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Autor: W. Heimburg
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Titel: Die Andere
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–15
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Andere.

Von W. Heimburg.

An die gnädige Frau!“ sagte das Stubenmädchen und überreichte meiner Großmutter, der Frau von Werthern, einen Brief. Die alte Dame fuhr aus ihren strickenden und nickenden Träumen empor, ließ die Arbeit sinken, zog die über die Stirn hinaufgeschobene Brille vor die Augen und studirte die Aufschrift.

Es war still im Zimmer, so unheimlich still, wie es nur sein kann nach Tagen des lautesten Schmerzes, nach den Stürmen trauriger Schicksale; seit zwei Wochen war wohl kaum ein Wort gesprochen, das nicht gerade zu den allernothwendigsten gehört hätte. Nun erschrak ich beinahe, als die Stimme der alten Frau so energisch zu mir sagte:

„Tone!“

„Liebe Großmama?“

„Rufe die Lotte!“

Ich erhob mich und ging in das Nebenzimmer. Es war unser sogenanntes Boudoir; die Meubel meiner verstorbenen Mutter standen darin, meine Blumen, Lottens Klavier und Staffelei, und den Boden deckte ein weicher Teppich.

„Lotte?“ fragte ich, als ich sie nicht gleich erblickte; da richtete sie sich vom Sofa empor und sah mich mit verweinten Augen an, deren Glanz doch alle Thränen nicht hatten verdunkeln können.

„Was soll ich denn?“ fragte sie mit ihrem hellen, eigenthümlich klangreichen Organ und schüttelte die langen Zöpfe in den Nacken zurück. „Ist Besuch gekommen?“

„Nein, Lotte; Großmama will mit uns reden.“

Sie seufzte und folgte mir; wir kamen zusammen zu der alten Dame. Sie betrachtete uns erst ein Weilchen kummervoll über die Brillengläser hinweg, dann reichte sie mir das Schreiben. „Vorlesen, Tone!“ sagte sie kurz.

„Von wem?“ fragte Lotte.

„Abwarten, Prinzeßchen!“ lautete die Antwort. „Hierher setzen, Kind!“ scholl es gleich darauf. Lotte hatte eine fluchtartige Bewegung gemacht; nun sank sie aber gehorsam auf den nächsten Stuhl, senkte den Kopf und hielt die Hände gefaltet auf dem Trauerkleide. Es sah sehr ergebungsvoll aus, aber ich kannte das verrätherische Zucken um die feinen Nasenflügel nur allzu gut. Nun las ich:

 „Meine beste Frau von Werthern!

Ihr lieber Brief hat mich recht aufgeregt und erschreckt. Was ist der Mensch – mußte ich mich fragen – daß er den Kopf so hoch trägt und sich so groß dünkt? Ein kleiner Zufall – und vorbei ist’s mit aller Pracht und Herrlichkeit! Ach, gute Werthern, es ist schwer, einen Menschen sterben zu sehen, aber das Allerschwerste, wenn es ein Kind ist, das Gott zu sich fordert. Und, darum drücke ich Ihnen im Geiste die Hand und sage, daß ich mit Ihnen fühle und mit Ihnen traure um Ihren Sohn. Ich habe auch Drei hergeben müssen, drei große prächtige Jungen – aber, still davon, liebe Werthern. Sie sind auch noch schlimmer daran; er war Ihr Einziger!

Was Sie nun sonst noch an mich geschrieben, will ich gleich beantworten, Leben läßt sich’s hier bei uns, theuer ist’s nicht, Wohnungen sind da; zwar keine Berliner Etagen im Geheimrathsviertel, aber gemüthlich und traulich. Mein Fritz hat ausgerechnet, mit dem, was Sie zu verzehren haben, leben Sie hier wie die Frau Fürstin selbst. Na, das heißt, besser jedenfalls wie in der Großstadt. Es sind doch fünfhundert Thaler ganz nett für drei Damen, und wenn die jungen Mädchen thätig im Hanse, und Sie begnügen sich mit einer Bedienung, so können Sie sich aller Ihrer Sorgen entschlagen. Was uns anbetrifft, so stehen wir Ihnen mit Rath und That gern zur Verfügung. Ich weiß auch ein nettes Quartier in unserer Nähe, und wenn Sie kommen mit den Enkelinnen, so wohnen Sie zuerst bei uns.

