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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 2.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Was will das werden?

Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)


Ernst von Vogtriz, der Sohn des Majors, um ein paar Jahre älter als ich, war in dem Stalle von einem Reitpferde seines Vaters geschlagen worden und, gegen die Schläfe getroffen, auf der Stelle todt gewesen. Ernst hatte bereits in Oberquinta gesessen, während ich noch Unterquintaner war; aber ich kannte ihn wohl: er hatte große blaue Augen und braune Locken gehabt, die ihm weich und lang auf den breiten Hemdkragen fielen, und ein rosiges, immer freundliches, wunderhübsches Gesicht. Ich hatte nie ein Wort mit ihm gesprochen ihn dafür aber immer aus der Ferne mit scheuer Bewunderung angestaunt als eine Art von überirdischem Wesen, das sich natürlich um den armen Tischlerjungen und Unterquintaner nicht bekümmert hatte und nicht zu bekümmern brauchte. Und nun war er todt, und wer fütterte nun seine Kaninchen?

„Hat er denn welche gehabt?“ fragt der Vater.

Darauf bleibe ich die Antwort schuldig. ich weiß es nicht. Möglicherweise hat er keine gehabt: es haben ja viele Knaben keine; aber es scheint mir, daß es viel hübscher sei, welche zu haben und sie füttern zu können, als keine zu haben und noch dazu todt zu sein. Darüber fällt mir ein, daß Karl Brinkmann drüben auf dem Hopp’schen Hofe den Leichenwagen gewiß für Ernst von Vogtriz aus dem Schuppen gezogen hat und zurecht macht. Ich theile diese Entdeckiung, auf die ich sehr stolz bin, dem Vater mit, der sie mit einem Kopfnicken bestätigt, um, während er jetzt eifrig weiter arbeitet, eine dringende Warnung daran zu knüpfen vor Pferden im allgemeinen und den Hopp’schen Pferden im besonderen; und daß er sich immer geängstigt habe, wenn ich mit Gustav drüben im Pferdestall und auf dem Heuboden gespielt; und daß er hoffe, ich werde nun, da Gustav todt sei, und die übrigen Hopp’schen Kinder älter oder jünger als ich, diese gefährlichen Spiele nicht wieder anfangen.

Ich habe mich bereits gewöhnt, nach dem Vorgang des wilden Bruders August auf die Aengstlichkeit des guten Vaters, die uns überall von Gefahren umgeben sieht, kein großes Gewicht zu legen; aber in diesem Falle finde ich seine Sorge doch ganz gerechtfertigt. Daß ich gesund geworden bin, während zwei beinahe gleichaltrige Knaben, von denen der eine noch dazu mein intimer Freund gewesen ist, kurz hinter einander dem Tode erlegen sind, hat mir einen bedeutenden Respekt vor mir selbst eingeflößt und vor der Kostbarkeit meines so ersichtlich geschützten Lebens. Ich verspreche also mit ordentlicher Rührung dem Vater, in Zukunft besonders vorsichtig zu sein, und berühre dabei mit dem Finger unwillkürlich die Narbe auf meiner Stirn, von der erst seit einigen Tagen die


Die kleine Strickerin.0 Nach einem Oelgemälde von Adolf Echtler.

[22] Binde entfernt ist, als wolle ich dieses Erinnerungsmal meines neulichen Unfalls zum Zeugen der Aufrichtigkeit meines Versprechens anrufen. Ja, ich glaube, ein übriges thun zu müssen, um dem guten Vater einen Beweis zu geben meiner Wohlgeneigtheit und des Wunsches, ihm gefällig zu sein, und erkläre, daß ich fest entschlossen sei, nicht mehr, wie früher, Kutscher werden zu wollen. Es sei der Gedanke dazu auch eigentlich mehr von Gustav Hopp ausgegangen, als von mir, und wenn Gustav gesehen hätte, wie Karl Brinkmann den Wagen, auf dem er ihn nach dem Johanniskirchhof gefahren, in Hemdärmeln gewaschen und dazu gepfiffen, würde er Karl Brinkmann auch nicht so lieb gehabt haben.

„Was möchtest Du denn nun werden?“ fragt der Vater.

ich sinne nach mit halbgeschlossenen Augen, vor denen die schöne Welt in ihrer Herrlichkeit auftaucht, an der ich eben erst da oben auf dem Wall meine morgenfrische Seele berauscht habe. Und es ist wohl aus diesem Rausche heraus, daß ich mit zitternden Lippen antworte:

„Ich möchte etwas Großes werden, etwas ganz Großes und Schönes, das blinkt und leuchtet, ich möchte König oder Kaiser werden!“

Der Vater, der den Hobel hat ruhen lassen, sieht mich so eigen mit seinen träumerischen Augen an. Ich breche deßhalb ab und füge schüchtern hinzu. „Das heißt, wenn Du es erlaubst.“

Ich denke, der Vater wird nun etwas sagen und mir die Erlaubniß geben, König oder Kaiser zu werden – erlaubt er mir doch sonst alles! Aber er antwortet nicht, sondern blickt mich nur immer so weiter nachdenklich an, während die Linke langsam durch den Bart streicht.

Ich kenne die liebe runzlige braune Hand mit den arbeitstumpfen Nägeln so genau, und daß sie vierfingerig sei, ist bis heute für mich so selbstverständlich gewesen, wie, daß der eine der beiden Thürme der Nikolaikirche keine Kuppel hat; aber ich sagte schon: es war dies ein besonders merkwürdiger Tag in meinem Leben, an dem die kleine Menschenpflanze auf einmal einen großen Schuß that, der dann wieder für lange Zeit reichen mochte und auch wohl gereicht hat.

So sind denn meine Königsträume plötzlich zerflattert bei dem Interesse, das mir des Vaters Hand einflößt, und ich frage so plötzlich, daß ich mich selbst darüber verwundere:

„Warum hast Du nur vier Finger an Deiner Hand?“

Der Vater legt den Hobel weg, setzt sich – ein Zeichen, daß er in der Arbeit eine Pause machen will – auf den dreibeinigen Schemel und drückt das abgetragene rothe Fez, welches stets neben ihm auf der Hobelbank lag, auf den kahlen Scheitel. Ein Lächeln spielt um die Augen und um die nachdenklich herabgezogenen Winkel des Mundes, indem er erst die obere und dann die untere Fläche der Hand betrachtet, als ob er selbst heute zum ersten Male den Schaden bemerkte.

„Sie haben ihn mir abgeschossen,“ sagt er.

„Wer?“

Der Vater bleibt die Antwort schuldig.

Ein fremder, langsamer und leiser Schritt kommt über den Hof, und in der offenen Thür steht der Major von Vogtriz. Er faßt an die Mütze und fragt: Tischler Lorenz?

Der Vater sagt: ja, indem er sich schnell von dem Schemel wieder erhebt, das Fez abnimmt und sich, im Aufstehen, den Hobelstaub von der blaugrünen Schürze streift.

Der Major tritt durch die Thür, wobei er sich ein wenig bücken muß, und nimmt, die Höflichkeit meines Vaters erwidernd, ebenfalls die Mütze ab. Er läßt einen flüchtigen Blick durch die Werkstatt schweifen, der auch wohl mich streift, sich alsbald aber auf den Vater heftet, mit dem er an zu sprechen fängt – ich höre nicht worüber und was – so ganz bin ich in den Anblick des Mannes versunken, als hätte meine heute gefeite Seele die Ahnung durchzuckt, daß einst an dieses Mannes Geschick mein eigenes sich knüpfen sollte. Doch das ist ein nachträglicher Gedanke. Was in jenen Minuten mein Auge an ihn fesselte, war schwerlich etwas Anderes als seine Erscheinung, die mir unsäglich imponirte, der ich nichts Vornehmeres und Schöneres gesehen zu haben glaubte, vielmehr gesehen hatte, und – darf ich jetzt hinzufügen – später im Leben gesehen habe. Eine so ritterlich hohe und zugleich so schlank anmuthige Gestalt, von der jede Bewegung das Auge wohlthuend berührte, wie das Ohr ein verschwebender Ton; so edel klare, vom reinsten Wohlwollen belebte Züge; so wundervolle dunkle mandelförmige Augen, die für gewöhnlich eine sanfte Schwermuth erfüllte, während sie in Momenten der Begeisterung von einem fast überirdischen Feuer erglänzten; dazu eine Stimme weich und mild, nur tiefer wie eine Frauenstimume, und die doch beim Kommandiren oder, wenn er erregt war, einen ehernen Klang hatte, vor welchem und vor dem Blitz, der dann aus seinen Augen zuckte, ich Gegner, die mit dem liebenswürdigsten der Menschen leicht fertig zu werden meinten, habe erbleichen sehen.

Das klingt wie die Schilderung eines Romanhelden – ich weiß es wohl; und ist doch nichts, als die lauterste Wahrhaftigkeit, die nach einem Ausdruck ringt, von dem sie fühlet, daß er hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Und wenn ihr Romanheld nennt, der für das Leben zu gut und zu edel ist, und dessen Gleichen man deßhalb im Leben schwerlich findet – nun, du Bester, Edelster, sie haben dir so oft gesagt, daß du in das Leben nicht taugtest! Und hast diese Untauglichkeit so schwer büßen müssen! Den Spott erdulden müssen, welchem der nicht entgeht, der den Schaden hat! Und erdulden müssen von solchen, die nicht werth sind, seine Schuhriemen zu lösen. So laß dir immer den Titel eines Romanhelden gefallen: er ist in meinen Augen dein höchster Ehrentitel.

Da sind meine Gedanken wieder bei dem Jetzt und sollten doch bei dem Damals sein. Ich weiß nicht, wie die Romanschreiber es machen, bei denen sich alles so glatt eines aus dem anderen entwickelt, und man auf der einen Seite nie weiß, was auf der nächsten stehen wird. Ich sehe jetzt, welch eine schwere Kunst das sein muß, und doch werde ich ein wenig in die schwere Kunst zu pfuschen lernen müssen, oder ich werde mein Vorhaben nicht ausführen: aus der Betrachtung meines Lebens zu entnehmen, wie sich aus dem Früher das Später, aus dem Damals das Jetzt entwickelt hat; wie ich werden mußte, was ich geworden bin.

So, du kleiner Kerl, da sitzest du wieder ein paar Schritte abseits und starrst mit großen Augen auf den Mann, der deiner staunenden Kinderseele ist, was dem Gläubigen eine himmlische Vision. Die Beiden haben ihre Unterredung beendet, die, wie ich mich dunkel erinnere, von dem Sarge gehandelt hat, der vorhin von Bruder Otto dem Major ins Haus gebracht ist, und an welchem dieser noch, ich weiß nicht was, verändert oder angebracht zu sehen wünscht. Indem er sich zum Gehen wendet, streift sein Auge mich zum zweiten Male. Er bleibt in halber Wendung stehen, während mein Blick, wie magnetisch angezogen, an dem seinen haftet, der auf mir mit einem unbeschreiblichen Ausdruck ruht. Und haften bleibt, als er jetzt an mich herantritt und mir die Hand auf den Kopf legt, während aus den schönen feuchten Augen, in die ich emporstarre, zwei große Thränen sich lösen und langsam die braunen Wangen hinabrollen in den glänzend schwarzen Bart, der, kurzgeschoren, Mund und Wangen des Mannes umrahmt.

„Wie alt bist Du?“ fragt er.

Ich sage es.

„Mein Ernst war nur ein Jahr älter,“ murmelt er.

„Er hatte so große blaue Augen und so schön dunkle Locken,“ sage ich.

„Du hast ihn gekannt?“ fragt er, indem er mich mit beiden Händen an den Schutern ergreift und vor sich hinstellt. Und jetzt rollen die Thränen unaufhaltsam über seine Wangen.

„Ja,“ sage ich; „er war aber in Oberquinta, ich bin erst in Unterquinta.“

Der Major mag sich gewundert haben, wie das Tischlerkind auf das Gymnasium kommt, und hat dann wohl meinem Vater einen fragenden Blick über die Schulter zugeworfen, denn mein Vater antwortet. „Es ist mein Stiefsohn.“ Er hat es nur gemurmelt und ich bin überzeugt, ich habe es nicht hören sollen. Aber ich habe es gehört, das Wort – wohl zum ersten Male in meinem Leben und ohne seine Bedentung zu kennen, oder darüber nachzudenken für den Augenblick, der ganz dem schönen Wundermann gehört. Der spricht jetzt wieder mit dem Vater und läßt sich, glaube ich, von diesem berichten, wie ich zu der Narbe auf der Stirn gekommen bin, und daß ich schon seit Wochen nicht in die Schule gehe.

[23] Jetzt wendet er sich wieder zu mir.

„Was willst Du denn werden, mein Sohn?“

„Soldat!“

Ein wehmüthiges Lächeln zuckt über das schöne Gesicht.

„Auch mein Ernst wollte Soldat werden,“ murmelt er.

Er sinnt nach, indem er mich aufmerksamer als je betrachtet. Ich weiß jetzt, was er damals in seiner Seele erwogen hat, Aber er war nicht der Mann, eine Lücke, die das Unglück in sein Leben gerissen, auf Kosten eines anderen Menschen zu füllen, und ein Blick in das bleiche stille Gesicht meines Vaters, dessen gute Augen während dieser kleinen Scene zärtlich auf mich gerichtet gewesen sind, hat ihm gesagt, wer der sei, der die Kosten würde zu tragen haben.

„Und Du liebst Deinen Vater sehr?“ fragt er mich.

„Ja,“ sage ich treuherzig.

„Fahre fort ihn zu lieben, und Gott segne Dich!“

Er hat mich zu sich emporgehoben, mich geküßt, und will zur Thür hinaus.

Der Vater hat einen jener Momente, wie sie ihm häufig kommen, wo er, alles um sich her vergessend, in sich hinein träumt und mechanisch mit der Linken durch den grauen Bart streicht. Der Major sagt freundlich: „Adieu, Meister!“

Der Träumer erwacht und blickt dabei unbewußt auf seine Hand, da sie es gewesen, von der seine Träumerei ausgegangen ist. Der Major bemerkt die Verstümmelung und sagt in demselben freundlichen Ton: „Das muß die Arbeit sehr erschweren, Meister.“

Der Vater wird roth und macht eine verlegene Bewegung, als wolle er die Hand verbergen.

„Ich habe mich daran gewöhnt,“ murmelt er.

„Ist es eine Schußwunde?“ fragt der Major; „es sieht so aus.“

„Ja,“ sagt der Vater zögernd.

„Soldat gewesen?“ fragt der Major.

„Nein.“

„Jäger?“

Der Vater schüttelt den Kopf. Und als er den Blick des Majors noch immer fragend auf sich gerichtet sieht, murmelt er ein paar Worte, die ich nicht verstehe.

„Ah!“ sagt der Major.

Ueber sein schönes Gesicht zieht es wie eine Wolke, aber nur für einen Moment. Dann lächelt er wieder wehmüthig freundlich und sagt: „Aber nicht wahr? heute keinen Groll mehr!“ und dabei streckt er dem Vater die Hand entgegen.

„Nicht gegen Sie, Herr Major,“ antwortet der Vater, indem er seine Hand in die des Majors legt.

Wie oft, wie oft habe ich später dieses Augenblickes denken müssen, als der hohe Soldat in seiner schönen Uniform da stand und meinem armen Vater in seinem Werkeltagszeug die Hand reichte, und der Sonnenstreifen über beide fiel!

Aber jetzt denke ich nicht daran, und das Gespräch der Beiden hat keine Bedeutung für mich gehabt. Ein Funke ist in meine Seele gefallen und hat sie in Flammen gesetzt. Als der Vater, der den Major über den Hof und durch das Haus auf die Straße begleitet hat, in die Werkstatt zurückkehrt, findet er mich dort nicht mehr. Ich bin hinaus und hinauf auf den Wall geeilt und spiele Soldat auf eigne Hand mit imaginären Feinden, die ich mit Hurrah aus den Haselbüschen vertreibe und über den Wall hinab in die See werfe, um die eilig Davonrudernden mit höhnenden Reden zu verfolgen.


4.

Von dem Tage an Wochen oder auch Monate hindurch hatte Emil Israel einen schweren Stand.

Bis dahin hatte ich die wilden Spiele ausschließlich mit Gustav Hopp und seinen zahlreichen Geschwistern oder sonstigen Kameraden gespielt auf Hopp’schem Revier im Pferdestall, in der Wagenremise, eingeschlossen den darüber liegenden Heuboden bis zum obersten Balken hinauf; die zahmen Spiele ebenso ausschließlich mit Emil auf unserm kleinen Terrain, manchmal (wie an jenem denkwürdigen Abend) auf der Gasse, niemals auf Israel’schem Gebiet, das zum Spielen nicht verlockte.

Seit Gustav todt war und sich in mir ein Widerwille gegen Karl Brinkmann, den Kutscher, festgesetzt hatte – sehr mit Unrecht, denn es war ein braver Bursch und den spielenden Buben stets ein treuer Eckart gewesen – mußte Emil als Genoß für alle Spiele eintreten. Ich aber wollte nichts Anderes spielen als Soldat. Zum größten Kummer Emil’s, dem es an jeglicher Sympathie für meine kriegerischen Gelüste fehlte und ebenso an der physischen Veranlagung zur regelrechten Ausführung einer militärischen Operation oder fortifikatorischen Anlage. So erschien mir in Anbetracht unserer gefährdeten Lage unabweislich, daß den Feinden, welche uns von der Seeseite angriffen, eine Schanze auf der Höhe des Walles entgegengethürmt werden müßte, von der wir ihr Nahen (das sie heimtückisch immer erst unter dem Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit versuchten) beobachten und durch ein wohlgezieltes Feuer unsrer Kanonen abweisen könnten. Schon bei Errichtung der Burg (sie war kreisrund mit einer einzigen Oeffnung nach der Landseite, zwei Schießscharten nach der Seeseite, auswendig mit Rasen belegt, inwendig mit Heu und Stroh gepolstert, oben mit Stangen, Reisig und Haselzweigen überdeckt und mochte, alles in allem, einer Vogelhütte en miniature gleichen) hatte Emil bei dem besten Willen, den er offenbar zu dem Werke mitbrachte, an dem unser Heil hing, eine Ungeschicklichkeit an den Tag gelegt, die mich manchmal ergötzte, viel öfter aber empörte. Noch viel schlimmer aber wurde die Sache, als es nun galt, Abend für Abend, das große Werk zu vertheidigen, was selbstverständlich in der Weise geschah, daß einer als Besatzung in demselben blieb, während der andere die dichten Büsche absuchte, in welchen sich die heimlich Gelandeten versteckt haben konnten, oder, wenn in den Büschen schlechterdings nichts zu entdecken war, den Wall bis zum Strand hinabpatrouillirte, dort nach den zweifellos Kommenden, lautlos Heranrudernden (sie hatten die Ruder stets mit Stroh umwunden) auszuspähen. Emil erwies sich gleich unbrauchbar zum Wachdienst, wie zum Patrouillendienst. Anstatt in der Burg zu bleiben, was seine heilige Pflicht war, fand ich ihn, so oft ich von meiner Patrouille zurückkam, vor dem Eingange kauernd, bleich vor Sorge und Angst über mein langes Ausbleiben; kam nun die Reihe des Patrouillirens an ihn, so schlich er zaghaft und still um die dunkeln Büsche herum, während seine Ordre dahin lautete, mit wildem Geschrei in dieselben einzubrechen und wer sich ihm entgegenstellte, mit dem Bajonnet über den Haufen zu rennen. Nun gar den Streifzug bis zum Strande auszudehnen, konnte ich ihn durch nichts bewegen. Es ist wahr, die Piraten, mit denen ich da unten (auf meinen Patrouillen) oft Brust an Brust zu kämpfen hatte, waren gräuliche Mordgesellen mit schwarzen Bärten, funkelnden Augen, ellenlangen, haarscharf geschliffenen Schwertern und spitzigen Dolchen. Aber es war doch seine Pflicht, mir zu Hilfe zu kommen, wenn ich, zu hart bedrängt, von unten her um Hilfe rief, um dann freilich, da keine Hilfe kam, den Strauß allein auszufechten und die Mordgesellen mit blutigen Köpfen ins Meer zurückzuwerfen.

