele, die er auf dem Wege, welchen ich trotzig gehen wollte, verloren sah.

Er war aber damals noch ein junger Mann, der Pastor Renner, wenn auch natürlich nicht in meinen so viel jüngeren Augen, mittelgroß, schlank mit einem von nächtlichen Studien bleichen Gesicht, das oft die tiefste Abspannung und Erschöpfung zeigte, bis es sich im Feuer der Rede wieder belebte und die trüben Augen unter den buschigen Brauen zu glänzen und zu glühen begannen. Wie er selbst von seinem nichts weniger als dumpfen Verstande jedes Opfer forderte, welches der Glaube erheischte, so schenkte er seinen jungen Zuhörern nichts – nicht die Forderung der Entsagung von jenem Wissen, das Stückwerk ist; nicht die Furcht vor dem Teufel, der umgeht wie ein brüllender Leu und suchet, wen er verschlinge. Nun schienen ja die übrigen Knaben, welche größtentheils aus der armen und rohen Bevölkerung der Hafengasse stammten, weiches Wachs in seinen starken Händen zu sein. Oder bestanden ihre Seelen auch nur aus jenem Stoff, von welchem der Dichter sagt, daß er „breit und nicht stark“ werde, man mag ihn treten, wie man will? Jedenfalls waren sie keine Fäuste, wenn sie sich auch weder vor Hölle noch Teufel fürchteten und von Skrupeln und Zweifeln irgend welcher Art völlig frei wußten. Sie saßen geruhig da, es mochten sich über ihnen die Himmel öffnen oder zu ihren Füßen der Abgrund gähnen; sagten ihre Artikel und Sprüche auf schlecht und recht und beantworteten die Fragen des eifrigen Lehrers je nach ihrer Fähigkeit, das Gehörte zu reproduciren, aber immer in seinem Sinne, das heißt, in dem Sinne, von welchem sie wußten oder muthmaßten, daß es der seine sei.

Mit mir hatte er einen schwereren Stand. Nicht als ob in meiner Seele nicht jenes Streben gewohnt hätte, sich dem Höheren, Unbekannten vertrauensvoll hinzugeben, und das wir mit dem Dichter „fromm sein“ nennen. Es wohnte mir sogar in einem vielleicht nicht gewöhnlichen Maße bei, und er erkannte es auch willig an. Aber ich hatte mich spät und nach langem bangen Bedenken zur Konfirmation entschließen können, stand mit meinen sechzehn Jahren im Begriff nach Prima versetzt zu werden, war ein guter Grieche und Lateiner, und der Herr Pastor meinte, meine religiöse Empfindung, das sei im besten Falle die Frömmigkeit der Heiden. Keinesfalls die echte christliche Frömmigkeit, der Glaube nicht, der Berge versetzen könne und das noch viel Schwerere vollbringe, uns bis an die Pforten des Himmels zu tragen, die sich freilich nur dem öffneten, der die Liebe habe. Und die doch eben wieder ohne den Glauben nicht die rechte Liebe sei, abermals nur die Liebe, wie sie etwa auch ein weiser Heide empfinden mochte: ein Sokrates, ein Platon; und die bei all ihrer relativen Würdigkeit an Werth unter der wahren christlichen so weit stehe, wie böhmisches Glas unter dem echten Diamanten. Ich vermochte nicht einzusehen, was doch der Glaube mit der Liebe zu schaffen habe; ich kannte solche, die jenen Glauben, von dem der Herr Pastor spreche, nicht hätten, und die doch die Liebe selber seien, und kannte wieder solche, die des Glaubens voll und dabei lieblos wären wie ein Stein.

Es war nicht das erste Mal, daß wir so an einander geriethen, natürlich nicht vor den anderen Konfirmanden, sondern nach der Stunde, oder zu einer besonderen, die er mir anberaumt hatte, um mir gewisse Fragen, die ich während des Unterrichts gestellt, gewisse Zweifel, die ich bescheidentlich geäußert, ausführlicher zu beantworten, gründlicher zu beseitigen, als es dort geschehen könne. So war es auch heute. Die Konfirmation sollte in Kurzem sein. Mein Geburts- und Taufschein waren nicht zu beschaffen gewesen. Der Pastor hatte darüber wegsehen zu wollen erklärt, aber es müsse zu einer Entscheidung kommen, ob meine Seele in ihrem dermaligen Zustande verharren dürfe, oder eine Wandlung in ihr vorgehen müsse, bevor ich zur Einsegnung würdig und reif sei.

[60] Ich dachte aber, indem ich so hartnäckig auf der Möglichkeit einer derartigen glaubenlosen Liebe bestand, an den Vater, von dem ich, obgleich er mit mir nie von diesen Dingen gesprochen, zweifelte, daß er jenen Glauben habe, und an Jettchen Israel, die ihn doch, als Jüdin, in dem Sinne des Pastors gewiß nicht hatte.

Und ich dachte an eine, die ihre Tage in Beten und Fasten verbrachte, und sich wochenlang nicht darum kümmerte, ob ihr Kind lebte oder todt war.

„Nein, Herr Pastor“, wiederholte ich; „der Glaube hat mit der Liebe nichts zu schaffen.“

Er ging vor dem armen Sünder, der, die flachen Hände zwischen den Knieen zusammengeklemmt, auf seinem Stuhle saß, mit ungleichmäßigen Schritten in dem großen, von dem Schein einer Studirlampe mäßig erhellten Zimmer hin und her, bald die blutlosen Finger ringend, daß sie krachten, bald mit denselben durch das starre kurzgeschorene Haar fahrend; jetzt leise flüsternd, jetzt Unverständliches vor sich hinmurmelnd.

Plötzlich blieb er mitten im Gemache stehen und rief, die beiden Arme in gewaltsamer Bewegung nach oben schleudernd:

„Schweigen Sie! Ich darf das nicht hören, und ich will’s nicht hören! Wer bist Du, der Du ein Herz hast, Dein Ohr zu verschließen gegen die sanfte Stimme, die da sprach: kommt her zu mir alle! Der Du wagst, Dich aufzulehnen gegen die Autorität der Evangelisten und Apostel. eines Johannes, eines Paulus; gegen das Beispiel all’ der heiligen Männer, die früher und später, ihrem Meister folgend, die Kraft ihres Glaubens durch den Märtyrertod besiegelt haben? Und wenn Du, wie ich fürchte, bereits genascht hast von jener gräulichen Irrlehre, die im dem Buche der Bücher nicht Gottes Wort sieht, sondern ein profanes Werk, an dem man deuteln und kritteln kann, und mit ihnen sprichst: dies sei erwiesen und jenes nicht – sieh mich an, der ich kein Evangelist und kein Apostel und kein Heiliger bin, sondern ein sündiger Mensch, wie Du, und gezweifelt habe, wie Du, und der ich mich losgerungen habe von Zweifel und Teufel und von der Hölle, die mich schier verschlingen wollte, durch die Kraft des Gebetes! Und der ich Dich losringen will durch des Gebetes Kraft. Auf die Kniee! nieder, nieder auf die Kniee!“

Er hatte, meinen Arm packend, mich vom Stuhle zu sich auf die Kniee gerissen mitten im Zimmer auf die nackten Dielen und begann zu beten mit lauter, fast schreiender Stimme, während ich, halb in Schauder vor dem Feuereifer des Mannes, der mir wie Wahnsinn erschien, halb voll Unwillen über den Zwang, der mir offenbar angethan wurde – denn er hielt mich während der ganzen Zeit fest am Arm gepackt, außer ein paar Mal, wo er in höchster Ekstase die Hände zusammenkrampfte – wohl oder übel neben ihm auf den Knieen verharren mußte. Endlich ließ er mich los, indem er sich zugleich erhob und nach seinem Arbeitssessel schwankte, in welchem er, wie gebrochen, zusammensank.

Ich stand wieder auf den Füßen in einiger Entfernung von ihm, zitternd an allen Gliedern, nun von dem Anblick des fast Ohnmächtigen, der doch seine letzte Kraft für mich hingegeben hatte, zum ersten Mal während dieser sonderbaren Scene wirklich gerührt. Ich bin überzeugt, er hätte mich jetzt für ein einziges Wort haben können. Ich darf sagen, ich wartete nur auf das Wort, das mir die Brücke schlagen sollte von dem Unglauben, den ich frei geäußert, zu dem Glauben, welchen ich jetzt, da ich mir wie ein Gefangener und Gefesselter erschien, bekennen sollte.

Und plötzlich schnellte er, einer sich bäumenden Schlange gleich, aus dem Sessel auf und rief mit einer heiser zischenden Stimme:

„Was stehst Du da, wie der Feigenbaum an dem Wege, da der Herr wieder in die Stadt ging und ihn hungerte? Und fand nichts daran, denn allein Blätter. Weißt Du, was da der Herr zu ihm sprach? Weißt Du es?“

Er war unmittelbar vor mir, mich mit glühenden Augen anstarrend. Ich stand in dumpfem Schweigen. Er schrie, indem er mich an beiden Schultern ergriff und bei jedem Worte schüttelte:

„Weißt Du, was weiter geschrieben steht in selbigem Verse?“

Ich wußte es; aber verharrte in meinem Schweigen, nicht aus Trotz, denn ich fühlte mich bis ins Innerste erschüttert, nur daß mir die Zunge wie gelähmt war.

So vergingen ein paar bange Sekunden. Endlich vermochte ich zu stammeln:

„Lassen Sie mir Zeit!“

„Jetzt oder nie!“ schrie er. „Ja, oder nein?“

Ich wollte Ja sagen und wieder versagte die Zunge mir den Dienst. Er murmelte etwas durch die Zähne – es mochte der Fluch des Herrn sein, den auszusprechen er sich doch wohl scheute und stieß mich von sich. Ich wankte nach der Thür, ohne zu wissen, daß ich es that. Aber bevor ich sie erreichte, stand er wieder vor mir, mir den Weg vertretend, nicht mehr der eifrige zornige Priester, der trotz alledem mein Freund war – ein anderer Mann, den ich mir zum Feinde gemacht hatte, und dessen feindliche Gesinnung schon aus seinem Auge schielte, bevor er noch die zuckenden Lippen öffnete, um in bitterem Hohn zu sprechen:

„Und nun geht es hin, das Produktlein modernen Aufklärichts, in seines Vaters Werkstatt, des glauben- und kirchenlosen Mannes, sich die Särge anzusehen, in welchen die Todten ihre Todten begraben, sie, die auch einst erwachen werden, aber in der Hölle, und wird daselbst sein Heulen und Zähneklappen. Oder in das Haus nebenan zu schleichen, wo die Abkömmlinge derer wohnen, die den Herrn gekreuzigt haben, auf daß sie weiter tanzen können um das Goldene Kalb. Geh! Du bist des Einen und der Anderen werth!“

Er hatte mir Raum gegeben; ich wankte aus dem Zimmer, aus dem Hause und stand auf der Gasse, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war, es erst bemerkend, als der Nachtwind, der rauh vom Meere herauf kam, mir um die heiße Stirn, die glühenden Wangen strich, daß es mich schüttelte wie im Fieber.


9.

Und wie im Fieber wankte ich weiter durch die dunkle Gasse, nicht nach Haus, wohin ich nur wenige Schritte hatte, sondern hinauf in die Stadt. Ich wußte wohl: der Vater wartete in dieser Stunde mit dem Abendbrot auf mich; aber ich konnte ihm jetzt nicht gegenübertreten. Ich hätte ihm alles gesagt – das fühlte ich, und das wollte ich nicht. Ich wollte keinen Helfer in dieser Sache, und das wäre er mir zweifellos gewesen; ich wollte einen unparteiischen Richter; aber wo den finden? Einen Augenblick hatte ich an Jettchen gedacht; aber sie war ja auch Partei, gerade wie der Vater, und dies ging doch wohl so wie so über ihr Verständniß. Dann fiel mir der Beichtvater meiner Mutter ein. Der höfliche Mann würde mich gewiß nicht so rauh anfassen, und ich gönnte dem Pastor den Schrecken, wenn er hörte, daß er, den er aus seiner Schaar vertrieben, in das andere Lager gegangen sei. Aber es stand ja bei mir fest, daß meine Mutter, die sich von mir losgesagt hatte, auch die religiöse Gemeinschaft mit mir von sich wies, daß, zu ihrer Konfession übertreten, mich bei ihr einschleichen, eindrängen wollen heiße. Und dagegen sträubte sich mein ohnehin bereits durch ihre hartnäckige Zurückweisung meiner Liebe tief verletzter Stolz.

So kehrte ich denn auf dem Wege, den ich bereits nach der Wohnung des Geistlichen in einer Gartenvorstadt auf der entgegengesetzten Seite der Stadt zum größten Theil zurückgelegt hatte, wieder um und irrte rath- und ziellos weiter; vorbei an unserm Gymnasium und an der nahegelegenen Wohnung des Ordinarins meiner Klasse. Plötzlich blieb ich stehen: das war der rechte Mann. Er war unerbittlich streng, aber auch unbedingt gerecht, und ich hatte stets das vollste Vertrauen zu ihm gehabt. Ueberdies kannte er den Vater, und dieser ihn aus dem Handwerkerverein, dessen Vorsitzender er war, nachdem er selbst die für unsere Stadt völlig neue Schöpfung erst vor wenigen Monaten ins Leben gerufen. Wie er denn überhaupt an der Spitze aller gemeinnützigen städtischen Unternehmungen und ebenso der liberalen Partei stand, welche mit dem umliegenden Landkreis ihn sogar im vorigen Jahre zum Abgeordneten für den Norddeutschen Reichstag erwählen wollte, nur daß er das Mandat abgelehnt hatte. Er wisse ja schon nicht, wie er seine Arbeit bewältigen solle. Ja, das war der Mann!

Ich zog die Schelle und trat in das Haus auf den von einer spärlichen Lampe kaum erhellten Flur. Als die Magd ging, mich, der ich ein dringendes Anliegen an den Herrn Professor habe, zu melden, und zu dem Zweck, die Thür eines Zimmers

[61]

Barfüßele. Nach dem Oelgemälde von F. von Thelen-Rüden.
Photographie im Verlag von G. G. Steiner u. Komp. in Wien.

[62] rechter Hand öffnete, von wo ein vielstimmiger dumpfer Lärm erschallte, hatte ich den flüchtigen Blick auf die lange Tafel, an welcher der Professor mit seiner zahlreichen Familie und seinen sechzehn Pensionären saß. Es fuhr mir durch den Kopf, daß man in der Stadt sprichwörtlich sagte: „Sie sind so eng verpackt wie Herrn von Hunnius’ Pensionäre.“ Man drängte sich eben zu ihm.

Der kleine Mann – ich war bereits um einen halben Kopf größer als er – erschien alsbald auf der Schwelle, noch ein paar Worte mit seiner eigenthümlich durch die Nase schnarrenden Stimme in das Speisezimmer zurückrufend, trat dann rasch auf mich zu und sagte:

„Sie kommen zu mir, wie Nikodemus in der Nacht. Was bringen Sie mir?“

Das letztere fragte er immer, wenn man zu ihm kam. Ich wußte es und hatte mich darauf vorbereitet.

„Ich bringe nichts, Herr Professur,“ antwortete ich; „ich komme etwas zu holen: Rath in einer für mich wichtigen Angelegenheit.“

Es mochte wohl in dem Tone etwas Besonderes gelegen haben. Er fixirte mich einen Moment durch die großen runden Brillengläser und sagte kurz:

„Dann kommen Sie mit mir auf mein Zimmer.“

Er schritt mir voran, die Treppe hinauf, in sein Arbeitszimmer, schob die Oellampe, welche auf einem mit Büchern und Papieren überdeckten Tisch, dem Verlöschen nahe, dämmerte, in die Höhe; nahm in seinem Korbsessel vor dem Tische Platz und sagte, indem er für mich auf einen Stuhl in der Nähe deutete:

„Setzen Sie sich und sprechen Sie!“

Ich brauchte nicht nach Worten zu suchen; mir war das Herz so voll. Ich sagte ihm alles: wie ich mit meinem Unglauben, meinen Zweifeln gerungen hätte, lange, bevor mir der Herr Pastor so ins Gewissen geredet, wie heute; und daß ich auf dem Punkte gestanden, ihm den Willen zu thun, aber nicht, weil ich überzeugt, sondern weil ich durch seinen Eifer um mein Seelenheil gerührt und erschüttert gewesen sei; und wie der Herr Pastor durch den Fluch, den er über meinen Vater und die Israels ausgestoßen, die immer so gut zu mir gewesen, alles wieder verdorben habe; und wie wir dann geschieden seien.

