Die Gartenlaube (1886)/Heft 3
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No. 3. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Was will das werden?
Während ich so in dem hochgegiebelten Israel’schen Hause aus- und einging – ein stets willkommener, durch Höflichkeiten und Zuvorkommenheiten von allen Gliedern der Familie ausgezeichneter und verwöhnter Gast – versank für mich mein dürftiges Elternhaus gleichsam in tiefen Schatten, wie der, welcher an jenem Maienmorgen über dem Hof lag, nur daß er den heranwachsenden Knaben nicht mehr wohlig berührte.
Den heranwachsenden Knaben! Denn, wie jetzt zum andren Male mein Elternhaus und seine Insassen in meiner Erinnerung auftauchen, müssen seit der Zeit, die ich vorhin zu schildern versuchte, Jahre vergangen sein – zwei oder drei oder vier — ich weiß es nicht, es kommt auch nichts darauf an. Sind es doch die, in welchen die junge Menschenseele nach dem ersten kecken Ausblick in die Welt, wie unbefriedigt von dem, was sie sah, sich wieder in sich zusammenschließt, zu sinnen, zu grübeln, zu erstaunen, zu erschrecken über die Wunder der Welt, welche, erst in dämmernden Umrissen, dann heller und heller, sich aus der Tiefe der Seele hebt. Wenigstens war es so bei mir. Das Draußen kann mich nicht gekümmert haben. Ich wüßte nicht zu sagen, wann und wie jener troglodytische Prachtbau meines Kaninchenheims aus der Ecke zwischen der Werkstatt und dem hölzernen Gartenstaket verschwunden ist, und wo die lieben Thierchen geblieben sind. Jedenfalls sind sie den Weg aller Kaninchen gegangen; und an der Stelle, wo der Prachtbau sich wölbte, ragt ein luftiges Vogelhaus, das aber auch bereits wieder halb zerfallen ist, und in welchem nacheinander (vielleicht auch nebeneinander) Strandläufer, Kampfhähne, Kanarienvögel, Stieglitze, Dompfaffen, ein junger Turmfalke und eine alte vermauserte Dohle gesessen haben. Letztere ein Geschenk des „Mallen Heinrich“, der sie wiederum von einem Schieferdecker geschenkt bekommen und mir triumphierend gebracht hat als einen Beweis, daß die bösen Teufel noch immer um den Nikolaiturm flögen und das Geheimniß besäßen, sich in krächzendes Federvieh zu verwandeln.
So ist auch von der stolzen Burg auf dem Wall nichts geblieben als eine kleine Erhöhung, die aber schon wieder Gras und Lattich überwuchern. Haben sie – wie ich Emil erzählt – die Piraten unter wildem Geschrei, das ich bis in meine Kammer gehört, in der Nacht erstiegen und dem Erdboden gleich gemacht; hat, was ich glaube, Bruder August
[42] sie zerstört, um mir einen Possen zu spielen — ich weiß es nicht und kümmere mich nicht darum.
Ich kümmere mich auch um viel größere Dinge nicht, zum Beispiel um den Krieg, der zwischen Preußen und Oesterreich entbrannt ist, und in welchen mein ältester Bruder Otto hat ziehen müssen — von Berlin aus, wo er — ein überlanger und überschlanker Jüngling — vorher bereits ein Jahr lang in der Garde gedient hatte. Ich vermisse ihn nicht. Er war zwar immer freundlich zu mir gewesen und hatte mich stets gegen August in Schutz genommen; aber die große Differenz des Alters hatte ein eigentliches Verhältniß nicht zwischen uns aufkommen lassen, um so weniger, als er, bei aller Herzensgüte, ein lässiger, schlaffer Mensch war, der an nichts ein wirkliches Interesse hatte, sondern nur so mit seinen wasserblauen Augen in den Tag hinein träumte. Man hätte ihn für den echten Sohn und das Abbild des Vaters halten können, und viele nahmen ihn dafür, — mit Unrecht, denn er war nur die Karikatur des einzigen Mannes. Dennoch bedauerte ich ihn aufrichtig, als ich vernahm, daß er bei Königgrätz durch die Brust geschossen sei, und nun in Berlin im Lazarett liege, von den Aerzten aufgegeben. Es wäre ihm besser gewesen, die Aerzte hätten Recht gehabt. Aber die Aerzte hatten einmal wieder nicht Recht, und er wurde aus dem Lazarett entlassen — als Vollinvalide, um uns vier Wochen — oder waren es Monate? — später mit der Nachricht zu überraschen, daß er die Tochter des Meisters, bei dem er in Dienst getreten war, geheirathet habe. Er wolle sich nun selbständig etabliren, eine Tischlerei errichten, vorausgesetzt, daß ihm der Vater dazu Geld schicke; denn das habe er nicht (wie sich der Vater wohl denken könne), — und seine Frau auch nicht; aber der gute Vater —
Jawohl, der gute Vater! Ich sehe ihn noch, wie er dastand in der Werkstatt, das rote Fez schief auf dem Kopf, mit der vierfingrigen Linken sich durch den grauen Bart streichend, während die herabgesunkene Rechte den Brief hielt, welchen er mir so weit vorgelesen, und ein melancholisches Lächeln um den Mund spielte.
„Da werde ich wohl noch etwas mehr arbeiten müssen,“ murmelte er, indem er wieder zu seinen Werkzeugen griff, an einem halbfertigen Sarge weiter zu schaffen.
„Noch mehr arbeiten?“
Ich stand noch in dem glücklichen Alter, wo man sich seine Gedanken über alles Mögliche macht, nur nicht darüber, woher das Geld kommt. Auf den Bäumen wächst es nicht, auf der Gasse findet man es auch nicht — das ist sicher; es kommt eben irgend wo her. Vielleicht stieg in diesem Augenblicke sogar die Vermuthung in mir auf, es möchte das Wort des Vaters vom Mehr-arbeiten-müssen mit der von Bruder Otto angeregten Geldfrage in Zusammenhang stehen, aber wie es geschehen möge, daß er, der bereits jetzt den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der Werkstatt sich mühte, noch mehr arbeiten könne, fragte ich mich nicht. Ich wußte nichts von Lampen, welche die Nacht hindurch brennen, und deren tödliches Licht über Stirnen flimmert, von denen kalter Schweiß rinnt, und in starren Augen wiederscheint, die von Fieber glänzen.
In dieser Zeit muß es auch gewesen sein, daß der zweitälteste Bruder August zum Soldaten ausgehoben wurde und, ich glaube, seiner krummen Beine wegen, zur Kavallerie in eine entfernte Garnison kam. Zwei Menschen kannte ich, denen mit seinem Fortgang ein Alp von der Seele wich, das waren der „Malle Heinrich“ und ich. Seit jenem Abend vor der Hausthür, als er den armen Blödsinnigen von der Bank auf das Straßenpflaster warf, hatte er denselben, so oft er ihm begegnete, verhöhnt und insultirt. Und leider begegneten sie sich nur zu oft, da beide sich des Abends regelmäßig auf den Straßen umhertrieben — der „Malle Heinrich“, um in seinen himmlischen Phantasien zu schwelgen, der „tolle August“ (wie er jetzt von allen, die ihn kannten, genannt wurde), um mit harmlosen Vorübergehenden Händel anzufangen, die nicht selten einen blutigen Ausgang nahmen, und sonst in allerhand wilden Streichen seine Kraft und seinen Uebermuth auszutoben. An mir hatte er sich seit jener Nacht nicht wieder thätlich vergriffen, aber er blieb mir feindlich gesinnt und gab dieser Gesinnung jeden sonst nur möglichen Ausdruck, trotzdem ich es um ihn in keiner Weise verdiente. Ich hatte ihm jene Unbill, die er mir angethan, nicht nur nicht nachgetragen, sondern mich ihm, liebebedürftig wie ich war, in Liebe wieder zu nähern gesucht. Denn ich hatte einen gewaltigen Respekt vor seiner Kraft und Kühnheit, und bei nicht ungroßmüthigen, phantasievollen Knaben grenzen ein solcher Respekt und Liebe dicht aneinander. Das Gemüth des „tollen August“ war dadurch nicht gerührt worden. Er neidete mir die Liebe des Vaters, trotzdem er für sein Theil nach derselben nicht das mindeste Verlangen trug; schnödelte über meine Mutter; verhöhnte mich „das Muttersöhnchen, das Milchgesicht, den Zuckerprinz, den Bruder Joseph, dem er den tiefsten Brunnen graben möchte, um ihn da hinabzuwerfen und — nicht wieder herauszuholen, darauf könne ich mich verlassen“. Und als er fort mußte, und ich ihm zum Abschied treuherzig einen Kuß geben wollte, hatte er mich hohnlachend von sich gestoßen: „er danke schön für den Judaskuß von so einem bleichsüchtigen, glattzüngigen, verdammten Aristokraten.“
Mir traten die Thränen in die Augen, indem ich scheu zurückwich, weniger vor seiner Wuth, als weil ich mich in die Seele des wilden Gesellen hinein schämte. Und dann hatte ich das letztere Wort noch nie gehört und hielt es in meiner Unschuld für ein neues, besonders schlechtes, gemeines Schimpfwort, mit dem er mich zu guterletzt so recht habe kränken wollen. Ich hatte nicht weit vom Ziel geschossen: auch für ihn war das Wort neu und es war in seinem Sinn das ärgste, was er einem verhaßten Menschen ins Gesicht schleudern konnte.
Das kleine Haus wird stiller: auch die Großmutter in der Vorderstube ist tot. Sie war mein Schrecken gewesen, solange ich denken konnte; und es mochte wohl auch nicht leicht etwas Schrecklicheres geben als die lange, hagere, altergekrümmte Gestalt mit den starren verglasten Augen und den von körperlichem Schmerz und Seelenangst gräßlich verzerrten Zügen, wie sie von Zeit zu Zeit die Vorderstube, in der sie sich sonst eingeschlossen hielt, verließ, um einen schauerlichen Rundgang durch Haus und Hof zu halten, immerfort unverständliche Flüche und Schimpfworte vor sich hinmurmelnd, jedem, der ihr begegnete, die Faust vor dem Gesicht schüttelnd, worauf sie dann wieder auf lange Zeit in ihrem Verließ verschwand. Und dies Grauengespenst, von dem, Gott sei Dank! kein Tropfen Blut in meinen Adern floß, hatte der arme Vater zwanzig Jahre lang in seinem Hause gehabt, ohne daß vorher oder nachher jemals das leiseste Wort des Unmuths, der Ungeduld über seine Lippen gekommen wäre! Und der Sarg, den er ihr dann baute, war um nichts geringer, als der reicher Leute. Im Gegentheil, eher noch kunstvoller und mit ganz besonders glänzender gelber Farbe angestrichen und extra blank lackiert. Und Nachbar Hopp mußte seinen vornehmsten Leichenwagen aus der Remise ziehen, obgleich er dazu etwas von „alter Hexe“ in sein Doppelkinn brummte, und Karl Brinkmann, der dabei stand, ein übriges von des „Teufels Großmutter“ in seine Bartstoppeln murmelte, als ich hinüber gegangen war, die Bestellung auszurichten. Der Vater aber, als ob er wüßte, was ich darüber zu hören bekommen, sagte, als ich zurückkam:
„Wir dürfen ihr nicht noch über den Tod hinaus bös sein. Sie ist sehr unglücklich gewesen, denn sie konnte keinen Menschen lieben. Das ist schon die Hölle auf Erden.“
So ist es denn ganz still geworden in dem kleinen Hause. Wenn ich in meinem Kämmerchen, dessen Fenster nach dem Hof hinausgeht, über meinen Schularbeiten sitze, höre ich Zug um Zug des Vaters Säge und jeden Strich seines Hobels. Auf dem Wall drüben, der mir die weitere Aussicht versperrt, nicken die langen Grashalme und wiegen sich die Zweige der Haseln und Erlen. Weht der Wind von Osten, vernehme ich das dumpfe Rauschen des Wassers, das bis an die Futtermauer gestiegen ist. Manchmal kommt auch wohl eine Krähe geflogen, setzt sich auf einen der schwanken Wipfel, läßt ein ärgerlich heiseres Krächzen erschallen, als könne sie dem Orte heute, wo der Strand überfluthet ist, keinen Geschmack abgewinnen, und schwingt jählings davon. Dafür hebt sich über den Wall eine Möwe unregelmäßigen Fluges, wie vom Winde auf- und niederwärts geschaukelt, den spitzen Schnabel nach unten gekehrt, der Beute lauernd, auf die sie herabstößt, plötzlich hinter dem Rand des Walles verschwindend, wie ein Stein, der fällt.
Es ist sehr still in dem kleinen Hause. Ich höre jetzt nichts als das Kritzeln meiner Feder, die in fliegender Eile auf dem Papier weiter hastet an meinem Aufsatz über „Die Freuden der Jugend“, und den gleichmäßigen Zug von des Vaters Hobel an irgend einem Brett zu einem Sarge. Ich bin an einen schwierigen Punkt gerathen und lege sinnend die Feder hin; der Vater mag [43] auf eine schlechte Stelle im Brett gestoßen sein, die er jetzt prüfend betrachtet, während der Hobel ruht.
Es ist lautlos still in dem kleinen Hause.
Und in der lautlosen Stille hebt ein Singen an, leise und süß wie Aeolsharfenklang, und ach! so klagend, so schmerzlich klagend! so sehnsuchtsvoll, so voll schmerzlicher Sehnsucht!
Ich lausche dem süßen leisen Gesang, der die Stille nur noch stiller zu machen scheint.
Und wie ich so lausche, quillt es auch in meinem jungen Busen auf von Klage und Sehnsucht — Klage um mich, der ich hier einsam sitze; Sehnsucht nach ihr, die einsam sein will, nichts von der Liebe ihres Kindes wissen will, das doch sie so grenzenlos liebt!
Meine starren Augen werden feucht. Ich drücke das Gesicht in die Hände und weine heiße Thränen auf den Aufsatz über „Die Freuden der Jugend.“
Nicht Zufall ist es, wenn ich in diesen Aufzeichnungen jetzt erst ausführlich auf sie zu sprechen komme, der in der Herzensgeschichte eines jeden gutgearteten Menschen der erste Platz gebührt. Ich bin um dies Kapitel herumgeschlichen, wie ich oft um ihr Zimmer schlich; und habe jetzt wieder gezögert, die Feder dazu anzusetzen, wie ich immer erst mein Herzklopfen überwinden mußte, bevor ich zögernden Fingers an ihre Thür pochte. O dreimal glückselig ihr, die ihr eine Mutter habt, die euch liebt, und wenn sie bös auf euch ist und euch schilt (wie ihr es gewiß verdient), euch erst recht liebt! Und habt ihr sie nicht mehr, die hehre Göttin eurer Kinderzeit, die liebereiche, helfende, rettende, tröstende, beste Freundin eurer spätern Jahre — glückselig auch dann, die ihr das Höchste doch einmal besaßt und nun zu ihm aufschaut als zu dem strahlenden Leitstern für den Rest eures Lebens!
Meine Mutter, ach! sie hat mich nie gescholten, aber sie hat mich auch nie geküßt. Ihr wißt ja nicht, was Furchtbares in dem Worte liegt für ihn, der es von sich sagen muß. Das heißt, eine Pflanze sein, die nie ein Sonnenstrahl traf; das heißt, als ein Krüppel geboren sein; das heißt, kein glückliches Kind gewesen sein, kein fröhlicher Knabe; das heißt, die Anwartschaft erhalten haben auf ein Leben jenseit der Schranken, innerhalb deren es sich gut wohnen und friedliche Hütten bauen läßt!