Es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen! Da waren Sie noch die Seele, der Mittelpunkt unserer Geselligkeit, und ich eine junge lebenslustige Frau; da lebte mein guter Mann noch, und die Jungen waren klein, und in Borsfelde tanzten wir auf der Tenne beim Erntefest. Nun sind die Blätter von den Bäumen gefallen, gute Frau von Werthern, und die Schwalben fortgezogen; Borsfelde ist in fremden Händen und der junge lebenslustige Officier, der so tapfer mit uns tanzte dazumal – todt, und seine Töchter stehen als Waisen vor Ihnen, Aber –“

Hier brach der Brief ab, und eine Thränenspur zog sich bis zur Unterschrift:

„Fritz und ich grüßen herzlich. Unverändert Ihre treu ergebene Friederike R.“ 

Dann kam noch ein Postskriptum: „Die Wohnung, die ich meine, kostet jährlich sechszig Thaler.“

„Das wäre recht,“ nickte die Großmutter nach einer langen Pause, „Setze Dich hin, Tone, und schreibe, sie soll das Quartier miethen und ich lasse für freundliche Auskunft danken.“

„An wen?“ stammelte ich erschreckt, und wir sahen Beide verständnißlos das alte Frauengesicht an, das so ruhig wieder auf ihr leise klapperndes Strickzeug blickte,

„An die Amtsräthin Roden.“

„In?“

„In Rotenberg.“

„Wir wollen dahin ziehen, Großmama?“ forschte ich.

„Ja wohl, zum Oktober.“ Sie ließ das Strickzeug wieder sinken und sah von mir zu Lotte hinüber. Das schöne Mädchen war dunkel erröthet, und ihre Lippen bissen auf den Zipfel des feuchten Taschentuches, das sie zusammengeballt in der Hand hielt.

„Hier bleiben können wir nicht,“ sprach die alte Frau sanft, „diese Etage kostet genau so viel, als wir fortan jährlich zu verzehren haben. Mit Eurem Vater verlort Ihr auch das sorgenfreie Leben, und den letzten Rest seines Vermögens nahm der Hans in Gestalt mühsam bezahlter Wechsel und Rechnungen mit nach Amerika. Ihr wißt Euch aber zu schicken und zu fügen, hoffe ich, und werdet mir das tragen helfen, was mich am Rande des Grabes noch so hart getroffen. Auch Du, Prinzeßchen – wie? Gieb mir die Hand.“

Das Mädchen hatte sich erhoben, legte einen Moment seine Hand in die verwelkte Rechte der Sprechenden, riß sich dann hastig los und schritt hinaus. Vom Nebenzimmer drang ein kurzer Laut herüber, es war halb wie Lachen, halb wie Schluchzen, dann ward es still. Ich saß am Schreibtisch und hielt die zitternde Feder über dem Papier; es wollte mir gar nicht gelingen zu schreiben an diese unbekannte Frau Amtsräthin, nach diesem unbekannten Orte, wohin das Schicksal uns werfen wollte und von dem ich weiter nichts wußte, als daß in seiner Nähe Borsfelde liegt, das ehemalige Werthern’sche Familiengut, welches schon vor vielen Jahren unglückliche Verhältnisse uns genommen hatten.

Als ich endlich fertig war und das Schreiben der Großmutter zur Durchsicht brachte, sah die alte Frau bekümmert zu mir empor. Ich habe nie wieder ein Paar so kluge alte Frauenaugen gesehen; – freilich fehlte ihnen für gewöhnlich jede Spur von Milde, und einen feuchten Schimmer erblickte ich nie darin. Selbst am Begräbnißtage meines Vaters, ihres einzigen Sohnes, war keine Thräne aus ihnen geflossen. Und dennoch sah ich gern in diese hellen Augen; man mußte Vertrauen zu ihnen fassen, es spiegelte sich in ihnen ein ganzes Menschenleben, vergangen in peinlichster Pflichterfüllung und Ehrenhaftigkeit. Streng, klar, bewußt war ihr Ausdruck, wie die Frauen ihn bekommen, die in ihrem Gatten nur ein großes Kind besitzen und, statt einen Halt zu finden, in ewiger Sorge und Unruhe über ihn zu wachen genöthigt sind, damit Alles seine Ordnung behält, das Haus, die Wirthschaft, die Kinder. Mein Großvater war ein solches Kind gewesen, leichtsinnig, heftig bis zum Jähzorn und herzensgut. Es lag so in der Werthern’schen Art.

„Es ist gut, Tone. Jetzt sage mir, wie denkst Du über unseren Plan?“

„Mir ist Alles recht,“ gab ich zurück, völlig verwundert; ich war so selten im Leben um meine Meinung befragt worden.

„Gut; Du bist ja auch vernünftiger als die Lotte, Sie kann freilich nichts dafür, daß sie gegen Alles revoltirt; sie hat’s von ihrer Mutter, die war so ein Tollkopf.“

Lotte war meine Stiefschwester; Hans, um zwei Jahre älter als sie, ihr rechter Bruder. Ich, die älteste der Schwestern, hatte meine Mutter nicht gekannt, sie starb schon bei meiner Geburt. [10] Und kaum anderthalb Jahre später verheirathete sich mein Vater zum zweiten Male.