Der Professor hatte mir, von Zeit zu Zeit die große Brille mit dem Zeigefinger auf die kleine Nase hinaufschiebend, zugehört, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Auch jetzt, als ich nun endlich schwieg, antwortete er nicht sogleich, sondern blickte starr vor sich hin. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihn durch meine sonderbare Beichte in Verlegenheit gesetzt habe, und sagte daher:

„Ich bitte um Verzeihung, Herr Professor, daß ich Sie belästige. Aber ich wußte mir keinen andern Rath.“

Er hob rasch den großen Kopf und sagte lebhaft:

„Von Verzeihen kann hier keine Rede sein. Im Gegentheil: Ich danke Ihnen, daß Sie zu mir gekommen sind, denn es beweist mir, daß Sie etwas von mir halten, was ich wohl nur von wenigen Ihrer Kommilitonen sagen kann, die mich einfach hassen. Nun: oderint, dum metuant! Und ich halte etwas von Ihnen. Sie haben einen offenen Kopf und ein offenes Herz und machen keine Phrasen, was mir ein Gräuel ist, selbst im Lateinischen, obgleich sie da für euch arme Schelme fast unvermeidlich sind. Ich soll Ihnen also rathen in diesem kritischen Falle. Nun wohl, ich will es thun, so gut ich es vermag. Zuerst: haben Sie Ihrem Vater von dem allen gesagt?“

„Wäre ich dann zu Ihnen gekommen, Herr Professor?“ „Bene dixisti: Ihr Vater wäre auch nicht die geeignete Person gewesen – für diesmal aus zwei Gründen. Einmal ist er hier gewissermaßen Partei, und zweitens ist er kein konfessioneller Christ. Nicht wahr?“

„Ich weiß es nicht, Herr Professor, er hat mir noch nie ein Wort über Religion gesprochen.“

„Eben darum. Gleichviel, nehmen wir es an, wie es jedenfalls der Herr Prediger annimmt. Er ist ein zu eifriger Seelsorger, als daß er nicht, trotz der kurzen Zeit, die er hier im Amte ist, bereits sämmtliche Glieder seiner Heerde genau kennen und auf ihren kirchlichen Werth taxiren sollte. Und Freidenker und Juden das ist Wasser auf seine Mühle. Er nimmt sie ja, wie ich höre, in jeder Predigt vor, zum Exempel soll er in der letzten auf Herrn Isaak Israel, Ihren Nachbarn und meinen sehr würdigen Freund und Parteigenossen, fast unverblümt exemplificirt haben. Nun, er kann es auf diesem Wege noch weit bringen. Doch das gehört nicht hierher. Ihr Vater ist nicht Ihr rechter Vater. Wer war das?“

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte ich; „es wird nie über ihn gesprochen; mein Vater hat mich adoptirt.“

„Ganz recht. Ihre Mutter ist Katholikin – hat mir irgend Jemand gesagt; und daß Ihnen Ihr Vater – ich meine Ihr rechter – einiges Vermögen hinterlassen hat?“

„Ich glaube, ja,“ sagte ich zögernd. Ich fand, daß dies doch auch ‚nicht hierher gehöre‘.

„Man muß in solchen Lagen auch die Verhältnisse beachten,“ fuhr der Professor, der offenbar meinen Gedanken errathen hatte, fort. „Zum Beispiel, daß Sie, so viel ich weiß, und wofür ich andererseits durchaus bin, studiren wollen. Nun wäre es doch sehr schade, wenn Sie sich, indem Sie sich mit der Staats-, also mit der herrschenden Kirche überwerfen, von vornherein jede Staatskarrière kompromittirten, ja, wie die Dinge liegen, unmöglich machten. Selbst in Ihrer Schullaufbahn kann Ihnen das hinderlich sein. Man wird Ihnen freilich trotzdem die Versetzung Ostern nicht verweigern – dazu fällt meine Stimme, als Ihres jetzigen Ordinarius, zu schwer ins Gewicht; aber die Zukunft, mein lieber junger Freund, die Zukunft! Sie sehen, ich mochte Ihnen gern Ihre Zukunft retten.“

„Aber doch nicht auf Kosten meiner Ueberzeugung, Herr Professor,“ wagte ich einzuwerfen.

Er schob die Brille hoch, die von der kleinen Nase fast herabzugleiten drohte, und räusperte sich.

„Die Ueberzeugung!“ sagte er; „freilich, das ist eine schöne, ehrwürdige Sache und werth, daß man ihr hohe Opfer bringt. Aber Ueberzeugungen, besonders die von jungen und so jungen Köpfen, wie der ist, der auf Ihren Schultern sitzt, die können wechseln. Ihr Vater ist ein alter Achtundvierziger, ich auch. Ich habe im Frankfurter Parlament gesessen auf der äußersten Linken und war der Ueberzeugung, daß Deutschland nur durch die Republik zur Einigkeit gelangen könne. Nun sind wir zur Einigkeit auf dem besten Wege, der ein ganz, ganz anderer Weg ist; ja, wir haben sie eigentlich bereits, die heißersehnte Einigkeit, und ich habe mich überzeugen müssen, daß meine damalige Ueberzeugung ein Irrthum war. So war ich überzeugt und habe daraufhin meine Doktordissertation geschrieben, daß eine gewisse Schrift dem Cicero ab- und dem Atticus zuzusprechen sei, und mich überzeugen müssen, daß ich einen Bock geschossen. Mit einem Worte: unsere Ueberzeugungen können wechseln, müssen wechseln: politische, wissenschaftliche, weßhalb also nicht auch religiöse? Ist nicht aus dem Saulus ein Paulus geworden? Sind Sie so sicher, daß nicht auch Ihnen einmal ein Tag von Damaskus kommt?“

„Gewiß nicht, Herr Professor,“ sagte ich; „aber eben deßhalb bin ich auch nicht sicher, daß er mir kommt.“

Ein flüchtiges Lächeln zog über die wunderlichen Züge. Das machte mir Muth, weiter zu sprechen:

„Sagen Sie mir nur das Eine, Herr Professor: glauben Sie, Sie selbst denn an das alles, wozu ich mich bekennen soll?“

Das Lächeln war sofort verschwunden.

„Ich meine, es handelt sich hier nicht um das, was ich glaube, sondern um das, was Sie glauben, respektive nicht glauben,“ sagte er mit Nachdruck und fuhr, als er meine bittere Verlegenheit sah, in milderem Tone fort: „Lieber junger Freund, ich gehöre wahrlich nicht zu denen, welche, wenn ihr Kind zu ihnen kommt, sie um ein Stück Brot zu bitten, ihm einen Stein reichen. Sie sind nicht mein Kind, und sind kein Kind mehr – das beweist der Muth, den Sie in dieser Angelegenheit an den Tag legen. Aber Sie sind doch auch noch kein Mann, und so ist es schwer, Ihnen die Wahrheit zu sagen und so zu sagen daß Sie sie verstehen. Ich will es versuchen und will Ihnen bis an die äußerste Grenze entgegenkommen, die ich freilich nicht überschreiten darf. Sehen Sie, die Sache ist die, daß heutzutage wenige – ich meine von den wahrhaft Gebildeten, die nicht bloß studirt, sondern auch gedacht haben – den Lutherischen Katechismus, wie er da steht, in Bausch und Bogen mit gutem Gewissen und aus voller Ueberzeugung unterschreiben könnten. Dennoch bekennen sie sich zur Kirche und mit Recht. Die Kirche [63] mag ihnen hier und da als ein alter Schlauch erscheinen, für den ein neuer dringend noth thäte, aber der Inhalt des Schlauches – das Christenthum – ist ein so kostbarer, unschätzbarer Saft, der seit nun beinahe zwei Jahrtausenden die Menschheit erquickt hat und noch Jahrtausende erquicken wird; und was wir sind und haben, hat in ihm seine Wurzel und Kraft, wie alle Organe des Leibes in dem Blute, das sie speist – es darf von diesem kostbaren Blutsaft kein Tropfen verloren gehen, geschweige denn das Ganze, wie wir fürchten müssen, wenn wir es aus dem alten Schlauch in einen neuen umfüllen wollten. Darum lassen wir es bei dem alten und bekennen uns als Christen, gleichviel, ob wir mit einem oder dem anderen Glaubenssatze in unserer Vernunft fertig werden können; oder ob dieser oder jener Heißsporn der Kirche um dieses einen oder anderen Satzes willen seine Vernunft zu Tode hetzt und die unsere gleichfalls zu Tode hetzen möchte. Es ist damit wie im politischen Leben, wo wir auch je zuweilen auf den Ausdruck unserer Ueberzeugung verzichten oder unser besseres Wissen dem schlechteren der Partei unterordnen, um diese zu erhalten, die im Ganzen und als Ganzes doch klüger, besser und zumal mächtiger ist als wir, Ich darf so reden, denn ich habe in meinem Leben um meiner Ueberzeugung willen viel gelitten, habe bis auf den heutigen Tag darunter zu leiden, und wer weiß, was noch über mich verhängt ist! Nun ziehen Sie – Sie sind klug genug dazu – für sich die Konsequenzen aus dem, was ich gesagt habe. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“

Er machte eine Bewegung in seinem Stuhle; die Unterredung sollte zu Ende sein; ich erhob mich. Er war ebenfalls aufgestanden und reichte mir die Hand. Ich dankte ihm mit zitternder Stimme für seine Güte und ging nach der Thür, als er mich beim Namen rief. Ich wandte mich. Er stand noch an seinem Stuhl, den großen Kopf, um den das krause Haar in widerspänstigen Locken nach allen Richtungen starrte, tief gesenkt; das wunderliche Gesicht, welches ein sogenannter Zimmermannsbart einrahmte, in nachdenkliche Falten verzerrt; den Zeigefinger der Linken fest gegen den Bügel der Brille drückend, welche durchaus nicht mehr auf der kleinen Nase halten zu wollen schien.

„Im Falle Sie sich nicht sollten entschließen können –“

Er machte eine Pause, ob ich etwas antworten würde, und fuhr, da dies nicht geschah, fort:

„In diesm Falle müßten wir auf einen Ausweg denken, wie Sie wenigstens nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Ist ihr Vater vielleicht Mitglied der Freien Gemeinde?“

„Ich weiß es nicht, Herr Professor.“

„Ich halte es nicht für unmöglich. Ich liebe, offen gestanden, die Freien Gemeinden nicht. Sie gedeihen nicht, Was nicht gedeiht, beweist schon dadurch, daß es nicht aus einer machtvollen Idee hervorgeht. Gleichviel, es wäre ein Ausweg. – Uebrigens für den äußersten Fall, von dem ich wünsche und hoffe, daß er nicht eintritt. Eine gesetzliche Nöthigung, daß evangelische Eltern ihre Kinder konfirmiren lassen und dazu eventuell zwangsweise anzuhalten sind, liegt nicht vor. Ich weiß das zufällig aus einer Debatte über den fraglichen Punkt im Gustav-Adolf-Verein, dessen Mitglied ich bin.“

„Ich danke Ihnen, Herr Professor.“

„Und noch eines. Was Sie auch beschließen sollten – ich weiß, daß Sie etwas auf mich geben – Sie werden in meinen Augen nicht einbüßen.“

„Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Professor.“

„Ein Letztes!“

Er war an mich herangetreten, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, die anders – weicher und weniger zuversichtlich klang, als die, in welcher er bisher gesprochen:

„Es liegt mir auch an Ihrer Achtung. Und wenn Sie als ein reifer Mann an diese Stunde denken, wie Sie zweifellos thun werden, und ich dann ebenso zweifellos todt bin – und Sie dann in meinen Worten deutlicher lesen werden, als Sie es jetzt im Stande sind – dann lassen Sie mir Gerechtigkeit widerfahren und denken und sagen Sie: er konnte nicht anders sprechen.“

Er ließ die Hand von meiner Schulter und hatte sich schnell von mir gewandt. Ich murmelte noch einmal meinen Dank und Gute Nacht und eilte hinaus.


10.

Als ich auf die Gasse trat, schlug es von dem Thurme der Nikolaikirche, an der ich vorüber mußte, gerade neun. Ein heftiger Wind, der, vom Meere her, durch die Stadt brauste, zerriß die Töne, daß einzelne wie mit Gewalt zu mir herabfielen, andere fast klanglos nach oben flogen. Wirres Gewölk, dessen Ränder der unsichtbare Mond hier und da nit schmutzigem Roth färbte, jagte über den Thurm, von dem jetzt, als ich dicht unter ihm hinschritt, das mißtönende Gekreisch eines Uhus erscholl, in das sich das Krächzen vom Sturm aus ihren Ruheplätzen aufgescheuchter Dohlen mischte.

Ich starrte und horchte hinauf und es durchschauerte mich bis ins Mark von der eisigen Luft, die um den Thurm pfiff, und von einer entsetzlichen Empfindung, die mich wie ein Schwindel jäh befiel. Es war mir aber, als stünde ich oben auf dem Thurme, wie neulich mit dem Mallen Heinrich, aber allein in der wilden Sturmesnacht, und die Teufel rissen sich nicht um die Glockentöne, sondern um meine arme Seele und rissen ganze Stücke ab und flögen damit kreischend und krächzend hinaus in die wilde Nacht.

Und wie Jemand, der von einem Abgrund zurückprallt, in welchen ihn die nächste Sekunde stürzen würde, eilte ich weiter mit gesträubtem Haar und wildbewegtem Herzen, dessen Klopfen ich bis in die Kehle fühlte. Dann war es vorbei. Das Grausen wich von mir; ich knöpfte den dünnen Rock, den ich in meiner Angst aufgerissen hatte, wieder zu und drückte mir die Mütze fest in die Stirn.

Nein! es war nichts damit: ein Spuk nur für den, der sich fürchtet. Der Malle Heinrich neulich da oben hatte, wie sehnsüchtig er auch durch die Thurmritze starrte, keine Engel gesehen, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gab. Gab es aber keine Engel, so gab es auch keine Teufel, die sich um meine Seele stritten; und meine Seele flatterte nicht da oben in der Luft, sondern war hier in meinem Kopf und in meinem Herzen. Und wenn ich es nicht begreifen konnte, so war es nicht meine Schuld – ich konnte doch mit keinem anderen Kopfe denken, als mit meinem eigenen. Und wenn mein Herz so unruhig hin und her zuckte, so war es, weil sie es nicht zur Ruhe kommen ließen, weil sie alle an ihm rissen: der Pastor mit seiner fanatischen Wuth und der Professor mit seiner weltweisen Güte. Denn überzeugt hatte auch er mich nicht, das fühlte ich ganz klar. Und wenn ich ihm folgte, so that ich es doch wieder nicht aus Ueberzeugung. Und eine Ueberzeugung, wie er sie meinte, von der man ein Stück preisgab und ein anderes zurückbehielt – das war ja ebenso schlimm wie die arme Seele, von der die Teufel so viel abrissen, als sie ergattern konnten. Gab es denn keinen Menschen, dessen Kopf mit dem Herzen im Frieden war? in dessen Seele die Ruhe war, nach der mich doch so innig verlangte?

Auf einmal, als fiele es mir wie Schuppen von den Augen, stand das Bild des guten Vaters hell vor mir da. Wie hatte ich nur einen Augenblick schwanken können, an wen ich mich wenden sollte in meiner Noth! Ihn hätte ich fragen sollen, ihn allein; ihn, aus dessen Munde keine Lüge ging und keine halbe Wahrheit, in dessen Seele immer stiller Friede war, und der so oft durch sein sanftes Wort, ja nur durch den Blick seiner treuen Augen die Unrast und Verstörtheit meines Herzens zur Ruhe gebracht hatte!

Und wie ein Kind, das zum Schoß der Mutter flüchtet, lief ich durch die menschenleeren Gassen zu ihm, der nicht mein Vater war und der mir doch Vater und Mutter gewesen von meinen Kindesbeinen an.

Er wartete auf mich in der Werkstatt mit dem Abendbrot. Seitdem die Mutter nicht mehr mit uns speiste, nahmen wir unsere frugalen Mahlzeiten oft in der Werkstatt ein, zumal an Tagen, wo es den Vater mit der Arbeit pressirte. Das war auch heute der Fall gewesen. Ein Sarg, der morgen in der Frühe abgeliefert werden mußte, hatte fertig werden sollen. Und da war er fertig und stand mitten in der Werkstatt auf der Drehscheibe, auf welcher der Vater immer die einzelnen Stücke zum Ganzen zusammenfügte: groß und gelb mit kräftigen gedrechselten Knäufen und feiner kunstvoller Täfelung, besonders sorgfältig ausgeführt, wie ich auf den ersten meiner durch lange Uebung geschärften Blicke sah.

[64] „Für die Mutter Möllern,“ sagte der Vater als Erläuterung, sein Werk mit zufriedenen Blicken betrachtend. „Die alte Seele hat nicht Kind, nicht Kegel und keinen Menschen, der sich um sie gekümmert hat, die dreißig Jahre, die sie im Spittel war. Sie wird natürlich auf Spittelkosten begraben; wir werden unsern kleinsten Satz nehmen müssen.“

Er hatte sich die blaugrüne Schürze abgebunden, in der Kammer die Hände gewaschen und kam nun wieder in die Werkstatt mit einem noch besonders freundlichen Lächeln auf dem lieben sanften Gesicht.