Betrat ich dann aber auf ihr leises Herein! das Zimmer, so sah sie mich, von ihrer Stickerei oder ihrem Buche aufblickend, an, nicht eigentlich unwillig, aber gewiß auch nicht gütig, sondern mit jener fürchterlichen höflichen Gleichgültigkeit, die dem, welcher liebevoll und nach Liebe sich sehnend herantritt, das Herz zuschnürt, auf ihn fällt, wie Mehlthau auf eine junge Pflanze. Auch hatte ich längst die traurige Klugheit gelernt, mir die Beschämung, abgewiesen zu sein, dadurch vor mir selbst zu verschleiern, daß ich nie kam außer mit einem bestimmten Auftrage, etwa vom Vater, oder unter einem Vorwande, den ich mir vorher sorgfältig ausgedacht und einstudirt hatte, um ihn möglichst unbefangen vorbringen zu können. Hatte ich dann mein Gewerbe ausgerichtet, nickte sie mir zu — wiederum mit jener grausam gleichgültigen Höflichkeit — und warf ich noch einen scheuen Blick zurück, bevor ich die Thür schloß, sah ich sie bereits wieder über ihre Stickerei oder ihr Buch gebeugt. Selten, sehr selten, daß sie dann noch einmal die Augen hob und mit ihrer leisen Stimme fragte: „Möchtest Du noch etwas, Lothar?“ und ich mit einem gestammelten: „Nein, Mama! Doch nicht, Mama!“ mich eilig hinausdrückte.
„Nein Mama! Doch nicht, Mama!“ — Großer Gott, ich wußte ja, daß sie das, wonach meine Seele schrie, nicht gewähren konnte oder wollte!
Warum nicht?
Ich zermarterte mein Gehirn nach diesem fürchterlichen Warum. Ich flehte Gott an in heißen Gebeten, er möge mir es offenbaren. Aber mein Gehirn fand keine Antwort und mein Flehen keine Erhörung. Oder das, was mir auf Stunden und Tage eine Antwort, eine Lösung des Räthsels schien, mußte ich doch bald wieder kopfschüttelnd als unzutreffend oder unzugänglich aufgeben und fahren lassen. Ich hatte mir dann vielleicht einreden wollen, ich sei ein böser wilder Knabe, an dem eine Mutter kein Wohlgefallen haben könne. Aber die Hopp’schen Rangen waren noch viel böser und wilder, und wurden doch von ihrer Mutter gescholten und geküßt nach Herzenslust. Oder vielleicht war ich häßlich, und häßliche Kinder wurden von ihren Müttern nicht geküßt; zum Beispiel Emil: ich hatte nie gesehen, daß er von seiner Mutter geküßt wurde. Das hielt, soviel ich mich erinnere, eine geraume Zeit vor. Dann fragte ich einmal Emil, während mir die Wangen brannten und die Kehle mir wie zugeschnürt war — so ganz aus dem Stegreif: ob ihn seine Mutter manchmal küsse? und der gute Emil erwiderte unbefangen: ja, oft! So war es auch damit nichts: ich mochte nicht schön sein; aber so häßlich wie Emil war ich sicher nicht.
Freilich, wie konnte es mir auch beikommen, meine Mutter und ihr Thun und Lassen nach anderen Müttern und ihrem Thun und Lassen beurtheilen zu wollen? Ist doch, oder sollte doch jedem Kinde seine Mutter eine Gottheit sein, die keine anderen Gottheiten neben sich hat; und meine Mutter war ein so besonderes Wesen, daß sie mir nichts ihr Aehnliches, geschweige denn ihresgleichen zu haben schien. Alle Göttinnen des griechischen Olymp, dessen Glanz jetzt zum erstenmale die verwunderten Knabenaugen traf — mochte es nun die stolze Hexe sein, oder die strenge Pallas, oder die holdlächelnde Kypris — sie erschienen mir wohl in besonderen Gewanden und mit verschiedenem Ausdruck, aber im Grunde waren es doch nur ein wenig veränderte Abbilder meiner Mutter. Und hörte oder las ich in der Geschichte von einer hohen Frau, welche die Herzen der Männer entflammt und ihren Muth zu kühnen Thaten begeistert — so war es wiederum meine Mutter. Und die Dichter mochten ihre Herzensköniginnen mit braunen oder blonden Locken schmücken, aus dunkeln oder blauen Augen schmachten lassen — es war und blieb immer meine Mutter.
Wie wäre es auch anders möglich gewesen! hatte ich doch in Wirklichkeit keine schönere Frau gesehen; und wenn das für meine kleine Welt von damals nicht viel bedeuten will — die große Welt, so weit ich sie kennen lernte, — hat mir eine schönere nicht gezeigt.
Keine wenigstens, deren Züge von Liebreiz so — darf ich sagen: durchsüßt gewesen wären? — es klingt läppisch — ich fühle es wohl — und doch weiß ich kein anderes Wort, den Zauber wiederzugeben, der von diesem Antlitz ausging. Es hätte, trotzdem sich in dem dunkeln Haar schon einzelne silberne Fäden zeigten, das eines bildschönen Mädchens sein können, welches eben zur Jungfrau heranreift, und deren Herzensreinheit noch von keinem leisesten Anhauch dieser Welt getrübt ist, — wären die Augen nicht gewesen. Sie und sie allein schienen gelebt und — erlebt zu haben; sie und sie allein schienen zu wissen, daß es eine böse Welt gibt, auf die man nur mit trüber Gleichgültigkeit oder bitterer Verachtung blicken soll. Und eine andere Welt, zu der man aufschauen darf in flammender Begeisterung, in gluthvoller Liebe, in brünstiger Sehnsucht. Ich hatte wenigstens den Abglanz dieser Gluth gesehen, ein- oder zweimal, als ich trotz meiner gewöhnlichen Vorsicht allzuschnell in ihr Zimmer trat, und sie, von dem Betschemel, auf welchem sie gekniet hatte, sich erhebend, mir gegenüber stand mit jenen Augen, vor welchen eben die Glorie der Himmel aufgethan gewesen war und über die nun rasch der dichte Schleier fiel, den Kindesliebe nicht zu lüften vermochte.
Ich wußte jetzt, daß meine Mutter Katholikin war. Es gab sehr wenige Katholiken in unserer streng protestantischen Stadt, so wenige, daß sie kein eigenes Gotteshaus hatten, sondern sich mit einem kleinen Betsaal, der möglichst zu einer Kapelle umgeschaffen war, begnügen mußten.
Den Gottesdienst und die Seelsorge in der kleinen Gemeinde leitete ein Geistlicher, den innerer Drang oder oberer Befehl muthig oder doch standhaft auf diesem verlorenen Posten ausharren ließ. Er war selbstverständlich auch der Beichtiger meiner Mutter und kam, deucht mir, jetzt öfter als sonst zu ihr, immer in der Abenddämmerung, wo er dann, dunkel und lautlos, wie der Schatten der Nacht, durch das stille Haus die schmale steile Treppe hinaufhuschte. Doch war ich ihm auch ein und das andere Mal draußen begegnet und hatte mit scheuen Augen auf ihn geblickt: ein bereits älterer Mann, – so erschien er mir, obgleich er noch in den Dreißigern stand, — der den langen dürren Leib bis an den mit einem schmalen weißen Streifen umgebenen Hals in den schwarzen Rock geknöpft hatte, unter welchem eben nur ein wenig von den schwarzwollenen Strümpfen und den [44] plumpen Schnallenschuhen hervorsah. Er hatte ein scharf geschnittenes bartloses Gesicht, das ganz blutleer zu sein schien, und trug den aristokratisch feinen kleinen Kopf immer tief gebeugt. Auch war er von Adel: ein Herr von Ruver, aus einem alten niederrheinischen Geschlecht. Ich hatte eine große Scheu vor ihm, trotzdem er bei unseren flüchtigen Begegnungen immer sehr freundlich zu mir war, gelegentlich mir auch die schlanke, wohlgepflegte Hand reichte und ein paar Worte an mich richtete. Ich sollte später erfahren, daß es nicht an ihm gelegen hat, wenn ich nicht zu seiner Herde gekommen bin – meine Mutter wollte es nicht. Hätte sie doch fürchten müssen, mir im Himmel wieder zu begegnen und an die leidige Erde und den Erdenrest, den von sich abzustreifen ihr einziges Verlangen war, schmerzlich wieder gemahnt zu werden! Guter Gott, ich wollte ihr ja nicht im Wege stehen, weder hüben noch drüben; ich, der ich beglückt gewesen wäre, hätte sie mich nur still neben sich geduldet, mich satt zu schwelgen an ihrer Holdseligkeit; und der seine Anwartschaft auf den Himmel und seiner Seelen Seligkeit mit Freuden hingegeben haben würde für einen Kuß von ihrem geliebten Munde!
Nun freilich, da mir das brennende Verlangen ewig unbefriedigt blieb, erfaßte mich allmählich ein immer tieferes Grauen vor der katholischen Religion, in welcher ich die Ursache meines Leides zu erkennen glaubte. Vielleicht verbot sie den Müttern, ihre Kinder zu lieben und zu küssen, wie es andere Mütter dürfen: protestantische und jüdische, und heidnische in den Kauf, denn aus dem Alterthum wurde doch von so mancher heroischen Liebe berichtet, die zwischen Mutter und Sohn gewaltet. Nicht zwischen erdgebornen Menschen nur! Hatte doch selbst Thetis, die göttliche, sich ihres unglücklichen Sohnes erbarmt! Ach, noch fühle ich die brennenden Thränen, die ich vergoß, als ich zum erstenmale las, wie sie, eilenden Schwungs der finsteren Fluth entsteigend, sich zu dem Thränenbenetzten setzt und, ihn sanft mit der Hand streichelnd, die tröstenden mitleidigen Worte spricht:„Kind, was weinest du doch? Was rühret dein Herz mit Betrübniß?“
Wie viel heiße Thränen hatte ich nicht schon vergossen in der Stille meines Kämmerleins, und die Thür hatte sich nicht aufgethan, und sie war nicht hereingeglitten, hatte sich nicht auf den Bettrand gesetzt und mitleidsvoll gefragt:
Kind, was weinest du doch?
Ja, die Religion verbot es ihr, die katholische, grausame, welche die Ketzer zu Tausenden verbrannt hatte und schöne Jungfrauen als Nonnen in ein dumpfiges Kloster sperrte, und wenn die Unseligen sich wieder hinaussehnten in die Sonne zu den Menschen, lebendig einmauerte.
War meine Mutter eine Nonne?
Ich wußte, daß sie ihre Nachtwachen und ihre Fasten mit grausamer Strenge hielt; daß sie nur geistliche Bücher las, nur geistliche Lieder sang; daß selbst die Teppiche und Tücher, an denen sie in den freien Stunden stickte, für Kirchen und Kapellen bestimmt waren. Aber Nonnen lebten doch nur in einem Kloster, und gesetzt auch, sie durfte draußen leben, weil wir in unserer Stadt und in unserer Provinz, soviel ich wußte, vielleicht im ganzen preußischen Lande (was ich nicht wußte) keines hatten — Nonnen durften doch nicht verheirathet sein, was doch die Mutter war! und durften gewiß keine Kinder haben, und ich war doch ihr Kind! Und wenn ich nicht das Kind des alten guten Mannes da hinten in der Werkstatt, wenn er nur mein Stiefvater, wie er an jenem Morgen zu dem Major gesagt hatte, — einen wirklichen Vater mußte doch jeder Mensch haben — soviel wußte ich nun mittlerweile auch — wer aber war dann mein Vater gewesen?
Hier hätte ja nun scheinbar nichts näher gelegen, als daß ich mich mit dieser Frage vertrauensvoll an meinen Stiefvater gewandt hätte; in Wirklichkeit lag nichts ferner — wenigstens für mich. Es war mir einfach unmöglich. Er hätte es wahrlich nicht um mich verdient. Er, der mich, solange ich denken konnte, mit der rührendsten Sorgfalt gehegt und gepflegt — noch in meiner letzten schweren Krankheit, — der nie, nie einen unfreundlichen Blick, ein rauhes Wort, immer nur Liebe und Güte und herzlichen Zuspruch für mich gehabt hatte; ja, dessen Liebe zu mir auf Kosten der Liebe zu seinen beiden rechten Kindern von Jahr zu Jahr gewachsen war — ihn hätte ich fragen sollen: wer war der Mann meines Traumes mit den blitzenden Augen, vor dem meine Mutter und ich auf den Knieen gelegen in jener Nacht, in die er uns hinaustrieb aus dem goldschimmernden Raum mit den geheimnißvollen Gesichtern und Gestalten unter die flimmernden Sterne, die plötzlich vor dem klappernden Berge in dem Fürchterlichen erloschen, das ganz schwarz war und sauste und brauste?
Ich hätte ebenso wohl ein kleines Kind mißhandeln, ein hilfloses Thier quälen können, als ihn mit der Frage angehen, wenn ich ihn, der emsig weiter schaffte, auf meinem alten Kinderplatze in der Werkstatt sitzend, still beobachtete, oder er mir jetzt, für einen Moment rastend, mit dem schwermüthigen Lächeln um den guten Mund und in den treuen blauen Augen freundlich zunickte:
Ist es gut gegangen in der Schule, Kind?
Ja, Vater, aber mit der Mathematik wird es immer schlimmer.
Und ich erzähle ihm getreulich all’ meine Schulleiden und Freuden. Und daß ich einen großen Respekt vor unserem Ordinarius, Herrn von Hunnius habe, der in Wirklichkeit ein Böhme sei, von dem die Jungen aber sagten, daß er von den Hunnen abstamme, und der auch wie ein Hunne aussehe mit seinen wirren krausen Locken und seiner aufgestülpten Nase, aber Latein spreche, wie Wasser, und bei dem man tüchtig was lernen könne, wenn man nur aufpasse. Und von Ulrich von Vogtriz, der neu hinzugekommen und mit seinen sechzehn Jahren so groß und stark sei wie ein Mann. Sei aber sonst ein guter Junge trotz seiner Täppigkeit. Es sei auch noch ein Vogtriz gekommen, aber älter als Ulrich und gleich nach Prima, und beide seien von der Ritterakademie auf der Insel und Neffen des Majors und bei dem Direktor selbst in Pension.
So mochte ich stundenlang sprechen, ohne daß der gute Vater je müde geworden wäre zuzuhören. Im Gegentheil: wie er des Kindes treuer Hüter und bester Spielgesell gewesen war, indem er dem schweifenden Triebe erst die feste Richtung, den zerflatternden Phantasieen Form und Gestalt gab, so nahm er jetzt denselben innigen Antheil an allem, was der Knabe erlebte und erstrebte, und sein einziger Kummer war, daß er mir bei den Exercitien und den vertrackten Exempeln nicht mehr so ausgiebig helfen könne, wie beim Bogenschnitzen und Drachenkleben oder bei dem Bau des Kaninchenpalais oder der Errichtung des Vogelhauses. Und wenn ich früher gemeint hatte, daß er trotz aller Theilnahme an meinem Wohl und Wehe doch für die brennende Frage meines jungen Lebens kein Verständniß habe, so war ich mittlerweile eines andern belehrt worden. Darüber belehrt worden, daß ich an dem Treuen auch in dem Leide meines jungen Lebens einen Gefährten habe, dessen weiches Herz sich in diesem Leide verzehrte, wie die Kerze in der Flamme.
Ein sonderbarer Zufall hatte mir diese Entdeckung gebracht.