So schalt ich auf den guten Jungen ein und schämte mich meiner Grausamkeit (und meiner Lügen), wenn er bei meinem Bramarbasiren immer stiller und verlegener wurde, immer krampfhafter an der langen Unterlippe sog und ihm wohl gar die Thränen aus den kleinen braunen kurzsichtigen Augen an der langen fleischigen Nase herabliefen. Aber alle Angst, die ich ihn ausstehen machte, die schlechte Behandlung, welche ihm nur zu oft zu theil ward, Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit, die ihm sicher schon in diesem militärischen Stadium unsrer Freundschaft kamen und ihm, der die Wahrheitsliebe selber war, schwere Skrupel bereiten mußten, – nichts konnte ihn in seiner Treue und Liebe zu mir erschüttern, nichts auch nur den Wunsch in ihm erregen, mir die für ihn oft so lästige Gefolgschaft und demüthigende Botmäßigkeit zu kündigen. Er war und blieb mein Höriger und Vasall, seinem Lehnsherrn zu aller Zeit hold und zu jeder Dummheit, die dieser zu dekretiren beliebte, gewärtig. Dafür darf ich denn ohne Ruhmredigkeit behaupten, daß ich meine lehnsherrlichen Rechte nicht ausübte, ohne der obligaten Pflichten eingedenk zu sein. Und diese Pflichten waren nicht immer leicht. Es kam meiner Eitelkeit oft schwer genug an, dem Spott der andern Knaben gegenüber mich zu dem häßlichen „Judenjungen“ als meinem Freund und Kameraden zu bekennen. Und blieb es doch nicht immer beim Spott! Wie manchmal habe ich ihn ritterlich aus einer Bande ihn mißhandelnder Gassenjungen herausgehauen, ohne der Knüffe und [24] Püffe zu achten, die dabei für mich abfielen! Auch hatte ich immer Zeit, ihm, dem das Lernen entsetzlich schwer wurde, die Exercitia zu korrigiren, die Aufsätze Wort für Wort in die Feder zu diktiren, die Vokabeln Silbe für Silbe einzutrichtern. Und wenn ich mir dafür von ihm die Exempel rechnen ließ, so that das meiner Würde keinen Eintrag, da, in dieser Kunst zu excelliren, für einen, der Kaufmann werden sollte, selbstverständlich war, während es sich für einen künftigen Soldaten kaum geschickt haben würde.

Uebrigens wurden meine Verdienste um Emil nicht bloß von diesem, sondern auch von den Seinigen auf das Bereitwilligste anerkannt, und wenn ich das Nachbarhaus betrat, durfte ich mir schmeicheln, ein gern gesehener, ja, weit über seine kleine Person geehrter Gast zu sein.

Ich kam aber jetzt, seitdem Emil nach dem Tode Gustav Hopp’s in den alleinigen Besitz meiner Freundschaft getreten war, öfter als vorher in das Israel’sche Haus, das sich von dem Hopp’schen in jeder Beziehung des Aeußeren und Inneren völlig unterschied, so daß auch dadurch das frühere Stadium meiner Kinderzeit von dem Stadium der Knabenjahre, das jetzt begonnen hatte, charakteristisch sich abhebt.

War aber das Hopp’sche Anwesen mit seinem geräumig niedrigen Wohnhaus und den Appendixen der Ställe, Scheunen und Wagenremisen in behaglicher, schier endloser Breite hingelagert, so hob sich das schmalbrüstige Israel’sche Haus mit seinem alterthümlichen Giebel schier endlos in die Höhe. Roch es dort beständig nach Pferden und frischem Heu, so herrschte hier ausschließlich der muffige Duft des Korns in seinen verschiedenen Species; schleppte man dort das zertretene Stroh des unsauberen Hofes bis in die Zimmer hinein, so war hier alles – in den Wohnzimmern mit ihren blank gescheuerten nackten Dielen, auf den Böden, wo das Korn in sorgfältig geschichteten Haufen lag – von der peinlichsten Akkuratesse und Sauberkeit. Widerhallte das Hopp’sche Anwesen vom Morgen bis in die Nacht hinein vom vieltönigen Lärm wiehernder Rosse, polternder Wagen, durch einander sprechender, schreiender Menschen, so trat man hier zu jeder Zeit in klösterliche Stille, die selbst von den Arbeitern respektirt wurde, welche wöchentlich ein paar Mal die vom Lande hereingekommenen Kornsäcke vom unteren Flur aus mittelst einer Winde in die sich über einander thürmenden Böden schafften, oder auf den Böden die Kornhaufen mit breiten hölzernen Schaufeln schichteten und worfelten.

Waren nun schon die beiden Nachbarhäuser, zwischen denen unser dürftiges Häuschen fast verschwand, in allen den beregten Punkten wie zwei verschiedene Welten, so gipfelte diese Differenz in Ausdruck, Betragen, Charakter und wahrlich nicht zum wenigsten in der äußeren Physiognomie der Bewohner, die sich auch numerisch Widerpart hielten. Wimmelte es doch in der Hopp’schen Familie förmlich von pausbäckigen, blondhaarigen Kindern beiderlei Geschlechts und jeden Alters! Auch vertrautere Freunde, ja, ich glaube, die Eltern selbst konnten ohne vorhergegangene Rechnung die Zahl derselben niemals genau fixiren; und wenn eines starb – wie mein Freund Gustav – wurde die Lücke kaum empfunden, jedenfalls in möglichst und für mich immer überraschend kurzer Zeit ausgefüllt. Dazu Onkel, Tanten, Vettern, Kousinen – Verwandte aller Grade, die kamen und gingen, wochen-, monatelang blieben, so daß keiner, und manchmal wohl sie selbst nicht, wußten, ob sie zum eigentlichen Hausstand gehörten, oder nicht – ein sorgloses, lebensfrohes, immer essendes und trinkendes, lärmendes, vielleicht ein wenig rohes, aber im Grunde gemüthliches germanisches Wesen, für das Vater und Mutter Hopp die wahren Repräsentanten waren. Er, jetzt noch ein Mann in den besten Jahren mit kurzgeschorenen starren Haaren über der niedrigen Stirn und dem rothen Gesicht, von mittelgroßer, stämmiger Figur, die wie sein Hauswesen durchaus ins Weite und Breite ging, beständig polternd, ohne es jemals bös zu meinen; sie ein behagliches, dralles, rundes Weibchen, dem die nicht immer saubere Mütze stets schief auf dem sehr flüchtig gemachten reichlichen blonden Haare saß, im linken Arm den jedesmaligen Säugling, in der rechten einen Kochlöffel, scheltend, scherzend, weinend, lachend – alles in einem Athem – im Grunde der Seele immer gut und immer vergnügt.

Die Israel’sche Familie bestand nur aus vier Personen: Vater, Mutter, meinem Freunde Emil und seiner um zwei Jahr älteren Schwester Jettchen. Während drüben der Personenstand fortwährend wechselte, schien hier der Gedanke der Möglichkeit einer Verändernug ausgeschlossen, als gehörten diese Vier nicht nur zusammen, sondern seien auch von Anfang an zusammengewesen. Dies mochte wohl mit daher kommen, daß die beiden Kinder eigentlich ganz alte Gesichter hatten, und zwar genau die der Eltern. Emil das der Mutter, Jettchen das des Vaters, so daß sie nicht sowohl die Kinder, als etwa die jüngeren Geschwister ihrer Eltern zu sein schienen. Von der Mutter, welche mit ihrem Vornamen Sarah hieß, unterschied sich Emil zu seinem Vortheil nur dadurch, daß er nicht, wie diese, eine hohe rechte Schulter hatte, sonst waren sie gleich häßlich, aus braunen kleinen zwinkernden Augen kurzsichtig, mit denselben langen fleischigen Nasen, derselben dicken, stets in Verlegenheit zitternden Unterlippe, denselben platten, kurzfingerigen, stumpfnägligen Händen. Jettchen, ihres Vaters Ebenbild, war, wie dieser, ein kleines magres Wesen, mit krummer, wenn auch wohlgebildeter Nase und braunen runden Augen, was ihren Physiognomien etwas Vogelartiges gab, welcher Einduck noch durch die dünnen zwitschernden Stimmchen und eine gewisse Rastlosigkeit in der Haltung vermehrt wurde.

Der Umstand, daß Herr Isidor Israel (auf den Säcken stand I. I., und so wurde er auch spottweise von den Nachbarn genannt und ausschließlich so von Herrn Heinrich Hopp, vermutlich, weil dieser sich für das H. H. entschädigen wollte, mit welchem er auf Kegelbahnen und sonst von seinen Freunden gerufen wurde) — ich sage, daß Herrn Isidor Israel’s Kraushaar bereits anfing zu grauen, während Jettchen’s, wie die Hobelspäne in Vaters Werkstatt gewundene Löckchen in ursprünglicher Schwärze bläulich schimmerten, machte in meinen Augen keinen großen Unterschied, weil ich mich nicht eben gewundert haben würde, wenn die Kleine mit dem alten Gesicht auch eines Tages grau erschienen wäre.

Es gab allerdings auch physiognomische Unterschiede zwischen Vater und Tochter, und zwar sehr bedeutende, nur daß mir diese erst allmählich klar wurden, vielleicht auch erst im Laufe der Jahre schärfer hervortraten. Ich weiß nur, daß eine Zeit kam, wo ich nicht mehr begreifen konnte, wie ich die beiden jemals auch nur ähnlich hatte finden mögen.

In Einem aber waren sich alle Mitglieder der Familie damals völlig gleich: in der ausgesuchten, wenn auch schüchternen Höflichkeit, mit welcher sie mich jederzeit empfingen und behandelten.

Das Haus war mit Ausnahme der Stunden, wo Korn abgeliefert wurde, stets verschlossen. Zog ich nun die Schelle, welche einen eigenthümlich klappernden Ton hatte, so wurde der Riegel inwendig meist von Herrn Israel eigenhändig weggeschoben, der zu diesem Zwecke aus seinem kleinen Comptoir zur Rechten des Hausflurs von dem hohen dreibeinigen Schemel vor seinem Pulte herabgerutscht war, und mir stets zum Willkomm sein kleines dürres Händchen reichte, um mich bis an die Thür des etwas größeren Wohnzimmers zur Linken zu geleiten, welche er mir selbst öffnete.

Dort empfingen mich die Frauen, oder eigentlich immer nur die Mutter, da Jettchen sofort bei meinem Eintreten in das kleine Hinterzimmer huschte, um Emil herbeizurufen. Meistens hatte die Mutter im Fenster (aber so, daß sie von der Straße nicht gesehen werden konnte) bei einer Näharbeit gesessen, und Jettchen am Klavier — einem alten Kasten mit abgegriffenen Tasten, dessen Ton einen dünnen, an die klappernde Hausthürschelle mahnenden Klang hatte, und dem ich doch gern lauschte, weil — was ich damals freilich nicht wußte — Jettchen bereits eine kleine Virtuosin war. Doch gelang es mir nur selten, und es kostete jedesmal eine beredte Bitte meinerseits und stumme ermuthigende Blicke und Zeichen von seiten Emil’s und der Mutter, um die Schüchterne wieder an den Platz zu bringen, von welchem ich sie durch mein Erscheinen verscheucht hatte. Dann öffnete sich auch wohl geräuschlos die Thür nach dem Flur, Herr Isidor huschte herein, das Köpfchen auf die Seite geneigt, andächtig lauschend, um, sobald der letzte Akkord verklungen war, ebenso geräuschlos wieder hinauszuhuschen.

Unter diesen vier Menschen herrschte eine Einigkeit, die für mich etwas Feierlich-Mysteriöses hatte, wohl weil ich sie instinktiv in Gegensatz brachte mit dem Ton in dem Hopp’schen Hause, wo sich den lieben langen Tag jeder mit jedem zankte. Hier verstand man sich und sogar ohne Worte, erhob sich, setzte sich, ging, kam, brachte einander das Gewünschte, ohne daß auch nur für

[25]

Die Damen der Königin.
Nach dem Oelgemälde von E. Gelli.

[26] menschliche Augen sichtbare Winke gegeben wurden, wie bei einer Schar fliegender Tauben man vergeblich nach dem Zeichen späht, auf das hin alle zugleich steigen, fallen, einschwenken, umschwenken. Dies wort- und winklose Sichverstehen und -verständigen schien mir um so merkwürdiger, als die Sinne bei allen mangelhaft ausgebildet waren; die Mutter hochgradig kurzsichtig wie mein Freund; die Tochter wie der Vater schwerhörig, wenigstens für menschliche Rede, während sie doch für Musik ein leises, feines Ohr hatte. Diese Mängel mochten durch die enge Berührung ausgeglichen werden, in welcher sie beständig lebten, jahraus, jahrein und Tag und Nacht sich auf die kleine Wohnstube nach der Gasse und ein paar enge halbdunkle Kämmerchen nach dem schmalen Hof beschränkend, aneinander drängend wie meine Kaninchen in ihrem Ställchen, an die sie mich auch sonst vielfach erinnerten. Besonders wenn sie, um den kleinen runden Tisch herumsitzend, ihr frugales Mahl knusperten, das, stets aus Brot, Salat, Früchten und dergleichen bestehend, wirklich ein kaninchenmäßig-vegetabilisches Ansehen hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals ein Stück Braten oder eine Flasche Wein auf ihrem Tisch bemerkt zu haben, wiederum im Gegensatz zu den Hopps, die fortwährend an ägyptischen Fleischtöpfen schmausten und dazu tranken wie homerische Phäaken.

So hätte denn, alles in allem, das düstere Haus mit dem muffigen Duft (welcher besonders in der Wohnstube stark ausgeprägt war) und seinen lichtscheuen knuspernden Bewohnern keinerlei Anziehungskraft für einen lebhaften phantastischen Knaben gehabt, wäre nicht meine Freundschaft für Emil gewesen, die eben jetzt in voller Blüthe stand, und hätte das Haus nur ein Unten und kein Oben gehabt. Aber es hatte ein Oben, und welch prachtvolles: die vier übereinander liegenden Kornböden in dem thurmartig aufragenden und sich zuspitzenden Giebel. Auf dem untersten und breitesten war der Weizen aufgeschichtet, dann kam der zweite, bereits etwas schmalere, mit dem Roggen, der dritte mit der Gerste, der vierte, oberste schmalste, mit dem Hafer. Von oben aber bis auf den Flur mitten durch das Haus schnurrten die Seile der großen Winde, deren mächtiges Rad unter den Dachsparren befestigt war, und die unten mit schweren eisernen Haken die zusammengeschnürten Säcke faßten, um dieselben, je nach ihrem Inhalt, in den verschiedenen Böden abzusetzen auf das von oben dumpf herabschallende Stopp! das Signal für die beiden Männer unten, vom Ziehen abzulassen. Stand man aber oben und blickte durch die offenen Luken (sie wurden hernach wieder geschlossen) niederwärts, so war es, wie wenn man von dem Deck eines mächtigen Auswanderungsdampfers durch die verschiedenen Etagen in den untersten Raum blickt, nur daß die Höhe noch viel beträchtlicher war, und man schon vollständig schwindelfrei sein mußte, um sich über die aufgestellten Klappen der Luke zu biegen und auf die beiden Aufwinder hinab zu sehen, die dann nicht größer zu sein schienen als ich selbst. Und während ich dann mit wollüstigem Schauer in die Tiefe starrte, stand Emil hinter mir, mich ängstlich an der Jacke zupfend, mit weinerlicher Stimme anflehend, zurückzustehen, entsetzt zurückprallend, wenn nun das emporschwebende Säckebündel in der Oeffnung auftauchte, und ich mit den Abnehmern oben lustig mein Stopp! in die Tiefe hinabschrie.

War das aber schon ein herrlicher Sport und das Wühlen mit den Worfelschaufeln in den breiten goldenen Getreidehaufen ein anderer — als der allerherrlichste erschien mir damals (und erscheint mir noch heute), da oben an einem schönen Sonntagssommermorgen in einem der Giebelfenster (es waren freilich keine Fenster, sondern nur mit hölzernen Läden verschließbare Oeffnungen) auf dem selbst noch hier oben mannesdicken Mauerrand zu sitzen und aus langen thönernen Pfeifen Seifenblasen in die blaue Luft zu schicken. Auch bei diesem Vergnügen starb der gute Emil fast vor Angst, ich könnte doch einmal, mich zu weit vorbiegend, von der Höhe auf das Hofpflaster hinabstürzen. Und dann: für sein kurzsichtiges Auge verschwanden die schillernden Ballons, auch wenn sie in windstiller Luft langsam davonschwebten, allzubald, und für ihn vergebens überhauchte der Sonnenschein die luftigen Kugeln mit allen Farben des Regenbogens. Aber für mich! Guter Gott, ich könnte weinen, denke ich der Seligkeit da oben in freier schwindelnder Höhe, die ganze schöne Welt unter mir: braune Häuserdächer, schattige Höfe, die grüne Erde und das blaue Meer, über mir der blaue Himmel, an dem weißschimmernde Wölkchen schweben, wie unten auf dem Meer weißschimmernde Segel, — ach, da zu sitzen, während die junge Brust, in unbewußter Wonne den sonnigen Aether athmend, von unaussprechlichen Empfindungen schwillt, und der reinen, morgenwindumfächelten Stirn Phantasien entschweben, luftig, bunt und zerflatternd wie die Seifenblasen, und in denen wir doch vielleicht schon alles Höchste und Größte vorträumen, was später jemals unsere Seele entflammen wird!