„Nun,“ sagte er, „da stehst Du noch gerade wie vorhin? Bist Du nicht hungrig, Kind?“

Ich raffte mich aus meiner Verstörung auf. Der Vater hatte vom frühesten Morgen bis jetzt ununterbrochen sich abgemüht; war es recht, ihm nun, wo er der Ruhe, der Erholung so bedürftig war, sich nach einem stillen friedlichen Beisammensein mit mir sehnte, mit meinem Leid, mit meiner Noth zu kommen? ihm, dem Mitleidigen? ihm, der Anderer Noth stets tiefer empfand, als seine eigene? Was mir noch vor einem Augenblick als selbstverständlich und als einziger Ausweg erschienen war, däuchte mir nun eine egoistische Grausamkeit. Nein, lieber mochte es werden, wie es wollte.

Ich hatte eben Zeit zu dieser Ueberlegung gehabt. Der Vater hatte sich geschäftig nach dem Tischchen in der Ecke der Werkstatt gewandt, auf welchem unsere Mahlzeit hergerichtet war, über die er sorgsam die Zipfel eines reinen Tischtuches nach allen Seiten in die Höhe geschlagen hatte. Jetzt nahm er dieselben vorsichtig auseinander: zwischen Brot, Butter und kaltem Aufschnitt stand statt des üblichen kleinen irdenen Kruges mit Bier eine Flasche Wein und zwei Gläser.

Er blickte mich lächelnd an.

„Was sagst Du, Kind, zu dieser Verschwendung? Ich fand sie heute, als ich da“ – er deutete nach der Kammer – „in der großen Kiste eine Zeichnung suchte. Weiß nicht, wie sie da hinein gekommen ist; aber es muß lange her sein; ich erinnere mich nicht, seitdem wir hier sind, Wein gekauft zu haben, oder daß mir wer welchen geschenkt hätte. Gleichviel! Und da dachte ich, die willst Du mit dem Kinde ausstechen, wenn es nach Hause kommt. Weißt Du, auf wessen Wohl?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Deines, Kind, Deines!“ rief er triumphirend; „es ist ja heute Dein Geburtstag.“

Er hatte die Arme ausgebreitet; ich warf mich an seine Brust. Die gewaltsame Spannung, in welcher meine Nerven diese letzten Stunden hindurch gewesen waren, lösten sich in einer Thränenfluth.

Er war erschrocken über meine stürmische Heftigkeit, die er sich in seiner Weise auslegte.

„Laß gut sein, Kind, laß gut sein!“ bat er, indem er mir wie einem wirklichen Kinde die nassen Wangen streichelte und die wirren Locken aus der heißen Stirn strich. „Sie ist eben krank, sonst hätte sie es sicher nicht vergessen. Und ich, schlechter Kerl, hätte es auch beinahe vergessen über all’ der Arbeit. Laß gut sein, Kind! laß gut sein!“

Ich fühlte, wie ich ihn quälte, und richtete mich entschlossen aus seinen Armen auf.

„Ja, Vater,“ sagte ich, „es ist gut. Du und ich! Wenn ich Dich nur habe, das ist mir genug. Das ist besser als alles Andere. Laß uns essen; ich bin schrecklich hungrig.“

Ich war es gar nicht; ich mußte mir die Bissen hinunterwürgen. Er bemerkte es glücklicherweise nicht, um so weniger, als ich mich zu einer Gesprächigkeit zwang, welche mir der Wein erleichterte. Ich hatte drüben bei Hopps oft Wein zu trinken bekommen, so trefflichen nie. Er glänzte in den Gläsern wie flüssiges Gold, und ein herrlicher Duft stieg aus ihm empor. Auch der Vater erlabte sich sichtlich daran. Eine leichte Röthe, die ihm schon nach dem zweiten Glase in die sonst bleichen Wangen stieg, und das sanfte Licht, das sich in den guten blauen Augen entzündete, ließen ihn um viele Jahre jünger erscheinen. Zum ersten Mal in meinem Leben fiel mir ein, daß auch er einmal jung gewesen sein müsse. Und weiter, daß ich doch so gar nichts von seinem Leben wisse. Und weiter, daß, wenn ich den Muth fände, ihn zu bitten, mir von sich und was er erlebt zu erzählen, und er, woran ich nicht zweifelte, es thäte, dabei doch irgend einmal eine Gelegenheit sich ergeben werde, wo ich die Rede auf meine Angelegenheit bringen könne.

Ich hatte den Gedanken, wie er in meinem von dem Feuerwein erregten Gehirn aufgestiegen war, kaum erfaßt, als ich nur noch auf eine Wendung in dem Gespräch wartete, die es mir möglich mache, meine Bitte vorzubringen, ohne mich zu verrathen. Und der Augenblick sollte bald kommen. Der Vater hatte wieder von der Zeichnung angefangen, die er suchte, als er den Wein fand. Das Blatt lag mir zur Hand auf dem Werkzeugtisch. Ich langte darnach und sah zu meinem Erstaunen, daß es nicht nur mit zierlichen Ornamenten bedeckt war, wie sie die Kunsttischler brauchen, sondern auch mit schönen Figuren, männlichen und weiblichen, theils nackt, theils in prächtigen faltenreichen Gewandungen. Ich hatte mich selbst hin und wieder im Zeichnen versucht und wußte wenigstens, wie schwer so etwas zu machen sei.

„Ist das auch von Dir, Vater?“ fragte ich.

Er nickte mit bescheiden vergnüglichem Lächeln.

Ich starrte wieder auf das Blatt, entschlossen, jetzt, wo die Gelegenheit so günstig war, meine Bitte vorzubringen, als ich plötzlich nicht mehr die Figuren vor mir auf dem Blatte sah, sondern die geheimnißvollen Gestalten und Gesichter, die auf mich herabgeblickt hatten aus dem golddurchblitzten Halbdunkel jenes großen schönen Gemaches, in welches mich der seltsame Traum geführt, der mir meine Mutter und mich gezeigt hatte, wie wir vor dem Manne mit den blitzenden Augen auf den Knieen lagen.

Dieselbe abergläubische Furcht, die mich schon einmal befallen hatte, als ich Emil Israel den Traum erzählen wollte - ich hatte es sonst gegen Niemand gethan - befiel mich wieder. Aber jetzt war ich kein Kind mehr, und die letzten Stunden hatten zu hart in meine Seele gegriffen. Der Augenblick war gekommen wo ich mit den Zweifeln, die mich so lange gemartert, ein Ende machen mußte, mich nicht mehr schrecken lassen durfte von heiligen oder unheiligen Geheimnissen. Und gesetzt auch, der gute Vater konnte mir das Geheimniß des Glaubens nicht lösen, so doch vielleicht das jenes Traumes.

Dies alles muß binnen wenigen Sekunden durch mein Gehirn gezuckt sein, denn, als ich jetzt aufblickte, hatte des Vaters Gesicht noch genau denselben lächelnden Ausdruck, mit dem er vorhin meine Frage bejaht, die mir nun erst wieder einfiel.

„Aber wenn Du so Schönes machen kannst,“ sagte ich, „das viel viel schöner ist als unsere schönsten Vorlegeblätter in der Schule, wie kommt es –“

„Daß ich Sargtischler geworden bin?“ vervollständigte er, mich unterbrechend, meinen Satz. „Das möchtest Du wissen?“

„Ja,“ sagte ich, „das möchte ich wissen.“

„Das ist zwar keine lange Geschichte,“ sagte er „aber ich fürchte, Du würdest nicht so viel Freude daran haben, als an den Märchen, die ich Dir sonst zu erzählen pflegte. Es war einmal ein König – weißt Du?“

„Gleichviel,“ sagte ich eifrig. „Ich bin heute sechzehn Jahre alt, und – thu’s mir zu Liebe! Das wäre mir das rechte Geburtstagsgeschenk.“

Er blickte nachdenklich vor sich nieder.

„Ein wunderliches Geschenk,“ murmelte er.

Und dann, das Gesicht wieder hebend und mich mit den treuen Augen liebevoll anlächelnd, sagte er:

„Du hast Recht, Kind. Ich hätte es schon früher thun sollen: Du und ich, wir sind ja wie zwei gute Kameraden. Aber Du weißt, welch’ ein scheuer Kauz ich bin. Und wenn Du es noch nicht wüßtest, würdest Du es erfahren, wenn ich Dir erzählen soll, wie ich Sargtischler ward. Will Dir’s erzählen, als wär’s just nicht ich, dem’s passirte, sondern irgend einem armen Jungen von den vielen Tausenden; da wird es, glaube ich, besser gehen.“

Er nippte an dem herrlichen Wein, strich mit der Linken durch den grauen Bart und begann.

(Fortsetzung folgt.)

[65]

Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Prinzeßchen,“ sagte ich zu Lotte, die mit leuchtenden Augen vor ihrer Staffelei stand, „ich finde es komisch, daß Du drüben malen willst.“

„Weil Du mir nicht die geringste Abwechselung gönnst!“ fuhr Lotte heraus, und ihr schönes Gesicht wurde blaß. „Weil Du gar nicht begreifst, wie ich darbe und leide in dieser Abgeschiedenheit, in diesem Winkel! Du nicht, und die Großmutter nicht und die da drüben nicht! Du kannst es nicht begreifen, was ich entbehre; Du kochst und bratest und bist hochbeglückt, wenn Dir ein Pudding geräth – ich, o ich ersticke!“

Und sie sank auf einen Stahl und begann so herzzerreißend zu weinen, daß Großmutter erschreckt aus dem Nebenzimmer herbeikam.

„Aber Lotte!“ Das war Alles, was sie sagte.

Diese hatte sich aber in Zorn geredet; sie richtete das thränenüberströmte Gesicht auf, und die Worte stürzten ihr nur so aus dem Munde. „Was ist denn unser Leben? Früh aufstehen und Abends schlafengehen, und dazwischen eine entsetzliche Spanne Langeweile! Was höre ich denn? Tone’s wirthschaftliche Fragen oder ein Kapitel aus einem Roman von Scott oder Friederike Bremer! Wer verkehrt bei uns? Der nüchterne Weisheitskrämer, der – o, wie ich ihn hasse, diesen kleinstädtischen Bären! Oder denkst Du, es ist mir ein Genuß, wenn der große wichtige Pedant in seinen Stulpenstiefeln dahergetrappt kommt, Kaffee bei uns trinkt und mit uns spazieren geht? Was sehe ich denn an dieser Stadt? Es ist mir so gleichgültig, daß dort der Pastor wohnt und hier der Bürgermeister, und daß Martin Luther diese Handvoll rother Dächer inmitten der Bäume mit einer Schüssel gekochter Krebse verglichen hat, die mit Petersilie garniert sind. Denkt ihr, daß es mir ein Vergnügen ist, Sonntags den Oberprediger sprechen zu hören, der keinen Zahn mehr im Munde hat, wobei man nothwendig die sündhaftesten Gedanken bekommen muß? Oder die spießige Sonntagstoilette der Rotenberger Hautevolée zu bewundern? Sicher nicht! O, ich hasse dieses Krähwinkel, dieses Eulennest bis zum Verzweifeln. Und nun soll ich nicht einmal dort hinüber, weil jene Person irgend eine Vergangenheit hat! Kann mir das etwas schaden? Bin ich denn ein Kind?“

Sie schwieg völlig athemlos.

„Ach, Prinzeßchen!“ bat ich ängstlich.

„Laßt mich gewähren!" drohte sie, „oder ich thue Etwas, was ich –“

„Nun, nun, Du kleine Furie!“ Die alte Frau lächelte. „Was denn zum Beispiel?“

„O, es giebt alles Mögliche,“ zürnte das Mädchen; „denkt doch an Erna von Wallwitz, die aus Verzweifluhg einen Bierbrauer geheirathet hat.“

Ich lachte hell auf, und Großmutter meinte ernsthaft: „Sie hat eine gute respektabele Partie gemacht; er ist ein braver, gebildeter Mann.“

Lotte zuckte die feinen Schultern.

„Ihr werdet mich nicht hindern, hinüber zu gehen,“ sagte sie halb befehlend, halb fragend, „oder –“

„Oder sie heiratet einen Bierbrauer,“ scherzte die alte Dame und nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand.

„Es kann ja auch ein ungeschlachter Oekonom sein,“ murmelte Lotte und warf mir einen Blick zu, der mich bis ins Herz traf. Und plötzlich breitete sie die Arme aus und flog mir an den Hals. „Nein, Tone, wie ist es möglich. Wie ist es möglich!“ lachte sie.

„Was denn?“ fragte ich streng, als dies Kind mit unvorsichtiger Hand an mein heiligstes Geheimniß rühren wollte.

„Was denn? Wie Du Dich verstellen kannst!

‚O wie freu ich mich, mein Liebchen,
Daß Du so natürlich bist –
Unsre Mädchen, unsre Bübchen
Spielen künftig auf dem Mist!‘“

Und sie hielt sich noch immer lachend das Näschen zu. „Ich kann nichts dafür – das sagt Goethe, Tone. Es ist zum Todtlachen!“

Großmutter und Lotte hatten die Einladung zum Bratäpfelfeste abgelehnt. Großmutter war in der That angegriffen, und Lotte hatte keine Lust. „O Gott, es ist zu langweilig,“ seufzte sie, „verschone mich mit diesen heidnischen Gebräuchen und diesen Weisheitskollegien; höre Du es allein, Seele, und iß die Bratäpfel für mich mit.“

„Und was willst Du unterdeß beginnen?“

„Schlafen!“ lachte sie, „was sonst? Viel Glück, Schwester Tone, und grüß mir Deinen –“

„Lotte!“ sagte ich streng.

„Na, gute Nacht!“ gähnte sie, warf ihre schöne Gestalt auf das Sofa und griff zu einem Buche.

Ich stand noch eine Weile still vor dem Spiegel im Schlafzimmer und studirte mein Gesicht. War ich denn wirklich so ganz und gar nicht hübsch? „Zu viel Kouleur,“ sagte Großmutter immer. „Gar keine aparte Haarfarbe,“ hatte einst meine Stiefmutter bemerkt. Ja freilich, so wie Lotte war ich nicht: wer kann auch immer gleich schön sein! Ich strich über mein einfach gescheiteltes Haar, fühlte den dicken Knoten im Nacken und band seufzend den Mantel um; welches Mädchen ist sich schön genug, wenn sie Ihm gefallen will?

Es war schon spät, und ich lief durch die Wege des Gartens und über den finstern Hof; der Decemberwind heulte in den hohen Bäumen und trieb mich noch rascher vorwärts; ich flog formlich in den Hausflur hinein und vermochte kaum die schwere Thür zu halten.

„Holla!“ sagte Frau Roden, „so allein durch Nacht und Wind?“ Und sie leitete mich freundlich in die warme helle Wohnstube, wo auf schneeweißem Tische Punschgläser, Pfefferkuchen und die bewußten Bratäpfel prangten.

Ich richtete meine Entschuldigung aus, so gut ich konnte.

„Sagen wir, Lotte will nicht, Kindchen. Immer ehrlich! Wär’s eine Theaterloge in Berlin, die ich ihr heute statt meiner Wohnstube angeboten, so würde sie wohl wollen. Nun, desto mehr danke ich Ihnen für Ihr Kommen.“

Ich sah sie erstaunt an. Auf dem gütigen Gesicht lag eine hohe Röthe, und die Art, wie sie sich in die Sofa-Ecke setzte, die Gläser und Teller rückte und das Strickzeng erfaßte, hatte etwas Hastiges, das ungewöhnlich bei ihr war.

„Setzen Sie sich, mein gutes Kind; der Junge wird gleich kommen.“ Und sie winkte mich neben sich auf das Sofa.

„Sind Sie nicht wohl, Frau Räthin?“ fragte ich, denn ihre Hände zitterten.

„Doch!“ erwiderte sie, „aber – ich kann es Ihnen nicht erzählen. Da denkt man nun, man schwimmt auf spiegelglattem Meere, man hat vergessen, daß es Stürme giebt – und hui! auf einmal bläst uns ein Orkan ins Antlitz; als ob ein Meer ohne Wellen, ein Leben ohne Kämpfe möglich sei. Aber daß der Sturm von der Seite kommt –“ Sie schwieg eine ganze Weile, dann fuhr sie fort: „Was man Alles an Lebenserfahrungen sammelt, das möchte man so gern seinen Kindern geben, ihnen damit rathend und fördernd zur Seite stehen; aber die Jugend will selbst erfahren, sie wirft das gesammelte Gold in den Staub und sucht sich unter Mühsal und Enttäuschung neue Körner, die den verschmähten aufs Haar gleichen. Es soll wohl so sein, und wir haben es nicht anders gemacht. Aber er dauert mich unbeschreiblich, er und sie und wir Alle! – Da kommt er,“ setzte sie hinzu, und ihre Mienen suchten sich zu beherrschen, während ich fühlte, wie mir das Blut zum Herzen stieg und es zu zersprengen drohte. Im nächsten Moment stand er im Zimmer.