Neben der Werkstatt nach dem Wohnhause zu war ein kleines Gelaß, das seinen einzigen Eingang nach der Werkstatt hatte und von oben durch ein schräg gestelltes Fenster sein kümmerliches Licht empfing. Es hatte keine Dielen, sondern einen von Alter zermürbten, in wirren Spalten klaffenden Estrichfußboden und war, wenn schon im Sommer kühl, so im Winter bitter kalt, denn der kleine Kanonenofen in der Ecke wurde selten oder nie geheizt. In der anderen Ecke, unter dem schrägen Fenster im Dache, stand ein altes Stehpult, dessen Klappe man aufheben mußte, um zu dem darunter befindlichen Kasten zu gelangen. An diesem Pult besorgte der Vater seine wenigen Schreibereien. Sonst war nur noch Platz für einen ebenfalls alten Schrank, in welchem seine paar besseren Kleider hingen (die er kaum jemals anzog), einen großen Koffer voll allerlei Kram, und ein niedriges schmales Gurtenbett mit einer durchgelegenen Seegrasmatratze, über welche eine wollene Decke gebreitet war, die der Vater einst als überschüssiges Exemplar einer Pferdedecken-Lieferung vor langen Jahren von Nachbar Hopp – das Hopp’sche Zeichen „H. H.“ schmückte in jetzt halb verblichenen großen rothen Buchstaben den einen Zipfel – für ein Billiges erstanden hatte. Die drei gekalkten Wände (die vierte nach der Werkstatt zu war nur ein bretterner Verschlag) entbehrten jeglichen Schmuckes, man hätte denn die drüberhin zerstreuten Feuchtigkeits-Flecke, in denen ich bald — je nach der Laune — Drachen und sonstige Ungeheuer, oder die vielgezackten
[45][46] Ufer vom Meer umflutheter, von der Brandung umtobter Robinson-Eilande sah, als solche nehmen wollen. Ein armseliges, trauriges Gemach, das ich dennoch kaum jemals ohne ein Gefühl betrat, welches ich mir damals nicht recht klar machen konnte: jenes Gefühl zugleich ehrfürchtiger und neugieriger Scheu, mit welchem, glaube ich, gutgeartete Kinder immer das Zimmer des Vaters betreten, und in das sich bei mir nur noch eine Empfindung des Mitleids mischte, oder, wenn das zu viel ist: des Bedauerns, daß der gute Vater es nicht einmal, daß er es lange nicht so gut hatte wie ich. Denn war mein Kämmerchen unter dem Dache auch nicht minder klein, es hatte doch blaue Tapeten mit zahllosen kleinen Blumen, in denen man bei einigem guten Willen Rosen und Rosenknospen erkennen konnte, ein handgroßes Spiegelchen über der Kommode, auf der meine kleine Bibliothek in Reih und Glied stand, und vor dem Fenster einen Kornelkirschbaum, der unten längst ausgegangen war, aber auf den obersten Zweigen im Spätfrühling noch Blätter trieb und manchmal sogar Knospen, nur daß die Früchte nie reif und selbst von den Spatzen als zu bitter verschmäht wurden. Das Gemach hinter der Werkstatt nun gar mit dem Zimmer zu vergleichen, welches (nebst einer daran stoßenden Schlafstube) den oberen Stock des Hauses ausmachte und von der Mutter bewohnt wurde, kam mir niemals in den Sinn. Es verstand sich für mich von selbst, daß sie für ihr Theil so viel Raum hatte als die übrige Familie, selbst zur Zeit, da die Großmutter noch lebte und die Brüder im Hause waren, zusammengenommen; und wenn ich über ihre Schwelle nicht in ein klösterlich einfach ausgestattetes, niedriges Zimmer mit drei kleinen gardinenverhängten Fenstern, sondern in einen prachtvollen Königssaal oder meinetwegen auch in einen hohen, von magischem Dämmerlicht durchflutheten Kirchenraum getreten wäre –– es würden in meinen anbetenden Augen die rechten Räume für die Einzige, Unvergleichliche gewesen sein.
Es war an einem Sonnabend-Nachmittage im Winter. Ich saß bei dem Vater in der Werkstatt und erzählte ihm von der ersten Konfirmationsstunde, die ich heute Morgen bei Pastor Renner, dem neuen Prediger an der Johanniskirche, gehabt hatte. Ich war in großem Eifer, denn, was ich da gehört, hatte mein Innerstes gar mächtig aufgeregt. Der Pastor, schien es, hatte die jungen Seelen gleich scharf angreifen wollen und von der Nachfolge Christi gesprochen, in die wir jetzt alles Ernstes zu treten hätten, und den Bedingungen, unter denen diese Nachfolge, an welcher das Heil unserer Seele hänge, einzig möglich sei. Daß zu den ersten dieser Bedingungen das Aufgeben der irdischen Schätze gehöre, – dagegen hatte der Fünfzehnjährige nichts einzuwenden, dem die Erinnerung an seine weißen Kaninchen längst schattenhaft geworden war und der die Grabstätte der vermauserten Dohle, der letzten Bewohnerin des Vogelhauses, unter den Haseln auf dem Wall mit Sicherheit nicht mehr anzugeben vermochte. Aber der Pastor hatte auch von einem Besitz gesprochen, auf welchen jenes Wort von dem Rost und den Motten nicht gemünzt, der im Gegentheil an und für sich höchst wünschenswerth, ehrwürdig und heilig sei und dennoch anfange, zweifelhaft und bedenklich zu werden, sobald es sich um den Ruf handle, dem wir folgen müßten, und mit dem die Stimmen derer, die wir auf Erden am meisten liebten, nicht oder doch nicht immer im Einklang seien: die Stimme des Vaters, der Mutter, der Brüder, der Schwestern. Denn es stehe geschrieben: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht werth. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht werth.“
In meinem trefflichen Gedächtnisse hatte ich alles, wie es der beredte Geistliche in feuriger Rede vorgetragen, treulich behalten; den angeführten Spruch hatte ich auch schon vorher gekannt. Und während ich nun, ohne es zu wollen und zu wissen, des Geistlichen Ton und Sprechweise nachahmend, das Gehörte recitirte, klopfte mein Herz wieder vor Zweifel und Unwillen.
„Und das kann ich nicht glauben,“ rief ich; „und das ist auch nicht für uns; das ist bloß für die Katholiken.“
„Wieso für die?“ fragte der Vater, ruhig weiter arbeitend.
„Weil die einander überhaupt nicht lieben dürfen.“
„Das habe ich nie gehört,“ erwiderte der Vater kopfschüttelnd; „das kann auch nicht so sein.“
„Und doch ist es so,“ rief ich, „denn, wenn es nicht so wäre, wenn sie einander lieben dürften, wie ich Dich liebe und Du mich liebst, weßhalb –“
Ich hatte jäh abgebrochen; der Vater schaute ein wenig erstaunt auf.
„Nun?“ fragte er.
Sollte ich es ihm sagen, mein trauriges Geheimniß? Aber wie durfte ich es, wenn er es nicht einmal ahnte? seine blauen Kinderaugen mich so ruhig freundlich anblickten?
Aber plötzlich ging eine Veränderung in den Augen vor: ich sah es deutlich. Der freundliche Blick wurde trüber und ernst und irrte verlegen ab und wandte sich dann wieder auf mich mit einem Ausdruck halb des Schreckens und halb des Mitleids, während ich mit brennenden Wangen da saß und starren Augen, aus denen Thränen brechen wollten.
Die sonderbare Scene wurde durch einen Kunden unterbrochen, der in die Werkstatt kam, eine Rechnung zu fordern, nach welcher er schon mehrmals vergeblich geschickt habe. Der Vater bat um Entschuldigung: er habe gerade in den letzten Tagen so viel zu thun gehabt; die Rechnung solle sofort ausgeschrieben werden. Aber der Mann, der sehr laut sprach und heftig gestikulirte, hatte keine Zeit zu warten; habe auch noch zu Herrn Hopp zu gehen, von dem man ebenfalls keine Rechnung bekommen könne, wolle in einer Viertelstunde wieder kommen, Damit war er wieder davon gestürzt.
Ich hatte mich bereits auf einen Wink des Vaters in die Kammer begeben, die Rechnung zu schreiben. Ich besorgte dies Geschäft jetzt öfter für den Vater. Es war einfach genug: „Ein Sarg mit Zuthaten so und so viel“, je nach der Größe, bloß daß die Särge der Armen immer ein gut Theil billiger waren.
In der Kammer war es bereits dämmerig, indessen noch hell genug, um schreiben zu können. Aber in meiner Erregung verdarb ich ein paar Blätter und mußte nach reinem Papier in dem Kasten des Stehpultes suchen. Ich fand nicht sogleich welches, und als ich hastig und ungeschickt weiter kramte, kam mir, ich weiß nicht wie, ein kleiner Gegenstand in die Hände, deßgleichen ich noch nicht gesehen hatte, wenigstens sicher ncht so schön und kostbar: ein oblonges goldnes Kapsel-Medaillon mit einem verschlungenen Namenszuge auf der einen und einem in Email ausgeführten Wappen auf der anderen Seite. Habe ich die Feder absichtlich berührt, ist es von selbst aufgesprungen, ich wüßte es nicht mehr zu sagen. Ich weiß nur, daß mich ein jäher Schrecken durchzuckte, als ich in dem Bilde der Dame, welches es enthielt, meine Mutter erkannte. Nicht auf den ersten Blick, denn ich hatte sie nie anders als in einem schwarzen Kleide gesehen, das ihre zierliche schlanke Gestalt bis an den Hals umschloß, während ein schwarzer Spitzenschleier das braune gescheitelte Haar bedeckte und, unter dem Kinn leicht geschürzt, das köstliche Oval des blassen anmutigen Gesichts umrahmte, und hier sah ich sie mit freiem, eigenthümlich an den Schläfen bauschig toupirtem Haar, welches im Nacken zusammengenommen war, aber nicht so fest, daß nicht ein paar flatternde Locken sich rechts und links über die runden Schultern auf den Busen gestohlen hätten; um den Hals eine Perlenschnur, Perlengehänge in den zierlichen Ohren; das holde Antlitz, das ich niemals auch nur hatte lächeln sehen, ganz durchglänzt von Heiterkeit, die sich doch wieder in den strahlenden braunen Augen zu koncentriren schien; die rosigen Lippen des entzückenden Mundes leicht geöffnet und auch wieder gerundet wie zu einem zärtlichen Kuß.
Es mußte ein Maler ersten Ranges gewesen sein, der in dieses kleine Rund diese Welt von Anmuth und Schönheit zu bannen verstanden hatte; aber davon wußte meine junge Seele ja nichts, so wenig wie von der Welt, zu deren Vorrechten es gehört, in dem Glanz und Zauber solcher Anmuth und Schönheit zu schwelgen, sich zu berauschen, zu rasen, so lange bis – ach! ich wußte ja nichts, als daß meine Mutter so wonnig hatte lächeln können und diese strahlenden Augen mir nie geglänzt hatten, diese holden Lippen mich niemals hatten küssen wollen!
Und nun brachen die Thränen, deren ich mich vorhin nur noch eben enthalten, in Strömen aus meinen Augen; und, mir das Taschentuch gegen das Gesicht drückend, daß der Vater mein Schluchzen nicht hören möge, weinte ich, über das Pult gebeugt, das Medaillon in der herabhängenden krampfhaft geschlossenen Linken.
[47] Ich hatte ihn nicht kommen hören und sehen, aber ich fühlte plötzlich, daß der Vater neben mir stand. Ohne aufzublicken und nur noch heftiger weinend, hielt ich ihm das Medaillon hin. Er nahm es mir schweigend aus der Hand, ohne ein Wort zu sagen. Ich sah durch die geschlossenen Augen, während ich, jetzt leiser, weiter schluchzte, wie er das Bild betrachtete, und fühlte nun, daß seine Augen sich zu mir hoben. Ich blickte empor. Seine Augen ruhten auf mir schmerzensreich, unendlich mitleidsvoll.
„Sie hat mich nie geküßt!“ schrie ich und stürzte mich an seinen Hals.
Er drückte mich fest an seine Brust, die sich stürmisch hob und senkte. Und dann brach aus der treuen verschwiegenen Brust ein Stöhnen, das mich erschreckte. Ich wollte mich aus seinen Armen lösen; aber er preßte mich nur noch heftiger an sich. Ich sollte die Thränen nicht sehen, die der verlassene, liebekranke Mann auf das Haupt des verlassenen, liebekranken Knaben weinte.
Seit jenem Winternachmittage war in meinen Gefühlen zur Mutter eine Wandlung eingetreten. Nicht, als ob ich sie nicht noch geliebt hätte ich hätte ebensowohl aufhören können zu athmen – aber in meine Liebe hatte sich ein Etwas gemischt, das ich früher nicht gekannt hatte. Mir war es früher nur als ein Verhängniß erschienen, daß ich von ihr nicht geliebt wurde, jetzt fing ich an, darin ein Unrecht zu erblicken, welches sie mir anthat. Ich wäre darauf sicherlich nicht für mein Theil verfallen. Aber ich hatte mein Leid in dem des Vaters wie in einem Spiegel gesehen, und es stand nun in einem anderen, klareren Lichte vor mir. War doch, was da an dem guten Vater geschah, das baare Unrecht. Warum war sie seine Frau geworden, wenn sie nichts mit ihm zu schaffen haben wollte? ihn sich von Morgen bis in die Nacht hinein in der dunklen Werkstatt abmühen ließ, ohne ihm ein freundliches Wort, einen freundlichen Blick zu gönnen, ja, ohne ihn tage-, was sage ich! wochenlang auch nur zu sehen? Denn sie nahm, was sie früher wenigstens nicht gethan hatte, jetzt auch ihre Mahlzeiten allein, und das Geschirr, dessen sie sich dazu bediente, durfte von Niemand sonst benutzt werden, als wenn eine Berührung von anderer Hand es verunreinigt haben würde. So durfte ich auch, wenn ich zu ihr kam, nur immer auf einem bestimmten Stuhle sitzen, den ich dann in eine Ecke zu tragen hatte, wo ich ihn das nächste Mal wieder vorfand – ein für sie unbrauchbares, durch mich entheiligtes Möbel. Der Vater sagte: „Es liegt in ihren Nerven. Sie hat einmal ein schweres Unglück gehabt, das sie in eine lebensgefährliche Krankheit warf. Davon ist sie nie wieder völlig genesen, und nun treten die schlimmen Folgen nur deutlicher auf. Wir müssen Mitleid mit ihr haben.“
Ach, er hatte ja mit aller Kreatur Mitleid. Mit einer Fliege, die er sorgsam aus der Schale Wasser rettete und in die Sonne setzte; mit einem zertretenen Wurm im Wege, den er lieber, so schwer es ihm ankam, selber tödtete, damit das arme Geschöpf nicht länger sich zu quälen brauchte! Wie sollte er nicht Mitleid haben mit ihr, welche er, wie ich jetzt weiß und damals wenigstens ahnen konnte, mit der Gluth eines Jünglings hoffnungslos liebte?
Woher ich das ahnen konnte?
Aber hatte es sich denn nicht auch bereits, ihn jetzt mit verwunderter Neugier, jetzt mit ahnungsvollem Bangen erfüllend, in Sinnen und Herzen des Knaben-Jünglings zu regen begonnen? und war jenes Bild der Mutter und die heißen Thränen, die er bei dem Anblick desselben vergossen, für sein junges Herz nicht gewesen, was ein Frühlingsgewitter für die sprossende dürstende Saat?
Römische Cäsaren.
Mit dem Bluttrinken steigerte sich der caligula’sche Blutdurst.
Nach Macro und seiner Frau kam die Reihe des „Expedirtwerdens“
an den hochangesehenen Marcus Junius Silanus, dessen
Tochter Junia Claudilla die erste Gemahlin des Kaisers gewesen
war. Diese Schwiegervaterschaft schützte den alten Herrn nicht
vor dem Befehl, sich mit einem Rasirmesser den Hals abzuschneiden,
weil er seinen kaiserlichen Schwiegersohn, „als dieser bei stürmischer
See zu Schiffe ging, nicht habe begleiten wollen, offenbar in
der Absicht, sich, so dem Kaiser im Sturme ein Unglück zustieße,
der Herrschaft zu bemächtigen." Nun folgten einander die Hinrichtungen
um so zahlreicher und rascher, als mit denselben die
höchst einträglichen Confiscationen der Vermögen der Hingeschlachteten
verbunden waren und der Wegfall gerichtlicher Weitläufigkeiten
das lohnende Mordgeschäft so höchst bequem erscheinen ließ. Reich
zu sein, wurde ein Verbrechen in dem immer rascher sich vergrößernden
Maß, in welchem die rasende Verschwendung des
Kaisers sein Geldbedürfniß unersättlicher machte. Die „stolzen“
Römer ließen diese Raubmördereien über sich ergehen ohne zu mucksen.