Und schon hatten die phantastischen Träume meiner jungen Seele angefangen, bestimmtere Formen anzunehmen. Das Bild des schönen hohen Majors, wie er da über die Schwelle in des Vaters Werkstatt trat (die mir in jenem Moment zum ersten Male klein und ärmlich erschien), war unverwischt in meiner Erinnerung geblieben, ja hatte nur noch stattlichere Dimensionen und leuchtendere Farben angenommen. Ich hatte ihn auch bereits zweimal wiedergesehen: aus der Nähe eines Morgens, als er an der Spitze des Bataillons zum Exerciren mit klingendem Spiel durch unsere Gasse kam; aus scheuer Entfernung das zweite Mal, als er bei der Parade auf dem Marktplatze unter den anderen Offizieren stand eines Sonntagvormittags, er der schönste und herrlichste von allen. Wie aber Phantasie und Gemüth eines Volkes von einer mächtigen Persönlichkeit, welche unter ihm aufsteht, so ergriffen und erfüllt werden kann, daß seinem mächtigen Willen nachzuleben höchste Ehre und Pflicht scheint, und Denken und Empfinden eines Jeden allmählich die Farbe seines Denkens und Empfindens annimmt, so war jetzt der Major für mich mein Ideal und mein Heros, nur daß ich mir schmeichelte, ihm dereinst nicht bloß ähnlich, sondern gleich zu werden, Major zu werden; an der Spitze einer Schar, die sich für meine Phantasie ins Endlose dehnte, zur Stadt hinaus zu reiten, während von dem Trommelschlag die Fenster klirrten, und die Leute vor den Thoren alle nach mir schauen, wie ich jetzt nach ihm.

Es war ein keckes Vorwegnehmen zukünftiger Herrlichkeit, wenn ich mich bereits jetzt von dem guten Emil „Herr Major“ bei unseren Spielen nennen ließ, und in dieser meiner Würde (welche mir die höchste auf Erden schien) von unserer Bodenluke aus die Welt, die mir zu Füßen lag, und über welche meine bunten Seifenblasen dahinschwebten, vertheilte. Freilich zu ungleichen Theilen. Indem ich Emil alles, was diesseit des Wassers lag, großmüthig überließ, nahm ich für mich die Insel drüben, die ich noch nie betreten hatte, und in welcher ich, wenn ihre mit grünen Streifen durchschlängelten Sandufer im Sonnenschein herüber schimmerten, das Land erblickte, wo alles, was sich meine Seele träumte, vollste herrlichste Wirklichkeit war.

Und wenn man sie nun kennen lernt, diese Wirklichkeit, und sieht, daß die reinsten schönsten Träume unserer Jugend an ihrer Rauhheit zerflattern wie Seifenblasen; der Widerstand der stumpfen Welt, von welchem der Dichter spricht, sich mit nichten besiegen läßt (oder doch wiederum nur in der Phantasie); in Wirklichkeit aber uns besiegt, in den Staub tritt, uns den Fuß auf den Nacken setzt und, nachdem er uns von der Welt die tiefste Schmach angethan, nun noch die allertiefste von uns heischt, der Sünden größte: das Abschwören unserer Ueberzeugung — ach! ist es für ihn, der so zurückschaut auf ein verfehltes und verfehmtes Leben — ist es lächerliche Feigheit, zu wünschen: wärst du doch an einem jener duftigen Sommermorgen aus deiner Sonnennähe und deinen Ikarusträumen hinabgestürzt und hättest dir den Kopf zerschellt unten auf den spitzigen Steinen des Hofes! Oder, es wäre dir beschieden gewesen, nie aus deinen Träumen zu erwachen zum Bewußtsein dessen, was ist, sondern, dem „Mallen Heinrich“ gleich, so weiter durch das Leben zu gehen, das für dich nicht existirt, die Seele voll von Musik, der schönen Musik, vor der die Teufel heulend in den Abgrund stürzen, während sich oben die Himmel öffnen, wo Gott Vater auf seinem strahlenden Sonnenthron sitzt, umschwebt von Engeln, deren Flügel in allen Regenbogenfarben schimmern — wie Seifenblasen!

Ich denke schaudernd der Unglückseligen, aus deren verstörter Seele heraus ich diese Worte geschrieben habe.

Und wer von uns — uns Jüngeren zumal — darf sich berühmen, daß er nie zu diesen Unglückseligen gehören wird?

(Fortsetzung folgt.)

[27]

Auf dem Anschuß.

(Mit Illustration S. 28.)


Frost, Sturm und Schneegestöber – und dann allein mitten im Forste Schutz suchend hinter einer halb hohlen Zwergeiche, gehort eben nicht zu den behaglichsten Situationen. Hat man aber eine Büchsflinte bei sich und in jedem Laufe eine Kugel, und steht die alte Eiche auf einem Reviere, auf welchem Sauen und Rothwild nichts Seltenes sind, so läßt man sich auch einmal solches Unwetter gefallen – zumal wenn es nach Westen hin nicht so ganz grau in grau erscheint, sondern der sich in die sturmgepeitschten Schneeflocken stehlende röthliche Ton die Hoffnung erweckt, daß es lichter wird und Sturm und Schneegeriesel bald vorüber ziehen.

Die Eiche, welche mir bei diesem Unwetter Schutz gewährte, steht im Reinhardswalde auf einem Streifen zwischen dem „Alten Gehäge“ und „Marxerkopfe“. Früh hatte der Winter eingesetzt, am Martinstage 1869 lag der Schnee dort oben schon über spannehoch. Meine Hoffnung erfüllte sich bald. Nach Westen hin wurde es immer röther – es schien ein riesiger Purpurvorhang die Fernsicht zu verhüllen – die Schneeflocken fielen dünner, und endlich schimmerte durch dieselben der Feuerball der untergehenden Sonne. Sturm und Schneeschauer waren vorübergezogen. Nach solchem Schneesturme „tritt“ alles Wild früh „aus“ (der Dickung), und der Birschgang ist auch nicht allzu schwer, weil der Tritt durch den Daunenpelz, der die Erde deckt, gedämpft und fast unhörbar wird. Da stand auch schon ein Sprung Rehe jenseit der Thalschlucht in einer kleinen Lärchenschonung, und ein Stück Rothwild, vielleicht war es auch ein „Spießer“ (Spießhirsch), zog langsam derselben Stelle zu und fing gleich den Schnee von der Haide zu scharren und zu äsen an. Um an das Wild heran zu kommen, mußte ich auf einer Bahn, welche durch die diesseitige Dickung führte, bis zu einem schmalen Wiesengrunde birschen. Von hier aus war es vielleicht möglich, meine Kugel anzubringen.

Kaum war ich aber auf der erwähnten Bahn 50 Schritte vorwärts gebirscht, so war Reh- und Rothwild vergessen. Die Schneise senkt sich hier ein wenig; rechts in dieser Bodenfalte war die „Verjüngung“ (der junge Buchenbestand) sehr lückenhaft, und auf dieser lichteren Stelle wimmelte es von Sauen. Frischlinge, Ueberläufer, Bachen und Keiler – grobe und geringe, Alles bunt durch einander. Wo eben ein schwarzer Flecken gestanden, war es gleich wieder weiß oder von den beblätterten Buchenbüschen gelb – das wechselte wie ein dreifarbiges Kaleidoskop, immer schoben sich die drei Farben vor einander her, überall Leben, nirgends Ruhe, nirgends ein feststehender schwarzer Umriß, den ich als Zielpunkt hätte nehmen können. Und das Jägerherz ist bei einer solchen Gelegenheit, die im Leben vielleicht nur einmal vorkommt, auch nicht so ruhig, als wenn man einen Hasen auf der Falge sitzen sieht – das hämmert und pocht in der Brust wie auf einem Hüttenwerke, man kann die Herzschläge hören, der ganze Körper bebt, und selbst die Augen zittern im Kopfe. Da heißt es alle Willenskraft zusammengenommen und das Jagdfieber gedämpft – sonst wird es nichts mit dem Schusse – aber rasch! denn wenn die Sauen – es waren 20 bis 25 Stück – aus dem lichten Buschwerk in die Dickung ziehen, so sind sie für mich verloren.

Es kam jedoch anders. Ein starkes Schwein, das stärkste Stück der Rotte, schlug sich plötzlich ab und trollte in der Gosse den Berg herab der Bahn zu. Jetzt kam ich fast sicher zu Schuß. Der schmarze Bursche blieb alle paar Schritte stehen und lauschte, aber immer gedeckt, daß ich nicht schießen konnte, und durch einen Busch schießt man auch nicht gern, die Kugel verschlägt sich zu leicht in ihm.

Jetzt stand der Keiler mit dem Gebrech, vor dem die langen Gewehre (Hauzähne) weiß hervorragten, im Freien, aber das Blatt war gedeckt durch die Eichenreihe, welche der Bahn entlang gepflanzt war, und durch einen lichten Busch schimmerten die Borsten der Keule. Noch einen Schritt! nur noch einen Schritt vorwärts, alter Basse, daß dein Blatt frei wird! – einen Schritt! Wie langsam doch in einem solchen Augenblick die Sekunden am Bewußtsein vorübergezogen werden! – Jetzt trollt der schwarze Gesell voran – der Finger berührt den Stecher – Knall – Kugelschlag – Pulverdampf – aufwirbelnder Schnee – das kaleidoskopische Gewimmel – Knacken und Brechen von Zweigen – – ja! ich hatte das Korn wohl in der Kimme – aber dasselbe auf einen dahinhuschenden und verschwindenden – und wieder auftauchenden schwarzen Schatten zu bringen, das war mir nicht möglich, die zweite Kugel blieb im linken Rohr.

Alles war wieder still und leblos, kein Laut störte den hereindämmernden Winterabend. Ich hatte wieder geladen und ging auf den Anschuß. Der Keiler hatte es nach dem Schusse eilig gehabt, tief hatte er „eingegriffen“ (durchgetreten), und hinter jeder Fährte war der Schlamm über den weißen Schnee gespritzt. Das war kein schlechtes Zeichen. Auf dem Schnee lag ein Büschelchen Borsten, viele nur einen Zoll lang und noch kürzer. Sie waren „abgeschossen“, wie der Jäger sagt, während sie bei einem Streifschusse in ganzer Länge bleiben, das war ein gutes Birschzeichen. Ich wickelte die Borsten in ein Stückchen Papier und folgte der Fährte über die Bahn einige Schritt in die andere Dickung – kein Tröpfchen „Schweiß“ auf dem blanken Schnee, nicht ein einziges rothes Mal – das Zeichen wollte mir gar nicht gefallen. Ich umschlug die dreieckige Dickung, ob der Keiler wieder heraus sei. Ja! da war guter Rath theuer. Fährte an Fährte stand heraus, herein, starke und geringe flüchtige und von ruhig trollendem oder stehendem Stücke – es sah aus, als sei Eumäus, der berühmte Sauhirt Odysseus’, hier mit seinen Pflegebefohlenen gewesen. Eine schweißige Fahrte aber war nicht dabei. Fur heute blieb mir nichts übrig als heimivärts zu gehen.

Eine Stunde später trat ich in die Wohnung des Försters.

„Na, Glück gehabt?“

Ich gab ihm das Papier mit den abgeschossenen Borsten.

„Die Kugel sitzt. War es ein starkes Schwein?“

Ich erzählte kurz die Geschichte.

„Kein Schweiß?“

„Kein Tropfen. Das einzige Birschzeichen sind die abgeschossenen Borsten.“

Der Förster kratzte sich mit beiden Händen die schwarzen Locken hinter den Ohren. „Morgen früh muß ich erst Holz abnehmen. Um 12 Uhr wollen wir uns beim ‚dicken Förster‘ treffen.“

Der „dicke Förster“ ist die stärkste gesunde Eiche des Reinhardswaldes, ein Riesenbaum, wie es nur noch wenige giebt.

Schlag 12 Uhr war ich in Begleitung meines langhaarigen deutschen Hühnerhundes auf dem Rendez-vous-Platze, wo auch der Förster, seinen Schweißhund am Riemen, soeben angekommen war.

Dorthin, wo Hochwild steht, gehört der Schweißhund. Es ist eine spezifisch hannoversche Rasse, die früher in drei ein wenig von einander verschiedenen Formen gezüchtet wurde. Heute werden jedoch mur noch zwei anerkannt, eine hochläufigere leichtere, die verschmolzene Jägerhof- und Harzrasse und eine kurzläufigere schwerere, welche Jahrhunderte lang aus dem Solling in der Oberförsterfamilie Steinhoff auf dem Winnefelde rein gezüchtet ist. Diese Hunde folgen noch nach 24 Stunden, ja noch länger, wenn es inzwischen nicht stark geregnet hat, der Fährte des kranken Hirsches, selbst wenn ein Rudel gesunden Wildes dieselbe gekreuzt hat, und bringen den Jäger sicher an den verendeten oder kranken Hirsch. Bei groben kranken Sauen ist die Sache jedoch etwas anders. Die nehmen fast regelmäßig den herankommenden Hund an, und da derselbe, weil er an einem 30 Fuß langen Schweiß- oder Birschriemen geführt wird, in der Dickung nicht ausweichen kann, würde derselbe unzweifelhaft „kaput“ geschlagen, wenn der Jäger so leichtsinnig sein sollte, ihn zu einer solchen Arbeit zu benutzen.

Wir standen auf dem Anschuß. Der Förster besah sich die Fährte, den vorwärtsziehenden Hirschmann am Birschriemen zurückhaltend, und zog dann einige Schritte auf ihr entlang: „Ein starkes Schwein, hoffentlich sitzt die Kugel gut. Ich glaube, es wird das Beste sein, Sie lösen Hektor und ‚suchen verloren‘, wenn ich mich unten angestellt habe.“ Krankes Wild hält fast regelmäßig bergab. Hektor war der vielseitigste Hühnerhund, den ich je besessen habe. Er stand Hühner und Hasen auf dem Felde, wurde bei Holzjagden als Treiber, bei Saujagden als Finder benutzt. Wie manche Ente hat er mir nicht aus Weser und Diemel geholt. Wild, was er nicht tragen konnte, „verbellte er todt“. Veranlassung zu seinem Tode wurde ein angeschossener zweijähriger Keiler, der in den „Pottkaulen“ auf mich zuhumpelte und dem verbellenden armen Hektor den Hinterlauf eine Sekunde früher aus der Pfanne schlug, als der Schwarzkittel meine Kugel in den Kopf erhielt.

Der Förster hatte sich angestellt, Hektor war gelöst, und wir zogen der Fährte nach in die Dickung. Zwanzig Schritt ging die Sache vorzüglich, dann hörte es aber auf. Die Büsche standen hier so dicht, daß ich mich kaum zwischen denselben hindurch pressen konnte, und der Schnee- Anhang rieselte mir in Nacken und Gesicht, daß es unmöglich war nur einen Schritt vorwärts zu sehen. „Such verloren, mein Hund!“ Einen Augenblick, aber nur einen Augenblick war es noch still in den Büschen, dann ertönte „der grobe Hals“ (tiefe Stimme) meines langjährigen Jagdgefährten in langsamen und so regelmäßigen Zwischenräumen, wie das Ticken einer Uhr – er war „standlaut“. Das ist für einen Jäger das frohe Zeichen, daß sich krankes Wild vor dem Hunde gestellt hat, oder daß er todt verbellt. Sauen lassen sich freilich auch im Bewußtsein ihrer Kraft, wenn sie gesund sind, verbellen – hier war es aber unzweifelhaft der kranke oder verendete Keiler, den ich suchte. Auf Händen und Füßen kroch ich vorwärts, den Hirschfänger in der Scheide gelüftet – – in solcher Aufregung fühlt man keinen Frost. Endlich war ich bei Hektor. Die Haare auf dem Rücken gesträubt, die Ruthe halb eingekniffen – mit weit vorgestrecktem Halse stand er da und ließ sein wüthendes Gaufz! Gaufz! Gaufz! erschallen. Ich lag lang auf dem Schnee, um unter den Buschen hinwegsehen zu können. Da saß an einem Erdstocke der Keiler – die Borsten halb gesträubt und mit gefrorenem Schnee behangen, die Läufe unter den Leib gezogen – die fingerlangen, weißen Gewehre zeichneten sich scharf vor dem schwarzen Gebrech ab – aber das Gebrech klatschte nicht wüthend auf und zu – der Keiler „wetzte“ nicht mehr – – er war in sitzender Stellung verendet. Karl Brandt.     


[28]

Auf dem Anschuß.
Nach dem Oelgemälde von Karl Hilgers.

[29]

Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

Die Nadeln.[1]

An Englands Grenze ragen
Drei Felsen aus dem Meer,
Man nennet sie „die Nadeln“
Von alten Zeiten her.

Wie manche schöne Hoffnung
Sah’n sie vorüber zieh’n,
Wie viele tief Betrübte
Dem Heimathland entflieh’n!

O Herz, du sollst nicht zagen,
Fährst du vorüber hier;
Ist Meer zu deinen Fußen,
Ist Himmel über dir!


  1. Die „Nadeln“ (needles) sind die äußersten Kreideklippen der Insel Wight, dem deutschen Auswanderer der letzte Scheidegruß, wohingegen sie dem von Amerika Kommenden den ersten Willkommgruß Europas bieten.

Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Ich trat ans Fenster und suchte nach allen möglichen Gründen, die für Charlottens Worte eine Entschuldigung sein könnten, und ich fand nur einen. Sie war allzusehr verzogen, allzusehr verwöhnt worden, von mir, von dem Vater, von der Großmutter und zuletzt von der Gesellschaft. Ja freilich, wir trugen die Schuld! – Hand aufs Herz, Tone, wenn Dir alle Welt so zu Füßen gelegen wie der schönen Schwester, wenn Dir jeder Wunsch erfüllt worden wäre, bevor Du ihn noch ausgesprochen, was wäre aus Dir geworden? Hättest Du die Flügel so still zusammengelegt wie jetzt? Und kämst Du Dir schon so alt vor, so vernünftig und so fertig mit dem, was die Welt zu bieten vermag? Es war mir freilich auch nicht leicht geworden, so „vernünftig“ zu werden, war ich doch ebenso lebensfreudig wie sie und hätte auch so gern gefallen im lichthellen Ballsaal; aber da tönte mir das Wort in die Ohren: „die Andere“.