„Allein?“ war seine erste Frage, als er mir die Hand gab.

„Das Prinzeßchen hatte wohl etwas Besseres vor,“ sagte die Mutter.

Er setzte sich schweigend auf den Stuhl, auch sein Gesicht war finster. Es vergingen peinliche Minuten, in denen kein Wort gesprochen wurde. Endlich stand er auf, klingelte und hieß den Punsch bringen, füllte die Gläser und reichte sie uns, und nun hielt er seine große Rechte über den Tisch hinüber seiner Mutter hin und sah sie an mit bittenden Blicken.

[66] Sie strickte eifrig weiter, aber aus den milden blauen Augen fielen rasch ein paar Thränen auf die Arbeit.

„Mutter!“ bat er.

Da bog sie sich über den Tisch und flüsterte ihm etwas zu; aber so leise es war, hörte ich es doch; nur drei Worte, deren Sinn ich nicht gleich zu erfassen vermochte: „Die Andere, Fritz, die Andere!“

Er schüttelte den Kopf.

„Die Andere!“ bat sie noch einmal. Aber er rührte sich nicht, nur seine Hand lag noch auf dem Damasttuche, bereit die Mutterhand zu umschließen.

„Laß uns morgen darüber reden, Fritz,“ sagte sie in höchster Unruhe und setzte sich.

Er blieb unbeweglich. „Gieb mir Deine Hand,“ bat er, „es wird nicht anders, niemals!“

Da legte sie aufschluchzend ihre Rechte in die seine, hielt sich das Taschentuch vor die Augen und ging hinaus; wir waren allein in dem großen Gemach. Draußen rüttelte der Sturm an den hölzernen Läden und rauschte durch die entlaubten Kronen der Kastanien; hier innen Lampenschein, Wärme und zwei junge klopfende Herzen, so wie ich es mir ausgemalt tausendmal, tausendfach, er und ich. Er nahm sein Glas und rührte an das meine. „Trinken Sie, Tone,“ bat er zerstreut.

Einen Moment trafen sich unsere Augen; er sah aus wie berauscht. „Tone,“ begann er stockend, und es war ein Klang in seiner Stimme, daß ich meinen Kopf wie betäubt zurücklegte, athemlos vor Glück! „Tone, seien wir ehrlich gegen einander.“

„Ja!“ sagte ich.

Er erhob sich und begann im Zimmer auf- und abzugehen. „Warum kam Lotte nicht?“ fragte er, jäh vor mir stehen bleibend.

Ich sah in seine gespannten Züge und wurde verwirrt. „Sie – ich glaube, sie ist angegriffen,“ stotterte ich.

Er wendete sich und schritt wieder heftig auf und ab. Endlich kam er zurück, setzte sich mir gegenüber und ergriff meine Hand. Aber er ließ sie blitzschnell fallen, als in diesem Moment seine Mutter eintrat. „Ich sehe sie später noch,“ murmelte er und ging hinaus.

„Sie wundern sich über unser sonderbares Wesen,“ begann die alte Frau, „ich darf Ihnen aber jetzt den Grund wohl sagen, es geht Sie ja auch an. Der Fritz – Ist Ihnen schwach?“ fragte sie angstvoll. „Ach, Tone, ich hatte Anderes gewünscht, mein liebes Kind. – Es ist nun einmal so, Fritz liebt Ihre Schwester!“

Sie war ein Erbtheil vom Vater, diese Geistesgegenwart in der Noth. Die Ahnung des Glückes hatte mich schwach gemacht vorhin bis zur Ohnmacht; jetzt fuhr ich empor und sah das thränenumflossene alte Gesicht, dessen Augen angstvoll in den meinen forschten. Sie nahm meine Hand; sie hielt meine starre Miene wohl für Erstaunen.

„Ja, Sie wundern sich, Herzenskind,“ fuhr sie fort, während die Thränen ihr still auf den Wangen herabflossen; „ich habe mich auch gewundert, als ich es erfuhr. Wir standen und sahen Ihnen nach heute früh, und da sagte ich – warum sollen Sie es nicht erfahren? – Fritz, das ist ein Kind nach meinem Herzen. Da wurde er blaß und wandte sich rasch um; und als ich nachher in meinem Lehnstuhl saß und so zwischen fünf und sechs Uhr mein Dämmerstündchen hielt, da kam er und setzte sich auf die Estrade zu meinen Füßen, wie er als Junge gethan und nie mehr nachher, und da – die Liebe macht ja den Vernünftigsten zum Narren,“ fuhr sie fort, „ihm hat sie völlig den Sinn verdreht. Vom ersten Augenblick, da er die Lotte erblickt, sei er entschlossen gewesen, erzählte er; als sie den Schleier des Reisehütchens zurückgenommen, habe er gemeint, ein Blitzstrahl fahre vor ihm nieder. Anfänglich habe er sich wohl gesagt, es sei keine Frau für ihn, es wäre Unsinn, wenn er sie freite, aber jetzt sähe er es deutlich ein, ohne sie kein Leben! Ach Kind, was redet eine angstvolle Mutter nicht? Aber hole vom Himmel die Sternlein herunter und lege sie ihm zu Füßen er wird doch nur das Eine wollen – das Mädchen, das er liebt. Ach, ich weiß, wie es endet, Tone, er wird unglücklich, sehr unglücklich; aber er will nicht folgen.“

„Und glauben Sie, daß Lotte seine Neigung erwidert?“ fragte ich leise.


„Nein! Aber was schadet’s? Sie wird sein Weib werden aus – Berechnung.“

Ich schwieg. Mir kamen Lotte’s Worte in den Sinn. „Es ist ja so schrecklich, arm zu sein!“

„Ich will heimgehen,“ sagte ich und stand auf. Ich meinte zu ersticken. Frau Roden trocknete sich die Augen und half mir den Mantel umbinden

„Gutes, gutes Kind," sprach sie und strich mir über die Wange, „ich habe Sie sehr lieb, wir wollen zusammenhalten; ich habe eine Ahnung gehabt, daß mit Euch eine Aenderung in mein Leben kommen würde – aber so meinte ich es nicht.“

Als ich in den Flur trat, erblickte ich Fritz Roden im Mantel und Hut.

„Ich begleite Sie,“ sagte er, und wir gingen zusammen hinaus. Der Wind hatte sich gelegt, der Mond schaute aus schwarzen Wolken, und gespenstisch ragten die kahlen Aeste der Bäume in den Nachthimmel empor. Todtenstille lag über Haus und Garten, und unsagbar weh war mir zu Sinn. Ich schritt rasch vorwärts; nur allein sein mit meinem quälenden Schmerz! Nur allein!

„Tone," begann er da, „Sie wissen Alles – zürnen Sie mir?“

Zürnen, daß er Lotte liebte? Und dieses eine Wort zeigte meinen Wahn, mein thörichtes Hoffen im grellsten Lichte. Mich lieben, mich nur bemerken, wenn sie neben mir? – „Nein, wahrlich nicht!“ erwiderte ich bitter.

„Wollen Sie für mich bei ihr sprechen?“ fragte er. Und als ich schwieg, bat er dringend: „Ich kann es nicht, Tone; wenn sie mich ansieht unter den langen Wimpern hervor, dann ist’s vorbei. Ich bin blöde und ungeschickt; sagen Sie ihr, wie lieb ich sie habe, daß ich jeden ihrer Wünsche erfüllen will; sie soll den rauhen Boden des Lebens nie berühren, ich will sie auf meinen Armen darüber tragen, ich will Alles, Alles, Tone.“

Er hatte meine Hand ergriffen und zwang mich, stehen zu bleiben. Der Mond schien ihm voll ins Antlitz, und ich sah die ernsten lieben Augen und sah seinen zuckenden Mund. Und noch einmal wiederholte er mit bebender Stimme: „Alles, Tone!“

„Ich will es versuchen,“ sagte ich, kaum fähig zu sprechen.

„Ach, danke, Tone, danke!“ rief er und faßte meine Rechte. „Wenn Sie wüßten, welch schlaflose Nächte ich ihretwegen verbracht, welch eine Marterzeit ich durchlebt habe, seitdem ich das Mädchen gesehen! Hundertmal war ich auf dem Wege, mich Ihnen zu entdecken; – Sie lieben sie ja auch so zärtlich.“

„Ich muß heim,“ stammelte ich und zog meine Haud aus der seinen. Aber er faßte sie dennoch wieder.

„Lassen Sie mich nicht allzu lange auf Antwort warten,“ bat er, „sprechen Sie bald mit Lotte, heute noch,“ und ich fühlte, wie er zitterte. „ich bin sonst nicht so ein stürmischer Meusch, Tone, aber die Ungewißheit reißt an jedem Nerv – ich bin wie ein Gefolterter. Nicht wahr, Sie reden mit ihr, gleich, auf der Stelle?“

„Und wenn Lotte Ihre Liebe nicht erwidert?“

Er blickte mich starr an. „Das ist nicht möglich. Diese Neigung kann nicht einseitig sein, sie ist zu stark, zu ernst und wahr, Tone!“

Ich mochte wohl bitter aufgelacht haben, denn er forschte mißtrauisch in meinen Zügen. „Es klingt anmaßend, was ich sage, nicht wahr?“ fuhr er fort, „aber ich glaube genau zu wissen, daß Lotte mich nicht gleichgültig ansieht. Sie haben wohl nie darauf geachtet, Tone; es fühlt das auch nur der – – Aber nun gehen Sie, und seien Sie mein guter Engel!“

Er drückte noch einmal meine Hand. „Morgen früh schreiben Sie ein einziges Wort; die Ausgeherin kann es vorreichen bei uns. Gute Nacht!“

Ich tastete mich das dunkle Treppchen hinauf; aber dann war es, als versagten mir die Füße den Dienst, und ich setzte mich auf eine der Stufen und versuchte meiner tobenden Gedanken Herr zu werden. Das Erste, was ich empfand, war eine brennende Scham, das Gefühl einer tiefen Demüthigung. Wo hatte ich nur meine Gedanken gehabt, ich eitles, eingebildetes, thörichtes Geschöpf? Tag für Tag dieses kurzen Aufenthaltes hier durchlebte ich wieder, jedes Zusammensein mit ihm – und keinen Moment fand ich heraus, der mich berechtigte zu glauben, er liebe [67] mich! Um Lotte war er gekommen, um Lotte gegangen, für Lotte nur hatte er Augen gehabt; das, was für mich abfiel, das hatte ihrer Schwester gegolten, der treuen Pflegerin des Prinzeßchen. Ach Lotte, ich gönne Dir ein jedes Glück; nur dieses nicht! Nur dieses nicht!

Und nun sollte ich hinauf und für ihn sprechen bei ihr! Als ob das Schicksal mir den Trank noch bitterer machen wollte! Was hatte ich denn verbrochen, daß mir der liebe Gott von allen Rosen nur die Dornen gab?

So saß ich in der Kälte auf der Treppe; eisig die Füße, glühend der Kopf und die Hände geballt; ich hätte ersticken mögen vor Zorn und Weh und Scham, und ich fand weder Thränen noch Worte. Darum war ich hierher gekommen, darum? Endlich erhob ich mich, ein lähmendes Gefühl in allen Gliedern, und kam durch die Stille in unser Schlafzimmer. Am Plafond brannte die Ampel aus mattrothem Glase, ohne deren Licht Lotte nicht schlafen zu können behauptete, die sie mit tausend Thränen vor der Versteigerung gerettet hatte. Ein rosiger Schein erfüllte das Gemach, ließ das Deckengemälde in alter Frische aufleuchten und webte mild verschönernd über die Stuckguirlanden der Wände und

die alten Meubel meiner Mutter. Lautlos still war es hier innen; Lotte schlief. Sie lag in den weißen Kissen, die Haare, die ich ihr nicht wie sonst eingeflochten heut Abend, unordentlich über den Pfühl verstreut. So unhörbar athmete sie, daß man meinen konnte, es sei keine Spur von Leben in dem schönen Geschöpf.

Ich setzte mich an ihr Bett und wandte kein Auge von ihr; ich kam mir selbst unheimlich vor, wie ich sie so betrachtete. Sie sah freundlich aus im Schlafe, ein weicher Zug lag um den Mund, den sie sonst nur selten hatte; es war etwas in ihrem Gesichtchen, das mich rührte, wider Willen rührte. Was konnte sie für ihren Liebreiz? Was dafür, daß der große „Bär“ sich so rettungslos in sie verliebt, wie in jenem Märchen das Unthier in die Prinzessin? Es ist ihr Verhängniß, ihr Schicksal – ihr durfte ich nicht zürnen!

Und ihm? – Nein! flüsterte ich und sank neben der Schlafenden nieder. Niemand hatte mir weh gethan, nur ich allein trug die Schuld. Und da kamen die heißen Thränen, und wie ich sie mit Gewalt zu hemmen versuchte, klang es wie ein unterdrückter Schrei.

(Fortsetzung folgt.)




Römische Cäsaren.

Von Johannes Scherr.
Caligula.
(Schluß.)
4.

Was vom „Gott Gajus“ noch zu melden, ist nur eine ununterbrochene Reihe von Tollheiten. Wenn die römische Gesellschaft von damals nicht gewesen wäre, wie sie war, müßte man noch jetzt, nach achtzehn Jahrhunderten, erstaunt fragen: Aber warum hat man denn das Unthier nicht in eine Zwangjacke gesteckt und in eine Tobzelle gesperrt? Daß man daran nicht entfernt dachte, beweist unwidersprechlich den Umfang und die Abgrundtiefe der moralischen Pestilenz, von welcher die antike Welt durchseucht war. Man muß die römischen Cäsarenwirthschaft kennen, um die Möglichkeit vom Aufkommen des Christenthums zu verstehen. Die Entwickelung der Menschheit schreitet ja nicht auf dem göthe’schen Wege „ruhiger Bildung“ voran, sondern sie wirft sich vielmehr in Extremen hin und her und macht sich gar nichts aus Sprüngen, wie, beispielsweise zu reden, der Sprung von einem Caligula zu einem Simeon Stylites einer war.

Dies gesagt, werfen wir noch einen Blick auf den kaiserlichen Narren, von dem zu berichten ist, daß er in seiner Art auch ein zärtlicher Vater gewesen. Da seine drei ersten Ehen kinderlos geblieben, hatte er eine unbändige Freude, als ihm seine vierte Frau, die Milonia Cäsonia, eine Tochter gebar – am dreißigsten Tage nach der Hochzeit. Das wäre, erklärte er, ein Wunder, was eben wiederum bewiese, daß er, der Vater, ein Gott. Er ließ das Kind, welchem er die Namen Julia Drusilla gab, in den Tempelm aller Göttinnen herumtragen und es dann in dem der Minerva dem Bilde derselben auf den Schoß legen, weil diese Göttin die richtige Amme für einen Sprössling des Jupiter Latiaris sein müßte.

Die Bauwuth des Kaisers ging auf das Kolossale, nämlich auf das kolossal Verrückte. Was sonst soll und kann man von dem berühmten, rein nur einer tollen Laune entsprungenen Brückenschlag über den Golf von Bajä sagen, wodurch Bauli und Puteoli für kurze Zeit mitsammen verbunden wurden? Warum? Weil während Caligula’s Jugend der angesehene Wahrsager Thrasyllus geweissagt hatte, der Knabe Gajus würde so wenig Kaiser werden, als derselbe jemals zu Wagen über den Golf von Bajä fahren könnte, und der Kaiser Gajus diese Prophezeiung lügenstrafen wollte. Er that so, ritt, angethan mit der angeblichen Rüstung Alexanders des Großen, unter großem Gepränge und mit zahlreichem Heergefolge von Bauli auf der mit unsinnigem Aufwand improvisierten Brücke nach Puteoli, allwo er wie ein Eroberer einzog, und dann fuhr er im Anzug eines Cirkuskutschers der „Grünen“ auf einem Triumphatorwagen von Puteoli zurück nach Bauli, laut sich rühmend, daß er das Meer besiegt und Größeres vollbracht habe als Dareios und Xerxes mit ihrem Brückenschlagen über den „miserabeln“ Hellespont. Es mag erlaubt sein, zu vermuthen, daß er, zu seinen vertrauten Höflingen gewandt, noch hinzugefügt habe: „Dem alten Esel, dem Thrasyllus, hab’ ich seine Orakelei tüchtig versalzen – hab’ ich nicht?“

Auch Fraß und Völlerei – man darf, so man bei der Wahrheit bleiben will, dafür keinen anständigeren Ausdruck gebrauchen als diesen biblischen – trieb er ins Ungeheuerliche, ins Gargantuahafte. Seine Narrheit war, im Tafelluxus zu leisten, was vor ihm noch nie geleistet worden, und so brachte er es glücklich dazu, die Kosten einer einzigen Mahlzeit auf die unglaubliche Höhe von 2 Millionen Franken hinaufzurasen. Um die Möglichkeit einer solchen Vergeudung begreiflich zu finden, muß man sich erinnern, daß ein älterer Zeitgenoß Caligula’s, der Eßkünstler Apicius, ein Vermögen von hundert Millionen Sesterzien (20 Millionen Franken) verschleckt und verschlemmt hatte und sich das Leben nahm, weil er die ihm noch verbleibenden 2 Millionen Franken zur anständigen Ernährung für unzulänglich hielt.