Mitten in seiner blutigen Finanzerei traf nun den Wütherich ein Schlag, welcher den kaiserlichen Narren zu neuen Tollheiten stachelte. Seine Lieblingsschwester Drusilla erkrankte und starb. Der Kaiser wurde toll darob. Er befahl nicht nur, der Todten eine Bestattungsfeier von beispielloser Pracht zu rüsten, sondern verordnete zum Zeichen allgemeiner Landestrauer einen vollständigen Gerichts- und Geschäftsstillstand, während dessen es als ein todeswürdiges Verbrechen angesehen und bestraft werden sollte, so jemand lachte, badete oder Familientafel hielte. Dann verbarg er sich in der Einsamkeit seiner Villa zu Albano, in allerhand Kindereien Zerstreuung suchend, brach plötzlich von dort auf, durcheilte wie im Fluge Campanien, fuhr von dort hinüber nach Syrakus und kehrte stracks nach Rom zurück. Hier erklärte er die Trauerzeit für geschlossen, befahl aber dem Senat, für die allerhöchstselige Drusilla göttliche Ehren einzusetzen. Hören und gehorchen war für diese Versammlung von Lakaien dasselbe. Einer der Herren Senatoren – Livius Geminus hieß der Wackere – that sogar noch ein übriges in der Niedertracht. Er leistete aus freier Hand einen feierlichen Eid, daß er mit seinen eigenen Augen die allerhöchstselige Drusilla gen Himmel fahren gesehen habe. Ein Senatsschluß erging, Drusilla sollte im Himmel Panthea, d. i. Allgöttin, heißen und es sollte ihr ein Tempel gebaut werden; ein goldenes Standbild der neuen Göttin sei in der Senatscurie, ein zweites von gleicher Art im Tempel der Venus aufzustellen, denn sie sollte der gleichen Verehrung genießen wie diese Tochter Jupiters. Darum sollten die römischen Frauen fortan nur noch bei der Panthea schwören. Der Kaiser selbst schwur von jetzt an nur noch bei der Gottheit Drusilla („per numen Drussilae“). In das Finale dieser ekelhaften Posse mischte Caligula eine Dosis brutalen Humors, indem er dekretirte, von Stund’ an sei jeder zu bestrafen, wer noch über den Tod der Drusilla traure; denn freuen müsse man sich vielmehr darüber, maßen sie ja dadurch eine Göttin geworden.
Die Bereitwilligkeit, ja Beeiferung, womit Senat und Volk den Drusilla-Cult angenommen hatten, forderte zu weiteren Leistungen in dieser Richtung auf. War es doch allzeit und überall die Knechtschaffenheit der Völker, was den Despotismus zur Veranstaltung seiner Orgien ermuthigte, und nur auf der Basis des Sklavensinns der Menschen vermag sich ein Schwindelbau der Tyrannei zu erheben. Das Rom, welches einen Narren von Despoten wie Caligula ertrug, verdiente ihn.
Wenn ich – so mochte der Kaiser kalculiren – im Handumdrehen aus der theuren Drusilla eine Göttin und die Leute an diese Gottheit glauben machen konnte, warum sollte ich nicht mich selber zu einem Gott machen können?
[48] Gedacht, gethan. Hätte es dazumal einen shakspeare’schen Polonius in Rom gegeben, so würde er wohl auch in diesem Wahnsinn „Methode“ gefunden haben – („Thought this be madness, yet there’s method in it“). Denn, in Wahrheit, der caligula’sche Größewahn ging schrittweise und, so zu sagen, logisch vor: zuerst erhob er sich in seiner Einbildung über alle andern Menschen, dann machte er sich zum Halbgott und von diesem ließ er sich zum Ganzgott vorrücken. Beim Alexandriner Philo finden wir diesen Narrenlauf in aufsteigender Linie in seinen Anfängen so gegeben: „Seine, Caligula’s, ihm von der Natur überwiesene Aufgabe und Bestimmung sei die Obhut über die Menschen. Wie nun aber der Geißhirt kein Geißbock, der Rinderhirt kein Stier, der Schafhirt kein Widder sei, sondern ein Wesen höherer Ordnung, so stehe auch er, der Imperator urbis et orbis, der Herr der Welt, seiner Wesenheit nach hoch über den Menschen.“ Die Praktik dieser Theorie war, daß er sich den größten und besten Kaiser („Caesarem optimum maximum“) nannte und die „stolzen“ Römer, ohne alle Rücksicht auf Stand und Rang derselben, wie eine Heerde von Ziegen, Rindern und Schafen behandelte. Mit Vorliebe that er den Vornehmen, den Herren senatorischen und consularischen Ranges, an, was von Demüthigungen nur immer auszusinnen war. Wir werden an den Uebermuth Napoleons erinnert, welcher Rheinbundsfürsten neben seinem Wagenschlag hergaloppiren ließ, wenn wir hören, daß Caligula römische Senatoren zwang, in ihren schweren Togen neben seinem Wagen herzurennen. Alle die grausamen Tollheiten und mörderischen Spässe aufzuzählen, welche er als „Völkerhirt" verübte, müßte Langeweile und Ekel erregen.
Er fand es jetzt an der Zeit, der eigentlichen Vergottungsprocedur Raum zu geben, und spielte sich zuvörderst als Halbgott Hercules auf. Dann legte er sich den Namen und die Attribute des Bacchus und weiterhin die des Apollo bei. Schließlich fand er, daß damit seiner Göttlichkeit noch immer kein rechtes Genügen gethan wäre, und ließ die Erklärung ausgehen, er sei der höchste römische Nationalgott, nämlich der Jupiter Latiaris, und folglich an Rang dem Jupiter Capitolinus, mit dessen Standbild Zwiesprache zu halten er sich den Anschein gab, durchaus ebenbürtig und gleichstehend. Er erbaute seiner Gottheit einen prächtigen Tempel, in welchem als Priester amten zu dürfen für Römer der adeligsten Geschlechter eine eifrig gesuchte Ehre war. In der Cella dieses Tempels stand seine aus Gold gegossene Porträtstatue, welche täglich mit einem dem seinigen ganz gleichen Anzuge bekleidet wurde, und vor welcher täglich Flamingos, Pfauen, Fasanen, Perlhühner und andere kostbare Vögelarten als Opfer fielen. Dem Gotte ziemte auch eine Göttin zur Gemahlin. Daher lud der „Jupiter Latiaris“ in Vollmondnächten die Selene-Luna zum Ehebündniß ein.
Der Senat, Rom und die Provinzen fügten sich dem Willen und Befehl des tollen Tyrannen, daß sein Jupitersstandbild in allen Tempeln aufgestellt werde und daß die Anbetung seiner Göttlichkeit vor den Culten aller andern Götter den Vorrang haben müßte. Nur ein Volk unter allen im römischen Reiche gab es, welches den ehrenwerthen Muth hatte, dieser wahnwitzigen Ueberhebung sich nicht fügen zu wollen: das jüdische. Den Juden, deren strenger Monotheismus und Spiritualismus nicht einmal eine bildliche Darstellung ihres Nationalgottes Jahve duldete, mußten die Vergötzung eines Menschen und die Aufstellung von Standbildern des Vergötzten in ihren Synagogen der Gräuel aller Gräuel sein. Ueberall, wo sie in größerer Zahl niedergelassen waren, erklärten sie kühn und entschieden, der Vollziehung des bezüglichen Senatsbeschlusses Widerstand entgegenstellen zu wollen. Und sie thaten so, wo immer sie es vermochten. Namentlich in Alexandria, in welcher Welthandelsstadt sie ja ein Drittel der Bevölkerung bildeten. Ihr mannhafter Widerstand gegen den befohlenen Blödsinn führte zu einem heftigen Tumult und blutigen Straßenkampf, wodurch die Juden allerdings besiegt, aber doch nicht zur Idololatrie bekehrt wurden. Als für ihre Volksgenossen in Judäa selbst sowohl als für die überall zerstreuten nochmals der förmliche Befehl erging, das caligula’sche Idol im Tempel zu Jerusalem und in allen Synagogen aufzustellen, machten die alexandrinischen Israeliten noch einen Versuch, diese Todsünde von Israel abzuwenden, indem sie wagten, den tollen Kaiser die Sprache der Vernunft und Gerechtigkeit vernehmen zu lassen.
Das versuchte jene alexandrinisch-jüdische Abordnung, an deren Spitze der berühmteste Jude von dazumal, der gelehrte Philo, als Sprecher stand. Dieser griechisch schreibende jüdische Autor hat uns einen Bericht über seine Sendung hinterlassen, welcher fraglos zu den interessantesten zeitgenössischen Aufzeichnungen gehört. Nach vielen vergeblichen Bemühungen gelang es endlich den jüdischen Abgeordneten, eine Audienz bei dem fahrigen Kaiser zu erlangen, aber nur zugleich mit einer andern alexandrinischen Deputation, einer heidnischen, antisemitischen, welche, geführt von einem gewissen Isidorus, den Auftrag hatte, die Juden zu verklagen und denselben entgegenzuwirken. Die feindlichen Abordnungen wurden in den weitläufigen Villen- und Parkanlagen der sogeheißenen Gärten des Mäcenas bei Sr. verrückten kaiserlichen Majestät vorgelassen, welche gerade jetzt neben ihren übrigen Suchten auch noch die Bausucht hatte und beständig von einem Schwarm von Bau- und Gartenkünstlern umgeben war, Pläne besichtigend, den und jenen billigend, um denselben im nächsten Augenblick wieder zu verwerfen, stündlich etwas wollend und wieder nicht wollend, Befehle hervorsprudelnd und sofort widerrufend, umgetrieben wie ein Kreisel, unstät wie Wind und Welle. „Da fanden wir – meldet Philo – den Tyrannen, umgeben von Höflingen, Intendanten, Architekten und Werkleuten aller Art. Alle Sääle und Hallen waren weit aufgethan und er rannte aus einem Gelaß ins andere. Als wir vorgerufen wurden und der Kaiser in seinem wilden Herumfahren einen Augenblick innehielt, begrüßten wir ihn ehrerbietig als Augustus und Imperator.“ Er runzelte sie an mit den Worten: „Aha, ihr also seid die Gotthasser, welche meine doch von der ganzen Welt anerkannte Göttlichkeit leugnen?“ Sprach’s, hob die Hände gen Himmel und fluchte gräulich. Die alexandrinisch-antisemitischen Abgeordneten klatschten Beifall, sprangen und tanzten vor Freude, begrüßten schmeichlerisch-sklavisch den Gott-Kaiser und ihr Sprecher Isidor sagte: „Du wirst, o Herr, die Juden noch mehr verabscheuen, wenn du erfährst, daß sie sich geweigert haben, für deine Wohlfahrt zu opfern.“ Darauf schrien ihrerseits die Juden: „Herr Gajus, wir werden verleumdet. Wir haben geopfert für dich, haben dargebracht Hekatomben für dich, und zwar nicht einmal, sondern dreimal." Worauf Caligula: „Nun wohl, gesetzt, ihr habt geopfert, so habt ihr doch nur für mich geopfert, nicht aber mir.“ Damit wieder auf und davon. Die Juden und die Antijuden ihm nach, Trepp’ auf Trepp’ ab, von Gemach zu Gemach, immer hinter dem Kaiser her und einander mit umgekehrten Liebenswürdigkeiten überhäufend. Plötzlich blieb Caligula wieder stehen und schnarrte, zu den Juden gewendet: „Sagt mir mal, warum eßt ihr kein Schweinefleisch?“ Die Antisemiten lachten, aber Philo gab auf die höhnische Frage des Tyrannen die ganz verständige Antwort: „Jedes Volk hat seine besonderen Sitten, auch unsere Feinde haben ihre Eigenheiten und es gibt ja auch Völker, welche Lammfleisch nicht essen mögen.“ Darauf der Herr Gajus: „Das begreift sich, Lammfleisch schmeckt schlecht.“ Er lachte, überzeugt, daß er einen guten Witz gemacht hätte, und fügte nach einer Pause hinzu. „Laßt mal hören, wie stellt ihr euch denn eigentlich zum römischen Staat?“ Eine verfängliche Frage, allein ein so gewandter Wortschaumschläger wie Philo schrak vor der Beantwortung derselben nicht zurück. Er stellte sich in Positur und begann eine gelehrte Auseinandersetzung der religiösen und politischen Anschauungen und Grundsätze seines Volkes, kam aber damit nicht weit. Denn der Kaiser rannte abermals weg, um die Einsetzung eines aus durchsichtigem Stein geschnittenen Fensters in einem der Sääle zu überwachen. Die Juden immer hinter ihm her. Wieder zu ihnen gekehrt, befahl er: „Fahrt fort.“ Allein kaum hatte der jüdische Redner angesetzt, so stürzte der Kaiser wieder fort, um die Aufstellung von etlichen Gemälden anzuordnen. „Wir gingen ihm immer nach – sagt Philo – mehr todt als lebendig vor Angst, und während wir rechtfertigende und flehende Worte an den Kaiser zu richten wagten, wandten wir uns im stillem Gebet an den großen Gott unserer Väter. Und siehe, der blickte gnädig und erbarmungsvoll auf uns und lenkte des Kaisers Herz zum Mitleid.“
In der That endete die Audienz besser, als zu erwarten war. Nach langem Hin- und Herlaufen blieb Caligula schließlich vor den Juden stehen und entließ sie, halb mitleidig halb vorwurfsvoll, mit den Worten: „Menschen, welche mich nicht [49] für einen Gott halten, sind im Grunde mehr nur unverständig und unglücklich als bösartig und straffällig.“
Freilich, die Juden hatten mittels ihres Muthes und ihrer Zähigkeit nur einen Aufschub der ihnen angedrohten Tempelschändung erlangt, allein dieser Aufschub währte doch gerade lange genug, d. h. bis zum Untergang des Tyrannen, mit welchem natürlich auch seine Göttlichkeit starb. Immerhin haben sich die Juden durch ihren Widerstand gegen den nichtswürdigen Götzendienst vor der übrigen Bevölkerung des römischen Reiches höchst vortheilhaft ausgezeichnet. Denn nicht dieses war das Aergste, daß der Narr Caligula sich für einen Gott hielt – so etwas kommt in jedem Irrenhause vor – sondern das Aergste war vielmehr, daß Millionen und wieder Millionen von „vernunftbegabten“ und „denkenden“ Wesen in feiger Niedertracht so thaten, als glaubten sie an eine Gottheit solcher Sorte.
Vom Nordpol bis zum Aequator.
Rings um den Nordpol der Erde schlingt sich ein breiter Gürtel unwirthlichen Landes, eine Wüstenei, welche nicht die Sonne, sondern das Wasser zu dem gestempelt hat, was sie ist. Nach dem Pole zu geht diese Wüstenei allmählich in eisige Gefilde, nach Süden hin in halbverkrüppelte Waldungen über; zu Schnee- und Eisgefilden aber wird sie selbst, wenn der lange Winter in ihr einzieht, wogegen krüppelhafte Bäume nur in den tiefsten Thälern, auf den sonnigsten Gehängen den Kampf um das Dasein wagen. Dieses Gebiet ist die Tundra.