Die schöne Werthern und „die Andere“ hießen wir. Ich hörte mich einst im Gespräch so nennen von einem Paar Lippen, deren Lachen und Plaudern ich so gern gelauscht, fast zu gern. „Die Andere“ – und welch ein Ton dazu! Und dann bemerkte einmal eine junge Frau hinter mir, daß die „Andere“ sich auch just so anzieht wie ihre schöne Schwester; „haben Sie je etwas Ungleichartigeres gesehen, wie die Wertherns?[“]

Ich habe an jenem Abend in meinem stillen Zimmer ewig lange vor dem Spiegel gestanden und habe mir gelobt, nie wieder Balltoilette zu machen, und die „Andere“ hat es gehalten. Es war, als ob dies Wort meine Selbsterkenntniß erst geweckt hätte – oder mein Mißtrauen? Ich fand, daß der Vater, die Großmutter, Hans, selbst die Dienstleute mich als die „Andere“ betrachteten. Lotte, Lotte und immer zuerst Lotte, und ich fand, daß ich unbewußt ganz ebenso mit ihr gethan.

Wie traurig war ich damals, und wie schnell überwand ich doch Alles und fand mich, kraft meiner natürlichen Anlagen, in die Stelle der Hausmutter und der guten allzeit bereiten Rathgeberin, und wie nöthig ward es bald! Manchmal zwar kam heiß die alte thörichte Sehnsucht nach Lebensfreuden und nach Glück über mich, dann ließ ich Wirthschaft und Stopfekorb und grub die thränenden Augen in die Kissen meines Bettes. Und wenn ich mich wieder ausgeweint, so ward es mir leicht, das Prinzeßchen zum Ball zu putzen und die Zügel der Wirthschaft wieder fest zu halten. Und immer ruhiger und zufriedener wurde ich – bis das Unglück kam; der Vater todt, der Bruder fort ins Elend und wir – mittellos, ganz mittellos, sobald die hochbetagte Frau die Augen schloß. Wie bang, wie öde dehnte sich die Zukunft vor mir! So stand ich am Fenster in jener Mondnacht und sah in [30] den winzigen Hof hinunter und auf die entblätterte Akazie, die des Vaters Freude gewesen. Der Anblick hatte mich sonst immer traurig gestimmt: wie ein Gefangener war mir der Baum erschienen zwischen den grauen Mauern der Hintergründe; – heute dünkte es mich, als gäbe es keine schönere Aussicht auf der weiten Welt, als könnte ich mich nicht trennen von dem einsamen Baum, auf den nun fremde Menschen blicken würden von diesem Fenster aus.


Ja, sehr schwer ward das Scheiden, und wir ließen doch nichts weiter zurück, als todte Vergangenheit.

Es hatte gereift an jenem Morgen und empfindlich kühl war es während der Droschkenfahrt durch die schlummernde Stadt. Abschied hatten wir von niemand genommen, die Stunde der Reise war sorgsam verschwiegen geblieben; so kam es, daß wir unbehelligt unser Gepäck besorgen und ungesehen in das Frauenkoupé dritter Klasse schlüpfen konnten. Lotte, die ihr letztes Taschengeld an ein Hundebillet für Schnips gewendet hatte, setzte sich wie ein Opferlamm auf die harte Bank; sie war sehr blaß, aber sie weinte heute nicht. Ich machte der alten Dame einen bequemen Sitz aus Kissen und Schlummerrollen zurecht und schob ihr ein Bänkchen unter die Füße. Lotte rührte sich nicht; sie sah starr hinaus in das Häusergewirr, welches der Zug zunächst durchschnitt, und ihre Hände umfaßten ein großes Veilchenbouquett, das gestern Abend für sie abgegeben war mit einer wappengeschmückten Karte. Als der Zug an den letzten Häusern vorüberbrauste, warf sie die Blumen mit hastiger Bewegung hinaus, als sollte nichts sie erinnern an das, was hinter ihr versank. Dann holte sie tief Athem, legte den Kopf zurück, zog den Schleier vor das Gesicht, und so blieb sie während der ganzen langen Fahrt.

Da draußen aber war allmählich die Gegend immer schöner geworden und das Flachland längst einem hügeligen Terrain gewichen. Anmuthig lugten Dörfer aus dem bunten Laube des Herbstwaldes, wolkenlos blaute der Himmel über der Erde; nach langer Regenzeit der erste schöne Tag. Der September grüßte noch scheidend. – Wenn’s so licht wird um uns herum, dann faßt das Herz wieder Muth, und was ich lange nicht gekonnt, ich begann Pläne zu machen, Hoffnung an Hoffnung zu knüpfen, Luftschlösser zu bauen. Wer weiß, welch Glück in dem Städtchen auf uns lauert? Es sitzt vielleicht schon auf der Schwelle der kleinen Wohnung und wartet nur auf unser Kommen, um uns seine Rosen in den Schoß zu werfen? Lotte findet vielleicht einen Prinzen, Großmama lebt auf in der schönen Luft, im Verkehr mit den alten Bekannten, und, ob es nicht eines Tages an die Stubenthür klopft und unser lieber Hans kommt wieder, ruhig, gesetzt, kein bißchen mehr leichtsinnig? Das wäre das Schönste! – Und als hätt’ ich dies Alles schon fest an seinen vier Zipfeln, rückte ich näher zu der alten Großmama, drückte ihr die Hände und sah in ihr kleines verwelktes Gesichtchen. „Es wird noch Alles gut,“ sagte ich, „noch Alles!“

Und die alte Frau neigte ernsthaft den Kopf. „Warum auch nicht? Aber es ist dennoch gut, daß die Zukunft verborgen liegt.“

Ehe die Sonne versank, hielt der Zug in Triebelsberg, der Station, wo wir das Koupé mit dem Omnibus vertauschen mußten, denn noch besaß Rotenberg keine Bahnverbindung. „Nun kommt das Anstrengendste der Reise,“ meinte die Großmutter. „Ihr könnt mich möglicherweise todt aus dem Marterkasten heben, wenn wir in Rotenberg gelandet sind. Aber das hilft denn nichts, also vorwärts! Lotte, gieb mir den Arm; Tone, besorge das Gepäck und belege Plätze in der Arche Noah.“

Das lange schmale Fuhrwerk mit den zwei abgetriebenen Pferden repräsentirte sich in der That nicht gerade vertrauenerweckend meinen Augen, als ich eilig um die Ecke des Stationsgebäudes kam; aber daneben stampften ein Paar große kugelrunde Apfelschimmel den Kies des Platzes, und auf dem Bock der stattlichen Kutsche saß ein Rosselenker, der sogar eine Art Livrée trug, ein bildhübscher junger Bursche. Er hielt die Peitsche, an der oben eine hochrothe Schleife befestigt war, wie ein Posten sein Gewehr und pfiff dazu ein Liedchen. Das Gefährt imponirte mir sehr – oder war es Neid? Ich mußte mich im Vorübergehen noch einmal danach umsehen. „Wenn ich das hätte für die Großmama!“

Da trat Etwas zwischen mich und den Gegenstand meiner Bewunderung, und eine Männerstimme fragte: „Entschuldigen Sie, Fräulein, habe ich die Ehre, eine der Werthern’schen Damen zu sehen? Ich bin Fritz Roden, und gekommen, die Herrschaften mit unserem Wagen abzuholen.“

Ich hatte schon während seiner ersten Worte freudig bejaht und legte nun meine Rechte in die treuherzig gebotene Hand des jungen Mannes. Es waren ein Paar ernste ehrliche Augen, die halb verlegen zu mir herunter sahen, denn Fritz Roden war ein junger Riese, der mich, obgleich ich ganz und gar nicht zu den Kleinen gehörte, um eine Kopflänge überragte. Und diese Augen schauten unter einer gewölbten Stirn hervor, über der sich starke blonde Haare krausten, genau so blond und dick wie bei unserem Hans. Ich hatte gar nicht das Gefühl, er sei ein völlig Fremder, und stellte ihn eiligst der herankommenden Großmutter und Schwester vor, ganz beglückt von der Aussicht, im bequemen Wagen fahren zu können und so frenndliche Menschen in dem unbekannten Rotenberg zu finden.

Er hatte wirklich etwas Unbeholfenes, der Herr Fritz Roden, denn als er jetzt vor Großmama und Lotte stand, wußte er gar nichts zu sagen; er stotterte nur und schüttelte der alten Dame die Hand, als wäre sie sein Dutzbruder; und als Lotte, die den Schleier zurückgenommen hatte, ihn von oben bis unten betrachtete, wobei sich allmählich ein staunendes Lächeln über ihr reizendes Gesicht verbreitete, wurde er so roth wie Purpur und ging eiligst voran, dem Wagen zu. Als wir eingestiegen waren, lehnte er, noch mehr erröthend, die Einladung ab, neben mir – Lotte konnte nie das Rückwärtsfahren vertragen – Platz zu nehmen, und schwang sich zu dem Kutscher auf den Bock. Lotte hatte inzwischen mit demselben staunenden Blick, mit dem sie Fritz Roden betrachtete, den Kutscher, die Pferde und die gehäkelten Schutzdecken der Wagenpolster gemustert; nun lehnte sie im Fond, den Pinscher zwischen sich und der Großmama, ließ den schwarzen Kreppschleier um ihr blasses Gesicht flattern und vom Abendwind die Stirnlöckchen verwehen und versank in Träumereien, wie es so ihre Art war.

Die Großmutter schlief, und Schnips legte den Kopf in Lottens Schoß, blinzelte noch ein wenig und schlief dann ebenfalls; der Wagen fuhr in langsamem Trott in die sinkende Nacht hinein, und hinter uns versank die Sonne in feurigem Roth. Ich starrte so lange hinein, bis mir die Augen wehthaten; und als ich mich wie geblendet umsah, erblickte ich durch die grünen tanzenden Flecke vor meinen Augen Fritz Roden, der sich auf dem Bock halb herumgedreht hatte und Lotte anschaute. Als nun mein Blick zu ihr flog, bemerkte ich, daß sie ihn ebenfalls anstaunte; aber es war ein trotziger Ausdruck in diesen großen schönen Augen, als wollte sie fragen: „Wer bist Du? Was willst Du? Ist es auch der Mühe werth, Dich zu bemerken?“

Damals verstand ich sie nicht; mir verschwand nur plötzlich jenes beglückende Gefühl, das mich noch eben belebt hatte; mich fror, und ich ärgerte mich und konnte nicht sagen, über was? Nach einem Weilchen bog Lotte sich vor und raunte mir lachend ins Ohr: „Alles ein Schlag, Tone, die dicken Schimmel und der große Mensch in Stulpenstiefeln und Joppe; die Pferde werden nicht durchgehen und er –“

Sie verstummte, denn eben wendete er sich wieder zu uns und sagte: „Jetzt sind wir gleich daheim.“

Es war völlig dunkel geworden, der Wagen fuhr schneller durch eine finstere Allee, dann rasselte er über ein entsetzliches Steinpflaster, so daß Großmutter unsanft geweckt wurde und sich räuspernd zurecht setzte. Und nun Häuser, erleuchtete Fenster; unter einem Thorbogen ging es hindurch, über einen weichen chaussirten Weg, an stattlichen Bäumen vorbei, hinter denen schwarz und massig ein langgestrecktes hohes Gebäude lag; zur Rechten ein wunderliches Gemisch von Mauern und verschnörkelten Giebeln, die in den dunklen Abendhimmel ragten, und nun noch einmal ein Thorbogen und wir fuhren in einen weiten Hof. Helle Fenster winkten uns, Hundegebell schlug uns entgegen, der Wagen hielt vor der gewölbten weit geöffneten Hausthür, und durch den erleuchteten Flur kam rasch eine kleine alte Dame, die sich eilends die Hände an der blendend weißen Schürze wischte, uns entgegen.

„Frau von Werthern!“ rief sie, „welch große Freude! Ach, und die lieben armen Kinder! –“ Dann brach ihr die Stimme im Weinen.

Das war Fritz Roden’s Mutter. So mußte sie auch aussehen, dachte ich, als wir längst in der Wohnstube am gedeckten Tisch saßen [31] und ich noch immer nicht müde wurde, ihr freundliches Gesicht zu betrachten. Ja, wenn ich überhaupt nur die traute Gemüthlichkeit beschreiben könnte! Dieses weite, nicht allzu hohe Zimmer, die schneeigen Vorhänge der Fenster, die weißgescheuerten Dielen; in der Mitte des Raumes der Tisch mit dem feinen selbstgesponnenen Damast und den altmodigen Tellern und Schüsseln; die Schrankuhr an der Wand, der solide Mahagonischreibsekretär und der große gelbliche Kachelofen, der so lustig bollernd in der Ecke stand, neben sich den Sorgenstuhl. Dazu die zierlich behende Frau mit dem herzensguten Gesicht und den blauen Augen, die heute so oft in Thränen glänzten. Und wie behutsam der Riese mit seiner kleinen Mutter umging, als sei sie ein Kind, und wie die Mutter stolz auf den „Einzigen“ blickte, wenn er durch das Zimmer schritt, oder wenn er gelassener Weise in ihr rasches Reden eingriff! Alle Befangenheit schien hier, wo er Herr im Hause, von ihm genommen, es umgab ihn plötzlich eine Art von Würde, die sein junges Antlitz eigenthümlich gut kleidete. Er saß oben an dem Ehrenplatz des Tisches und zerlegte bedächtig den Wildbraten, und vorher stand er hinter seinem Stuhl und sprach ein kurzes Tischgebet. Ihm zur Seite hatten die beiden alten Damen Platz genommen und Lotte und ich schlossen den Kreis. Lotte saß noch immer stumm, und ihre Blicke flogen hin und her zwischen Mutter und Sohn.

„Das sieht man, Frau von Werthern,“ meinte unsere freundliche Wirthin, „daß die lieben Mädelchen nur Halbschwestern sind; sie gleichen sich nicht eine Spur.“

„Eine Familienähnlichkeit ist doch wohl vorhanden,“ erwiderte die Großmutter, die es immer peinlich berührte, wenn die Rede auf unsere so verschiedene Persönlichkeit kam.

„Auch nicht die Spur!“ erklärte Fritz Roden und that einen durstigen Zug aus seinem Glase. „Ich glaube, es würde eine Unmöglichkeit sein, sie herauszufinden; die Eine der Damen ist zudem blond, die Andere brünett.“ – Dann hob er das Glas und stand auf. „Möge es den Damen gefallen,“ sagte er einfach, „zuerst in meinem Hause, sodann in ihrer netten Heimath überhaupt. Es ist nicht schlechter hier, als anderswo, es wohnen allerwärts Menschen mit guten Herzen, und die Sonne scheint über unser kleines Rotenberg ebenso golden, wie über Berlins Häusermeer. Ja, die Luft ist schöner hier, denn sie weht über Wald und Feld ehe sie in unsere Straßen dringt. Und der Schnee ist hier weißer und reiner als in der Großstadt, und mich dünkt, auch die Rosen blühen hier schöner und frischer. Mein Spruch ist der: Möchten Ihnen Allen hier die Rosen des Friedens und der Behaglichkeit blühen. Was wir, meine Mutter und ich, dazu beitragen können, das thun wir sicher und aus aufrichtigem Herzen.“

Er stieß der Reihe nach mit uns an. Als er zu Lotten kam, flog wieder jenes leise Lächeln um ihren vollen kleinen Mund; er schien es aber nicht zu bemerken. Frau Roden hatte Großmutters Hände ergriffen und versicherte mit feuchten Augen, daß sie Alles, Alles aufbieteu würde, um es uns in Rotenberg gemüthlich zu machen.

„Kennen Sie Berlin näher?“ fragte plötzlich Lotte den jungen Mann. Es war das erste Wort, das sie sprach, und unwillkürlich erstaunte die alte Dame vor der schwingenden klangvollen Mädchenstimme.

„Ich habe dort mein Jahr abgedient,“ erwiderte er.

„Bei welchem Regiment?“ examinirte sie.

„Bei dem Xten Garderegiment.“

„Bei Hansens Regiment?“ rief Lotte freudig.

„Ich kenne Ihren Herrn Bruder,“ bestätigte er und sah prüfend zu der Großmutter hinüber, als fürchte er, sie zu verletzen.

„Er war wohl ihr Vorgesetzter und Sie standen vermuthlich bei seiner Kompagnie?“ sagte Lotte und spielte mit dem silbernen Theelöffel auf ihrem Kompotteller.

„Es stimmt beinah,“ erwiderte er lächelnd. „Er war eben Fähndrich geworden.“

„Hans hat uns schweren Kummer bereitet,“ begann die Großmutter plötzlich, „er hat seine Schwestern an den Rand der Armuth gebracht und seinen Vater in das Grab. Mein Sohn hatte ihn auf einen Bremer Lloyddampfer geleitet und kam krank vor Aufregung und Kummer zurück nach Berlin. – Am folgenden Tage machte ein Herzschlag seinem Leben ein Ende.“

Es ward unheimlich still nach diesen Worten im Zimmer, nur unterbrochen durch das Klirren des Löffels, den Lotte heftig auf den Teller fallen ließ.

„Eine harte Beschuldigung!“ sagte Fritz Roden endlich.

„Aber eine gerechte!“ erwiderte die alte Frau. „Er war ein Spieler.“

Lotte fuhr empor, wie ein verwundetes Reh, und ihre großen Augen füllten sich mit funkelnden Thränen.

„Davon weiß ich nichts,“ sagte Fritz Roden. „Ich weiß nur, daß er sein letztes Geld einem armen Soldaten gab, der nach Hause reiste, um die Mutter zu begraben, und daß er sich blindlings in die Spree stürzte, um irgend eine lebensmüde Person zu retten.“ Er sah plötzlich zu Lotte hinüber, und da traf ihn ein Blick, so dankerfüllt, so heiß, daß er verlegen inne hielt und in sein Glas blickte.

„Ja, das that Hans!“ rief sie, „und ich weiß noch viel mehr solcher Züge von ihm. Aber das Ungewöhnliche, das, was nicht dem alltäglichen Schlendrian entspricht, das gilt heute für verwerflich, verachtenswerth! Hans war ein Mensch, der –“

„Der sehr leichtsinnig war,“ vollendete die Großmutter gelassen. „Gerade diese Züge, die Du betonst, bekunden einen Mangel jeden Ernstes, jeder reiflichen Erwägung. Es giebt ein Sprichwort: ‚Allzugut ist liederlich!‘“

Lotte schwieg, aber sie sah zu dem jungen Mann hinüber, als erwarte sie Hilfe. und als er stumm verharrte und nur leise und wie zustimmend das Haupt neigte, kam wieder ihr verächtliches Lächeln; sie lehnte sich in den Stuhl zurück, legte den Kopf an die hohe Lehne und betrachtete angelegentlich das braune geschnitzte Balkenwerk der Decke. Frau Roden aber suchte eifrig nach allerhand Trostgründen und führte ein Beispiel nach dem anderen an, in denen verlorne Söhne gebessert zurückgekehrt waren. Und so ging das Gespräch in der traurigen Bahn weiter, bis die Wanduhr zehn laute summende Töne hören ließ und gleich darauf draußen eine Thurmuhr ihr nachfolgte.