Seine Großthat von Bajä scheint dem Kaiser-Narren Geschmack an Triumphalpompen erregt zu haben. Großmannssucht und immer wachsende Geldnoth vermochten ihn, Feldzüge oder vielmehr Raubzüge nach Germanien und Gallien zu unternehmen. Was uns darüber überliefert ist, klingt so unerhört, so absonderlich, so läppisch, daß wir versucht sind, anzunehmen, wir hätten es hier nicht mit Berichten von Thatsachen, sondern nur mit mehr oder minder witziger Karikaturmalerei zu thun. Wir wollen darum diese Schnurrpfeifereien, welche den Uebergang von Caligula’s Wahnwitz zum Blödsinn angekündigt haben würden, hier nicht wiederholen. Diese Dummheiten, wahr oder erfunden, waren doch gar zu dumm. Daß der Kaiser für seine „Feldzüge“ in Germanien und Gallien, sowie für seine sogenannte „britische Expedition“ – er kam gar nicht nach Britannien – die Ehre eines Triumphes beanspruchte, verstand sich von selbst. In einem lichten Moment scheint ihm aber die ungeheuerliche Lächerlichkeit dieses Anspruchs doch so eingeleuchtet zu haben, daß er, was ja nur eine possenhafte Travestie gewesen wäre, unterließ und bei seiner Rückkehr nach Rom mit einer „Ovation“ sich begnügte. Uebrigens ist der Erwähnung werth, daß es, wenn nicht im versklavten Rom, so doch in den Provinzen da und dort einen Menschen gab, welcher die caligula’sche Gottheitsposse für das

[68]

Der Schäfflertanz zu München im 16. Jahrhundert.
Nach einer Aquarellskizze von H. Heim.

[69] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [70] hielt, was sie war. Beim Dion ist zu lesen, daß ein Gallier spottlächelte, als er eines Tages den Kaiser, mit allen Insignien des höchsten Gottes Jupiter angethan auf seinem Tribunale sich spreizen sah. Caligula bemerkte es und that an den Mann die Frage, was selbiger von ihm dächte. „Daß du ein abgeschmackter Narr seiest,“ lautete die unverblümte Antwort. Auch dazumal mag der nachgeäffte Jupiter einen lichten Moment gehabt haben, denn der aufrichtige Provinzbewohner kam nicht nur mit dem Leben, sondern überhaupt ungestraft davon.

Soweit die Lückenhaftigkeit des uns zu Gebote stehenden Quellenmaterials es gestattet, mit einiger Sicherheit zu urtheilen, scheint nach der Rückkehr des Kaisers von seinen „Feldzügen“ der Wahnwitz desselben die letzte Kraft angespannt und ausgetobt zu haben. Caligula, nur auf die theuer erkaufte Zuverlässigkeit seiner aus „barbarischen“, d. h. gallischen, belgischen und germanischen Landsknechten bestehenden Leibgarde sich verlassend, machte jetzt den herkömmlichen Formen und Normen des römischen Staatswesens keinerlei Zubilligung mehr, sondern gab sich auch äußerlich als das, was er innerlich war, als vollendeter Sultan und Tyrann. Der Schrecken herrschte in Rom, und wie so ganz dieser Terrorismus dem Sinne des Kaisers entsprach, läßt sich daraus errathen, daß er häufig und gern die bekannte Phrase aus einer Tragödie des Attius im Munde führte: „Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten.“ Das Material zu unausgesetzten Hinrichtungen mußten ihm Komplotte liefern, wirkliche oder auch à la Bonapartismus gemachte. Delatoren und Denuncianten hatten einen größeren Stand als je. Der gesammte Senat kroch und wedelte hündisch vor dem Freigelassenen Protogenes, dem infamsten der Angeber. Die Mordsucht Caligula’s gefiel sich immer mehr in der Austiftelung von Grausamkeiten. Er pflegte den Abschlachtungen anzuwohnen und, so der Henker ein Opfer unter den Händen hatte, zu jenem zu sagen: „Triff ihn so, daß er das Sterben auch recht fühle (ita feri, ut se mori sentiat)!“ Jeder Schuljunge weiß dem Sueton nachzuerzählen, daß, als eines Tages im Cirkus ein Wettfahrer von einer andern Farbe als der kaiserlichen den Preis errungen hatte und die Zuschauermenge dem Sieger zuklatschte, der Kaiser wüthend aufgeschrieen habe: „Oh, ich wollte, das ganze römische Volk hätte nur einen Hals!“

Der gute Sueton, dessen starke Seite die Kritik bekanntlich nicht gewesen ist und der die gränzenloseste Leichtgläubigkeit mit seinem antiquarischen Wissen und Gewissen in Harmonie zu bringen verstand, weiß von allerhand Vorzeichen des bevorstehenden Untergangs Caligula’s zu berichten. Unter anderem, daß im Tempel zu Olympia das weltberühmte Zeusbild, welches auseinanderzunehmen und nach Rom zu schleppen der Kaiser-Narr befohlen hatte, plötzlich in ein schütterndes Gelächter ausgebrochen sei, so daß die Arbeiter entsetzt von dem wankenden Abbruchsgerüste wegflüchteten. Es bedurfte jedoch weder dieses noch eines anderen „Omens“, um erkennen zu lassen, daß es mit der Dauerhaftigkeit eines Kaisers wie Caligula übel bestellt sei und sein Ende schwerlich ein friedliches sein werde. Zumal mit dem wachsenden Steuerdruck die Popularität des Tyrannen sichtbarlich abgenommen hatte.

Indessen hätte Caligula bei der jämmerlichen Verknechtung von Senat und Volk wohl noch lange den Presser, Prasser und Wütherich spielen können, falls er es über sich gewinnen konnte, seinen Witz zu zügeln. Ja, es ist kennzeichnend für das damalige Rom, daß nicht die schandbare Mißregierung des Kaisers seinen Fall herbeiführte, sondern vielmehr die plumpe Spottsucht, welche er auch an den Herren seiner nächsten Umgebung auszulassen liebte, an Leuten, von welchen doch seine Sicherheit vorzugsweise abhing.

Da war ein Bataillonskommandant von der Garde (tribunus cohortis praetoriae), Cassius Chärea, welchen der Kaiser zur Zielscheibe seines Spottes gemacht hatte. Dieser schon in vorgerücktem Alter stehende Officier besaß ein mangelhaftes Sprachorgan, eine dünne Weiberstimme, welche beim Kommandiren leicht in widrige Fisteltöne umschlug. Caligula, welcher doch selber mehr kreischte und krächzte als sprach, ließ keine Gelegenheit vorübergehen, den Gardetribun darob zu verhöhnen. Selbst bei dienstlichen Vorkommnissen, wann der Kommandant die Tages- oder Nachtparole bei dem Kaiser holte, mußte er sich bitterkränkend-unsaubere Anspielungen gefallen lassen. Cassius Chärea war aber nicht der Mann, das zu verzeihen oder lange zu dulden. Er faßte den Entschluß, sich selbst von seinem Verspotter und Rom von seinem Tyrannen zu befreien. Zu diesem Zwecke Mitverschworene zu finden, konnte ihm nicht schwer fallen. Denn das Wüthen Caligula’s war zuletzt so launisch geworden, daß niemand mehr auch nur für eine Stunde seines Lebens versichert sein konnte. Hatte der verrückte Wütherich doch kürzlich den Lieblingsgenossen seiner Wüstlingschaft, den Komödianten Apelles, in einem Augenblick des Unbehagens umbringen lassen. Und hatte er nicht unlängst zu seiner Frau Cäsonia, während er ihren Hals betrachtete, gesagt: „So hübsch er ist, ein Wink von mir und er wird abgeschnitten“ –? Auch der Günstling des Tages, der Freigelassene Callistus, traute der kaiserlichen Gunst so wenig, daß er sich schon einmal in ein Komplott eingelassen hatte und jetzt den Eröffnungen Chärea’s williges Gehör schenkte. So that weiterhin Chärea’s Waffenkamerad, der Bataillonskommandant Cornelius Sabinus, und so thaten noch verschiedene Stabsofficiere und Hauptleute von der Garde. Es war die richtige Militärverschwörung. Auf die kürzeste Formel gebracht, war ihre Losung: Morden, um nicht gemordet zu werden.

Verschiedene Mordanschläge erwiesen sich als unausführbar. Aber zögern durfte man nicht länger. Denn schon ging ein Geraune vom Bestehen des Komplotts im Palast und in der Stadt um. Also sollte bei Gelegenheit der zum Gedächtniß des Augustus und der Livia Augusta eingesetzten sogenannten palatinischen Festspiele, für welche eigens ein Theater neben dem kaiserlichen Palatium erbaut worden war, der Schlag geführt werden.

Er wurde am 24. Januar des Jahres 41 geführt, dem fünften und letzten Festtag.

Der Kaiser saß in seiner Loge, von denselben Officieren und Kämmerlingen umgeben, die zu seinem Verderben verschworen waren. Er hatte am vorhergegangenen Abend bis tief in die Nacht hinein geschlemmt und litt daher an jenem Uebelbefinden, welches man die Reue des Magens nennt. Er war appetitlos und hatte, als es Mittag geworden, keine Lust, zum Prandium (Frühmahl) ins Palatium zu gehen. Auf Zureden der Hofleute that er es aber doch, erhob sich und verließ das Theater, welches mittels einer unterirdischen Galerie mit dem Palast in Verbindung stand. In dieser Galerie hielt gerade ein aus Asien verschriebener Chor vornehmer Jünglinge, welcher auf der Bühne mitwirken sollte, eine Gesangprobe ab. Caligula, dem sein Oheim Claudius und sein Schwager Vinicius, welche von dem Bevorstehenden keine Ahnung hatten, voranschritten, hielt inne und hörte dem Gesange zu, welcher eine auf seine liebwerthe Person komponirte Lobhudelhymne war. Er wollte dieselbe wiederholen lassen, als die verschworenen Officiere, welche derweil ihre Schwerter in den Scheiden gelockert hatten, sich an ihn herandrängten. Der Tribun Sabinus sprach den Kaiser an, damit derselbe geruhte, das Losungswort für den Tag auszugeben. „Jupiter,“ sagt Caligula. „Nimm das von seinem Zorn (accipe iratum)!“ schreit Chärea und durchhaut von hinten mit einem Schwertstreich dem Kaiser den Nacken. Der Getroffene macht eine halbe Wendung, da ruft Sabinus „Noch eins!“ und durchbohrt ihm die Brust. Caligula stürzt zu Boden und „Noch eins!“ schreien die übrigen Verschworenen und machen mit dreißig Hieben und Stößen ihrem zappelnden und wimmernden Opfer den Garaus.

So starb Gajus Cäsar Caligula, neunundzwanzigjährig, nachdem er 3 Jahre 10 Monate und 8 Tage lang geherrscht hatte. Auch er ging nicht allein zum Orkus hinab: seine Frau Milonia Cäsonia erstach ein Gardehauptmann, der armen kleinen Julia Drusilla zerschmetterte ein anderer den Kopf an einer Mauer.

So war denn auch hier die zaudernde Nemesis schließlich doch erschienen. Freilich, das ist eine recht altfränkische Anschauung, welche in der jetzt, namentlich in Deutschland, modischen „Geschichtewissenschaft“ keinen Kurs mehr hat. Was soll uns noch die „wissenschaftlich abgethane“ Vorstellung von Schuld und Sühne als von Motiven der Tragödie Weltgeschichte? Die Propheten neuester Sorte haben uns ja den Staar gestochen, haben uns belehrt, daß der Mensch keinen freien Willen, keine Wahl zwischen recht und schlecht, gut und bös, Tugend und Laster hätte und folglich auch keine Verantwortung seines Thuns und Lassens. Demzufolge sei die Weltgeschichte nichts anderes als eine mechanische [71] Aufeinanderfolge von naturnothwendigen Geschehnissen. Der Mensch könne weder etwas dazu noch etwas davonthun, und darum sei es einfach lächerlich, die Geschichte vom „sogenannten“ sittlichen Standpunkt zu betrachten, zu fassen, zu lehren und zu schreiben. Das sagen zwar die Herren nicht so gerade heraus, aber sie glauben und bethätigen es.

Nun, die Menschheit mag zusehen, wohin sie mit einer solchen „Geschichtewissenschaft“ kommen wird.


Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
1. Die Tundra und ihre Thierwelt.
(Schluß.)

Ein absonderlicher Gesell ist auch der Lemming, gleichviel, um welche Art seiner Sippschaft es sich handeln mag. Ihn oder wenigstens seine Spuren gewahrt man überall in der Tundra. Kreuz und quer durchziehen diese, zumal die von der Zwergbirke überwucherten Stellen, schmale, in das Moos eingetretene, glatt und sauber gehaltene Pfädchen, oft mehrere hundert Meter weit so ziemlich eine und dieselbe Richtung verfolgend, oft nach rechts und links abschweifend und erst nach vielen Umwegen wieder zur Hauptstraße zurückkehrend. In ihnen sieht man von Zeit zu Zeit, in trockenen Sommern massenhaft, ein kleines, kurzschwänziges, hamsterähnliches Thierchen behend dahinhuschen und meist bald dem Auge entschwinden. Dies ist der Lemming, eine Wühlmaus von weniger als Ratten- aber mehr als Mausgröße und bunt aber unregelmäßig gezeichnetem, meist braunem, gelbem, grauem und schwarzem Felle. Zergliedert man das Thierchen, so bemerkt man nicht ohne Verwunderung, daß es, so zu sagen, fast ganz aus Fett und Eingeweide besteht. Seine Knochen und seine Muskeln sind fein und zart, seine Eingeweide ungeheuerlich entwickelt. Aus diesem Befund erklären sich Lebenserscheinungen, welche lange Zeit für räthselhaft gegolten haben: fast plötzliche und gleichsam unbegrenzte Vermehrung und großartige, anscheinend geregelte Wanderungen des Thieres. Unter gewöhnlichen Verhältnissen führt der Lemming ein sehr behagliches Leben. Weder im Sommer noch im Winter leidet er an Nahrungssorgen. Allerlei Pflanzenstoffe, im Winter Moosspitzen, Flechten und Rinde, bilden seine Nahrung, Höhlungen im Sommer, ein warmes, dickwandiges, weich ausgefüttertes Nest mitten im Schnee im Winter seine Wohnung.

Der Lemming.

Zwar dräuen von allen Seiten Gefahren: denn nicht allein die behaarten und gefiederten Räuber, sondern sogar die Renthiere verschlingen Hunderte und Tausende seines Geschlechtes; dieses aber mehrt sich dem ungeachtet stetig und erheblich, bis besondere Umstände eintreten, welche binnen wenig Wochen entstandene Milliarden binnen wenig Tagen vernichten. Zeitiger als gewöhnlich erscheint ein Frühling, und trockener als üblich herrscht ein Sommer in der Tundra. Alle Jungen des ersten Wurfes eines, sämmtlicher Lemmingweibchen gedeihen, um höchstens sechs Wochen später selbst ihre Art zu vermehren. Die Eltern haben inzwischen ein zweites, drittes Geschlecht geboren, und auch dieses folgt ihrem Beispiele. Binnen drei Monaten wimmeln Höhen und Tiefen der Tundra ebenso von Lemmingen wie unter ähnlichen Umständen unsere Felder von Mäusen. Wohin man sich wendet, gewahrt man die geschäftigen Thiere; Dutzende von ihnen erfaßt man mit einem einzigen Blicke, Tausenden begegnet man im Laufe einer Stunde. Auf allen Pfädchen und Wegen rennen sie dahin; in die Enge getrieben, setzen sie sich, belfernd, die Zähne wetzend, selbst dem Menschen gegenüber zur Wehre, gerade, als ob ihre unendliche Anzahl jedem einzelnen trotzigen Uebermuth verliehen habe. Aber die unendliche, noch immer sich steigernde Menge wird ihnen zum Verderben. Ihrem gefräßigen Zahne bietet die arme Tundra bald nicht genügende Beschäftigung mehr. Hungersnoth nähert sich, tritt vielleicht wirklich ein. Da rotten sich die geängstigten Thiere und beginnen zu wandern. Zu Hunderten schaaren sich andere Hunderte, Tausenden gesellen sich andere Tausende: die Trupps wachsen zu Haufen, die Haufen zu Heeren an.