Es ist ein eintöniges Bild, welches ich zu zeichnen versuche, indem ich mich anschicke, die Tundra zu schildern, ein Gemälde Grau in Grau, und dennoch nicht aller Schönheit bar; es ist eine Einöde, um welche es sich handelt, aber eine solche, in welcher trotzdem das monatelang schlummernde, gleichsam verbannte Leben zeitweilig in wundersamer Fülle sich regt.
Unsere Sprache besitzt keinen deckenden Ausdruck für das Wort „Tundra“, weil es in unserem Vaterlande solches Gelände nicht giebt. Denn die Tundra ist weder Heide noch Moor, weder Sumpf noch Bruch, weder Geest noch Dünenland, weder Moos noch Morast, an so vielen Stellen sie auch an das eine oder andere dieser Gebiete erinnern mag. „Moossteppe“ hat man sie zu nennen versucht; der Ausdruck genügt aber nur dem, welcher den Begriff „Steppe“ im weitesten Sinne aufzufassen vermag. Meiner Ansicht nach ähnelt die Tundra am meisten jenen Mooren, welche man auf breiten Sätteln unserer Hochgebirge antrifft und – meidet; sie unterscheidet sich in vielen und wesentlichen Stücken aber auch von diesen versumpften Flächen, weil ihr Gepräge in jeder Beziehung eigenartig ist. Wenn man will, kann man sie in Tief- und Hochtundra eintheilen; die Unterschiede zwischen dem Lande unter und über einhundert Meter unbedingter Höhe sind in der Tundra jedoch mehr scheinbar als wirklich vorhanden.
Durch flache Wellenlinien begrenzt, liegt die Tieftundra vor dem Auge; als flache Mulden senken die Thäler sich ein, als flache Hügel erweisen sich selbst die, von fern gesehen, als Berge, ja förmliche Gebirge erscheinenden Höhen, sobald man ihrem Fuße sich genähert hat. Flachheit, Gleichförmigkeit , Ausdruckslosigkeit herrscht vor; ein gewisser Wechsel der Landschaft, Abänderung einzelner ihrer Theile läßt sich jedoch eben so wenig in Abrede stellen. Tagelang die Tundra durchwandernd, wird man oft gefesselt durch niedliche, selbst liebliche Kleinbilder; aber nur sehr ausnahmsweise prägt sich solches Bild der Erinnerung ein, weil bei genauer Prüfung das eine doch wiederum in allen wesentlichen Einzelheiten, durch seine Umgebung und Umrahmung, seine Umrisse und Farben anderen, früher gesehenen allzu sehr gleicht, als daß man es festhalten könnte. Ungeachtet solcher Einförmigkeit ist jedoch das Gepräge der Tundra kein einheitliches und noch viel weniger ein großartiges, und eben deßhalb erwärmt man sich nicht an diesem Gelände, gelangt man nicht zu jenem Hochgefühle, welches andere Landschaften in uns wachrufen, vielleicht nicht einmal zum Vollgenusse der wirklichen Schönheiten, welche auch dieser Einöde nicht abgesprochen werden können.
Ihren größten Schmuck erhält die Tundra vom Himmel, ihren größten Reiz durch das Wasser. Ganz rein und heiter ist der Himmel selten, obwohl auch hier die monatelang ununterbrochen scheinende Sonne heiß herabbrennen, drückend herniederstrahlen kann auf die flachen Hügel und in die seichten Thäler. In der Regel blickt das Blatt des Himmelsgewölbes nur an einzelnen Stellen durch lichtweiße, locker geschichtete Wolken; diese aber verdichten sich oft zu Haufenwolken, welche allmählich ringsum, auf allen Seiten des unermeßlich scheinenden Gesichtskreises auftreten, fortwährend sich ändern, verschieben, neu gestalten, entstehen und vergehen, und deren wechselvolle Beleuchtung dann das Auge so bezaubert, daß man die unter ihnen liegende Landschaft fast vergißt. Droht nach heißen Tagen Regen gewitterhafter Art, dunkelt der Himmel hier oder dort bis zum tiefsten Graublau, senken sich dunstschwere Wolken unter die lichteren nieder und strahlt die Sonne doch noch rein und glänzend zwischen ihnen hindurch, so erscheint die so öde, einförmige Landschaft zauberisch geschmückt. Denn Licht und Schatten malen jetzt Hügelrücken und Thäler, und das sonst ermüdende Einerlei ihrer Farben gewinnt Wechsel und Leben. Und wenn um die Mitte der Hochsommernacht die Sonne groß und tiefroth am Himmel steht, wenn alle Wolken von unten her purpurn gesäumt werden, wenn Bergrücken, welche das leuchtende Gestirn verdecken, eine auf weithin reichende, flammende Strahlenkrone tragen, wenn ein rosiger Dufthauch sich über die braungrüne Landschaft legt, wenn, mit einem Worte, der unbeschreibliche Zauber der Mitternachtssonne die Seele umstrickt: dann wandelt sich diese Wüste in ein wunderreiches Gefilde, und wonnevoller Schauer erfaßt das Herz im Tiefinnersten.
Wechsel und Leben bringen aber auch die Kleinodien der Tundra, zahllose Seen, in das Gelände. Einzeln oder gruppenweise vertheilt, neben oder über einander liegend, zu meilenweiten Wasserbecken sich ausdehnend und zu kleinen Teichen zusammenschrumpfend, erfüllen sie die Mitte jedes Kessels, schmücken sie [50] jedes Haupt-, ja fast jedes Nebenthal, beleben sie sich im allerheiternden Sonnenscheine und täuschen sie, so grau und farblos sie auch sein mögen, von der Spitze eines Hügels aus gesehen, dem Auge nicht selten die Bläue tiefer Gebirgsseen vor. Und wenn dann die Sonne auf ihren spiegelnden Wellen blitzt und flimmert, oder wenn um die Mitternachtszeit auch sie von rosigem Hauche berührt werden, treten sie als so lebendige Lichter aus dem sie umgebenden Düster hervor, daß das Auge gern auf ihnen weilen mag.
Weit großartigere, wenn auch noch immer düstere und eintönige Landschaftsbilder rollt die Hochtundra dem Blicke des Wanderers aus. Jedes wirkliche Gebirge schmückt sich auch hier mit allen Reizen der Höhe. Die Berge steigen fast immer steil empor, und die Ketten, welche sie bilden, zeigen reich bewegte Linien; das schneeige Dach, welches sie deckt, vereist überall, wo die Verhältnisse es gestatten, zu Gletschern. Wirkliche Tundra bildet sich nur da, wo das Wasser nicht raschen Abfluß findet; das ganze übrige Gelände scheint von dem der Tiefe so verschieden zu sein, daß nur die hier wie in der Höhe im Wesentlichen gleiche Pflanzendecke die Tundra verbürgt. Das unten in der Tiefe mit dicken Schichten abgestorbener Pflanzenreste übertorfte Geröll tritt hier fast überall zu Tage: endlose, aus riesigen Blöcken zusammengesetzte Halden überlagern die Gehänge und erfüllen die Thäler; Geröll bildet den Untergrund weiter, beinahe ebener Flächen, über welche der Fuß des Wanderers auch aus dem Grunde zögernd schreitet, als hier selbst dem tiefblickenden Forscher Räthsel aufgegeben werden hinsichtlich der Gewalten, welche die Blöcke über weitere Flächen mit fast unabänderlicher Gleichmäßigkeit vertheilten. Dazwischen aber sickert und gleitet, rieselt und fluthet, strömt und rauscht, braust und donnert überall das Wasser der Tiefe entgegen. Von den Gehängen herab rinnt es in tropfenden Fädchen, gesammelten Adern, murmelnden Bächlein; aus den Thoren der Gletscher hervor bricht es in milchigen Bächen; in die Wasserbecken strömt es in trüben Flüßchen; den klärenden Seen entfließt es in krystallhellen Flüssen, und wirbelnd und schäumend, zischend und tobend eilt es weiter thalabwärts, einen Sturz und Tobel an den andern reihend, bis es die Tieftundra, einen Strom oder das Meer erreicht hat. Die Sonne aber übergießt auch diese so eigenartige Gebirgswelt, so oft sie durch die Wolken bricht, mit ihren Zauberfarben, trennt und scheidet Berge und Thäler, beleuchtet jedes Schneefeld, bringt jeden Gletscher, aber auch jede Schlucht zur Geltung und Wirkung, läßt jede Spitze, jeden Grat, jede Wand deutlich hervortreten, jeden See als klares, freundlich blickendes Bergesauge strahlen, legt um die Morgen- und Abendstunden den blauen Duft der Ferne als zarten Schleier über den Hintergrund des Bildes und überfluthet um Mitternacht mit ihren tiefsten Strahlen das Ganze, bis es förmlich aufleuchtet in rosigem Lichte. Gewiß, selbst die Tundra ist nicht aller Reize bar.
An einzelnen, obschon nur sehr wenigen Stellen greift auch die Pflanzenwelt gestaltend und verschönernd ein. Fichten und Föhren blieben entweder im Süden zurück oder finden sich nur in den geschütztesten Thälern. Selbst die hier und da noch auftretenden Föhren, welche aussehen, als ob eine Riesenfaust sie am Wipfel gepackt und schraubenförmig um und um gedreht habe, können in den höheren Lagen der Tundra nicht gedeihen. Auch die Birken, welche weiter vordringen als jene, kümmern und krüppeln, daß sie greisenhaften Zwergen gleichen. Einzig und allein die Lärche behauptet hier und da das Feld und wächst zu wirklichen Bäumen empor; aber auch sie kann nicht mehr als Charakterpflanze der Tundra bezeichnet werden. Als solche stellt sich vor allen anderen die Zwergbirke dar. Sie, welche nur auf ganz besonders günstigem Boden Meterhöhe erreicht, herrscht im weitaus größten Theile der Tundra so unbedingt vor, daß die übrigen Sträuche und Sträuchlein nur zwischen sie als eingesprengt erscheinen. Sie überzieht alle Strecken, auf denen sie Wurzel fassen kann, vom Ufer des Sees oder Flusses an bis zu den Gipfeln der Berge hinauf mit einer mehr oder minder dichten Decke von so gleichmäßiger Höhe, daß weite Strecken aussehen, als ob sie oben mit einer Scheere abgeschnitten worden wären; sie tritt nur da zurück, wo der Boden so von Wasser getränkt ist, daß er zum Bruche, Sumpfe oder Moraste wurde; sie verkümmert einzig und allein da, wo fettiger, in der Sonne leicht erhärtender Lehm oder unfruchtbarer Kies die Höhen deckt; sie ringt aber noch mit dem über alle Tiefen verbreiteten Wassermoose wie mit der alle Höhen deckenden Renthierflechte um die Herrschaft. Viele Geviertkilometer neben oder nach einander werden so dicht von ihr übersponnen, um nicht zu sagen überfilzt, daß nur das unvertilgliche Wassermoos neben, beziehentlich unter ihr sein Anrecht auf den Boden noch zu behaupten wagt, wogegen an anderen, minder feuchten Stellen Zwergbirke, Lorbeerweide und Rosmarinheide gemischte Bestände bilden. Ebenso mischen sich oft verschiedene Beerengesträuche, insbesondere Moos-, Preisel-, Rausch- und Sumpfheidelbeere, ein.
Wird der Boden, indem er unter die umgebenden Flächen sich einsenkt, sehr naß, so gelangt nach und nach das Wassermoos zur Uebermacht, verdrängt allmählich die Zwergbirke gänzlich und bildet nun große, schwellende Polster, welche in Folge der raschen Vertorfung ihrer abgestorbenen Wurzeltheile fortwährend höher werden und ebenso weiter sich ausbreiten, bis endlich das Wasser ihr ferneres Vordringen hemmt oder die Polster zu kaupenartigen Hügeln zerreißt.
Ist die Einsenkung sehr flach, so bildet das in ihr zusammengeströmte Wasser nur ausnahmsweise einen See oder Teich, meist nicht einmal einen Pfuhl, durchsickert vielmehr den Boden bis zu unbestimmter Tiefe und erschafft so einen Morast, dessen dünne, wenn auch zähe, aus den verwobenen Wurzeln des Riedgrases bestehende Decke gefahrlos nur das breithufige Ren zu beschreiten wagen darf, obgleich sie auch bei dessen Schritten wie Gallerte schwankt und zittert oder unter den Kufen des von Renthieren gezogenen Schlittens tief sich einsenkt.
Neigt sich die Einsattelung zu einer kurzen, nicht ausgehenden Mulde, fließt in ihr, und sei es noch so langsam, ein Wässerchen, so geht solcher Morast unabänderlich in Sumpf und weiter unten in Bruch über. In ersterem gelangt das Ried, in letzterem die Wollweide, eine zweite Charakterpflanze der Tundra, zu üppigem Wachsthum. Obwohl nur im günstigsten Falle Manneshöhe erreichend, bildet diese Pflanze doch Dickichte, welche im buchstäblichen Sinne des Wortes undurchdringlich sein können. Mehr noch als bei den Legföhren des Hochgebirges verschlingen sich ihre Aeste und Wurzeln zu einem selbst dem Auge unentwirrbaren Ganzen, welches man am richtigsten einen aus allen Bestandtheilen der Weide verwobenen Filz nennen möchte. Es hält den kräftigsten Arm zurück, welcher es bis zu Pfadbreite zur Seite drängen möchte, und bereitet dem Fuße so viele Hemmnisse, daß auch der beharrlichste Mann bald von dem Versuche, es zu durchdringen, absteht und sogar dann zurückkehrt, wenn der Boden nicht, wie gewöhnlich, Morast ist oder eine kaum unterbrochene Reihe von versumpften schlammigen Lachen, deren Ergründlichkeit man ungern prüfen möchte, zwischen den Gebüschen sich einsenkt.
Durchreist man die Tundra, so erkennt man, daß das ganze Gebiet in ununterbrochenem Wechsel und ewig sich gleichbleibender Wiederholung die geschilderten Einzeltheile vor das Auge bringt. Einzig und allein da, wo ein großer wasserreicher Fluß die Tieftundra durchströmt, können die Verhältnisse sich ändern. Ein solcher Fluß legt zeitweilig von ihm herbeigeschleppte Sandmassen auf Bänken bloß; der fast beständig und meist heftig wehende Wind thürmt diese allmählich am Ufer zu Dünen auf, und ein der Tundra fremder Boden ist geschaffen. Auf den Dünenhügeln erwächst sogar in Sibiriens Tundren die Lärche noch zu stattlichen Bäumen und kann dann im Vereine mit Weiden- und Zwergerlengebüschen zum Schmucke der Landschaft werden. Ja, es kann sogar geschehen, daß sie in der Nähe kleiner Seen zu Gruppen zusammentritt und mit den letztgenannten Gebüschen Naturparke bildet, welche auch in reicheren und lebensvolleren Gegenden nicht unbeachtet bleiben würden, hier aber so außerordentlich wirken, daß sie einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Unter dem Schutze der Lärchen siedeln sich überall da, wo letztere auf Dünen wurzeln, auch andere hochstämmige Pflanzen an: spitzblättrige Weiden, Ebereschen, Faulbaum- und Geisblattgebüsche z. B.; und ebenso entsprießen dem Sande mancherlei Blumen, welche man weit im Süden zurückgeblieben wähnte. Hier leuchtet dem überraschten Südländer die rothe Blüthenpracht des Weiderichs entgegen; hier klammert die liebliche Haiderose ihre dünnen Zweiglein dicht an die mütterliche Erde, sie mit jenen und ihren Blumen schmückend; hier lacht das freundliche Vergißmeinnicht heimathlich entgegen; hier finden Nießwurz und Schnittlauch, Baldrian und Thymian, Nelke und Glockenblume, Vogelwicke und Alpenerbse, [51] Hahnenfuß und Immortelle, Schaum-, Sperr-, Finger- und Blutkropfkraut und andre mehr noch eine Heimath in der Wüste.