Sogleich erhob sich meine Großmutter; es wurden Lichter auf blitzblanken Messingleuchtern gebracht, und wir gingen durch den kühlen großen Hausflur, in dem es so eigen nach frischer Milch roch, die breite Treppe in das obere Gestock hinauf. Bis hierher gab uns auch Fritz Roden das Geleit, wünschte noch einmal alles Glück für den Rotenberger Aufenthalt und eine gute Nacht. Dann pfiff er seinem Jagdhund, der während des ganzen Abends neben ihm gelegen, und schritt aus der Hausthür.

„Er revidirt noch einmal, ob Alles wohl versorgt zur Nacht,“ erklärte die Mutter stolz. „Als mein Mann starb und er die Domaine übernahm, hatte ich begreiflicherweise Sorge, wie es werden würde; aber, so jung er noch war damals, es geht Alles genau so, wie bei dem Seligen, so schick und ruhig und glatt. Das Einzige, was ihm fehlt, ist eine Frau, denn ich kann zuweilen nicht mehr so recht, wie ich wollte. Aber – nun bitte, hier links Frau Räthin!“

Wir waren über einen großen Vorsaal geschritten, auf dem mächtige Schränke breit und behäbig standen, und betraten nun die Logirstube, in der hochgethürmte blüthenweiße Betten unseren reisemüden Gliedern freundlich winkten. Auch hier prasselndes Holzfeuer im Kachelofen gegen die Herbstkühle, und ein feiner Lavendelduft; auch hier so traut und gemüthlich, wie unten im Wohnzimmer. Großmutter sollte nebenan im einfensterigen Zimmerchen wohnen. Und als unsere freundliche Wirthin noch tausend Fragen gethan, ob und wie wir zu liegen gewohnt seien? ob wir morgen früh Milch oder Kaffee wünschten? versprach sie, gleich früh mit uns die Wohnung zu besichtigen, die ganz in der Nähe – denn darauf hätte sie besonders Werth gelegt. Und die Zimmer wären sehr hübsch; es seien ehemals fürstliche Gemächer gewesen. Das Gebäude, das Kavalierhaus geheißen, habe ein Regierender gebaut, ein prachtliebender Herr der lustigen Rokokozeit, welcher eine solche Menge von Gästen herzog, daß die Zimmer des Schlosses nicht ausreichten. Es liege diesem gerade gegenüber, und in der oberen Etage habe das kleine Quartier freigestanden; nur alte Akten hätten darin gelegen. Und der Fritz habe gleich schreiben müssen, ob das Logis nicht zu vermiethen sei und richtig, man habe es gestattet, und der Ertrag komme der Kleinkinderbewahranstalt zugute, die die Frau Herzogin hier ins Leben gerufen. Ja, so habe sich das gemacht; und freilich, die Tapeten seien alt, aber die schöne Fußbodentäfelung sei ganz deutlich wieder [32] zum Vorschein gekommen, nun Hanne und Rieke sie gescheuert und gebahnt. Es schaue ganz stattlich aus, und vom Hinterzimmer wäre Aussicht in ihren Garten. Im Frühjahr sei es dort blau von Fliederblüthen und vor Duft kaum auszuhalten, und just in dem Winkel kommen alle Nachtigallen von Rotenberg zusammen. Und nun wünschte sie vielmals „geruhsame gute Nacht“, und die kleinen Fräuleins möchten auf die Träume achten, es wäre gewiß etwas vom künftigen Bräutigam dabei und würde sicherlich wahr. Dann ging sie trippelnd hinaus und schloß so leise die Thür, als lägen wir schon allesammt im tiefsten Schlummer.

„Schlaft wohl!“ sagte nun Großmutter und ging in ihr Stübchen, und still begannen wir uns zum Schlummer zu rüsten. Lotte saß noch in ihrem weißen Frisirmantel auf dem Bette und bürstete die langen dunklen Haare, als ich schon halb im Schlafe war. Da hörte ich sie plötzlich leise vor sich hin lachen.

„Was ist denn, Prinzeßchen?“ fragte ich wieder munter geworden.

Da kam sie zu mir herüber und setzte sich auf meinen Bettrand. „Hilf mir einflechten,“ bat sie. Und während ich die wuchtigen Strähne in einander schlang, lachte sie wieder.

„Weßhalb lachst Du?“ fragte ich noch einmal.

„Weil ich mich amüsire,“ sagte sie und schüttelte aufstehend die Flechten in den Nacken zurück. „Ich finde, wir passen so ausgezeichnet gut in diese Idylle; ich wenigstens. Schlafe wohl, aber träume nicht von diesem ‚trefflichen Jüngling‘, der entschieden ein Jahrhundert zu spät auf die Welt gekommen ist. Morgen lese ich ‚Hermann und Dorothea‘ einmal wieder und denke dabei des ‚wohlgebildeten Sohnes und der sorglichen Hausfrau‘.“

„Mir gefällt es sehr gut hier, Lotte,“ erwiderte ich ärgerlich.

„Ja freilich. Es ist so urgemüthlich, so kuhstallduftig – Du hattest von jeher ein tendre für Dorfgeschichten.“

„Pfui, Lotte!“

„Ach, ich habe Sehnsucht nach Berlin, tödliche Sehnsucht!“ schluchzte sie auf einmal, „ich weiß es, ich sterbe, wenn ich hier bleiben muß!“ Und mit dieser schauerlichen Prophezeiung legte sie ihren schönen Kopf in die Kissen und weinte zum Herzbrechen.

Ich war schon wieder eingeschlafen, da hörte ich noch einmal meinen Namen rufen.

„Was denn, Lottchen – bist Du krank?“

Aber da schallte es leise kichernd durch das dunkle Zimmer: „Tone, hast Du die große Ledertasche gesehen, welche die wackere Hausfrau unter der Schürze hängen hatte? Ein großes rothes Herz aus Saffian ist darauf gesteppt. Da sind die Milchgroschen darin! sie verkauft eigenhändig das schäumende Naß. Was meinst Du, wenn sich der ‚wohlgebildete Sohn‘ in Dich oder mich verliebte und wir bekämen am Hochzeitsabend als Attribute unserer Würde nicht nur Pantoffel und Haube, sondern auch die Geldtasche?“ Und nun lachte sie so herzlich, daß ich mit einstimmen mußte, obgleich ich nichts Lächerliches darin fand.

Dann aber schlief ich ein und, o Wunder! ich stand im Traume an dem weißgescheuerten Milchtisch in dem Hausflur drunten und maß aus blitzendem Messinggefäß schäumende Milch, und auf der Geldtasche flammle das Saffianherz so roth und glühend; und ich war so glücklich im Traum, so ruhig und so dankbar!


Frau Roden hatte nicht zuviel gesagt von unserer Wohnung; es waren fürstliche Räume, die wir am anderen Tage betraten. Freilich mußten wir ein enges Hintertreppchen emporsteigen, das direkt in den Garten führte, der, ehemals wohl zum Kavalierhause gehörig, mit dem Schloßgarten zusammenhing, jetzt aber der Domaine zugetheilt war. Oben angelangt, befand man sich in einem kleinen durch Holzwände abgetheilten Flur, und auf diesen mündeten die drei weißlackirten mit schmalen Goldleisten verzierten Thüren unserer Zimmer. In dem kleinen Kabinett, welches nach dem Garten zu lag, waren die von Stuckguirlanden umrahmten Plafondgemälde noch völlig erhalten, Aurora in flatterndem rosigem Gewande auf Wolken schwebend, von blumenstreuenden Putten umgeben; in den Ecken Medaillons. Die Wände aber hatte man einfach weiß übertüncht, den Kamin vermauert, und daneben in den Winkel gedrängt, als schäme er sich seiner Dürftigkeit, stand ein kleines Kanonenöfchen, verrostet und schief.

„Hier würden die Kinder schlafen,“ entschied die Großmutter. Frau Roden aber öffnete eine Thür und hieß uns hinaustreten auf den winzigen, von zierlichem schmiedeeisernem Gitter umfaßten Balkon. Das war herrlich! In leuchtend bunten Farben lag der weite Garten zu unseren Füßen, und durch die halbentlaubten Aeste flog der Blick ins Land hinaus bis dorthin, wo eine ferne blaue Bergkette den Horizont begrenzt.

„Hier unten, diesen Theil des Gartens können Sie ruhig als ihr Eigenthum betrachten,“ sagte die alte Frau, „es ist hier so ein bischen romantische Wildniß, aber das haben junge Menschenkinder gern, mein Fritz wenigsten. Wenn ich ihn suchen wollte, dann fand ich ihn immer hier unter den hohen Bäumen, irgend ein schönes Buch lesend. Na, jetzt hat er dazu keine Zeit mehr. Aber hier, liebste Frau von Werthern, das sind die Vorderzimmer.“

Zwei stattliche Räume in der That! Hohe Fenster, reicher Stuck an der Decke und ein Paar vertrauenerweckende Kachelöfen. „Das ist ja mehr, als wir erwarten durften!“ meinte die Großmutter erfreut.

„Ja, beste Werthern! Ein jeder hätte es auch nicht bekommen, oder meinen Sie, dem Fritz und mir wäre es gleichgültig, wer durch unsern Hof und Garten läuft, um hierher zu gelangen? Ja, nicht wahr, Fräulein Lottchen, das ist eine ganz vornehme Aussicht, die Beletage des herzoglichen Schlosses gegenüber, just die Zimmer, die immer bewohnt werden! Sehen Sie, die Anita benutzt noch einmal den schönen Herbsttag und sperrt die Fenster auf.“

Ich trat zu Lotte, und wir sahen hinüber. Dort bog sich eben aus einem der hohen Fenster eine weibliche Gestalt und schlug die grünen Jalousien weit zurück; aus den dämmerigen Räumen blitzten regenbogenfarbige Lichter herüber, die ein verirrter Sonnenstrahl den Bergkrystallen der Kronleuchter entlockte, der auch zugleich die reich vergoldeten Bilderrahmen streifte. Von dem gelbseidenen Vorhang, den der Zugwind eben aus einander blähte, hob sich die zierliche Figur des tief brünetten Mädchens, die jetzt sinnend verweilte; oder war es eine Frau? Jung war sie augenscheinlich nicht mehr, und doch frappirte dieses feingeschnittene Gesicht; es lag etwas Ungewöhnliches in der Erscheinung.

„Wer ist das?“ fragten Lotte und ich wie aus einem Munde.

Das Gesicht der alten Dame nahm einen ärgerlichen Ausdruck an.

„Die Pflegetochter des Kastellans,“ erwiderte sie, „aus Italien oder Griechenland ist sie hergekommen, man weiß nicht recht wie – so als siebzehnjähriges Dingelchen. Der alte Kastellan hat sie adoptiren müssen, denn –“ Sie machte der Großmutter eine Handbewegung zu, als wollte sie sagen: „Reden wir nicht davon.“

„Sie gefällt mir," sagte Lotte.

„Ei, das ist kein Umgang für Sie, Kindchen,“ eiferte ganz roth die Frau Amtsräthin. „Wenn Sie Verkehr suchen – da hat unser Pfarrer ein niedliches Töchterchen, und beim Bürgermeister giebt’s sogar ihrer Drei, ehrbare, gute Kinder.“

Lotte hatte sich umgewandt und sah verwundert auf die hastig Sprechende hernieder.

„Ich – Umgang? Ich suche keinen hier!“ kam es von ihren Lippen.

„Nun! Nun!“ begütigte die alte Dame, „da haben wir uns falsch verstanden, Kindchen – nichts für ungut! Aber um Einsiedlerin zu werden, sind Sie noch viel zu jung, und Jugend drängt zu Jugend. Hier giebt’s auch lustige junge Füße, die gern tanzen, und droben im Rathaussaal, da klingen um Fastnacht herum die schönsten Hopser vom Orchester; Sie sollen einmal sehen, wie mein Fritz walzen kann. Nicht böse sein, Kindchen! So lange Einem das Herz weh thut, denkt man natürlich nicht an dergleichen, das versteht sich. Aber, so Gott will, kommt Jugendlust und Freude auch wieder zu Ihnen.“

Lotte hatte sich schon bei den ersten Worten umgewandt, auch jetzt würdigte sie die Sprecherin keines Blickes mehr, sondern betrachtete angelegentlich die lange Fensterreihe des fürstlichen Schlosses, das uns eine Seitenfront zuwendete. Ein schmales Boskett zog sich an der Mauer hin, die chaussirte Fahrstraße zwischen ihm und unserem Hause führte zum sogenannten Schloßplatz, dem das Gebäude seine Front präsentirte, und mündete geradeaus in den Domainenhof, dessen Einfahrt durch eine Gruppe herrlicher alter Kastanien fast versteckt ward.

Großmutter rief mich nach einem Weilchen in das zweite Zimmer, erklärte, hier wolle sie wohnen, und nun vertieften wir uns angelegentlich in die Vertheilung der Meubel, sprachen mit

[33]

Die heiligen drei Könige.
Originalzeichnung von Georg Hahn.

[34] der Frau Roden wegen einer Aufwärterin und baldiger Holzeinkäufe, und kamen schließlich ganz befriedigt in das erste Zimmer zurück, wo Lotte noch unbeweglich wie ein schwarzer Schatten am Fenster lehnte. Als ich leise meinen Arm um ihre Taille legte, wandte sie sich nicht; sie neigte nur ein wenig das Haupt, als erwidere sie einen Gruß, und als ich hinunter sah, erblickte ich Fritz Roden, das Gewehr über der Schulter, den Jagdhund auf den Fersen, und an der Jagdtasche einige Feldhühner. Er hatte den Hut schon wieder aufgesetzt, sah nicht rechts noch links, sondern ging dem Hofe zu.

„Bär!“ sagte Lotte halblaut.

(Fortsetzung folgt.)




Römische Cäsaren.

Von Johannes Scherr.
Caligula.
(Fortsetzung.)


2.

Das Gemälde, welches uns Sueton und Seneca von dem Nachfolger des Tiberius geliefert haben, ist vielleicht mehr Zerr- als Ebenbild. So zurückstoßend kann die Persönlichkeit des neuen Kaisers wohl nicht gewesen sein. Wenigstens nicht in der ersten Zeit seiner Herrschaft, wo doch seine Erscheinung und sein Gebaren zu seiner unermesslichen Popularität auch etwas beitragen mußten. Wenn wir die allzu grellen Farben, welche die genannten Gewährsmänner angewandt haben, etwas abtönen, so gewinnen wir dieses Bild: – Hochaufgeschossen, war Caligula ganz ungewöhnlich breit von Schultern und dick von Leib („corpore emormi“). Zur Massenhaftigkeit des Oberkörpers standen aber die dünnen Schenkel und Beine in einem kläglichen Mißverhältniß. Darum war sein Gang, obzwar er auf sehr langen und breiten Füßen lebte, schlotterig und schlenkerig. Die Haare waren ihm, etliche Borsten im Nacken ausgenommen, schon in Jünglingsjahren ausgegangen und diese Kahlheit machte die unschöne Form seines Schädels noch auffallender. Das Antlitz mit seiner schmutzigen Blässe, mit den tiefliegenden und starrblickenden Augen, mit dem harten und mürrischen Ausdruck und mit der häufigen Muskelverzerrung, welche den Epileptiker verrieth, – dieses Antlitz vermochte die Unebenheiten der Statur nicht auszugleichen. Kam nun, wie es der Fall war, zu allen diesen Reizen noch eine heisere, in den höheren Tönen kreischende Stimme, so muß die Liebe, welche das romische Volk dem Sohne des Germanicus entgegentrug, so recht blind gewesen sein und taub obendrein. Aber wann und wo hätte die Liebe oder der Haß der urtheilslosen Menge je nach Gründen gefragt? Zudem suchte sich ja der neue Kaiser dieser selbigen Menge genehm und angenehm zu machen, indem er sich bemühte, in seinem ganzen Thun und Lassen jeder Zoll Pöbel zu sein und einen süddeutsch-mundartlichen Ausdruck zu gebrauchen, als gar „gemeiner“ Herr sich aufzuführen.

Die Verhältnisse, unter welchen Caligula zur Herrschaft gelangte, hätten kaum günstiger sein können, als sie waren. Wir besitzen eine Schilderung derselben, die aus der Feder eines Zeitgenossen geflossen, aus der Feder des alexandrinischen Juden Philo. Das ist ein wahres Loblied auf die Regierung des Tiberius; denn nur der trefflichen Organisation und straffen Handhabung derselben waren Zustände zu verdanken, wie Caligula sie vorfand. „Das römische Reich,“ sagt Philo, „war ruhig und gut verwaltet, wohlgeordnet und festgefügt in allen seinen Theilen. Nord und Süd, Ost und West, Grieche und Barbar, Soldat und Bürger waren mitsammen vereint im Genuß eines gemeinsamen Friedens und Behagens. Ueberall im Reiche war Ueberfluß an aufgesparten Gold- und Silberschätzen, an gemünztem oder künstlerisch gearbeitetem Edelmetall. Eine gewaltige Streitmacht stand bereit, Fußvolk und Reiterei, Landheer und Flotte. Die finanziellen Hilfsquellen flossen in ununterbrochener Fülle. In allen Städten sah man nichts als Altäre und von weißgekleideten und bekränzten Priestern dargebrachte Opfer, überall Festversammlungen und Fröhlichkeiten, Pferde- und Wagenrennen, musische Wettkämpfe und Vergnügungen aller Art. Der Reiche trat nicht den Armen, der Starke nicht den Schwachen, der Herr nicht den Sklaven, der Gläubiger nicht den Schuldner zu Boden. Denn die Unabhängigkeit jeder Bevölkerungsschichte fand die ihr gebührende Achtung und, alles in allem genommen, konnte das von den Dichtern gepriesene saturnische Zeitalter nicht mehr für märchenhaft, sondern für in dieser gesegneten Zeit zur Wirklichkeit geworden gelten.“

Solche Herrlichkeit währte von dem ersten Tage der Kaiserschaft Caligula’s an noch ganze sieben Monate, länger nicht. Gerade so lange nämlich währte es, bis die wildwahnwitzigen Züge des wahren Caligula die Maske des gemachten, gekünstelten und geheuchelten durchschlugen.