In bestimmter Richtung ziehen diese dahin, erst wohl ihren früher ausgetretenen Pfädchen folgend, später neue bahnend; in unabsehbaren, jeder Schätzung spottenden Reihen eilen sie weiter, über die Felsen stürzen sie sich hinab, in die Gewässer hinein, Tausende erliegen dem Mangel, dem Hunger; über ihre Leichen hinweg strömt das Heer der Nachzügler, Hunderte, Tausende ertrinken in den Gewässern, zerschellen am Fuße der Felsen, die übrigen stürmen über sie hinweg; andere Hunderte und Tausende finden in dem Magen der ihnen folgenden Eis- und Rothfüchse, Wölfe und Vielfraße, Rauchfußbussarde und Raben, Eulen und Raubmöven ihr Grab; die übrigen lassen sich nicht beirren. Wohin diese wandern, wie sie enden, vermag Niemand zu sagen; wohl aber weiß man, daß hinter ihnen die Tundra wie ausgestorben erscheint, daß oft eine Reihe von Jahren vergeht, bevor die wenigen, welche zurückblieben und auch fernerhin gediehen, langsam sich vermehrend, wiederum ersichtlich ihr heimathliches Gefilde bevölkern.

Ein drittes Charakterthier der Tundra ist das Ren. Wer diesen an und für sich unschönen Hirsch nur in gefangenem Zustande, dem der Sklaverei, zu sehen bekam, vermag sich allerdings keinen Begriff zu machen von dem, was er ist in seiner Freiheit. Hier lernt man es schätzen, hier in der Tundra, als ein Glied seiner Familie, welches diese nicht schändet, erkennen und würdigen. Der Tundra gehört das Ren an mit Leib und Seele, Ueber die oft unabsehbaren Gletscher wie über die schlotternde Decke der unergründlichen Moräste, über die Geröllhalden wie über die verfilzten Wipfel der Zwergbirken oder doch die Moospolster hinweg, über die Flüsse, die Seen trägt oder rudert es sein breithufiger, schaufelartiger, in ungewöhnlicher Weise beweglicher, bei jedem Schritte knisternder Fuß; im tiefsten Schnee schaufelt derselbe ihm Nahrung bloß. Gegen die grimmige Kälte der langen Nordlandnacht schützen es sein dichtes, den Pfeilen des Winters undurchdringliches Fell, gegen die Leiden des Hungers seine Wahllosigkeit hinsichtlich der Nahrung, welche es genießt, gegen den Wolf, welcher ununterbrochen an seinen Fersen hängt, bis zu einem gewissen Grade wenigstens Sinnesschärfe und Wachsamkeit, Schnelligkeit und Ausdauer. Den Sommer verlebt es in den [72] reinen Höhen der Hochtundra, da wo auf den Halden in unmittelbarer Nähe der Gletscher dem von der Renthierflechte oft auf weithin übersponnenen Boden auch saftige, leckere Alpenpflanzen entsprießen; im Winter zieht es in der Tieftundra von einem Hügelabzuge zum anderen, die vom Winde bloßgelegten, schneearmen Stellen aufsuchend. Kurz vorher hat es mit dem vereckten Geweih seine volle Kraft erlangt, ist im Vollgefühl derselben auf die Brunft getreten und hat mit gleichstarken und gleichgesinnten Nebenbuhlern gekämpft auf Tod und Leben, gekämpft, daß vom Schalle der gegen einander gestoßenen Geweihe die stille Tundra wiederhallte; jetzt zieht es, ermattet vom Kampf und Liebesrausch, mit anderen seiner Art friedlich gesellt und zu starken Rudeln vereinigt, durch sein Gebiet, um den Kampf mit dem Winter zu bestehen. Wohl steht das Ren an Schönheit und Adel weit hinter dem Hirsche zurück; wer es aber, unbedrängt durch Sklavenfesseln, in starken geschlossenen Rudeln, die Hochberge schmückend, vom blauen Himmel oder der weißen Schneedecke wirkungsvoll abstechend, in der heimathlichen Tundra sieht, bekennt gern, daß es ebenfalls zu den stolzen Wildarten zählt und ein Weidmannsherz schneller schlagen lassen kann, als dasselbe jemals vermuthen konnte.

Für die Tundra bezeichnende Erscheinungen bietet aber auch die Klasse der Vögel. Wer die nordische Wüste durchzogen hat, ist wenigstens einem von ihnen begegnet: dem Schneehuhn.

„Im Sommer bunt vom Kopf zur Zeh’,
Im Winter weißer als der Schnee.“

Es ist nicht das Schneehuhn unserer Hochgebirge, welches ich meine, sondern das neben ihm, dem auch hier auf den Gletschergürtel beschränkten Gebirgsvogel vorkommende, aber ungleich häufigere Moorhuhn. Wo die Zwergbirke gedeiht, ist es zu finden und immer, namentlich aber wenn die Nachtruhe eintritt in der Tundra, ob auch die Sonne vom Himmel strahle, läßt es sich sehen. Niemals verläßt es seine Heimath gänzlich, höchstens aus der Hochtundra, aber nur bis in die Tiefe hinab, drängt es der Winter. Munter und regsam, keck und selbstbewußt, eifersüchtig und streitlustig dem Nebenbuhler, zärtlich und hingebend der Gattin, den Kindern gegenüber tritt es auf. Sein Leben ähnelt dem unseres Rebhuhnes; sein Wesen und Gebahren übt jedoch ungleich höheren Reiz. Es verkörpert das Leben in der Oede. Sein herausfordernder Ruf durchhallt die stille Sommernacht, seine Ketten beleben die von fast allen übrigen Vögeln gemiedene winterliche Tundra, sein Erscheinen erfreut und entzückt den Forscher wie den Weidmann.

Während des Sommers gesellt sich ihm fast aller Orten der Goldregenpfeifer. Auch er muß als getreues Kind der Tundra bezeichnet werden. Wie der behende Läufer zur Wüste, wie das Flughuhn zur Steppe, das Steinhuhn zum Hochgebirge, die Lerche zum Getreidefelde, gehört er zur Tundra. Sein Kleid trägt, so bunt es auch erscheinen mag, der Tundra Farben; sein schwermüthiger Ruf ist der geeignetste Stimmlaut dieser Einöde. So gern man ihn bei uns zu Lande sieht, so wenig freundlich begrüßt man ihn in der Tundra. Sein Ruf, welchen man bei Tage wie bei Nacht vernimmt, stimmt traurig wie sie.

Weit lieber lauscht man den Stimmlauten eines anderen Sommergastes des Gebietes. Nicht die zarten Weisen des Blaukehlchens, welches gerade hier zu den häufigsten Brutvögeln zählt und mit Recht der „hundertzüngige Sänger“ genannt wird, nicht die schallenden Lieder der bis zur Tundra vordringenden Wachholderdrossel, nicht die kurzen Gesänge des Schnee- oder Sporenammers, nicht die gellenden Schreie des Wanderfalken oder Rauchfußbussards, nicht das jauchzende Bellen des Seeadlers oder das ähnliche Geschrei der Schneeeule, nicht der schmetternde Trompetenlaut des Singschwanes oder der klagende Hornton der Eisente sind es, welche ich meine, sondern der Paarungs- und Liebesruf des einen oder anderen Seetauchers: eine wilde, ungeregelte, und gleichsam zügellose, aber dennoch klang- und tonreiche, hallende und schallende Nordlandsmelodie, vergleichbar dem tönenden Brausen der Brandung, dem donnernden Rauschen der zur Tiefe stürzenden Wasserfälle. Wo immer ein fischreicher See sich breitet und in ihm ein heimliches Plätzchen im Riede, dicht genug, um ein schwimmendes Nest zu verstecken, gefunden werden mag, wird man ihnen begegnen, diesen Kindern der Tundra und des Meeres, diesen ernstfröhlichen Fischern der stillen Süßgewässer und furchtlosen Tauchern der Meere des Nordens. Von letzteren kamen sie herein in die Tundra, um zu brüten, und zu den Meeren führen sie ihre Jungen, sobald diese im Stande sind, das Meer zu beherrschen wie sie. So weit die Tundra sich erstreckt, folgen sie deren Gewässern; lieber noch aber als die weiten Binnenseen sind ihnen die kleinen Teiche auf den Küstenbergen der Tundra, von denen aus sie alltäglich unter wildjauchzendem Meeresgesange hinabstürzen können in die wogende, ihnen Nahrung spendende heimische See.

Dem Meere entstammen auch noch andere Charaktervögel der Tundra. Mit wahrem Wohlgefallen folgt das Auge allen Bewegungen der Schmarotzermöwe, mit Entzücken denen des Wassertreters. Beide brüten ebenfalls in der Tundra: die eine auf freien moosigen Mooren, der andere am Uferrande der heimlichsten zwischen der Wollweide verborgenen Teichen und Lachen. Wenn man andere Möwen als die „Raben des Meeres“ bezeichnen will, darf man die Schmarotzermöwen „Falken der See“ benennen. Mit Fug und Recht führen sie die Namen „Raub- und Schmarotzermöwen“; denn als tüchtige Räuber treten sie auf, wenn sie nicht schmarotzen können, und zu Schmarotzern werden sie, wenn eigene Jagd ihnen keine Beute bringt. Falkengleich durchfliegen sie im Sommer die Tundra, im Winter die Küstengebiete der nordischen Meere; rittelnd stellen sie sich über dem Boden wie über dem Wasser auf, um Beute aufzufinden, gewandt und zierlich stoßen sie herab, um sie aufzunehmen, und behend und sicher packen sie das ins Auge gefaßte Opfer: aber diese so tüchtigen Räuber nehmen keinen Anstand, unter Umständen frech zu betteln. Wehe der Möwe, dem Seevogel überhaupt, welcher angesichts einer Schmarotzermöwe Beute erhob! Pfeilschnell jagt diese unter bettelnden Rufen hinter dem glücklichen Räuber einher, wie spielend umgaukelt sie ihn von allen Seiten, listig vereitelt sie versuchte Flucht, muthig bekämpft sie jede Abwehr, und unermüdlich, unablässig quält und peinigt sie ihn, bis er die gewonnene Beute ihr zuwirft, sollte er eine solche auch wiederum aus seinem Schlunde hervorwürgen müssen. Ihr Wesen und Treiben, ihre Gewandtheit und Behendigkeit, Kühnheit und Dreistigkeit, unermüdliche Wachsamkeit und unabwendbare Zudringlichkeit fesseln ungemein; selbst ihre Bettelei will Entschuldigung finden: so anmuthend ist ihr Auftreten. Und doch ist der Wassertreter noch anziehender als sie. Er ist ein Strandvogel, welcher die Eigenschaften seiner Ordnung und die der Schwimmvögel in sich vereinigt und theils auf dem Lande, theils im Wasser, selbst im Meere lebt. Leicht und gefällig, an Zierlichkeit der Bewegung jeden anderen Schwimmvogel übertreffend, schwimmt er über die Wellen; eilfertig und hurtig läuft er längs des Ufers dahin; mit der Schnelligkeit einer Sumpfschnepfe streicht er im Zickzackfluge durch die Luft. Vertrauensvoll und harmlos läßt er sich in nächster Nähe beobachten; ängstlich besorgt um seine Brut, verräth er meist selbst sein Nest mit den vier birnförmigen Eiern, so sorgsam er dieses auch am Uferrande zu verstecken pflegt. Vielleicht darf man ihn die anmuthigste Erscheinung unter allen Vögeln der Tundra nennen.

Bezeichnend für die Tundra sind ferner die Raubvögel, bezeichnend mindestens die Art und Weise, wie sie hier leben. Denn nur am südlichsten Rande des Gebietes oder oben in der Hochtundra finden sie Bäume oder Felsen, auf denen sie ihren Horst errichten können, müssen sich daher wohl oder übel entschließen, auf dem Boden zu brüten. Zwischen dem rankenden Geäst der Zwergbirken steht der Horst der Sumpfeule, auf den Kronen selbst der des Rauchfußbussards; auf dem nackten Boden liegen die Eier der Schneeeule wie des Wanderfalken, nur daß letzterer so viel als möglich wenigstens den Rand einer Schlucht zum Nistplatze wählt, fast, als wolle er sich selbst täuschen, indem er vergeblich strebt, die ihm fehlende Höhe zu ersetzen. Daß ihm und ihnen allen die Unsicherheit des Horststandes wohl bewußt ist, beweisen sie durch ihr Gebahren angesichts eines der Brut nahenden Menschen. Von fern schon wird der Wanderer mit Mißtrauen beobachtet und mit lautem Geschrei begrüßt; je näher er kommt, desto mehr steigert sich die Angst der besorgten Eltern. Bisher kreisten sie in doppelter Schußweite über dem so selten sich zeigenden, gefährlichen Feinde; jetzt aber stoßen sie muthig auf ihn hernieder, fliegen so dicht an dem Haupte desselben vorüber, daß man das scharfe Sausen ihrer Schwingen deutlich vernimmt, zuweilen sogar fürchten muß, thatsächlich [73] angegriffen zu werden. Die Jungen aber, schon von Weitem als weiße Ballen ersichtlich, ducken sich ängstlich nieder und verharren bei Annäherung des, wenn nicht erkannten, so doch geahnten Feindes so regungslos in der gewählten oder sonstwie vielleicht durch Umfallen angenommenen Stellung, daß man sie zeichnen kann, ohne fürchten zu müssen, sie würden durch eine einzige Bewegung stören: – ein reizendes Bild!

Manche Thiere noch könnte ich aufzählen, erschienen sie mir nothwendig zur Kennzeichnung der Tundra. Bezeichnend für letztere ist aber vor Allem eines: die Mücke. Wer sie als das bedeutsamste aller Lebewesen der Tundra bezeichnet, dürfte kaum des Irrthums geziehen werden können. Sie ermöglicht nicht wenigen höheren Thieren, insbesondere Vögeln und Fischen, zu leben; sie zwingt andere, wie den Menschen, zeitweilig zu wandern; sie ist die alleinige Ursache, daß die Tundra im Sommer für gesittete Menschen unbewohnbar wird. Ihr Auftreten übersteigt alle Begriffe, ihre Macht besiegt Mensch und Thier; die durch sie verursachte Qual spottet jeder Beschreibung.

Es ist bekannt, daß die Eier aller Stechmücken in das Wasser gelegt werden, und daß die binnen wenigen Tagen jenen entkriechenden Larven bis zu ihrer Verwandlung im Wasser leben. Hieraus erklärt sich, daß die Tundra mehr als jedes andere Gebiet ihre Entwickelung, ihr massenhaftes Auftreten begünstigt. Sobald die wiederum aufsteigende Sonne Schnee, Eis und die oberste Kruste der Erde ab- und aufgethaut hat, regt sich das im Winter wohl gebundene, nicht aber vernichtete Leben der Mücken. Den im vereisten Schlamme bewahrten, nicht aber zerstörten Eiern entschlüpfen Larven; sie wandeln sich binnen wenigen Tagen zu Puppen, die Puppen zu geflügelten Kerfen, und Geschlechter folgen in kürzesten Fristen Geschlechtern. Noch vor der Hochsommerwende beginnt, und bis zur Mitte des August währt die Schwarmzeit der fürchterlichen Thiere. Während dieser ganzen Zeit sind sie zur Stelle, vorhanden in der Höhe wie in der Tiefe, auf den Bergen oder Hügeln wie in den Thälern, zwischen dem Zwergbirken- oder Wollweidengestrüpp wie an den Ufern der Flüsse oder Seen. Jeder Grasstengel, jeder Mooshalm, jeder Zweig, jeder Ast, jedes Blättchen entsendet zu jeder Tageszeit Hunderte, Tausende von ihnen. Die Stechmücken oder Musquitos der Gleicheländer, der Urwaldungen und Sümpfe Südamerikas, Mittelafrikas, Indiens, der Sunda-Inseln, gefürchtet von allen Reisenden, aber nicht schlimmer als unsere Thiere, schwärmen nur bei Nacht: die Mücken der Tundra fliegen zehn Wochen lang und sechs Wochen hindurch thatsächlich so gut als ununterbrochen. Sie bilden Schwärme, welche aussehen wie dichter schwärzlicher Rauch; sie hüllen jedes Geschöpf, welches sich in ihr Bereich wagt, in Nebel ein; sie erfüllen die Luft in solcher Menge, daß man kaum zu athmen wagt; sie vereiteln jede Anstrengung, sie zu vertreiben; sie wandeln den thatkräftigsten Mann zum willenlosen Schwächling, den Grimm desselben zur Furcht, den ihnen geltenden Fluch zur stöhnenden Klage.

Die Stechmücke und ihre Verwandlung.
Originalzeichnung von Emil Schmidt.
a Larve. b Puppen. c Ausschlüpfende Mücke. d Eierlegendes Weibchen. e Männchen.