Es gedeihen auf solchen Stellen viel mehr Pflanzen, als man erwarten konnte, aber freilich wird man auch bescheiden in seinen Ansprüchen, wenn man tage- und wochenlang immer nur dieselbe Armuth um sich her wahrnimmt, immer nur Zwergbirken und Wollweiden, Rosmarinheide und Riedgras, Renthierflechte und Wassermoos um sich sieht, schon an verkümmerten halb im Moose versteckten, halb auf dem Boden dahinkriechenden Rausch- und Preiselbeeren sich erquickt und die Moltebeeren, welche die Moos-Polster anmuthig schmücken, als Blumen hinnehmen muß, wenn man tagelang über sie hinweg, zwischen ihnen dahin schreitet, immer auf Wechsel hoffend und immer sich täuschend. Jede bekannte Pflanze aus dem Süden erinnert an glücklichere Gegenden; an begrüßt sie wie einen lieben Freund, dessen Vorzüge man erst erkannte, nachdem man fürchten gelernt, ihn zu verlieren.
Das scheinbare Räthsel, weßhalb alle die genannten und andere Pflanzen einzig und allein dem dürren Sande der Dünen entsprießen, ist gelöst, wenn man weiß, daß nur der zu Dünen gehäufte Sand von der monatelang ununterbrochen vom Himmel herabstrahlenden Sonne so durchwärmt zu werden vermag, daß jene Pflanzen überhaupt gedeihen können. In der ganzen übrigen Tundra ist dies nicht der Fall. Moor und Sumpf, Morast und Bruch, selbst die mehrere Meter tief mit Wasser erfüllten Seen bilden nur eine dünne Sommerdecke des ewigen Winters, welcher in der Tundra seine ertödtende wie erhaltende Macht offenbart. Wo man auch in die Tiefe des Bodens zu dringen suchen mag, überall stößt man, meist kaum einen Meter unter der Oberfläche der Erde, auf Eis oder doch gefrorenen Boden, und gegen hundert Meter tief soll man graben müssen, bevor man die Eisrinde der Erde durchbrochen hat. Sie ist es, welche höheren Pflanzen freudiges Gedeihen verwehrt und nur solchen zu leben gestattet, welche an der dünnen im Sommer aufthauenden Bodenschicht sich genügen lassen. Erst wenn man gräbt, erkennt man die Tundra als das, was sie ist: als einen unermeßlichen und unwandelbaren Eiskeller, welcher seit Hunderttausenden von Jahren bestand und ebenso lange Zeit bestehen wird. Daß wenigstens das Erstere nicht bestritten werden kann, beweisen uns die Reste vorweltlicher Thiere, welche in ihm eingebettet und uns so erhalten wurden.
Aus dem Eise der Tundra grub Adams im Jahre 1807 das riesige Mammuth, von dessen Fleische die Hunde der Jakuten sich gesättigt hatten, obgleich es vor vielen Jahrtausenden lebte, seit unbestimmbar langer Zeit schon aufgehört hatte, zu sein. Die eisige Tundra hatte den Leichnam des Vorweltselefanten aufgenommen und durch die Jahrhunderttausende getreulich bewahrt. Viele gleichartige und sicherlich auch andere Thiere der Vorzeit hat sie in ihrem Eise eingebettet. Auch sie ist einst im Stande gewesen, eine reichere Thierwelt zu ernähren, als sie solche gegenwärtig beherbergt. Wisent und Moschusochse durchzogen sie in allen ihren Theilen noch lange nach der Zeit des Mammuth; Riesenhirsch und Elenthier haben einst ihr angehört. Heut zu Tage ist ihre Thierwelt ebenso arm, ebenso eintönig wie ihre Pflanzenwelt, wie sie selbst. Doch gilt dies nur hinsichtlich der Arten, nicht aber der Einzelwesen. Denn auch sie ist, mindestens im Sommer, die Heimath zahlreicher Thiere.
Erst spät im Jahre bevölkert sich die Tundra in ersichtlicher Weise. Von denjenigen Thierarten, welche sie auch im Winter nicht verlassen, nimmt man um diese Zeit wenig wahr. Die aus dem Meere in ihre Flüsse aufsteigenden Fische deckt das Eis, die in ihr überwinternden Säugethiere und Vögel verbirgt der Schnee, unter welchem sie leben oder dessen Färbung sie tragen. Nicht früher, als er auf den südlichen Gehängen zu schmelzen beginnt, regt sich das thierische Leben. Zögernd nur halten die Sommergäste ihren Einzug. Dem wilden Ren folgt der Wolf, den treibenden Schollen auf den Strömen das Heer der Sommervögel. Einzelne von letzteren verweilen auch jetzt noch unentschieden in südlicher gelegenen Gegenden, gebaren sich, als ob sie brüten wollten, verschwinden plötzlich aus der Herberge am Wege, fliegen eilfertig der Tundra zu, erbauen unmittelbar nach ihrer Ankunft ihr Nest, legen ihre Eier und brüten eifrig, als wollten sie die Zeit einholen, welche ihre in südlicheren Geländen lebenden und brütenden Artgenossen ihnen voraus haben. In wenige Wochen drängt sich ihr Sommerleben zusammen. Treu innig vereint, gepaart für das ganze Leben oder doch den einen Sommer, kommen sie an; das Herz erregt durch die allmächtige Liebe, singend oder doch jubelnd schreiten sie zum Nestbau; unablässig geben sie sich ihren Elternpflichten hin, erbrüten, erziehen, unterrichten die Jungen, mausern und wandern wieder in die Fremde hinaus.
Die Anzahl der Arten, welche die Tundra als ihre Heimath ansehen müssen, ist gering, noch weit mehr aber die derjenigen, welche wir als Charakterthiere des Gebietes bezeichnen dürfen. [52] Als ein solches möchte ich zunächst den Eisfuchs angesehen wissen. Ihn beherbergt die Tundra, soweit sie sich erstreckt; ihm gewährt sie mindestens im Süden neben unserem Fuchse und anderen Arten seiner Sippschaft Unterhalt und Nahrung; er trägt auch ihre Farben: im Sommer ein Felsen-, im Winter ein Schneekleid; denn felsengrau oder graulichblau entsprießen die Haare seines überaus dichten Felles, und schneeweiß färben sie sich im Winter. Schlecht und recht nach anderer Füchse Art schlägt er sich durchs Leben, und doch ist sein Wesen und Gebahren gänzlich verschieden von dem Auftreten und Treiben unseres Reineke und seiner ihm ebenbürtigen Verwandtschaft. Ihm thut man schwerlich Unrecht, wenn man ihn als ausgeartetes Mitglied einer ausgezeichneten, ungewöhnlich veranlagten, geist- und erfindungsreichen Familie bezeichnet. Von der findigen Klugheit, berechnenden List und nie versagenden Geistesgegenwart seiner Sippschaft bethätigt er kaum die Anfänge. Plumpdreist ist sein Auftreten, zudringlich sein Wesen, unklug sein Gebaren. Als frecher Bettler, als unverschämter Strolch, nicht aber als listiger, alle Umstände wohl erwägender und alle ihm irgendwie möglichen Hilfsmittel nutzender Dieb oder Räuber tritt er auf. Unbesorgt schaut er dem Jäger in das Feuerrohr; ungewarnt durch die ihm geltende, dicht über seinem Leibe dahinsausende Kugel, folgt er seinem furchtbarsten Feinde; unbedenklich dringt er in das Innere der Birkenrindenhütte des wandernden Renthierhirten; sorgenlos naht er sich des Nachts dem im Freien schlafenden Menschen, um von diesem erbeutetes Wild zu stehlen oder sinnlos nach einem entblößten Gliede desselben zu schnappen. Mir selbst ist begegnet, daß ein Eisfuchs, nach welchem ich in der Dämmerung mehrere Male vergeblich schoß, wie ein Hund meinen Schritten folgte: mein alter Jagdfreund Erik Swenson vom Dovrefjelde mußte erfahren, daß ihm ein solcher Nachts die Wilddecke, auf welcher er ruhte, anfraß, und der alte Steller berichtet wahrheitsgetreu noch von ganz anderen Streichen des Thieres, von Streichen, welche Jedermann für unmöglich erklären würde, wären sie nicht durch übereinstimmende Beobachtungen hinlänglich verbürgt. Wohl mag ungenügende Kenntniß des in der Tundra nur spärlich auftretenden Menschen eine wesentliche Ursache des wundersamen Gebarens dieses Fuchses sein; der alleinige Grund aber ist jene Unkenntniß nicht. Denn weder der Rothfuchs noch irgend ein anderes Säugethier der Tundra benimmt sich so unklug wie jener; nicht einmal der Lemming kommt ihm in dieser Beziehung gleich.
(Fortsetzung.)
Nun waren schon Wochen verstrichen, die Meubel gekommen und die Wohnung eingeräumt; Gardinen verhüllten die Fenster, Teppiche lagen auf dem Parkett und Großmütterchens roth verhangenes Himmelbett stand in einer tiefen Nische ihres Zimmers, als wäre diese extra für das riesige Meubel geschaffen. In dem Ofen brannte ein Holzfeuer, auf dem Nähtischchen lag meine Handarbeit, Großmutter strickte am Fenster, Lotte saß an ihrer Staffelei, und Schnips lag blinzelnd im Korbe am Ofen. Es ist alles wie in Berlin, und doch so anders, so viel schöner, dachte ich, und das Herz begann mir stürmisch zu klopfen, denn draußen ächzte die Holztreppe unter schweren Tritten und bald darauf klopfte es an die Thür.
Lotte sah von ihrer Leinwand auf. „Großer Gott, da ist er schon wieder!“ murmelte sie.
Dann öffnete sich die Thür, und Fritz Roden trat über die Schwelle.
„Guten Tag, meine Damen! Guten Tag, Frau von Werthern!“ Er betrachtete aufmerksam drei Rosen, die vom letzten Nachtfrost etwas angekränkelt erschienen, reichte eine der Großmutter, eine Lotte und eine mir. „Das sind die Letzten,“ sagte er dabei, „ich fand sie an einer geschützten Stelle – und nun, wie geht es Ihnen?“ Er zog einen Stuhl in die Nähe des Fensters, nahm Platz und beantwortete sich die Frage selbst, indem er hinzufügte: „Gut natürlich, wie könnte es auch anders sein in diesem behaglichen Stillleben?“
„Wir sind rasch heimisch geworden, lieber Roden,“ erwiderte die Großmutter freundlich, „und das danken wir Ihnen und Ihrer Mutter, meiner guten Friederike.“
Er wurde verlegen, machte eine kurze Verbeugung und schwieg. Er vertrug einmal keine Komplimente.
„Sie haben so treu geholfen bei unserer kleinen Einrichtung,“ sagte trotzdem auch ich.
„Wie ist’s denn mit dem Küchenherd?“ fragte er ablehnend, „raucht er noch?“
„Nein! Danke; ich werde ganz gut damit fertig.“
Lotte’s Staffelei erhielt eben einen kleinen Ruck; sie ward immer ungeduldig, kam die Rede auf Wirthschaftsangelegenheiten.
„Was malen Sie denn jetzt, Fräulein von Werthern?“ erkundigte er sich und betrachtete die kleine Landschaft auf der Staffelei. „Die obligaten Gletscher? Warum denn nicht ein Motiv aus unserer Gegend, zum Beispiel die alte Stettenburg, die so trotzig auf ihrem steilen Felsen liegt?“
„Das ist Geschmackssache,“ gab sie unartig zur Antwort, und ihr feines Näschen blähte sich auf.
„Was machen Sie denn mit all den Bildern, die Sie malen?“ fragte er unbeirrt weiter.
Sie wurde purpurroth, und ein Zornesblitz streifte ihn. Er bemerkte es nicht; sein Blick flog über unsere mit Bildern von Lotte allerdings reich dekorirten Wände. „Ah!“ sagte er, „welch eine Fülle! Beinah wie drüben in den Zimmern des Prinzen Otto.“
„Sind gute Bilder darunter?“ fragte Lotte in einem völlig veränderten Tone.
„Ich verstehe zu wenig davon,“ erwiderte Fritz Roden und nahm wieder Platz, „aber ich hörte einmal das Urtheil eines Düsseldorfer Malers. Er sagte, es seien drei oder vier wirklich werthvolle Gemälde drüben, das Meiste wäre unbedeutend. Es sind eben viele Dilettantenarbeiten dazwischen, Prinz Otto selbst hat Einiges gemalt während der zwei Jahre, die er hier verbrachte – verbringen mußte.“
„Wer ist Prinz Otto?“ fragte Großmutter.
„Der jüngste Sohn unseres Regierenden,“ berichtete Fritz Roden, „der Verzug seiner fürstlichen Mama, und sonst – ein wenig der Schreck seiner Umgehung.“
„Was thut er denn?“ erkundigte sich Lotte.
Fritz Roden überhörte diese Frage und wandte sich mit einem andern Gesprächsthema zur Großmutter. „Wie gefällt Ihnen unser Prediger, Frau von Werthern?“
Lotte aber sah starr zu den Fenstern des Schlosses hinüber, hinter denen die verhüllenden Vorhänge schimmerten. „Sind es diese Zimmer?“ fragte sie dann in unser Gespräch hinein.
„Welche meinen Sie?“ sagte er, „die, wo die vielen Bilder hängen?“
„Ja. Ich vermisse das Berliner Museum bitter, wo ich kopiren konnte,“ setzte Lotte plötzlich hinzu und stand auf.
„Dafür haben Sie ja die herrlichste Natur hier herum, Fräulein von Werthern. Sie glauben nicht, welch köstliche malerische Punkte sich in nächster Nähe befinden, und noch so wenig ausgenutzt.“
Sie schüttelte den schönen Kopf.
„Ich kopire lieber. Würde – dürfte ich jene Bilder wohl einmal sehen?“
„Sicher! Das Schloß wird gezeigt. Wollen Sie, so gehe ich hinüber mit Ihnen.“
„Ja, gleich! Ich bitte!“ rief sie lebhaft.
„Gleich?“ meinte er lächelnd. „Es ist drei Uhr, und es wird zeitig dunkel.“
„Bitte, gleich!“ wiederholte sie, flog lebhaft in das Schlafzimmer und kam bald im Mantel zurück, ein Spitzentuch um den Kopf geschlungen. „Gehen wir!“ rief sie munter.
„Wollen Sie uns nicht begleiten?“ fragte Fritz Roden, als er schon die Thür in der Hand hielt, um sie hinter sich zu schließen.
[53]
[54] „Ich danke,“ sagte ich, „ich will den Kaffeetisch indessen rüsten. Wollen Sie mit uns trinken?“
„Werde leider keine Zeit haben, Fräulein Tone,“ erwiderte er freundlich. „Ein andermal, morgen oder übermorgen. Auf Wiedersehen!“
Sie waren fort, und ich nahm den Schlüsselkorb und ging in das winzige Kämmerchen, das man uns zur Küche eingerichtet hatte. Es war eine recht häßliche Gemüthsstimmung, in der ich mich plötzlich befand. Seit Jahren war ich es gewohnt, die „Andere“ zu sein und heute zum ersten Male rebellirte etwas in mir dagegen; ich hätte, Gott weiß, etwas gegeben, wenn ich einer Andern das Schlüsselbund vor die Füße werfen und ihr sagen konnte: „Quäle Du Dich mit der Prosa des Lebens, bereite Du den Kaffee und das Abendbrot – ich habe keine Zeit, ich muß fort, ihnen nach!“ Aber der kleine Raum war todtenstill, nur die Küchenuhr tickte und mahnte an meinen Marthaberuf. Die Thränen, die sonst gar fest bei mir saßen, drängten sich in die Augen und fielen auf das bräunliche Fell des Hasen, der mitten auf dem weißgescheuerten Küchentisch lag. Gedankenlos strich ich über den Pelz. ich wußte es, den hatte Fritz Roden heimlich dorthin gelegt. Fast kein Tag verging, an dem ich nicht eine ähnliche Ueberraschung vorfand, Wild, Obst, köstliche frische Butter – und wie hatte es mich stets erfreut!