Zuvörderst gleißte die Maske gar holdselig. Der Mund des neuen Herrschers trof von Honig. Er sei nichts als das Kind und Mündelkind des Senats, ließ er sich vernehmen; er sei nur dazu da, die Mühen und Sorgen der Regierung mit den versammelten Vätern zu theilen, und er wolle in allem und jedem von ihrer erprobten Weisheit sich leiten lassen. Weiterhin, wie bemühend es für ihn sei, der letzten Willensmeinung des verstorbenen Kaisers in betreff des jungen Tiberius Gemellus leider nicht stattgeben zu können. Aber sein theurer Vetter wäre eben noch viel zu zarten Alters, um die Bürde des Regiments mit ihm, Caligula, theilen zu können. Der theure Vetter hätte noch Vormünder, Lehrer und Leiter nöthig und er selbst wollte ihm alles dieses, ja geradezu Vater sein. In der That, er war dem armen Jungen Vater, so ein Kater-Vater, welcher seine Sprösslinge vor lauter Liebe auffrißt.

Sinnlose Verschwendung verschafft bekanntlich bei der Menge Kredit. Wer „es recht nobel gibt“ – gleichviel, woher die Mittel dazu kommen – der imponirt dem großen Haufen. Caligula erfuhr das auch und die Mittel zur Vergeudung hatte ihm ja sein sparsamer Vorgänger bereitgestellt, welcher einen Staatsschatz von 500 Millionen Mark hinterließ, eine für dazumal, allwo es noch kein Papierschwindelgeld gab, ungeheure Summe. Binnen sehr kurzer Zeit wußte der „freigebige“ Gajus, der „großmüthige“ Gajus damit fertigzuwerden. Er warf das Geld mit vollen Händen aus, an die Gardesoldaten und Legionäre, an die Beamten und Bürger, an die Vornehmen und Geringen, an Gemeinden und Personen, an alle Welt. „Welch ein Kaiser! So einen müssen wir haben. Heil dem Gajus Cäsar!“ jubelte das gesammte Bettelpack in der Hauptstadt und in den Provinzen.

Und wie „liberal“ der neue Besen kehrte, will sagen der neue Kaiser regierte! Er gab eine große Amnestie: die Staatsgefängnisse leerten sich und die Verbannten kehrten aus dem Exil zurück. Das Geschäft der Angeber und Falschzeugen rentirte nicht mehr. Hätte es im damaligen Rom schon eine „Presse“ gegeben, so würde sich Caligula auch als ein Freund der Preßfreiheit aufgespielt haben. Einstweilen mußte er sich damit begnügen, den Wiederverkauf verboten gewesener Schriften zu gestatten. Weiterhin bemühte er sich um die Sicherung der richterlichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit und wollte, daß die Bürger Einsicht in den Staatshaushalt bekämen, zu welchem Zwecke er die Veroffentlichung des Budget anordnete. Endlich that er sich auch als Eiferer für die guten Sitten auf, indem er notorische Lasterbuben und ihre gewissenlosen Helfershelfer und Werkzeuge aus der Hauptstadt verweisen ließ. Seine eigenen Sitten freilich, die ließen nicht viel, aber alles zu wünschen übrig. Seine Wüstlingsnatur war zu brutal, um eine Verschleierung ertragen zu können. Sein Verhältniß mit der Frau des Gardegenerals Macro, sein Verhalten zu seinen drei Schwestern, namentlich das zur Drusilla, der zweitältesten derselben, forderten die Kritik heraus. Aber sie schwieg vorderhand. Einem so trefflichen, so liberalen Fürsten mußte man seine kleinen Zerstreuungen nachsehen, ja sogar seine großen. Als die Verordnung erging, daß der dem Kaiser zu leistende Treueid der Unterthanen die Formel enthalten sollte: [35] „Ich selbst und meine Kinder sollen mir nicht theurer sein als Gajus Cäsar und seine Schwestern“ – wurde dieser Senatsbeschluß mit jauchzender Begeisterung aufgenommen. Die verknechteten Römer hatten überhaupt, ein triviales, aber zutreffendes Wort zu gebrauchen, an dem „Soldatenstiefelchen“ einen Affen gefressen. Während der drei ersten Monate seiner Herrschaft wurden für seine Gelangung zum Principat den Göttern 160 000, sage einhundert- und sechzigtausend Dankopfer dargebracht.

Es ist die Art bornirter und halbwissender Menschen, sich für ungemein gescheid und für zu allem geschickt zu halten. Sie lieben es, ihre Unzulänglichkeit hinter einer lärmenden Vielgeschäftigkeit zu verstecken. So auch Caligula. Wenigstens zwei volle Monate durch that er so, als ob er alles verstände und alles allerhöchsteigenhändig anfassen, alles selber thun und machen wollte. Natürlich kam dabei nur „viel Lärm um nichts“ heraus oder, was noch schlimmer, eine bedenkliche Störung und Wirrung der Regierungsmaschine. Der Regieruugseifer des kaiserlichen Konfusionärs ließ auch bald nach und seine fahrige Unruhe warf sich auf ein anderes Feld. Auf das der Lustbarkeiten nämlich. Er machte sich, so zu sagen, zum Maître de plaisir und Oberceremonienmeister des römischen Volkes. Er wollte, sagte er, das goldene Zeitalter des Augustus zurückführen, eine Zeit allgemeiner Ergötzung und Freude, und er bot wirklich alles auf, Rom in eine Schlaraffei zu verwandeln. Wagenrennen, Thierhatzen und Fechterspiele jagten sich in den Cirken und Arenen, alles massenhaft, prunkvoll, riesig verschwenderisch, und der Kaiser ging seinen entzückten Unterthanen in gieriger Hingabe an maßlose Genußsucht voran. Die Folgen kamen rasch. Eine furchtbare Vergemeinerung und Verwilderung riß ein. Unerhörtes geschah: des kaiserlichen Beifalls gewiß, erniedrigten sich römische Senatoren zu Wagenlenkern im Cirkus und römische Ritter zu Gladiatoren in der Arena. Noch mehr, Caligula gab in seiner Schamlosigkeit den Römern das beispiellose Schauspiel, daß er unter der Leitung eines beliebten Komödianten öffentlich als Ballettänzer sich sehen und als Sänger sich hören ließ. Ob er, wie die Sage ging, auch als Cirkuskutscher und Gladiator aufgetreten sei, wollen wir dahingestellt sein lassen.

Gewiß ist dagegen, daß des taumelvollen Lotter- und Lasterlebens für seine Kräfte zu viel war. Er hatte seinen Muskeln und Nerven mehr zugemuthet, als sie auszuhalten vermochten. Er verlor den Appetit und aus dem kargen Schlaf, den er finden konnte („incitabatur insomnia maxime“), wurde er durch grausige Traumgesichte aufgeschreckt. Dann sprang er vom Lager auf und schwankte oder stürmte wie in Fieberdelirien durch die Hallen des Palastes, mit den dräuenden Schattengestalten ringend, welche seine kranke Phantasie ihm vorgaukelte, und angstvoll nach dem ersten Tagesschimmer rufend.

Im achten Monat seiner Kaiserschaft brach er zusammen und fiel in lebensgefährliche Krankheit. Da kamen seine Beliebtheit und die Knechtschaffenheit seiner Unterthanen drastisch zum Vorschein. In der Hauptstadt, wie in den Provinzen, waren Sorge und Traurigkeit geradezu gränzenlos. Bei Tag und Nacht umlagerte eine Volksmenge das Palatium, ängstlich harrend und theilnahmevoll dem Zustande des Kranken nachfragend. Und dabei blieb es nicht. Die Römer waren bekanntlich von jeher stark in der Leistung von Gelöbnissen aller Art und jetzt fanden sich Leute, welche gelobten, ihr Leben für das des Kaisers zu lassen. Ein gewisser Afranius Potitus gab bekannt, daß er das Gelübde gethan, sein Leben zu opfern, wenn Gajus Cäsar genesen würde, und ein sicherer Atanius Secundus that das Gelöbniß, für die Genesung des Kranken in die Arena hinabzusteigen und als Gladiator auf Leben und Tod zu kämpfen. Der wiedergenesene Caligula hat das, falls dem Sueton (Cal. 27) zu glauben ist, ernsthaft genommen und die beiden unterthänigen Gelober gezwungen, ihre Gelübde zu erfüllen. Das sieht freilich wie ein später erfundener „Witz“ aus; aber so ein Witz war dem Caligula schon zuzutrauen.


3.

Als Lotterbube und Halbnarr war er auf’s Krankenlager gesunken, als Ganznarr und Tyrann der schlimmsten Art erhob er sich von demselben. Aus dem Genußfex war ein Blutfex geworden, ohne daß er aufgehört hätte, ein Schlemmer, Vergeuder und Wüstling zu sein. Was er als solcher verbrach, darüber mag der Schleier des Schweigens gebreitet sein. Auch über das Aergerniß seiner Heiraten und Scheidungen und es genüge, anzugeben, daß er vier Gemahlinnen hatte: Junia Claudilla, Livia Orestilla, Lollia Paulina und Milonia Cäsonia. Die letztgenannte hielt ihn aus, überlebte ihn jedoch kaum um eine Stunde.

Auch so, wie der Kaiser nach seiner Krankheit sich aufführte, blieb er noch lange der Volksliebling. Die Völker haben ja, wie bekannt, stets mehr auf ihre Quäler als auf ihre Wohlthäter gehalten. Diese mußten allzeit froh sein, wenn sie unverhungert, ungesteinigt und ungekreuzigt davonkamen. Jene aber wurden beschmeichelt, bejubelt, vergöttert, namentlich dann, wann sie es nicht verschmähten, mit der unverständigen Menge sich recht „gemeinzumachen“. Caligula machte sich erzgemein. Verrufenes Pack männlicher und weiblicher Sorte war sein liebster Umgang. In der Gesellschaft von Stallknechten und Wagenlenkern verbrachte er Tage und mitunter auch Nächte. Seine Leidenschaft für die Cirkusspiele war toll. Bei einem seiner tobenden Bakchanale machte er einem Cirkuskutscher, Eutychus, welcher im Wettfahren die grüne Farbe – die Parteien des Amphitheaters waren die grüne, die blaue, die rothe und die weiße – siegen gemacht, das kolossale Geschenk von 2 Millionen Sesterzien, weil er, Caligula, zu den „Grünen“ sich hielt. Seinem Lieblingsrenner Heißsporn („Incitatus“) erbaute er einen eigenen Palast, gab ihm einen förmlichen Hofstaat, Purpurdecken, Halsbänder mit Juwelenschmuck und Krippen von Elfenbein. Er soll auch beabsichtigt haben, diesen Gaul zum Consul ernennen zu lassen, und das Biest wäre am Ende aller Enden nicht der schlechteste Consul gewesen, welchen die „stolzen“ Römer sich gefallen ließen.

Caligula’s Cäsarenwahnwitz wechselte zwischen den Erscheinungsformen des sogenannten Verfolgungwahns und des sogeheißenen Größewahns.

In Stunden des Besessenseins von jenem gab er den ihm angestammten Trieben wildester Grausamkeit freien Lauf. Dann war das Morden ihm Wollust und in der Raserei derselben ließ er auch die Rücksichtnahme auf die Volksgunst gänzlich außeracht. So, wenn er, wildgemacht durch den Anblick des strömenden Blutes, bei einem Thierkampfspiel, als die Anzahl der den wilden Bestien vorgeworfenen Verbrecher ihm unzureichend schien, Plötzlich eine Anzahl von Zuschauern hinter den Schranken hervorzerren und die Unglücklichen den Löwen preisgeben ließ. Er quälte sein krankes Gehirn ab, raffinirte Marter- und Hinrichtungsarten zu ersinnen, und liebte es, seine Gräuelthaten mit rohen Spässen zu würzen und seine Opfer zu verhöhnen, bevor er sie schlachtete. Er pflegte sich seine „Gefühllosigkeit“ als höchsten Vorzug anzurechnen, und als ihm seine Großmutter Antonia einmal gerade dieser grausamen Fühllosigkeit halber Vorstellungen zu machen wagte, sagte er barsch: „Vergiß nicht, daß mir alles gegen alle zu thun erlaubt ist.“

Man sieht, die Unterweisungen des jüdischen Prinzen Herodes Agrippa hatten beim Caligula, welcher dafür seinen Präceptor mit Land und Leuten in Palästina ausstattete, ganz prächtig angeschlagen. Der Sultan war fertig, der Allmachtstaumel war tobsüchtig geworden.

Das erste Opfer von des Kaisers Verfolgungswahn ist sein junger Vetter Tiberius Gemellus geworden. Der Prinz war doch immerhin der Enkel des Tiberius und konnte sich einmal – wer weiß? – als Prätendent aufspielen wollen, also möglicherweise gefährlich werden. Schlußfolgerung aus dieser Voraussetzung: „Weg mit ihm! Einer meiner Gardehauptleute soll das in aller Geschwindigkeit und Stille besorgen.“ Und so geschah es. Wozu der Lärm einer gerichtlichen Untersuchung? Der dazu kommandirte Centurio vollzog seine Ordre und der arme Gemellus büßte sein schemenhaftes Dasein ein, ohne daß seine Ermordung etwas anders als ein halb mitleidiges halb verachtungsvolles Achselzucken erregt hätte.

Mehr Aufsehen, großes sogar, machte es, als Caligula dazu verschritt, den Gardegeneral Macro und dessen Gemahlin Ennia zum Orkus hinabzusenden. Die Frau Generalin, welcher er in zärtlichen Stunden versprochen hatte, sie zur Kaiserin zu machen, war ihm verleidet und dem Herrn General konnte er die riesige Summe von Dank, welche er ihm schuldete, nicht verzeihen. Zudem wagte es Macro, welcher ein tüchtiger Soldat und ein [36] fähiger Politiker war, den Kaiser mitunter an die demselben geleisteten Dienste zu erinnern, wie nicht minder, ihn mit Vorstellungen inbetreff kaiserlicher Herrscherwürde und kaiserlicher Herrscherpflichten zu langweilen. Solche Vermessenheit bewies denn doch klärlich, daß der General ein höchst gefährlicher Mensch war, der höchst wahrscheinlich mit Verschwörungsplänen sich trug. Also hinab mit ihm zur Unterwelt und die aufdringliche Frau Ennia, welche unsere kaiserliche Majestät an angebliche Versprechungen zu mahnen sich erdreistet, soll ihm auf dem Wege dahin Gesellschaft leisten!

(Fortsetzung folgt.)

Ueber unbewußtes Zählen.

Von W. Preyer.
II.

Auch im Gebiete anderer Sinne zeigt sich die Richtigkeit der in der vorigen Nummer ausgesprochenen Schlußfolgerung.

Zwar hält es sehr schwer, beim gleichzeitigen Berühren einer Hautstelle mit mehreren Nadelspitzen oder kleinen Erhabenheiten zu unterscheiden, ob 4 oder 5 Berührungen stattfinden – weil die Erfahrung außer bei Blinden darüber fehlt –, aber erstaunlich fein ist das Vermögen des unbewußten Zählens beim Hören, besonders in der Musik ausgebildet.

Wenn zwei Töne gleichzeitig oder schnell nach einander erklingen, so hat man entweder ein Gefühl der Befriedigung über das Zusammenklingen – dann bilden die Töne einen Wohlklang (eine Konsonanz) – oder ein Gefühl der Unbefriedignug – dann bilden sie einen Mißklang (eine Dissonanz). Im ersteren Falle ist stets das Verhältniß der beiden Töne ein einfaches und durch kleine Zahlen ausgedrückt. Das Verhältniß der Anzahl der Schwingungen, welche sie in der Luft und im Ohre in gleichen Zeiten bewirken, ist bei dem vollkommenen Wohlklang der Oktave 1 zu 2, bei der Quinte 2 zu 3, bei der Quarte 3 zu 4, bei der großen Terz 4 zu 5, bei der großen Sexte, 3 zu 5, bei der kleinen Terz 5 zu 6 und bei der am wenigsten befriedigenden Konsonanz der kleinen Sexte 5 zu 8. Alle anderen Tonverhältnisse innerhalb der Oktave sind dissonant, so namentlich die Intervalle 15 zu 16 und 24 zu 25, der sogenannte große und kleine halbe Ton, auch die große Septime 8 zu 15. Woher diese auffallende Verschiedenheit?

Wenn man bedenkt, daß außerhalb des Ohres in der Luft die tonerzeugenden Schwingungen sich durch ihre Geschwindigkeit und Stärke von einander unterscheiden, so daß die kleinen und schnellen Schwingungen leise hohe Töne geben, die großen schnellen laute hohe, die kleinen langsameren leise tiefe, endlich die großen langsamen laute tiefe Töne hervorbringen, dann erscheint es natürlich anzunehmen, daß die im inneren Ohre vorhandenen elastischen Theilchen an den äußersten Enden der Hör-Nervenfasern abgestimmt seien und in ebenso viele Schwingungen gerathen wie die schallende Luft und das Trommelfell, und zwar wie diese stark und schwach. Jedem Ton entspricht eine Faser, welche allein am stärksten mitschwingt, wenn er erklingt. Eine solche Ansicht hat sehr scharfsinnig Helmholtz begründet. Wenn nun im Ohre eine große Anzahl von Nervenenden (nach den Zählungen guter Beobachter jedenfalls mehr als 16 000, wahrscheinlich über 20 000) wie die Tasten des Klaviers neben einander ausgebreitet sind und jeder Faser ein Ton entspricht, so erscheint es wohl annehmbar, daß man beim Hören der Töne, welche um gleichviel von einander abstehende Fasern in Thätigkeit setzen, ein anderes Gefühl, und zwar ein befriedigenderes habe, als wenn sie ohne Rücksicht auf die Anzahl der zwischenliegenden unerregten Nervenfaserenden durch einander erklingen. Wenn also z. B. ein Ton von 64 Schwingungen in der Sekunde, ein tiefes C, ertönt und mit ihm oder sogleich nach ihm das angestrichene mit 128 Schwingungen, so wird dieses Tonpaar vor allen anderen mit dem C gebildeten ausgezeichnet sein dadurch, daß der Ton, vom Anfang der Tastatur im Ohr an gerechnet, gerade so viel unerregte Nervenenden unter sich hat, wie bis zum zweiten Ton über ihm liegen.