Sobald man die Tundra betritt, tönt einem ihr Summen entgegen, vergleichbar bald dem Singen des Theekessels, bald wiederum dem Klingen eines schwingenden Metallstäbchens, und wenige Augenblicke später ist man umringt von Tausenden und Abertausenden. Ein von ihnen gebildeter oder aus ihnen bestehender Strahlenkranz umschwärmt Haupt und Schultern, Leib und Glieder, folgt, so schnell man sich auch bewege, und ist durch kein Mittel zu vertreiben. Bleibt man stehen, so verdichtet er sich; geht man fürder, so zieht er sich in die Länge; läuft man, so schnell man vermag, so dehnt er sich zu einer langen Schleppe aus, ohne jedoch zurückzubleiben. Weht ein mäßiger Wind entgegen, so beschleunigt er seinen Flug, um die Luftströmung zu überwinden; verstärkt sich der Wind, so strengen sich alle Glieder solches Schwarmes aufs äußerste an, um ihr Blutopfer ja nicht zu verlieren, und prallen dann wie prickelnde Hagelkörner an Haupt und Nacken. Ehe man noch ahnt, ist man bedeckt vom Wirbel bis zur Sohle, bedeckt mit Mücken. In dichtem Gedränge, graue Kleider schwärzend, dunkle in eigenartiger Weise fleckend, setzen sie sich fest, laufen langsam auf ihnen hin und wider und suchen nach einer nicht überwachten Stelle, um Blut zu saugen. Zu dem unbeschützten Gesichte, dem Halse und Nacken, den bloßen Händen oder nur überstrumpften Füßen sind sie lautlos gekrochen, ohne daß man es fühlte, und einen Augenblick später senken sie langsam ihren Stachel in die Tiefe der Haut und flößen den brennenden Gifttropfen in die Wunde. Ergrimmt schlägt man den Blutsauger zu Brei; aber während die strafende Hand sich bewegt, sitzen bereits drei, vier, zehn andere Mücken auf ihr, im Gesichte, im Nacken, an den Füßen, um ebenso zu thun, wie die erschlagenen thaten. Denn wenn einmal Blut geflossen, wenn auf einer und derselben Stelle bereits mehrere Mücken ihren Tod gefunden, suchen alle übrigen gerade diese Stelle mit Vorliebe auf, und ob das Blachfeld nach und nach mit Tausenden von Leichnamen sich decke. Besonders beliebte Angriffsstellen sind die Schläfen, die Stirn dicht unter dem Hutrande, der Nacken und die Handbeuge, überhaupt solche Stellen, auf denen sie gegen Abwehr möglichst geschützt sind.

Gewinnt man es über sich, sie bei ihrer Blutarbeit zu beobachten, also nicht zu vertreiben noch zu stören, so bemerkt man zunächst, daß man weder ihr Aufsitzen noch ihre Bewegungen zu fühlen vermag. Unmittelbar nachdem sie sich gesetzt haben, beginnen sie ihre Arbeit. Gemächlich laufen sie auf der Haut dahin, sorgfältig tasten sie mit ihrem Rüssel; plötzlich halten sie still, und mit überraschender Leichtigkeit durchbohren sie die Haut. Während sie saugen, heben sie wohlgefällig, förmlich wollüstig, ein oder das andere Hinterbein und bewegen es langsam hin und her, um so entschiedener, je mehr ihr glasheller Leib mit Blut sich füllt. Sobald sie einmal Blut gekostet haben, achten sie auf nichts weiter, scheinen es auch kaum zu empfinden, wenn man sie belästigt oder quält. Zieht man mit Hilfe einer kleinen Greifzange den Rüssel aus der Wunde, so tasten sie einen Augenblick lang und bohren ihn an der alten oder an einer zweiten Stelle wieder ein; schneidet man den Rüssel rasch mit einer scharfen Schere ab, so bleiben sie in der Regel auch jetzt noch sitzen, als ob sie sich besinnen müßten, lassen hierauf die vorderen Beine tastend über den Rüsselstummel gleiten und bedürfen längerer Untersuchungen, um sich zu vergewissern, daß das Glied nicht mehr vorhanden ist; schneidet man ihnen jählings ein Hinterbein ab, so saugen sie fort, als ob nichts geschehen wäre, bewegen auch noch den Stummel; trägt man ihnen den blutgefüllten Hinterleib zur Hälfte ab, so verfahren sie wie Münchhausen’s Pferd am Brunnen, ziehen endlich aber doch den Rüssel aus der Wunde, fliegen taumelnd davon und verenden binnen wenigen Minuten.

[74] Sorgfältige Beobachtung ihres Thuns und Treibens stellt als unzweifelhaft fest, daß sie beim Auffinden ihres Opfers weniger durch das Gesicht als durch den Geruch, richtiger vielleicht einen Sinn, welcher Geruch und Empfindung in sich vereinigt, geleitet und geführt werden. Mit Bestimmtheit kann man wahrnehmen, daß sie bei Annäherung eines Menschen bis auf fünf Meter von ihren Ruhesitzen sich erheben und sodann, ohne zu zaudern oder zu irren, auf das Blutopfer zufliegen. Geht man über eine kahle Sandbank, welche von ihnen frei zu sein pflegt, so kann man beobachten, wie sie sich um ihr Opfer sammeln.

Anscheinend halb vom Winde getragen, halb mit eigener Kraft sich bewegend, jedenfalls ziellos wandernd, schweben auch über solchem Gnadenorte beständig einige von ihnen dahin und einzelne gelangen so in die Nähe des Beobachters. In demselben Augenblicke endet ihre scheinbare Unthätigkeit. Jählings ändern sie die Richtung ihres Fluges, und gradenwegs fliegen sie auf den glücklich erkundeten Gegenstand ihres Sehnens zu. Eine gesellt sich zur andern, und ehe fünf Minuten vergehen, umgiebt wiederum ein Strahlenkranz den Märtyrer. Minder leicht finden sie sich in verschiedenen Luftschichten zurecht. Als ich, auf hoch gelegener Düne beobachtend, längere Zeit von Tausenden verfolgt und gequält worden war, zog ich den mich einhüllenden Schwarm allmählich bis zu dem Rande des steilen Abhanges der Düne, ließ ihn hier sich verdichten und sprang plötzlich in die Tiefe hinab. Mit innigster Befriedigung erfuhr ich, daß ich meine Quälgeister wenigstens zum größten Theile abgeschüttelt hatte. Oben auf der Höhe der Düne schwärmten sie, gleichsam verdutzt, durch einander, über der Stelle, von welcher ich herabgesprungen, noch längere Zeit eine dichte Wolke bildend. Einige hundert waren mir jedoch auch in die Tiefe gefolgt.

Wenn der Naturforscher auch weiß, daß nur die weiblichen Mücken Blut saugen und daß diese ihre Thätigkeit unzweifelhaft mit der Fortpflanzung zusammenhängt, wahrscheinlich die Reife der befruchteten Eier bedingt, überwältigt die durch die Dämonen der Tundra verursachte Qual schließlich doch auch ihn, und wäre er der gleichmüthigste Weltweise unter der Sonne. Es ist nicht der Schmerz, welchen die Stiche und mehr noch die ihnen folgenden Beulen mit sich bringen, sondern die fortwährende Belästigung, das ewig sich wiederholende Ungemach, wodurch und worunter man leidet. Man erträgt den Schmerz, welchen die Stiche der Mücken bereiten, vielleicht ohne zu klagen, selbst im Anfange der Plage, erträgt ihn noch leichter später, wenn die Haut gegen das ihr fort und fort eingeträufelte Gift allmählich abgestumpft wird; man ist daher auch im Stande, geraume Zeit Widerstand zu leisten: aber man muß zuletzt doch eingestehen, daß man besiegt und geschlagen wurde durch die entsetzlichen Quälgeister der Tundra. Und so lähmen ihre an Zahl unschätzbaren, allgegenwärtigen, jederzeit kampfbereiten Heere allgemach jeden Widerstand. Ununterbrochen durch sie belästigt, in jeder Handlung gehemmt, in jedem Genusse behindert, von jedem Gedanken abgelenkt, ermattet man nicht allein leiblich, sondern erschlafft endlich auch geistig. Der Fuß will dann nach kurzem Wege seinen Dienst versagen, der Geist keinen Eindruck in sich aufnehmen; die Tundra wird zur Hölle und ihre Plage zu namenloser Qual. Nicht der Winter und seine Stürme, nicht das Eis und seine Kälte, nicht die Armuth, nicht die Unwirthlichkeit, sondern die Mücken sind der Fluch der Tundra!

Während ihrer Schwarmzeit fliegen die Mücken fast ununterbrochen, bei Sonnenschein und ruhigem Wetter mit ersichtlichem Behagen, bei mäßigem Winde noch sehr vergnüglich, bei geringer Wärme noch recht munter, vor drohendem Regen am ausgelassensten, bei kühler Witterung kaum, bei kaltem Wetter gar nicht mehr. Auch heftiger Sturm bannt sie in Gebüsche und Moos; sobald er aber nachläßt, sind sie wiederum rege und thätig und auf allen unter dem Winde liegenden Stellen, selbst im Toben des Sturmes, angriffbereit. Eine Reifnacht fügt ihnen zwar merklichen Abbruch zu, räumt sie jedoch nicht aus dem Wege; naßkalte Tage vermindern ihre Heere, darauf folgende Wärme stellt neu entpuppte Scharen ins Feld. Erst die Herbstnebel bringen sie für das eine Jahr zur Ruhe.

Ebenso langsam, als der Frühling eingezogen, ebenso rasch kommt der Herbst über die Tundra. Eine einzige kalte Nacht endet, meist schon im August, spätestens im September, ihr sommerliches Leben. Die Beeren, welche noch in der Mitte des August kaum hoffen lassen, daß sie zur Reife gelangen werden, sind zu Ende des Monats so saftig und süß geworden, als dies überhaupt möglich; einige naßkalte Nächte, welche die Berge bereits, mit leichter Schneedecke belegen, beschleunigen ihre Reife mehr als die Sonne, welche schon jetzt tagelang in Wolken sich hüllt. Die Blätter der Zwergbirke färben ihre Oberseite blaß und dennoch leuchtend lackroth, ihre Unterseite lebhaft gelb; alle übrigen Sträucher und Sträuchlein erleiden eine ähnliche Verwandlung: und das düstere Braungrün der Tundra geht über in ein so lebhaftes Braunroth, daß selbst die gelbgrüne Renthierflechte nicht mehr zur Geltung kommt. Südwärts oder dem Meere zu fliegen die beschwingten Sommergäste, flußabwärts schwimmen die Fische der Tundra. Von den Bergen herab wandert das Ren, in seinem Gefolge der Wolf, zur Tiefe; zu den Bergen hinauf fliegt das jetzt zu Flügen von Tausenden gescharte Moorhuhn, um hier so lange zu weilen, bis der Winter es wieder in die Tieftundra hinabdrückt.

Noch wenige Tage, und dieser Winter, von uns wie von den Wandervögeln gefürchtet, von den menschlichen Bewohnern der Tundra herbeigesehnt, zieht ein in das unwirthliche Land, um länger, viel länger als Frühling, Sommer und Herbst im Verein in ihm seine Herrschaft zu behaupten. Tage- und wochenlang nach einander fällt Schnee vom Himmel hernieder, bald leise rieselnd, in scharfeckigen Krystallen, bald vom rasendsten Sturme gepeitscht in großen Flocken. Berge und Thäler, Flüsse und Seen verhüllen sich allmählich mit dem einen und einzigen Winterkleide. Noch blitzt dann und wann um die Mittagszeit ein kurzer Sonnenblick auf der schneeigen Fläche wieder; bald aber kündet selbst bei klarem Wetter höchstens ein bleicher Schein im Süden, daß diesem der sonnige Tag bereits zur Hälfte vergangen. Die lange Winternacht ist angebrochen. Monate nach einander flimmert nur der schwache Widerschein der Sterne auf der Schneedecke wieder, giebt einzig und allein der Mond noch Kunde von dem allbelebenden Gestirn unseres Weltenringes. Wenn aber die Sonne der Tundra gänzlich entschwunden, geht ihr leuchtend und strahlend eine andere auf: hoch oben im Norden flimmert und knistert „Sornidud“, das Gottesfeuer, das flammende Nordlicht!

Nordlicht in der Tundra.


[75]

Blätter und Blüthen.

Hans Joachim von Zieten. (Mit Portrait S. 57.) Keiner von den Feldherren, die in den wechselvollen Kämpfen des Siebenjährigen Krieges unter Friedrich dem Großen um die Siegespalme stritten, ist in so hohem Maße vom Volke gefeiert worden, wie der kühne Husarengeneral Hans Joachim von Zieten. Schon in den letzten Jahren seines Lebens zog sich um seine Person ein dichter Kreis charakteristischer Sagen zusammen, und eine für die damalige Zeit nicht unbedeutende Zieten-Litteratur war bereits vorhanden, als der Tapfere am 27. Januar 1786 seine Augen schloß. Die Berliner Zeitungen brachten ausführliche Nekrologe; Zieten-Portraits und Zieten-Biographien tauchten auf, und selbst eine kleine für die großen Massen bestimmte Broschüre von G. W. Burmann wurde zu dem billigen Preise von einem Groschen herausgegeben und fand ungeahnten Absatz. Außerdem liefen von Mund zu Mund zahllose Anekdoten über kühne, kriegerische Thaten des Heimgegangenen, sowie es schon damals Zieten-Lieder gab, deren Zahl im Laufe der Jahre durch neue Dichtungen vermehrt werden sollte.

Eigenhändiges Postskriptum Friedrich’s des Großen zu einem Schreiben an Zieten
vom 9. December 1757.
[WS 1]

Eine Verwandte Zieten’s, Frau von Blumenthal, sammelte später die Einzelheiten der mündlichen Ueberlieferung und gab im Jahre 1797 ihre bekannte Biographie Zieten’s heraus, die lange Zeit für das Zuverlässigste und Beste galt, was über den Lebensgang des gefeierten Helden geschrieben wurde. Dagegen befaßte sich die ernste Geschichtsforschung nur wenig mit diesem hervorragenden Feldherrn aus der ruhmvollen Zeit Friedrich’s des Großen und, von kleinen Versuchen abgesehen, sind gerade seit seinem Tode hundert Jahre vergangen, bis ein Werk erschienen ist, welches uns auf Grund sorgfältiger und mühevoller Quellenstudien ein geschichtlich wahres Lebens- und Charakterbild Zieten’s bietet.[1] Es ist der schönste Beitrag zu der bevorstehenden Säkularfeier, und um so leichter trennen wir uns, demselben folgend, von einigen noch so hübsch erdachten, aber unwahren Anekdoten, da im Lichte der strengen Forschung die Hauptzüge des „alten Husarengesichts“ um so schärfer hervortreten und uns aus ihm nach wie vor ein Vorbild deutscher Schneidigkeit und Kühnheit im Sturm und Angriff entgegenleuchtet.

Eigenhändiges Postskriptum Zieten’s zu seinem Berichte an den König vom 22. August 1758.[WS 2]

Friedrich der Große gab selbst die treffendste militärische Charakteristik Zieten’s, indem er die folgenden Worte niederschrieb: „Ich habe meinen wachsamen Zieten; er hat Kraft und Kühnheit; Erfolge würden nicht im Stande sein ihn übermüthig zu machen, Mißgeschick ihn nicht niederdrücken; er ist zufrieden, wenn er nur mit dem Feinde zum Schlagen kommen kann. Vor Allem aber hat er eine ganz singuläre Eigenschaft: wenn er das Terrain nicht gesehen hat, ist er nicht im Stande, eine einigermaßen ausreichende Disposition zu entwerfen; wenn er das Terrain aber gesehen hat, macht er ausgezeichnete Dispositionen und zwar mit einer Schnelligkeit, Genauigkeit und Richtigkeit, welche in Erstaunen setzt. Er braucht nur einen Augenblick, um zu sehen und sich zu entscheiden.“

In den letzten Worten des großen königlichen Feldherrn ist die Eigenschaft klar hervorgehoben, auf Grund welcher dem Helden der volksthümliche Beiname „Zieten aus dem Busch“ beigelegt wurde und welche ihn zu den Kämpfen an der Spitze der vorrückenden oder im Rücken der weichenden Armee so überaus geeignet erscheinen ließ:

„Der Zieten immer erster, wenn Preußen avancirt
Hingegen immer letzter, wenn Preußen retirirt.“

„Er hat Kraft und Kühnheit,“ schreibt der König, und diese zwei Tugenden eines echten Soldaten halfen Zieten jene verwegenen Streiche ausführen, welche den Feind überraschten oder täuschten, der eigenen Hauptarmee aber oft den bedeutendsten Nutzen brachten – jene Husarenstreiche, unter welchen der „Zieten-Ritt“ bei Jägerndorf wohl der berühmteste genannt werden kann. Im zweiten schlesischen Kriege mußte Zieten an den Markgrafen Karl den Befehl überbringen, daß derselbe am 22. Mai 1745 aufbrechen und am 24. im Lager von Frankenstein eintreffen sollte. Der zwölf Meilen weite Weg zu dem Lager des Markgrafen führte aber mitten durch feindliche Linien, durch ein Terrain, das nach der Angabe der Oesterreicher von 14000 Mann ihrer Truppen besetzt war. Und Zieten wagte mit einem aus nur 550 Mann bestehenden Trupp diesen Ritt, brach am 19. Mai von Gesäße auf und langte unter fortwährenden Gefechten am ändern Tage um 4 Uhr Nachmittags glücklich in dem Lager des Markgrafen in Jägerndorf an. – „Ich habe meinen wachsamen Zieten“ – Die Wachsamkeit im Vorpostendienst und eine seltene Kunst im Auskundschaften feindlicher Pläne gehörten ebenfalls zu den Hauptvorzügen Zieten’s. Er rechtfertigte hierin den schönen Ausspruch Friedrich’s: „Wenn große Kommandos von 2-, 3- oder 4000 Husaren aus der Armee geschickt werden, so muß ein General oder Oberst, der das Korps kommandirt, sein wie eine Spinne in der Spinnwebe, welche man nicht anrühren kann, ohne daß sie es nicht fühlt; ebenso darf auf ihn nichts Feindliches kommen, ohne daß er nicht lange vorher davon avertiret ist.“ – Zieten war in der That diese feinfühlende Spinne, die ihr Netz durch gute Kundschafter selbst tief in die feindlichen Linien hineinzuziehen wußte.