Heute erschien es mir wie Hohn; ich hätte den armen Lampe am liebsten aus dem Fenster geschleudert. „Empörend!“ schalt ich es, „aufdringliches Almosenspenden!“ – Wie ich unmuthig das arme Opfer meines Zornes empornahm, um es nothgedrungen vor das Fenster in die kühle Luft zu hängen, da trug es in seinem blutigen leblosen Mäulchen eine Rose, und diese Rose ließ mich plötzlich lachen wie ein glückliches, reich zu Weihnacht beschenktes Kind; so hell und froh, daß es befremdend von den Wänden zurückscholl. Vorsichtig nahm ich die blasse Blume aus den Zähnchen des Hasen und steckte sie auf mein schwarzes Trauerkleid, und als ich nach einer Weile wieder in das Zimmer trat, bemerkte Großmutter sie und sagte: „Ei, ei, Tone!“ und als ich roth wurde, neckte sie mich:
„An seiner Mutter hast Du auch schon eine Eroberung gemacht; ich darf es Dir ja sagen, Du wirst nicht eitel darum, Tone; mein Gott, es wäre solch großes Glück!“
„Ach Großmama!“ stammelte ich athemlos.
„Ich bin recht müde, Kind,“ sprach sie weiter und streckte mir die Hand entgegen. „Es kommt Alles nach; der Aufregung und des Kummers war es zu viel im letzten Jahre. Ach, Tone, es wäre ein sehr großes Glück!“ wiederholte sie.
Und sie winkte hinüber nach dem weit geöffneten Fenster des Schlosses; dort stand unser Prinzeßchen, warf Kußhände herüber und trieb allerhand Possen, und hinter ihr erschien Fritz Roden’s lächelndes Gesicht. „Sie ist sehr schön, die Lotte,“ sagte die alte Frau, „ich meine, sie wird es alle Tage noch mehr.“ Und als fürchtete sie, mich zu verletzen, wendete sie sich zu mir: „Schönheit hat Vieles voraus, Tone, aber –“ und sie streichelte sanft über mein Haar „aber darum ist sie noch nicht die Beneidenswerthere.“
Ich küßte ihre liebe Hand; ich gönnte ja dem Prinzeßchen ihren Liebreiz neidlos und aufrichtig.
Der Oktober ging vorüber, der November kam und neigte
seinem Ende zu, und häßliche, finstere Nebeltage brachte er uns,
Sturm und Regen. In der Großstadt wirkt solch Wetter nicht so
unmittelbar; die Gasbeleuchtung der Straßen, die geschützten, von
Häusern zugeschlossenen Wohnungen lassen Alles milder erscheinen;
man kennt nicht den Sturm, der sich von den Bergen herabstürzt
und das einsame Haus umtost; vor den Fenstern rauschen und
ächzen nicht hohe Bäume, und das Käuzchen klagt nicht in finsteren
Nächten vom Giebel des steilen Daches, wo es seinen Schlupfwinkel hat. Es giebt keine Schauergeschichten, keine Geister, die
in solchen Nächten lebendig werden – es ist Alles so hell, so
strahlend und so nüchtern, nicht der kleinste Märchenzauber will
gedeihen.
Hier aber war noch Poesie in allen Winkeln. Der Wind sang seine wilden Lieder, und lange konnte ich wachend liegen, ihm zu lauschen und der alten Rotenberger Geschichten zu gedenken, die uns Frau Roden erzählte, wenn sie zur Dämmerzeit ihre gute Werthern besuchte. Mit Fritz Roden machten wir Spaziergänge in den nahen Wald; er zeigte uns die Stelle, wo einst eine Burg gestanden und jetzt nur noch Schlehengestrüpp wucherte auf grünem Grunde. Feierlich still war der Wald, den ich im Winterschlaf noch nicht kannte; nur das dürre Laub raschelte unter unseren Füßen, und zuweilen flog eine Krähe schreiend empor, sonst kein Laut. Und wenn wir in die Tannen kamen, welch herzerfrischender Duft! Die ganze Wonne der Kinderzeit umwehte mich und mahnte an glückliche Weihnachtsabende. Und wie Fritz sprechen konnte, so einfach, so wahr und schlicht; von den Spielen, die er mit den Brüdern und Kameraden im Walde getrieben, wo sie ihre Ritterburg gehabt und ihre Räuberhöhle, wie sie Eichkätzchen gejagt und Buchnüsse gesammelt; und von der Heimkehr Abends mit rothen Wangen und furchtbarem Hunger, und wie ihm doch nirgends in der Welt ein Apfel so gut geschmeckt habe, als die Reinetten aus Mutters Keller.
Wir waren viel zusammen, fast täglich. Jeden Sonntag, das war ausgemacht, speisten wir auf der Domaine; die Martinsgans mußten wir mit verzehren und zum Schlachtfest beim Frühstück helfen. Es war mir Alles so reizvoll, so anheimelnd, ich konnte mir nichts Schöneres denken. Wie der Wind trugen mich die Füße zu der alten lieben Frau, wenn sie fragen ließ, ob mich dies oder das interessire? und dann streichelte sie mir die Wangen. „Wie das blüht! Gelt ja, unsere Luft ist besser wie die Berliner.“
„Ach, tausendmal!“ sagte ich dann aus vollstem Herzen und lief hinter ihr drein, wie der Schnips hinter Lotte. Zuweilen spielten wir Abends vierhändig, Lotte und ich, und dann saßen Mutter und Sohn andächtig lauschend, und hinterher erzählte die alte Frau von den Liedern ihrer Jugend und wie sie so gar gern gesungen. „Von der Alp ertönt das Horn“, worüber Lotte ihre stumme Hoheit gelegentlich vergaß und herzhaft lachte.
Ja, es waren schöne Tage, trotzdem Frau Sorge uns von Berlin auch in das kleine bescheidene Daheim gefolgt war und ich oft bittend vor Großmutter stand mit leeren Händen.
„Tone, Tone, wir leben noch immer zu üppig!“ meinte sie, „Du mußt Alles noch einfacher einrichten.“
„Noch einfacher?“
Großmutter sah – Gott sei Dank – schlecht; sie konnte es nicht bemerken, wie Lotte das Näschen rümpfte über das „Leute-Essen“, wie sie es nannte. Zwar legte ich ihr heimlich die allerschönsten Stücke hin, aber ihre Laune wurde in demselben Grade schlechter, wie die meinige frischer und frischer. Für mich war es Frühling, hellster grüner Mai, wie er jedem Menschenkinde einmal beschieden ist, ein Festtag jeder Tag. Denn regelmäßig klang draußen der liebe wohlbekannte Schritt auf der Treppe, und wenn er eintrat, dann stand das Zimmer voller Sonnenschein.
„Es wäre ja ein großes, großes Glück,“ sagten beständig die Augen der alten bekümmerten Frau auf dem Lehnstuhl am Fenster.
Es war zu Anfang December; ich kam mit Frau Roden aus dem Städtchen zurück, sie hatte schon einige Einkäufe auf Weihnacht gemacht. Wir waren überall mit einem an Ehrfurcht grenzenden Respekt aufgenommen worden, und mir war so recht die Achtung vor einer angesehenen sorgenfreien Existenz in das Herz gekommen. So gesund, so herzerfrischend, so behaglich war das Wesen dieser Frau, die Niemand mehr gab, als ihm zukam, die so richtig mit den Leuten umzugehen verstand, immer das rechte Wort findend. Ich erinnerte mich beschämt der zwei letzten schweren Jahre, in denen der Vater so oft sagte bei diesen oder jenen Einkäufen: „Wenn es nöthig ist, Tone, so nimm es auf Rechnung; ich kann’s jetzt nicht.“ Und ich erinnerte, wie befangen ich in die Läden trat und die unerhörtesten Preise auf unsere Rechnung setzen ließ, die ich nimmermehr bezahlt hätte, wenn die Börse in meiner Tasche nicht so trostlos leer gewesen wäre.
„Nun wollen wir heim,“ sagte endlich Frau Roden, als wir aus einem Fleischerladen traten. „Wahrhaftig, Kindchen, es giebt Schnee – da sind die ersten Flocken!“ Und in der That, es taumelten große weiße Sterne durch die Luft und legten sich auf die schwarze Straußfeder, die Frau Räthin auf dem Hütchen trug. „Und, liebes Kind,“ setzte die alte Dame ein vorher begonnenes Gespräch fort, „da hat mir der Fritz gesagt, daß die Lottchen ganz leidlich malt; – könnte sie denn nicht ihr Talent verwerthen, Ihnen ein wenig zu Hilfe kommen?“
[55] Ich sah die Sprecherin starr an[.]
„Ich meine, die Bilder verkaufen,“ erklärte sie.
„Lotte für Geld malen? Niemals!“ sagte ich bestimmt.
„So! Niemals! – Nun, Sie plagen sich und arbeiten und sorgen, während die kleine Prinzessin zu ihrem Vergnügen in den Farben manscht; Sie thun bitter unrecht!“
„Ach, Lotte ist so eigenartig,“ entschuldigte ich.
„Eigenartig? So! Was soll denn werden, wenn Sie sich einmal verheirathen?“
Ich fühlte, wie ich unter ihren Blicken verlegen wurde.
„Oh – ich!“ stammelte ich.
„Ei, denken Sie denn, es giebt nicht noch Männer, die ein vernünftiges Mädchen zu schätzen wissen? Was thut denn Einer mit solch’ verzogenem Püppchen, wie die Lotte ist? – Heiliger Gott, wenn ich dächte, so ein Prinzeßchen käme mir in meine Wirthschaft! Ja, da könnte ich doch gleich den Fritz als unzurechnungsfähig erklären lassen! Stellen Sie sich doch vor, wenn sie um neun Uhr aufstände und den Tag über malen wollte und allenfalls noch mit ihrem Hunde spielen – nicht einmal zu fressen giebt sie dem Viehchen und will ihn dabei erdrücken vor Zärtlichkeit. Nein, Kindchen, davor behüte Gott jeden rechtschaffenen Mann! Sie ist Ihre Schwester, ja – doch da sind wir –. Hören Sie, Kindchen, ich habe das immer so gehalten, am Tage des ersten Schnee giebt’s Bratäpfel und Punsch; kommen Sie heute Abend mit Großmutter und Lotte und feiern Sie das Eintreffen des Winters mit uns. Und grüßen Sie mir die Werthern.“
Wir standen vor der Thür des Gutshauses, und ich schüttelte der alten Dame die Hand. „Auf Wiedersehen!“ sagte sie noch einmal, nickte mir freundlich zu und stieg die Stufen empor in ihrem schwarzseidenen Mantel, und als ich mich an der Gartenpforte noch einmal wandte, sah ich sie neben ihrem Sohne auf der Freitreppe stehen, und sie schauten mir nach und grüßten.
Die Worte der alten Frau hatten mich wunderbar bewegt, sie kamen wie die Botschaft aus einer andern Welt; und während ich unter den kahlen Bäumen des Domainengartens unserer Wohnung zuschritt, ergriff mich der eine Gedanke, den ich bis jetzt noch immer mühsam beschwichtigt hatte, mit nicht zu bekämpfender Gewalt. Ich sah mich in dem Hause dort, vor dem ich eben gestanden; ich ging durch alle seine Räume; ich wußte, daß ich ein Recht dazu hatte, ein süßes heiliges Recht. Ich sagte „Mutter“ zu einer alten lieben Frau, ich stand an der Seite – an seiner Seite –. Vom ersten Tage, vom ersten Augenblick des Sehens an, war es so gewesen; ich, die nie eine Neigung gehabt, die schon lange geglaubt, über solche „Jugendschwärmereien“ hinaus zu sein, ich war rettungslos gefangen von den ernsten Augen, von dem stillen, ruhigen Wesen Fritz Roden’s.
Und heute – sagte nicht die eigene Mutter, ich könnte wohl einem Manne gefallen? Einen Mann beglücken? – Heiß drängte sich das Blut in meine Wangen, mir war fast schwindelig, und halb betäubt setzte ich mich auf eine kleine Steinbank unter einer breitästigen völlig kahlen Linde und sah mit brennenden Augen hinüber nach den Giebeln des Herrenhauses. Ach, die „Andere“, das Aschenpuddel, mich könnte vielleicht ein Glück treffen, wie es Millionen Frauen vergeblich erhoffen und ersehnen? Mich könnte der Mann wählen, dem mein Herz gehört, um mich heimzuführen in ein Haus voller Frieden, Behaglichkeit und Liebe? – „Ach nein, nein um Gotteswillen, denke nicht daran, denke nicht daran!“ flüsterte es in mir, „die Enttäuschung wäre zu furchtbar!“
Aber ich liebe ihn – ja – daran ist nichts zu ändern! Ich liebe ihn, das bleibt wahr und wenn Alles dawider spräche! Ich liebe ihn, liebe sein grades ungelenkes Wesen, ich liebe sein grundgutes Herz, seine pedantische Würde – ich liebe Fritz Roden!
Und ich sprang empor von der Bank mit glühendem Gesicht und lief durch die köstliche reine Schneeluft, als müsse ich flüchten vor mir selber, und stand dann herzklopfend vor unserer Stubenthür.
Dort innen eine fremde, scharf accentuirte Stimme. Und als ich eintrat, erhob sich mit einer Verbeugung die kleine schwarze Kastellanstochter aus dem Schlosse. Was das für ein paar flammende leidenschaftliche Sterne waren, die unter den langen Wimpern hervorschimmerten! Das einzige Jugendliche in dem schmalen blassen Antlitz, dessen scharfe Züge einst wunderschön gewesen sein mußten.
Lotte aber kam mir mit einem Freudenruf entgegen; das Fräulein Anita habe die Erlaubniß vom Hofmarschallamt gebracht, sie, Lotte, dürfe nach Herzenslust da drüben in den Zimmern des Schlosses kopiren.
„Da drüben?“ fragte ich beunruhigt, „vertraut man meiner Schwester nicht ein Bild an, um hier zu malen?“
„Bedaure sehr,“ sagte Anita, „es ist nicht gestattet.“
„Aber die Kälte in den Zimmern,“ wagte ich einzuwenden.
„Ich habe die Befugniß, zu heizen,“ antwortete sie ruhig.
„Du wirst Dich fürchten, Prinzeßchen,“ scherzte ich, „da drüben giebt es sicher eine weiße Frau – denke, wenn Du so allein –“
„Ich werde mir erlauben im Nebenzimmer zu bleiben,“ unterbrach mich die kleine Schwarze.
Ich erinnerte mich plötzlich an die Worte der Frau Roden: „Das ist kein Umgang für Sie, Kindchen.“ – „Und ich werde mir erlauben, meine Schwester zu begleiten,“ sagte ich, und da trafen sich meine und Anita’s Augen, ein paar Augen, die mir auf den Grund der Seele zu dringen versuchten, als wollten sie fragen: „Wer hat Dir erzählt von mir, von meiner Vergangenheit? Was weißt Du von Menschenlieb’ und Haß, von Leidenschaft?“ Aber sie sagte nur: „Wie Sie wollen!“ grüßte mit einer leichten Verbeugung, wünschte wie in Zerstreuung auf Italienisch a rivederci und war verschwunden.
Blätter und Blüthen.