Diese Gleichheit des Abstandes kann sehr wohl eine Befriedigung gewähren, wie Jeder sie beim Hören der Oktave hat und wie sie in ähnlicher Weise beim Sehen eines Kreises auftritt. Die Kreislinie zeichnet sich ja dadurch aus, daß jeder Punkt in ihr vom Mittelpunkt die gleiche Entfernung hat. Auch im Auge sind die lichtempfindlichen Enden des Sehnerven für die Beurtheilung der Schönheit einer Figur unerläßlich, auch da wird der Abstand zweier Punkte durch die Anzahl der zwischenliegenden Nervenenden unbewußt geschätzt, und auch da bewirken gewisse Verhältnisse eine größere Befriedigung als andere, z. B. das Quadrat, das gleichseitige Dreieck eine größere als das Trapez oder das ungleichseitige Dreieck. Es kommt bei der Beurtheilung der Schönheit eines Gebäudes, eines Schrankes, einer Landschaft, eines Gesichtes vor allen Dingen auf das Verhältniß der einzelnen Theile zu einander an, auf die Dimensionen. Sowie dieses Verhältniß in einem Punkte erheblich gestört ist, nähert sich das Ganze der Karikatur oder der Mißgeburt und ist häßlich. Immer kommt es auf die Abstände der einzelnen Punkte, der Grenzen, der Linien von einander im Gesehenen an, das heißt auf die Schätzung der Anzahl der zwischen ihren Bildern auf der Netzhaut des Auges befindlichen Nervenelemente.

Wie bei dem bewußten Taxiren ist natürlich auch bei diesem ganz unbewußten erblichen, schon in der Jugend ausgebildeten Zählvermögen die Schätzung der Verhältnisse 1 : 2 und 1 : 11/2, auch 1 : 11/4, viel leichter als die Schätzung der Verhältnisse 1 : 1/7 und 1 : 11/9 oder 1 : 11/11. Ich meine: dasselbe muß für das Gehör gelten. Erstere Zahlen entsprechen angenehmen, letztere unaugenehmen Tonpaaren. Erstere sind leicht zu verstehen, letztere unverständlich. Das Unverständliche hat immer etwas Unlusterregendes an sich.

Wenn daher zwei Töne erklingen, von denen der eine die 100., der andere die 170. Faser vom Anfang der Klaviatur an gerechnet trifft, so wird man, meine ich, deßhalb unbefriedigt von dem Intervall sein, weil man nicht den Abstand von 7/10 der ersten Strecke genau beurtheilen kann, während die 100. und 125. und 150. Faser, wenn sie zusammenschwingen, die Beurtheilung von 1/4 und 1/2 der ersten Strecke verlangen und eine große Befriedigung gewähren, entsprechend dem Wohlklang des Akkords c e g. der in Zahlen durch 1 : 11/4 : 11/2 ausgedrückt wird.

Aehnlich alle anderen Konsonanzen und Dissonanzen. Sowie die Verhältnisse der Schwingungszablen der beiden Töne (die zugleich oder nach einander erklingen) und damit die der Mengen der im Ohre zwischen den entsprechenden Hör-Nerventasten liegenden ruhenden Tasten (Stäbchenzellen) verwickelt sind, nicht mehr durch kleine ganze Zahlen (1, 2, 3, 4, 5) ausgedrückt werden können, lassen sich die Unterschiede der beiden Strecken (vom Nullpunkt bis zur Taste des ersten Tons und von dieser bis zur Taste des zweiten Tons) und das Verhältniß der Anzahl der Nervenfaserenden beider Strecken zu einander nicht mehr leicht beurtheilen, daher die Unbefriedignng, welche alle Dissonanzen geben.

Für die Oktave ist die Schätzung am leichtesten, weil die ganze Strecke vom Anfang bis zum ersten (tieferen) Ton gleich ist der von diesem zum zweiten (höheren); sie heiße 1; für die Quinte ist sie dann 1/2, da 2 : 3 = 1 : 11/2, für die Quarte 1/3, da 3 : 4 = 1 : 11/3, für die große Terz 1/4, da 4 : 5 = 1 : 11/4. Die Abstände der unvollkommenen Konsonanzen sind aber etwas schwieriger zu schätzen, nämlich die Bruchtheile 1/5, 2/3, 3/5 des ersten Abstandes und vollends die aller Dissonanzen noch viel schwieriger zu erkennen, weil sie kleineren Bruchtheilen entsprechen.

In der Musik zählt man nur bis 5.

Schwierige Rechenexempel sind dem Kopfrechner unangenehm, während leichte ihm Vergnügen bereiten. Dem Künstler geht es ebenso. Ihm ist ist das Kopfrechnen unbewußt. Von Schwingungszahlen, Nervenfaserenden, Abständen der Stäbchenzellen weiß der Musiker nichts, wenn er innerlich die herrlichsten Akkorde hörend seine Symphonie komponirt. Auch der Maler und Architekt, der Bildhauer und Kupferstecher wissen nichts von den vielen hunderttausend Sehnervenfaserendigungen im Auge, nichts von der Kraft und Zahl der Aetherschwingungen des Lichts und zählen doch unbewußt die mikroskopischen Entfernungen des einen Mosaikfeldchens der Netzhaut vom anderen mit einer Genauigkeit, die den übrigen Sterblichen wunderbar erscheint, weil sie es nicht können und nicht verstehen.

Der große Denker Leibniz hatte Recht, als er im Jahre 1712 mit einer merkwürdigen Vorahnung künftiger Forschungsergebnisse schrieb: „Die Musik ist ein verborgenes Rechnen des Geistes, welcher nicht weiß, daß er zählt. Denn er thut Vieles mit unklaren oder unmerklichen Perceptionen, was er in deutlicher Apperception nicht wahrnehmen kann. Die irren, welche meinen, es geschehe nichts in der Seele, dessen sie selbst nicht bewußt sei. Obwohl also die Seele nicht fühlt, daß sie zählt, fühlt sie doch das Ergebniß dieser unmerklichen Zählung, das heißt das aus ihr fließende Vergnügen bei den Konsonanzen, Mißvergnügen bei den Dissonanzen. Denn aus vielen unmerklichen Uebereinstimmungen entsteht das Vergnügen.“

In ähnlichem Sinne hatte sich auch der jugendliche Descartes schon 1618 und gerade ein Jahrhundert später der Mathematiker Euler ausgesprochen. Aber keiner, auch unter den Forschern der Gegenwart keiner, dachte daran, daß es höchst wahrscheinlich beim unbewußten Zählen die Endigungen der Nervenfasern sind, deren Anzahl geschätzt wird. Alles Andere, was außerdem beim Hören in Betracht kommt, namentlich die Schwebungen der Obertöne und die Differenztöne, obwohl sehr wesentlich, kann doch nicht von solcher Wichtigkeit für die Unterscheidung der Konsonanzen von den Dissonanzen sein, weil diese auch beim Nacheinandererklingen der zwei Töne sofort vom musikalischen Ohre unterschieden werden, Schwebungen und Differenztöne und Rauhigkeit aber nur beim gleichzeitigen Erklingen zweier Töne entstehen. Sie erleichtern jenes schnelle Zählen.

Auch beim Schätzen der Entfernung zweier nach einander berührter Hautstellen von einander kommt es auf das unbewußte Zählen der zwischen ihnen liegenden Hautnervenendigungen an, wie beim Sehen zweier nach einander aufblitzender Sterne von gleicher Farbe, Größe und Lichtstärke an verschiedenen Orten auf das unbewußte Zählen der zwischen ihren Bildern, im Augenhintergrunde liegenden unerregten Netzhautelemente. Andernfalls würde man den zweiten Stern an derselben Stelle wie den ersten sehen. Nur Blinde, welche mit den tastenden Fingerspitzen zählen gelernt haben, bringen es aber dahin, mit diesen 3 von 4 und 5 kleinen erhabenen Stellen einer Fläche ebenso sicher ohne bewußtes Zählen zu unterscheiden, wie Sehende durch einen einzigen Blick.

Es ließe sich ein ganzes Buch über das im praktischen Leben in mannigfaltiger Weise sich bethätigende unbewußte Zählen schreiben. Doch werden die besprochenen Fälle schon genügen, um seine Bedeutung erkennen zu lassen.

Jena, im December 1885.


[37]

Deutschlands Kolonialbestrebungen.

Die Marshall-Inseln.
Von Dr. O. Finsch (Bremen).

Neben den Karolinen sind die Marshalls, auf welchen vor Kurzem die deutsche Flagge gehißt wurde, die bedeutendste Inselgruppe des westlichen Stillen Oceans. Sie erstrecken sich, zwischen dem 5. und 12. Grade nördlicher Breite, über einen ungeheuren Flächenraum von nahezu sieben Breiten- und zwölf Längengraden und zerfallen in eine westliche und eine östliche Inselkette. Erstere, Ralik genannt, zählt elf, letztere, Ratak, dreizehn Atolle, Ring- oder Lagunen-Inseln. Der Gesammtflächeninhalt dieses Archipels wird auf etwa 2000 Quadratkilometer berechnet, die Bevölkerung auf etwa 10000 Seelen, was jedenfalls viel zu hoch gegriffen ist.

Ein Atoll, das bekanntlich mikroskopisch winzigen Korallthierchen seine Entstehung verdankt, besteht aus einer größeren oder geringeren Anzahl von Inseln, die meist ring- oder eiförmig eine ruhige Wasserfläche, die Lagune, umschließen. So wird die an 27 Seemeilen lange und circa 17 Seemeilen breite Lagune des Atoll Jaluit (Dschaluit) oder Bonham von nicht weniger als 58 Inseln und Inselchen umrahmt. Die Gesammtzahl des ganzen Inselreiches ist eine noch ungezählte. Die Inseln, von denen keine eine hervorragendere Größe erreicht, bestehen meist aus länglichen, aber schmalen Streifen Land, die sich nur wenige Fuß über die höchste Fluthmarke erheben und selbst vom Deck eines größeren Schiffes selten weiter als 10 bis 14 Seemeilen erkennbar sind.

Pantomime auf den Marshall-Inseln.
Nach Skizzen von Dr. O. Finsch für die „Gartenlaube“ auf Holz gezeichnet von A. von Roeßler.

Der vielen Riffe halber, welche die Inseln umgeben und die zum Theil bei Ebbe trocken laufen, hat die Schifffahrt mehr Fährlichkeiten als anderwärts. Denn auch die Lagunen sind nicht frei von „Patches“, wie Korallenuntiefen genannt werden, und die oft sehr schmalen Passagen, welche die Lagune mit dem Ocean verbinden, zuweilen gefährlich. Ihre Einsegelung erheischt daher große Vorsicht und Lokalkenntniß, schon der herrschenden Strömungen wegen, die je nach Ebbe und Fluth sehr wechseln. Manche Atolle besitzen mehrere praktikable Passagen, andere gar keine; das Landen ist daher selbst für Boote zuweilen nicht ganz gefahrlos.

So sehr auch der Anblick von Land mit grünen Bäumen nach langer ermüdender Seereise das Auge erfreut, bald lernt man einen der Hauptcharaktere der Atolle, ihre Einförmigkeit, kennen. In der That gehören sie zu den armen Gebieten unseres Planeten, wie dies bei einer vorherrschend steinigen, mit Korall- und Muscheltrümmern bedeckten Erdoberfläche nicht anders sein kann. Nur an wenigen Plätzen hat sich so viel Humus gebildet, daß Brotfrucht und andere Bäume gedeihen, oder daß die Eingeborenen in beschränkter Weise Arrowroot bauen können und so die einzige Landwirtschaft betreiben, soweit von solcher überhaupt die Rede sein kann. An Viehzucht ist natürlich nicht zu denken; nur Schweine und Hühner finden sich in beschränkter Anzahl. Aber das Thierreich entfaltet im Meere einen wunderbaren Reichthum, namentlich an buntfarbigen Fischen, vor deren Genuß übrigens ernstlich zu warnen ist, denn viele sind, wenigstens zu gewissen Zeiten, giftig, und ich habe selbst Eingeborene in Folge einer Fischmahlzeit sterben sehen.

Diese in groben Zügen gegebene Schilderung eines Atolls, die ich sowohl in der Südsee als im Indischen Ocean kennen lernte, paßt im Wesentlichen auf alle. Sie alle verdanken die Möglichkeit, Menschen überhaupt ernähren zu können, einem Baume, der unter diesen bescheidenen Bodenverhältnissen gerade sehr gut gedeiht und wohl mit zu den nützlichsten zählt, welche die Natur hervorbrachte: der Kokospalme! Sie ist es, welche wiederum den weißen Mann veranlaßte, sich auf diesen einsamen Inseln niederzulassen. Denn Kopra, das heißt der in Stücke geschnittene, getrocknete Kern, das Fleisch der Kokosnuß bildet für die Atolle, wie fast für die ganze Südsee überhaupt, den einzigen bedeutungsvollen Ausfuhrartikel nach Europa. Hier wird sie in Fabriken, von denen in Deutschland Harburg und Magdeburg solche besitzen, zu Oel und Seifen verarbeitet, während die Preßrückstände der Viehzucht werthvolle Oelkuchen liefern. Der Preis der Kopra ist stetigen Schwankungen unterworfen. Er betrug vor mehreren Jahren noch 400 Mark pro Tonne, ist aber auf 200 bis 260 herabgegangen. Die Gesammtausfuhr der Marshall-Inseln mag, je nach dem Ausfall der Ernte, zwischen 1000 bis 1500 Tonnen betragen und wird, wie der ganze Handel, fast ausschließlich von zwei deutschen Firmen: der Handels- und Plantagen-Gesellschaft und Robertson und Hernsheim in Hamburg betrieben. Beide Häuser haben ihre wohleingerichteten Etablissements auf der Insel Dschabwor des Atoll Jaluit, welches somit nicht allein fur die Marshalls, sondern für ganz Mikronesien den Centralpunkt des Verkehrs bildet. Auf Jaluit kann man nicht nur ungefähr Alles kaufen, was der civilisirte Mensch zum Leben bedarf, von der Segelnadel bis zur Nähmaschine und vom Schiffsbrot bis zur Straßburger Gänseleber-Pastete, sondern auch in einem regelrecht eingerichteten Hôtel Unterkommen finden.

[38] „Black Tom“, der schwarze Thomas, ein Neger aus Süd-Karolina oder daherum, der, wie er selbst sagt, „der erste Weiße“ war, der sich auf Samoa niederließ, hat endlich auf Jaluit ein ruhiges Plätzchen gefunden, nachdem er Samoa wegen Einbruchs schleunigst verlassen mußte und später auf Madjuru von den Eingeborenen fast erschlagen wurde, weil er ihre Kopra für die seinige hielt. Black Tom ist jetzt ein wohlsituirter Mann und eine jener Südsee-Typen, die hoffentlich immer seltener werden. Und dazu wird das neue deutsche Protektorat jedenfalls das Seinige beitragen, damit auch hier Jene unlauteren Elemente verschwinden, welche bisher in der Südsee eine oft nur allzu große Rolle der Willkür spielten und den Eingeborenen in keiner Weise als Vorbild dienten.

Außer Jaluit besitzen nur noch Ebon, Namerik, Milli, Madjuru und Arno Stationen von Kleinhändlern, welche für die genannten Firmen oder auf eigene Rechnung Kopra von den Eingeborenen tauschen oder kaufen, denn in den Marshalls ist vielfach bereits Geld und zwar der chilenische Dollar eingeführt. Auf Ebon verlangen die Eingeborenen bereits einen solchen als Tagelohn! Die Mission, welche schon an 25 Jahre und mehr in den Marshalls thätig ist, über die vorher genannten Inseln aber bisher nicht hinauskam, hat die Eingeborenen eben klug gemacht, im Ganzen aber keine großen Erfolge zu verzeichnen. Die Gesammtzahl der Getauften geht über mehr als 300 wenig hinaus; auf Jaluit mit angeblich an 1400 Einwohnern giebt es kaum 20 Kirchengänger.

Marshall-Insulanerin (Jaluit).
Nach einer photographischen Aufnahme von Dr. O. Finsch.

Marshall-Insulaner (Jaluit).
Nach einer photographischen Aufnahme von Dr. O. Finsch.

Von Plantagenwirthschaft kann auf den Marshalls nur die der Kokospalme in Betracht kommen. Adolf Capelle, ein Braunschweiger, der Erste, welcher sich vor mehr als 20 Jahren als Kaufmann in der Gruppe niederließ und die Eingeborenen Kopra machen lehrte, hat eine solche Kokospflanzung auf der ihm gehörigen Insel Liekip angelegt.

Ueber die Eingeborenen, welche der braunen, schlichthaarigen Südsee-Rasse, den eigentlichen Polynesiern angehören, da eine Absonderung in „Mikronesier“ ganz unhaltbar ist, läßt sich im Ganzen wenig sagen. Ich habe schon früher in diesem Blatte (Jahrg. 1881, Nr. 42, S. 700) ein anschauliches Bild ihres Lebens, ihrer Sitten, socialen Zustände und ihres Charakters entworfen, das noch heute zutreffend ist, nur daß die Eingeborenen noch mehr an Originalität verloren haben. Auch Konig Lebon Kabua hat die Regierungssorgen aufgegeben und sich seinen Gläubigern auf eine der nördlicheren Inseln entzogen. Loiak, sein damaliger Gegner, führt gegenwärtig die schattenhafte Macht eines „Iroidsch-lablab“ oder „Ober-Häuptlings“, welche hauptsächlich in der Oberaufsicht der heirathsfähigen Mädchen besteht, die einen erheblichen Theil seiner Revenuen bilden.

Auf den nördlichen Inseln der Gruppe mag noch heutigen Tages mehr Originalität herrschen, wie ich sie vor fünf Jahren fand. Hier kleidet man sich zum Theil noch in die schönen Matten, deren Rand mit zierlichen Mustern in aufgenähter Arbeit versehen ist. Oder der Mann und Krieger schreitet in dem charakteristischen „Ihu“, einem langen, aus Pflanzenbast verfertigten Rocke einher, das lange Haar auf dem Wirbel in einen Knoten geschürzt. Tätowirung und Blumenschmuck sind zur Verschönerung noch im Schwange, wozu auch die oft enorme Ausdehnung des Ohrlappens gehört, wie ihn unsere Abbildung nach einer von mir gefertigten Photographie zeigt. Hier konnte man noch originelle und lebensvolle Bilder des Volkslebens sehen, Scenen, wie die auf unserem Hauptbilde (S. 37) dargestellte. Sie betrifft eine jener mimischen Vorstellungen, wie sie gerade für die Marshall-Insulaner charakteristisch sind. Der Hauptacteur, gewöhnlich ein Häuptling oder Vornehmer, sitzt fein geschmückt in der Mitte und giebt seine Künste zum Besten, die in nichts bestehen als zitternden Armbewegungen, Kopf- und Augenverdrehungen! Die Frauen und Mädchen singen dazu eine einfache Strophe, welche mit ohrenzerreißendem Gellen endet und bei der mächtige hölzerne, mit Haifischhaut überzogene Trommeln die wirksame Begleitung und den Takt abgeben. Ein solches Musikfest, dessen Schönheit zu begreifen man geborener Kanaker sein muß, dauert oft eine ganze Nacht.