Trotz seiner hervorragenden Betheiligung an großen Schlachten und entschiedener Verdienste um große Siege der preußischen Armee, trotz seiner ausgezeichneten Haltung bei Prag und bei Kollin, bei Liegnitz und bei Torgau, war doch Zieten keineswegs ein Feldherr, der einen großen Feldzug strategisch zu leiten vermochte. Dies schmälert aber nicht im Geringsten seinen Ruhm, seinen ihm richtig zugetheilten Platz füllte er aus wie ein ganzer Mann, und seine Verdienste wußte am besten der damalige Lenker preußischer Geschicke, Friedrich der Große, zu würdigen. In Bild und Wort sind der Nachwelt die hohen Ehren erhalten, die er in Friedenszeiten [76] seinem greisen General erwies. Noch steht vor Augen Aller jenes erhebende Bild, da der König bei der letzten Revue, an welcher der 85jährige Zieten theilnahm, die Front des Zieten’schen Regimentes abritt „mit entblößtem Haupte, den Hut in der Hand, neben seinem General“. Und nicht minder unvergeßlich ist die andere durch die Meisterhand Chodowiecki’s uns erhaltene Scene, die sich bei der Parole im königlichen Schlosse am 25. December 1784 abspielte, wo der König einen Lehnstuhl herbeiholen ließ und vor Zieten stehen blieb mit den Worten. „Setze Er Sich nur, mein lieber alter Zieten, setz’ Er Sich, sonst geh’ ich weg; denn ich will ihm durchaus nicht zur Last fallen.“ Und wie herzgewinnend klingen die Worte des Königs, die er abwehrend gesprochen hatte, als Zieten an der königlichen Tafel eingeschlafen war und man ihn wecken wollte: „Laßt schlafen mir den Alten, er hat oft genug für uns gewacht.“ Freilich am späten Lebensabend wußte der König seinen pflichttreuen General nur an eine Pflicht zu erinnern: „Wenn man zu Eurem Alter gelangt ist,“ äußerte er, „hat man nur noch die Pflicht sich zu erhalten zum Beispiel der Nacheiferung und Ehrfurcht für die Armee.“

Früher, da beide noch im rüstigen Mannesalter standen, war er strenger, und Zieten mußte oft diese Strenge fühlen. Selbst den ungestüm vorwärts Dringenden trieb er in Feldzügen zu größerer Eile an. Ein Beispiel davon giebt das an dieser Stelle reproducirte eigenhändige Postskriptum Friedrich’s des Großen vom 9. December 1757, dessen Schluß auch in so fern interessant ist, als das Wort „Hesen“ („Hessen“ ein Provinzialismus für Hacken) von früheren Forschern „Hosen“ gelesen wurde, worüber ein kleiner gelehrter Streit entbrannte.

Durch das bekannte Gedicht, in welchem Zieten bei der Erklärung eines Schlachtplanes dem Könige sagt: „Der Klecks bin ich, die Punkte ringsherum die Feinde“ – ist im Volke vielfach die Meinung verbreitet worden, daß es um die Schreibkunst Zietens schlimm bestellt war. Das beifolgende Faksimile des Postskriptums zu dem Berichte, den Zieten wenige Tage vor der berühmten Schlacht bei Zorndorf an den König gerichtet hatte, zeigt uns, daß er nicht besser, aber auch nicht schlimmer mit der Feder umzugehen wußte, wie andere Säbelhelden seiner Zeit. Im Uebrigen zeichneten sich seine militärischen Relationen durch große Klarheit aus und wurden selbst in Friedenszeiten oft zu den besten gezählt.

Im Allgemeinen waren aber die Friedenszeiten nicht nach dem Geschmacke Zieten’s, der schon „zufrieden war, wenn er nur mit dem Feinde zum Schlagen kommen konnte“. Der Garnisonsdienst war die Veranlassung zu den Mißhelligkeiten, die ihm zeitweise die Ungnade seines Königs zugezogen hatten, und auch die Quelle jener Vorgänge, die im Anfang seine militärische Laufbahn ernstlich gefährdeten und zu seiner Entlassung und sogar Kassation führten.

Erst nachdem Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1730 die Potsdamer Husaren-Kompagnie gegründet hatte und der wieder zu Gnaden angenommene Lieutenant, der wegen seines kleinen Wuchses für eine andere Truppe nicht gern verwendet wurde, derselben zugetheilt worden war, begann sein Glücksstern zu steigen. Unter Prinz Eugen in der unthätig verlaufenden Rhein-Kampagne gegen die Franzosen hatte er sich die ersten Sporen verdient und hatte in kurzer Zeit so viel von den verbündeten österreichischen Husaren gelernt, daß der Schüler bald den Meister übertraf und Schlag auf Schlag der neuen preußischen Truppe unvergänglichen Lorbeer zu erringen wußte.

In Wustrau, wo er am 14. Mai 1699 das Licht der Welt erblickte, ruhen seine sterblichen Ueberreste; in dem Heimathsorte, in Rheinsberg und in der Hauptstadt Berlin wurden ihm von der dankbaren Nachwelt Denkmäler errichtet; aber länger als diese alle wird sein Andenken in den Herzen seines Volkes fortleben, das ihn in hundert Liedern als echten und rechten Husaren preist – als wahren Helden bewundert.


Der Schäfflertanz.[2] (Mit Illustration S. 68 und 69.) In einer Stadt, deren blühendste Industrie die Kunst der Bierbrauerei ist, muß begreiflicherweise das Gewerbe der Schäffler (Böttcher) eine hochwichtige Rolle spielen. Sind sie es doch, deren kunstfertige Hände aus harten Eichenbohlen die Fässer bauen, deren hohler Bauch das edle Naß zu bergen bestimmt ist. Die gute Stadt München hat denn auch von altersher ein berühmtes und wohlhabendes Schäfflergewerbe in ihren Mauern. So wichtig war dieses Gewerbe, daß heute noch eine eigene Schäfflerstraße besteht. Sie ist freilich längst nicht mehr die bevorzugte Heimathstätte der Schäffler, denn das Gewerbe, welches zum Lagern der Faßhölzer und wegen der Feuergefährlichkeit der Arbeit größerer Hofräume bedarf, hat sich mehr nach dem äußeren Umkreise der Stadt gezogen, und insbesondere haben die großen Brauereien alle ihre eigenen Schäfflerwerkstätten.

Ein gewisser Zug der Fröhlichkeit, ja des Uebermuthes muß den Schäfflern von jeher innegewohnt haben. Nach dem alten biblischen Worte, daß man dem Ochsen, der da drischet, das Maul nicht verbinden solle, konnte man es dem Schäffler nicht verargen, wenn er, der so fleißig Fässer baute, auch von ihrem Inhalt gerne trank und dadurch in frohe Stimmung gerieth. So muß es wohl stets gewesen sein, und dieser Frohmuth der Schäffler zeigte sich auch zu München im Jahre 1517. Damals hatte eine schwere Pest in der Stadt gewüthet; das Volk war durch den Tod, der in abschreckender Gestalt erbarmungslos durch die Häuser gegangen war, kleinmüthig und scheu geworden; Niemand wagte sich mehr vor die Thür, Handel und Gewerbe lagen danieder. Da suchte die Schäfflerzunft einen alten fröhlichen Handwerksbrauch wieder hervor, um durch ihn die geängstigten und freudlos gewordenen Münchener aus den Häusern zu locken und zutraulich zu stimmen. Aus ihrer Herberge zogen sie durch die Stadt, einen Wagen mit einem Fäßlein mit sich führend, Pfeifer und Trommler voraus, grün umwundene, mit bunten Bändern geschmückte Reifen tragend. Und nach dem Klange ihrer Musik führten sie einen Tanz auf, wobei sie aus den grünen Reifen kunstreich Gänge und Lauben schufen, um unter denselben durchzuschlüpfen. Während sie mit den Reifen einen Kreis um das Faß bildeten, stellte sich Einer aus ihnen auf das Faß, hing einen geschlossenen Faßreifen an den Finger, stellte ein Glas Wein in denselben und schwang ihn, ohne einen Tropfen zu verschütten, über den Kopf und unter den Beinen durch. Die übermüthigsten der Gesellen aber trieben sich als Spaßmacher umher, um durch ihre Späße die Zuschauer zu erheitern.

Was die frohen Gesellen planten, gelang ihnen. Aus den langverschlossenen Häusern lugten die Leute erst neugierig hervor, dann wagten sie sich auf die Straße, und zuletzt drängte sich Alt und Jung in wiedererwachter Lebensfreude um den lustigen Tanz. Seit jener Zeit schlief der Brauch nicht mehr ein. Es ward üblich, ihn alle sieben Jahre zu erneuern: bestimmte Formen bildeten sich für ihn aus.

Auch heuer wogte, wie vor sieben Jahren, am Tage der heiligen drei Könige der Schäfflertanz wieder durch die Straßen von München. Vor den Palästen der Prinzen wurde zuerst getanzt; dann folgten die höchsten Würdenträger des Staates und die angesehensten Bürger der Stadt. Nach jedem Tanze wurde das Hoch Derjenigen ausgebracht, denen die Huldigung galt. Die Tracht der tanzenden Schäffler ist die alte geblieben: rothe Jacken, kurze schwarze Sammtbeinkleider mit weißen Strümpfen und Schnallenschuhen, grüne Käppchen von charakteristischer Form mit Federschmuck. Die Tänzer sind durchgehends junge flotte Gesellen mit kecken Schnurrbärten, lachenden Augen und flinken Beinen und wie vor 370 Jahren durch die engen winkeligen Gassen Alt-Münchens, so scholl es auch diesmal wieder von Mund zu Mund, wenn der bunte Zug herannahte: „Die Schäffler kommen! Die Schäffler kommenn!“ M. Haushofer.     

  1. „Hans Joachim von Zieten. Eine Biographie.“ Von Dr. Georg Winter (Leipzig. Verlag von Duncker und Humblot, 1886). Dieses Werk ist mit einer Radirung von Hans Meyer nach dem Townley’schen Kupferstiche geschmückt, nach welcher der Holzschnitt unseres Portraits auf S. 57 ausgeführt wurde. Demselben Werke sind auch die beiden obenstehenden Faksimiles entnommen.
  2. Vergl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1879, S. 96.

Großstädte in Deutschland. Die letzte deutsche Volkszählung – am 1. December 1885 – läßt ein auffallendes Wachsthum unserer Großstädte erkennen. Am Schlusse des Jahres 1875 besaß Deutschland nur 12 Städte mit über einhunderttausend Einwohnern, fünf Jahre später deren bereits 14, gegenwärtig aber nicht weniger als 21. Nach der Höhe der Einwohnerzahl geordnet ergibt sich die nachstehende Reihenfolge: Berlin rund 1 316 400, Hamburg 312000, Breslau 298900, München 260000, Dresden 245500, Leipzig 170000, Köln 160900, Frankfurt a. M. 153800, Königsberg 150700, Hannover 138900, Stuttgart 125500, Bremen 123000, Nürnberg 116200, Düsseldorf 114500, Danzig 114200, Magdeburg 114000, Straßburg 112100, Chemnitz 110700, Elberfeld 106400, Altona 104500, Barmen 102900. –th.     


Die Gebrüder Adolf und Karl Müller, unsere langjährigen Mitarbeiter und Verfasser des klassischen Werkes „Thiere der Heimath“, wurden zu Ehrenmitgliedern der zoologischen Gesellschaft „Natura artis magistra“ zu Amsterdam ernannt. Die Anerkennung, welche den verdienstvollen Leistungen dieser unermüdlichen Forscher jetzt auch im Auslande zu Theil wird, können wir nur mit Freude begrüßen und theilen bei dieser Gelegenheit unsern Lesern mit, daß neue sehr interessante Beiträge dieser durch so viele Jahre der „Gartenlaube“ stets treu gebliebenen Mitarbeiter schon in den nächsten Nummern erscheinen werden.


Theaterbrände. Nach einer interessanten Statistik des Ingenieurs Franz Gilardone haben die Theaterbrände seit der traurigen Wiener Ringtheater-Katastrophe in Folge der umfassenderen Vorsichtsmaßregeln erheblich abgenommen. Im Jahre 1882 fielen dem verheerenden Elemente noch 25 Theater zum Opfer, 1883 deren 22, dagegen 1884 10 und 1885 nur 8, von welchen letzteren 3 auf England, 2 auf Nordamerika und je 1 auf Frankreich, Oesterreich und Belgien entfallen. –th.     


Dr. L. Ganghofer ersucht uns bekannt zu machen, daß er das Recht der Dramatisirung seiner in der „Gartenlaube“ erschienenen Novelle „Edelweißkönig“ sich vorbehalte und gegen jede widerrechtliche Bühnenbearbeitung derselben Verwahrung einlege.


Auflösung: „Der Sternschnuppenfall“ in Nr. 3: Ordnet man nach der Länge der einzelnen Sternschnuppen die Buchstaben, auf welche sie weisen, so erhält man das Wort: „Meteorsteine“.


Kleiner Briefkasten.

R. H. in B. Die von zahlreichen Blättern reproduzirte Nachricht, daß Verhandlungen wegen des Verkaufs der „Gartenlaube“ an ein Berliner Konsortium bestünden, beruht durchaus auf Erfindung.

W. in Schrimm. Auf Ihre Anfrage gibt uns Dr. Fr. Dornblüth folgende Antwort: „Die in meinem Artikel „Gefahren des Milchgenusses“ (Nr. 7, Jahrgang 1885) erwähnte Scherff’sche eingedickte Milch ist nach meiner Erfahrung in stets gleichmaßiger Güte zu beziehen von Herrn Drenckhahn in Stendorf bei Schönwalde in Holstein, Bahnstation Eutin. In neuerer Zeit wird ähnlich präservirte Milch noch an verschiedenen anderen Orten bereitet, deren Güte ich nicht bezweifeln will, über die mir aber keine eigenen Erfahrungen zu Gebote stehen.

Die ebendort genannten Becker’schen Patenttöpfe sind durch die Firma Kirschbaum und Siebrecht in Iserlohn zu beziehen. Bei dieser Gelegenheit will ich des nach dem gleichen Princip eingerichteten ‚Hygienischen Milchkochers‘ von Roeder (Karl Roeder jun. in Dresden, Striesener Straße 38) gedenken. Derselbe besteht aus zwei Töpfen, einem inneren zur Milch, einem äußeren zum Wasser, und einem Deckel, der das ganze schließt. In diesem kleinen Apparat kann man die Milch, so lange Wasser in dem äußeren Topfe ist, also etwa 1/2 Stunde lang, starkem Feuer aussetzen, ohne daß die Milch anbrennt oder überläuft. Die Milch siedet dabei ohne Wallen ab; eine kleine Dampfpfeife in dem Deckel zeigt das Sieden an, bleibt das Signal aus, so ist zu wenig Dampf vorhanden. Der Milchkocher ist in sieben Größen, von 1/2 bis 6 Liter Milch und 1/4 bis 13/4 Liter Wasser vorräthig. Die Anwendung ist sehr bequem und einfach, der Preis billig.“



Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge in Nr. 4/1886, hier nicht übertragen. ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Text des Facsimile: „Ein Tag Fatigue in dießen umbständen Mein lieber Zieten bringet uns in der Folge 100 Ruhtage nuhr imer dem feindt in die hesen geseßen.“
    F
  2. Text des Facsimile: „22ten August 1758.
    Wir sehen nun mehro vor Eur: Königl: Majestét Höchst Erfreuliche Nachrichten Endgegen. Der große Gott gebe seinen Seegen und erhalte uns Eur: Königl: Majestét gesund, Amen.
    HJ v Zieten“