Marokkanische Frauen. (Mit Illustration S. 53.) Wenn wir in den von Wasser durchrauschten Gartenhöfen der Alhambra umherschlendern, die phantastische Pracht dieses märchenhaft schönen Maurenschlosses anstaunen, gelangen wir auch wohl in einen grotesk gewölbten, mit dem üppigsten Arabesken-Ornament rings bekleideten Saal, aus dessen Fenstern man hinabblickt in einen stillen Garten von Jasmin und Rosen, Orangen- und Myrthendickicht. Um diesen Garten liegen die Gemächer der schönen, unglücklichen Königin Lindoraja, welche arabische Poesie besungen hat in Sprüchen und Liedern. Wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht muthen uns diese stillen Räume an. Alle Pracht des Orients ist da einst aufgehäuft worden, um die Herrin zu erfreuen. Kostbare Stoffe, seltene Wohlgerüche, Blumen, Möbel von Perlmutter und Rosenholz, schwellende Polstersitze statteten die maurischen Gemächer mit den schlanken Hufeisenbogen aus. Durch Gesang und Saitenspiel suchten talentvolle Sklaven der Gebieterin die Zeit zu kürzen, deren einzige Beschäftigung war, sich in Sammt und schwarz Brokat zu hüllen, den schlanken Leib mit prachtvollen Stickereien, mit Perlen und Geschmeide zu schmücken, dann aber alle diese Ringe, die brennenden Augen, die zarten Glieder in weite Schleiertücher zu verbergen, schön zu sein nur für sich selbst und den Mann, der mehr Gebieter als Gatte war. Denn kein freier Ausblick in die paradiesisch schöne Welt, kein Verkehr mit anderen Menschen ist ihr gestattet; mag das Gitter, welches Fenster und Wendelgänge des Mirador schließt, noch so kunstvoll sein, es macht den glänzendsten Harem doch zu einem wohlbewachten Gefängnisse.
Viele Jahrhunderte sind vergangen, seit die holdselige Königin Lindoraja in ihrer Einsamkeit diesen Wänden ihr Leid geklagt, seit sie den strafbaren Versuch gemacht, die Fesseln zu brechen, das glühende Herz, das dem düsteren Herrscher niemals gehört, dem geliebten Manne in dem heimlichen Dickicht der Laube von Jasmin zu offenbaren. Mit grausiger Todesqual hat sie ihre Schuld büßen müssen, seitdem sind die Gemächer der Lindoraja leer und verödet. Die Mauren haben den christlichen Eroberern hier wie überall in Europa weichen müssen, das Maurenschloß auf den Rosenhügeln der Sierra Nevada allein erzählt von der fernen Vergangenheit.
Viele Jahrhunderte sind vergangen. Heute müssen wir weit wandern, über das Meer fahren, um Aehnliches zu finden. Weder in Algier noch in Tunis hat arabische Art sich so rein erhalten wie in Marokko, dessen Bevölkerung noch kaum von abendländischen Einflüssen berührt ist. Dieselben Sitten, dieselbe Volksart, dieselbe Strenge in der gesellschaftlichen Stellung der Frauen, die in dem spanischen Granada ehemals geherrscht, haben die arabischen Stämme in Marokko sich zum großen Theil treu bewahrt. Vor Allem bei den Mächtigen, Vornehmen und Reichen des Landes können wir heute die ehemalige Lebensführung in reiner Form beobachten. Bei den niedern Ständen finden wir schon Spuren neuer Wandlung, denn überall, wo Volksstämme von früherer Höhe abwärts steigen, lockern sich zuerst in den niederen Schichten, bei Armen und Ungebildeten, die ungeschriebenen Gesetze der Sitte und des Herkommens. So sehen wir neben Jüdinnen und Kabylinnen die Weiber des gemeinen Volkes auch in Marokko scheu durch die engen Gassen huschen, gierig vor den in den Bazaren aufgehäuften Kostbarkeiten kauern, in den Apotheken und Spezereigewölben bei einander hocken, um lustig zu plaudern und zu klatschen.
Weit weniger gut hat es die vornehme, mit allem erdenklichen Luxus umgebene marokkanische Frau. Gleich der schönen Lindoraja erblickt sie die Außenwelt nur durch die engen Vergitterungen der Fenster oder der [56] Sänfte, die Natur nur in den Laubgängen des von hoher Mauer umschlossenen Gartens. Was hilft ihr aller Schmuck, alle Pracht, womit die Orientalen ihre Weiber zu umgeben lieben? Die schwellenden Teppiche, die mit Elfenbein inkrustirten Möbel, die schweren Vorhänge, das wundervolle Geräth, welches die orientalischen Kunstgewerbe unnachahmlich schön bilden, vermögen die Leere nicht auszufüllen, welche die vornehme und geistig entwickelte maurische Frau empfindet.
Die Türkin, das Weib aus mongolischem Stamme, ist gröber geartet. Plump und derb in der äußeren Erscheinung, fett, mit gewulsteten Lippen, ohne jene Rassenschönheit der semitischen Frauen, läßt sie sich auch an materiellem Dahinleben genügen. Ihr bereiten die Juwelen, die gestickten Gewänder Freude, mit denen der Gatte sie behängt, sie nascht mit Leidenschaft Süßigkeiten, verschmäht gelegentlich auch wohl den Haschisch nicht und träumt auf dem Divan gestreckt vom Paradiese, von den Entzückungen ewigen Wohllebens, ewiger müßiger Sorglosigkeit. Sie fühlt sich glücklich im Harem in wunschlosem Verkehr ihres Gleichen.
Die arabische Frau, wie der Harem vornehmer Marokkaner sie in seinen Gemächern birgt, ist von edler, höherer Rasse. Gertenhaft schlank und geschmeidig, mit zarten Gliedern, seinem Schnitt der Züge, kleinem Kopfe, mit feurigem, sehnsuchtsvoll ins Ungewisse blickendem Auge, kann sie von großer Schönheit sein, die sich fast immer mit Anmuth paart. Ist sie aber zufrieden und glücklich? Nur selten dringt ein profaner Blick in das Innere marokkanischer Frauengemächer, nur selten lüftet sich ein Zipfel der verhüllenden Schleiertücher. Was wir aber auf solche Art von dem Wesen dieser Frauen erhaschen, das nöthigt uns, diese armen Reichen eher zu bemitleiden als zu beneiden. Auf weißem Kameele, vermummt in gelbe, die ganze Gestalt umhüllende Schleier, folgt die Braut ihrem Gatten in sein Heim, folgt ihm vielleicht als kostbarste Habe, aber doch immer als ein Eigenthum, über das der Herr unbedingt gebietet, das er vor jeder Berührung mit der Außenwelt streng behütet. Glücklich, wenn das junge schöne Wesen niemals zum Bewußtsein seiner Abhängigkeit gelangt, wenn es dahinlebt in kindlicher Harmlosigkeit, seine Welt sieht und genießt in den Räumen des Harem, in Saitenspiel, Gesang und Erfüllung ihrer kaum drückenden Pflichten. Erwacht aber die Seele der Gefangenen zu selbständigem Leben, zu freieren Regungen, und dringt vielleicht ein zündender Funken von außen her in das arme Herz, dann muß die fein und zart organisirte arabische Frau schwer leiden, tief und aussichtslos unglücklich werden, so unglücklich wie Lindoraja auf ihrem Königsthron von Granada. Fritz Wernick.
„Präsentirt das Gewehr!“ (Mit Illustration S. 45.) Einer der besten Menschen, der humorvollsten Schilderer unseres Volkslebens und einer der trefflichsten Künstler ist mit Karl Spitzweg, dem süddeutschen Ludwig Richter, am 23. September v. J. aus dem Leben geschieden. Die Nachricht von seinem Tode war eine Trauerkunde für alle Freunde der Kunst in ganz Deutschland, denn überall haben seine lebensvollen Darstellungen dem „Dichter in Farben“, dem Meister, der nie eine Akademie oder Malschule besucht und doch es verstanden hat, sich einen ehrenvollen Namen in der deutschen Kunst zu sichern, aufrichtige Anerkennung – hat der schalkhafte, packende und doch behagliche Humor, mit welchem er die kleinen Schwächen der Menschen so unwiderstehlich komisch zu zeigen wußte, ihm die Herzen gewonnen. Will man die ganze Liebenswürdigkeit Spitzweg’scher Kompositionen kennen lernen, so ist das hier mitgetheilte „Präsentirt das Gewehr!“ ein vortreffliches Muster des vollendeten künstlerischen Reizes der Gattung. Wie der Junge vor dem alten Invaliden mit drolligem Ernste präsentirt und dieser sich ebenso martialisch in die Brust wirft, das paßt unübertrefflich zu dem prächtig malerisch auf seinen Felsen aufgethürmten altdeutschen Städtchen, welches, den köstlichen Mittelgrund des Bildes füllend, uns sofort an Landsberg, Dachau, Freising oder sonst eines jener urgemüthlichen altbayerischen Nester erinnert, von denen Landshut mit seiner herrlich malerischen Trausniz den gelungensten Typus bildet. Ueberall neues Leben aus den Ruinen erblühen lassend, das Alte nicht in unversöhntem Gegensatze zum Neuen, sondern in freundlichem Verhältnisse zu demselben zeigend, erinnert Spitzweg hier direkt an Salomon Roos oder Geßner. Es ist eben eine Idylle der köstlichsten Art, voll Sonnenschein, Munterkeit und feinen Blickes für alle die Schönheit und tiefe Gemüthlichkeit, an der unser Vaterland gerade in seinen weltvergessen abseits von der Eisenbahn liegenden alten Städtchen so überreich ist, daß man nur bedauert, sie nicht am Arno statt an der Isar oder dem Lech liegen zu wissen, da dann die Deutschen sie weit eher beachten und schätzen lernen würden. Oder wer hätte jemals außer jenem herrlichen Landshut, Ueberlingen am Bodensee, Rothenburg ob dem Tauber, Miltenberg am Main oder gar das köstliche Meißen gesehen und sich nicht gesagt, daß ganz Italien in seinen Bergstädtchen keine ähnliche Vereinigung von historischem Dufte, malerischem Reiz und tiefer alles mit Liebe umfassender und verklärender Gemüthlichkeit habe. Diese Art von herzerquickender Poesie eines still befriedigten, harmonischen, abgeschiedenen Daseins aber hat nie einen besseren Darsteller gehabt als unseren Spitzweg.
Die größten Zuchterfolge der Welt haben ohne Zweifel die Preßhefefabriken nachzuweisen. Die Hefe besteht bekanntlich aus mikroskopischen Pilzen, von denen 20 Millionen aufs Pfund gehen. In einer großen Preßhefefabrik, die täglich 100 Centner Hefe herstellt, werden somit Tag für Tag 200 000 Millionen dieser nützlichen Pilze gezüchtet.
Spielen und lernen. Die Freunde der Rubrik „Allerlei Kurzweil“ werden es gewiß gern sehen, wenn wir sie von Zeit zu Zeit auf solche Spiele aufmerksam machen, die neben der Unterhaltung auch den Zweck der Belehrung verfolgen. Der Gedanke, das Kinderspielzeug in gewissem Sinne zu einem Lernmittel zu gestalten, ist allerdings nicht neu, er ist aber keineswegs tiefer in unsere Gesellschaft gedrungen; die wenigsten Eltern beachten bei der Auswahl des Spielzeugs für ihre Kleinen die Nützlichkeit desselben und versäumen dadurch die Gelegenheit, den Wissenskreis des Kindes durch das einfache Mittel der Selbstunterhaltung zu erweitern. Darum scheint uns eine kleine Rundschau der neuesten Spiel- und Bildungsmittel gerade an dieser Stelle nicht zwecklos zu sein.
Wir beginnen dieselbe mit einem uralten Spielzeuge, dem Baukasten, der wegen seiner Dauerhaftigkeit namentlich Knaben so gern beschert wird. Schon sein erster unbekannter Erfinder hat demselben den Charakter eines Lernmittels gegeben; denn selbst der einfachste Baukasten vermag die Anschauungen des Kindes über Raum, Größenverhältnisse etc. zu schärfen und zu entwickeln. Man hat aber bis jetzt nicht beachtet, daß dieses Spielzeug nur einer planmäßigen Reform bedurfte, um zu einem Bildungsmittel ersten Ranges gestaltet zu werden. Diese Reform hat in neuester Zeit Major von Nostiz in sehr geistvoller Weise durchgeführt, und sein „Spiel- und Bildungs-Baukasten für Kinder jedes Alters“ (Verlag von Fr. A. Perthes in Gotha) verdient nach dieser Richtung hin die vollste Anerkennung.
Schon auf den ersten Blick unterscheidet sich derselbe wesentlich von unserm alten Bekannten. Die Hölzer sind in der Mitte mit Einschnitten, „Nuten“, versehen, in welche kleine vernickelte Blechstreifen eingezwängt werden. Durch diese einfache Vorrichtung werden die Hölzer unter einander dauerhaft verbunden, die aufgeführten Bauten fallen nicht zusammen, sodaß die Kinder selbst sehr verwickelte Konstruktionen mit vorspringenden Erkern etc. leicht aufführen können. Ferner sind die einzelnen Hölzer aus verschiedenen Holzarten – aus Fichten-, Eichen- und Buchenholz verfertigt, wodurch das Kind eine für das praktische Leben nicht unwichtige Kenntniß erlangt. Sonst ist die Ausstattung schlicht und einfach; bunte Farben, feine gedrechselte Gesimse und ähnliche äußerlich bestechende Beigaben fehlen gänzlich, dagegen ist die Mannigfaltigkeit der einzelnen Stücke sehr groß, und es gehören zu dem Baukasten zwei starke Hefte mit Erläuterungen, Plänen und Vorlagen, mit deren Hilfe der kleine Baukünstler fortschreitend die einfachsten Häuser und die schönsten Tempel, Triumphbögen, Pyramiden, Gräber, Basiliken, überhaupt Bauten verschiedener Stilarten zusammenstellen lernt. Selbst geometrischen Anschauungen wird für reiferes Alter Rechnung getragen und spielend prägt sich hier der Knabe das Verhältniß des Kreises zum Quadrat, den Pythagoras etc. ein. So ist der v. Nostiz’sche Baukasten in der That ein treffliches Bildungsmittel für Kinder verschiedenen Alters und verdient die weiteste Verbreitung in deutschen Familienkreisen.
Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 1: Die Ziffer, welche bei jedem Blatte die Seitenzahl bedeutet, zeigt an, der wievielte Buchstabe im Titelworte des betreffenden Blattes abzulesen ist. Die so gefundenen Buchstaben, in der Reihenfolge der Seitenzahlen zusammengesetzt, geben die Worte: „Die Gartenlaube“.
Verlobung von Franziska und Hans. Wir haben die uns übersandten 50 Mark für die Hinterbliebenen der Mannschaft der „Augusta“ an die Sammelstelle der Exedition des „Leipziger Tageblattes“ überwiesen.
E. S. in Hannover. Das von Turpin in Paris erfundene Panklastit besteht aus Stickstoff-Superoxyd und zeichnet sich unter Anderem dadurch aus, daß es in freier Luft ruhig verbrennt. Um es zum Explodiren zu bringen, bedarf es erst der Zündung, z. B. dur[ch] ein Zündhölzchen. Panklastit hat eine bedeutend höhere Sprengkraft als Dynamit, besonders nach unten. Es verhält sich zum Dynamit etwa wie dieses zum gewöhnlichen Schießpulver. Man kann es nach Bedarf kräftiger oder schwächer herstellen.
A. Z. R. Wenden Sie sich an einen Arzt in Ihrem Wohnort!
Inhalt: Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 41. – Winterlandschaft. Illustration. S. 41. – Römische Cäsaren. Von Johannes Scherr. Caligula. (Fortsetzung.) S. 47. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. 1. Die Tundra und ihre Thierwelt. S. 49. Mit Illustrationen S. 49 und 51. – Die Andere. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 52. – Blätter und Blüthen: Marokkanische Frauen. S. 55. Mit Illustration. S. 53. – „Präsentirt das Gewehr!“ Von Fr. Pecht. S. 56. Mit Illustration S. 45. – Die größten Zuchterfolge der Welt. – Allerlei Kurzweil: Spieten und lernen. – Der Sternschnuppenfall. – Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 1. – Kleiner Briefkasten. S. 56.