Im Anschluß an meine frühere Schilderung des Krieges von 1880 will ich ergänzend noch bemerken, daß derselbe auf Jaluit zwar keine Opfer, dagegen im Norden der Ralikkette einen blutigen Abschluß fand. Die beiden kleinen Inseln Ronelap und Ronerik, je mit etwa 100 Einwohnern, hatten kaum erfahren, daß ihre beiderseitigen Herren Kabua und Loiak in Fehde lagen, als sie über einander herfielen. Dabei wurden die Bewohner der einen Insel fast sämmtlich erschlagen und zwar nur mit den landesüblichen Waffen, denn Gewehre besaßen diese Insulaner noch nicht.


Blätter und Blüthen.

Zum hundertjährigen Todestag Moses Mendelssohn’s († am 4. Januar 1786). Was Moses Mendelssohn, der jüdische Kaufmann und Weltweise, seinen wissenschaftlichen Fachgenossen, den Philosophen, war und ist, das ausführlicher darzulegen ist hier nicht der Ort. Aber den gebildeten Laien, insofern er sich für philosophische Betrachtungen interessirt, wollen wir am heutigen Tage an Mendelssohn's „Phädon“ erinnern, in welchem der scharfe Denker für den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele eintritt und die Lücken der Beweisführung in dem gleichnamigen und denselben Gegenstand behandelnden Dialog des Plato mit den Ergebnissen der neueren Philosophie auszufüllen unternimmt. Moses Mendelssohn war kein Philosoph in der strengsten Bedeutung des Wortes, sondern ein Popular-Philosoph, kein Denker von urwüchsiger Eigenart, sondern ein Eklektiker, der, hervorgegangen aus der Leibniz-Wolff’schen Schule, sich mit wichtigen Ueberzeugungen anderer Philosophen, wie Locke’s und Shaftesbury’s, in Einklang zu setzen suchte. Er gehört der Periode vor Kant an und mußte es mit vielen anderen Fachgenossen über sich ergehen lassen, durch jenen Riesen in den Hintergrund geschoben zu werden.

Weit interessanter ist uns Mendelssohn als Freund Lessing’s. Man hat die Beziehungen der beiden Männer zu einander mit denen Goethe’s und Schiller’s verglichen, und abgesehen davon, daß der letztere Freundschaftsbund von zwei vollkommen ebenbürtigen Geistern geschlossen wurde, während Mendelssohn an Lessing’s Höhe nicht hinanreicht, hat man auch Grund zu diesem Vergleiche. Wie wir der Freundschaft Goethe’s und Schiller’s einen Briefwechsel von unschätzbarem Werthe verdanken, so hat auch der Briefwechsel Lessing’s und Mendelssohn’s in Rücksicht auf bedeutenden Inhalt wenige seines Gleichen. Diese briefliche Unterhaltung dreht sich namentlich um Lessing’s und Mendelssohn’s Schriften, behandelt im Zusammmenhang damit wichtige Fragen der Philosophie und besonders der Aesthetik, z. B. Mendelssohn’s Lehre von den vermischten Empfindungen, giebt interessante Aufschlüsse über Fabel und Drama, Aristoteles und Spinoza etc. Die Verdienste der beiden Männer um einander sind der wichtigsten und mannigfaltigsten Art. So waren die Freunde einander die ersten Kritiker, die Kritiker vor dem Abschluß und Druck ihrer Werke, die zugleich mit liebendem und strengem Auge die geistigen Sprößlinge des Anderen aufwachsen sahen. Ferner hat Lessing Mendelssohn als Schriftsteller eingeführt, er hat seinen Bestrebungen Koncentration gegeben, er hat ihn zurückgehalten, an ein halbes poetisches Talent seine Zeit wegzuwerfen, er hat seine hervorragenden Geisteskräfte auch für die Kunstkritik fruchtbar gemacht.

Und andererseits hat Mendelssohn an verschiedenen Hauptwerken Lessing’s einen sehr erheblichen Antheil, wie z. B. am Laokoon, einen ganz eigenartigen Antheil aber am Nathan. Denn wenn man bei einer solchen Idealfigur überhaupt von einem Modell sprechen will, so war dieses Niemand anders als Moses Mendelssohn, der wie Nathan Kaufmann und Weltweiser zugleich war und wie Nathan, treu dem Glauben seiner Väter, doch durch Vernunft und Gemüth auf die Höhe vorurtheilsfreiester Duldsamkeit emporgehoben wurde. Wie hoch Lessing die Bedeutung dieses edlen und dabei durch und durch deutschen Juden anschlug, einen wie großen Werth er auf seine Freundschaft legte, lehren seine Briefe. „Möchte ich Ihrer Wahl so würdig sein, als Sie der meinigen sind.“ – „Werden Sie nicht müde, mich zu bessern, so werden Sie auch nicht müde werden, mich zu lieben.“ – „Schreiben Sie, mein lieber Moses, so viel, als Ihre [39] gesunde Hand nur immer vermag, und glauben Sie steif und fest, daß Sie nichts Mittelmäßiges schreiben können – denn ich habe es gesagt.“ – „Verlieren Sie mich ja nicht ganz aus den Augen; lassen Sie mich ja an allen Ihren Beschäftigungen noch ferner den Antheil nehmen, den ich zu meinem großen Nutzen bisher daran genommen habe. Das wird das einzige Mittel sein, wenn ich nicht ganz in Nichtswürdigkeiten versinken soll.“ Solches und Aehnliches schreibt Lessing zu verschiedenen Zeiten an seinen Freund – und Lessing liebte keine Phrasen.

Endlich verdient Mendelssohn unsere Anerkennung als wissenschaftlicher selfmade man. Aus den kümmerlichsten Verhältnissen hervorgegangen, Sohn eines israelitischen Lehrers und Thorarollen-Schreibers in Dessau, ließ er sich durch die Armuth nicht zu Boden drücken, sondern erlangte infolge eines außergewöhnlichen wissenschaftlichen Eifers und einer ebenso außergewöhnlichen Begabung, theils als Autodidakt, theils von intelligenten Männern privatim unterwiesen, ohne Gymnasium und Universität jene imponirende geistige Ausbildung. Und als es ihm dann später vergönnt war, seinen leiblichen Hunger vollauf zu stillen, als er in Berlin von Stufe zu Stufe als Buchhalter, Dirigent und Theilhaber einer Seidenwaarenfabrik sich eine mehr als auskömmliche kaufmännische Stellung eroberte, blieb doch sein geistiger Hunger ungestillt und bewirkte, daß Mendelssohn nach wie vor das seltene Beispiel einer glücklichen Vereinigung kaufmännischer

und philosophischer Spekulation gab.
Otto Sievers.     

Brennende Gasquelle bei Pittsburg.
in Pennsylvanien.
Nach einer amerikanischen Vorlage.

Die „Gasquellen“ in Pennsylvanien. Die Söhne kommender Jahrhunderte werden auf uns gewiß als sinnlose Verschwender mit Geringschätzung herabblicken, wenn sie die Beschreibung unserer Oefen lesen und dabei herausrechnen, daß wir von dem Heizwerth, der in den Brennmaterialien vorhanden ist, nur den zehnten Theil als Wärme ausnützen und den Rest als Ruß und Rauch in die Luft steigen lassen. Es ist nicht lange her, daß dieser Uebelstand entdeckt wurde, der für London z. B. folgende Verluste ergiebt: In der Weltstadt an der Themse werden jährlich 8000 Millionen Kilo Steinkohlen verbrannt, dabei aber nur der Heizwerth von 800 Millionen Kilo in Wärme verwandelt, während der Rest von 7200 Millionen nicht ausgenützt wird und 400 Millionen Kilo sogar als Ruß geradezu schädlich wirken. Außerdem aber entsteigen noch den Londoner Schloten und verpesten die Stadtluft die Verbrennungsprodukte von 120 Millionen Kilo Schwefel, die in den Steinkohlen enthalten sind.

Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, daß die Projekte verbesserter Heizungsmethoden überall lebhaft erörtert werden. Die radikalste Besserung versprechen uns diejenigen, welche vorschlagen, daß man unsre heutigen Oefen abschaffe und keine Kohlen mehr ins Haus liefere. Dieselben sollen in Anstalten vor den Thoren der Städte in Heizgas verwandelt werden und dieses soll ebenso wie jetzt das Leuchtgas den einzelnen Häusern in Röhren zugeführt und hier in eigens konstruirten Gasöfen verbrannt werden. Die Aussichten dieser Neuerung sind in der „Gartenlaube“ in einem besondern Artikel im Jahrgang 1883, Seite 122 besprochen worden und in demselben ist auch darauf hingewiesen worden, daß die Anlage neuer ausgedehnter Gasleitungen das Haupthinderniß für die Verbreitung der neuen Heizmethode bilde.

Diese Reformbewegung hat ohne Zweifel findige Amerikaner auf die Idee gebracht, Brenngase, die in Petroleumdistrikten dem Schoß der Erde entsteigen, zur Heizung nahe gelegener Städte zu verwenden. In Pennsylvanien ist der Versuch geglückt: einige Gesellschaften haben in der Nähe von Pittsburg bereits gegen 50 „Gasquellen“ gebohrt und umfangreiche Röhrenleitungen von denselben nach der Stadt gelegt.

In den unterirdischen Hohlräumen, die Erdöl enthalten, befinden sich über demselben die Brenngase in stark verdichtetem Zustande. Trifft man mit dem Bohrer auf eine solche Gasschicht, so erfolgt zunächst eine heftige Explosion; der Bohrer fliegt in die Luft, eine Sandwolke folgt ihm nach, und dann entweicht das Gas, oft mit dröhnendem Gebrüll, das meilenweit gehört wird.

Man hat nun sinnreiche Apparate konstruirt, welche die dem Bohrloch entströmenden unbändigen Elemente auffassen und den Röhrenleitungen zuführen. Die überschüssigen Gasmengen werden einfach verbrannt, und das Schauspiel, das sich dabei dem Beschauer bietet, wird besonders großartig, wenn das Bohrloch eine Zeit lang verschlossen bleibt und nach Eröffnung desselben das mit erneuerter Kraft aufschießende Gas entzündet wird. Unsere nach „Harper’s Weekly“ wiedergegebene Illustration veranschaulicht den Erfolg eines solchen Experimentes.

An Abnehmern des billigen Brennmaterials fehlt es in den benachbarten Städten Pennsylvaniens augenblicklich nicht, aber auch die Gasquellen versiegen mit der Zeit ebenso wie die Petroleumquellen. Wird dann auch die ganze Röhrenleitung unbenutzt bleiben und werden die Gasöfen aus Fabriken und Wohnungen verschwinden müssen? Man glaubt nicht daran und hegt die Hoffnung, daß diejenigen, welche die Vortheile der Gasheizung einmal kennen gelernt haben, niemals zu der „veralteten“ Kohlenfeuerung umkehren werden. An den versiegten Gasquellen werden alsdann Anstalten aus dem Boden wachsen, in denen aus rohem Petroleum oder Steinkohlen Heizgas fabricirt wird. In dieser Hinsicht sind die pennsylvanischen Gasquellen auch für die Heizfrage im Allgemeinen von Bedeutung; sie können als ein großartiger Versuch mit dem Heizgas angesehen werden, und Vielen erscheinen sie in der That als Pioniere der Gasheizung.


Die Damen der Königin. (Mit Illustration S. 25.) Die edle Herrin hatte sich wegen Unwohlseins in ihr Schlafgemach zurückgezogen, und ihre Hofdamen waren dadurch dienstfrei geworden. In dem stillen Palast war es recht langweilig, und eine der jungen Schönen nach der anderen suchte nach einem Einfall, um sich mit den Genossinnen die müßige Zeit zu vergnügen. Da kam mit seinem Recht, überall bei Hofe sein Spiel zu treiben, der Hofnarr zufällig in den Saal, wo die Damen sich aufhielten und eben dem Spiel der Einen auf der Laute und ihrem Gesange zuhörten. Er kam in seinem vorschriftsmäßigen Kleid, mit dem Narrenbarett, dem großen Radhalskragen und dem Scepter, dem Zeichen seiner närrischen Würde, in der Rechten, und in der anderen Hand [40] hielt er ein Joujou, mit dem er seine leichten Kugelfangkünste trieb, um doch für einen richtigen alten Narren nichts fehlen zu lassen. Uebermüthiges Gelächter und Neckreden der aufgeräumten jungen Damen begrüßten ihn. Der Narr kam ihnen gerade recht und war ja dazu da, sich Scherz gefallen zu lassen und anzugeben. Er solle einmal die Laute spielen und singen, rief die Eine. Ja, ja! die Andere – und ein Liebeslied! Sie klatschten dem übermüthigen Vorschlag Beifall mit den Händen und reichten ihm die Laute hin.

Der Narr stutzte eine Weile, ließ seine Augen auf der Jüngsten der Hofdamen schmachtend ruhen, als wolle er sagen, daß er für sie Alles zu thun bereit sei, was sie wünsche, warf Scepter und Joujou auf den Teppich, ergriff die Laute und stellte sich in theatralischer Haltung in einiger Entfernung vor den Damen auf, die auf einer Bank an der Wand in lustiger Erwartung Platz nahmen. Und er sang, der drollige Geck; es kam so süß, so innig seine Liebesklage heraus, daß er ein homerisches Gelächter damit erregte. Sichtlich, er richtete sein Lied an die Jüngste. Welch ein Spaß, daß sie eine förmliche Liebeserklärung von dieser aufgeputzten Mißgeburt erhielt! Was für ein pikantes Geheimniß offenbarte sich da! Der Narr verliebt, und er that so, als sei es ihm Ernst damit, als erflehe er wenigstens ihr Mitleid. Zum Todtlachen! Nur sie, der es galt, mochte ihn nicht deswegen verspotten und kränkend verlachen. Erstaunen und Mitleid nahmen sie vielmehr in Bann. Am Ende hatte auch dies Geschöpf da, dieser Narr, dieser berufsmäßige Spottvogel ein Herz mit edlen Empfindungen. Ihr Blick voller Antheil verrieth ihm, was sie dachte, und seine Augen, in denen es schmerzlich zuckte, antworteten ihr darauf: Ja, ja, so ist’s! Auch ich bin ein Mensch und fühle wie ein solcher. Dank Dir, holdes Weib, wenn Du dies würdigtest! S.     


Der Lautenschläger. Mit Hans Canon († 12. September 1885) hat die heutige Wiener Malerei den bedeutendsten Meister verloren, welchen sie nach Hans Makart noch verlieren konnte. Von tschechischen Eltern in Wien geboren, war er auch ein echtes Wiener Kind geworden, mit all der reifen Begabung, aber auch dem stürmischen ungleichen Naturell eines solchen und der vollkommenen Gleichgültigkeit gegen nationale Forderungen, wie sie aus solchen Antecedentien leicht erklärlich wird. Dabei hatte er sich aber eine überaus reiche Bildung angeeignet, die zwar die Heftigkeit seines Temperaments in keiner Weise zu mäßigen vermochte, aber bei seiner angeborenen Wohlredenheit seinem Umgang oft großen Reiz verlieh. Ohne als Künstler eigentlich originell zu sein, sondern vielmehr sich beständig an klassische Muster lehnend, hat er doch eine wahrhaft staunenswerthe Produktivität entfaltet, ja er soll, die zahllosen Portraits eingerechnet, über tausend Bilder gemalt haben. Eine große Anzahl derselben, sowie eine große Reihe interessanter Zeichnungen und Skizzen gelangt im Anfang dieses Jahres im Wiener Künstlerhause zur Ausstellung, die im Großen und Ganzen nach den drei Hauptperioden seiner künstlerischen Wirksamkeit, der sogenannten Stuttgarter, Karlsruher und Wiener Periode, arrangirt wurde. Ursprünglich Schüler von Rahl, hat Canon mit diesem Meister auch viel Aehnlichkeit darin, daß bei allem hervorragenden malerischen Talent doch jene gewisse innere Kälte in seinen Werken steckt, wie sie allen bloßen Klassicisten eigen ist.

Der Lautenschläger.
Nach dem Oelgemälde von Hans Canon.

Er verliert dieselbe nur da, wo er, statt einem klassischen Vorbild, der Natur unmittelbar gegenübersteht, das heißt bei den Bildnissen. Sie sind das weitaus Werthvollste an seiner ungeheuren Produktion, da ihn sein großer Verstand und seine Menschenkenntniß befähigten, tiefer in den Charakter seiner Modelle einzudringen, als dies den meisten Salonmalern möglich ist. Auch seine vielen Halbfigurenbilder, wie unser Lautenspieler, der zu den Hauptwerken der Karlsruher Periode zählt, sind oft von großem Reiz, obwohl speciell bei diesem die Nachahmung des Frans Hals und anderer Niederländer auf der Hand liegt. Alles aber, was er schuf, hat einen großen imponirenden Zug, der freilich bei den historischen Gemälden den Mangel der Ursprünglichkeit nicht immer vollständig ersetzen kann.


Die heiligen drei Könige. (Mit Illustration S. 33.) In vielen Gegenden Dentschlands, Deutschösterreichs und Tirols ziehen am Vorabende des 6. Januar als des den heiligen drei Königen gewidmeten Festtages Knaben mit goldpapierenen Kronen auf dem Kopf, lange Hemden über ihre Kleider gezogen und bunte Tücher als Mäntel um die Schultern geworfen, in den Dörfern von Haus zu Haus. Einer von ihnen trägt einen Lampion in Sternform an einer Stange und ein Anderer hat sein Gesicht mit Ruß beschmiert und repräsentirt den Mohrenkönig Balthasar, im Volksmunde „Waldhauser“ genannt. Sie singen ein mehrstrophiges altes Lied bald ein-, bald dreistimmig, das von der Reise der drei Könige aus dem Morgenlande nach Bethlehem, von ihrer Unterredung mit Herodes und von ihrer dem neugeborenen Jesuskinde dargebrachten Huldigung erzählt. Meist in die Wohnstube gerufen, heischen sie kleine Gaben ein und danken dafür mit einem längeren Spruche, in welchem sie den Anwesenden naive Wünsche darbringen.

In seiner heutigen Gestalt trägt das „Sternsingen“ unleugbar den christlichen Stempel, dürfte aber gleichwohl ins alte germanische Heidenthum zurückreichen. Zur Zeit der Wintersonnenwende, in den Losnächten. erschienen die Himmlischen auf der Erde und mischten sich unter die Menschen, welche der nahende Frühling von dem Uebel der langen Winternächte erlöste, wie Christus von dem Uebel der Sünde, welche Analogie von den christlichen Sendboten in ihrem Interesse verwerthet wurde. Goethe hat bekanntlich das alte Volkslied in seinem „Epiphanias“ benützt. Karl Albert Regnet.     


Inhalt: [ Inhalt der GL-Nr. 2/1886 - hier nicht übernommen. ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.