„Sie ist erst achtzehn Jahre, Großmutter,“ entschuldigte ich das Mädchen.

„Und Du bist schon eine Greisin, nicht?“ fragte die alte Dame. „Zweiundzwanzig Jahre sind allerdings ein Alter.“

„Aber ich kenne die Welt, die Lotte jetzt verlassen muß, jetzt, wo sie gerade so verlockend vor ihr liegt.“

„Freilich, es ist hart!“ bestätigte die Großmutter und sah in die stille vornehme Straße hinab, in der unsere Wohnung lag. „Aber,“ setzte sie wie verloren hinzu, „es ist das schlimmste noch nicht. Es ist weit schlimmer, hier zu sitzen und unter den Augen Derjenigen zu darben, die uns einst in besseren Tagen gesehen; es giebt überhaupt noch tausendmal Schlimmeres. Wenn man so alt geworden wie ich, weiß man das.“ Und sie nickte still vor sich hin. „Wer muß, hat keine Wahl,“ fuhr sie fort. „Morgen wollen wir überlegen, welche Meubel wir mitnehmen dürfen und können; das andere wird verkauft.“

Jetzt war es doch, als schwanke ihre Stimme. Ach, ob es nicht auch wehmüthig genug ist, auf die alten Tage noch in das Elend zu gehen, wenn man ein langes Leben ohne zu darben verbrachte? Der Hans, er war an allem schuld. Schuld, daß wir mittellos dastanden, schuld, daß der Vater todt, schuld, daß sich zwei unversorgte Mädchen wie Kletten an eine alte Frau hingen, die sonst, allein für sich, ohne Noth ihre Tage hätte beschließen können. Mit Gewalt stürmte der Gedanke auf mich ein: Das darfst Du nicht! Du mußt Dir selbst helfen!

„Großmama,“ begann ich rasch, „ich gehe nicht mit nach Rotenberg; ich werde – ich will irgend eine Stelle annehmen; Du weißt, ich habe auch hier den Haushalt geführt.“

Sie schüttelte den grauen Kopf. „Nein, Tone, Dich kann ich nicht entbehren, Du mußt bei mir bleiben. Und Lotte – die ist noch lange nicht reif dazu, und überhaupt – so lange ich sorgen kann, sorge ich; Gott wird weiter helfen. Ihr bleibt Beide bei mir. Geh’ nur jetzt und sieh, daß sich Lotte nicht aus einander weint, der Kindskopf.“

Ich fand sie aber nicht weinend. Sie hatte mit fieberhaft rothen Wangen einen Band von Meyer’s Konversationslexikon vor sich, und mich erblickend rief sie: „Da, Tone, höre, staune! ‚Rotenberg, Kreis X, Regierungsbezirk Y, Landstädtchen von fünftausend Einwohnern‘ – Tone, fassest Du es, fünftausend Einwohner ‚Treibt Ackerbau und Viehzucht; hat eine Realschule, zwei Kirchen und eine Nähnadelfabrik‘ – Himmel, eine Nähnadelfabrik und, o Wunder! – ‚ein fürstliches Schloß mit schönem Park. steht jedoch völlig unbewohnt, seit 1815 die Residenz nach Kerrbnrg verlegt wurde.‘“

Sie hatte in steigender Erregung gelesen. „Daß sich Gott erbarm! Dort soll ich mich vergraben!“ rief sie nun.

„Es kann ja ganz niedlich dort sein?“ begütigte ich sie.

„Ganz niedlich? Du gute Seele! Ich finde, daß das, was man für gewöhnlich ‚ganz niedlich‘ nennt, immer recht langweilig ist.“

„Paß auf, Prinzeßchen, es wird besser, als wir denken.“

Sie antwortete nicht; es lag wie Hohn um ihre Lippen.

„Ich gehe jetzt auf den Kirchhof,“ sagte ich. „Willst Du mit?“

Sie stand auf, nahm, ohne ein Wort zu erwidern, den Hut, der bald wie ein schwarzer Heiligenschein das Gesicht umrahmte, strich sich vor dem Spiegel die dunklen Lockchen, die tief über die Stirn fielen, zurecht und ergriff die Handschuhe. Finster, mit zusammengezogenen Brauen ging sie neben mir, und doch flogen unzählige Blicke bewundernd zu ihr hinüber; ich selbst konnte es ja nicht lassen, sie immer wieder anzuschauen. Ja, meine Schwester Lotte war unbestritten das lieblichste, anmuthigste Geschöpf unserer ganzen Großstadt; so meinte ich, so meinten wir Alle, und ich glaube fast – sie selbst auch. Sie war des Vaters Liebling gewesen, unser Aller Verzug, das Prinzeßchen, wie sie bei uns hieß von dem Tage an, wo sie in den kleinen Schuhen zum ersten Male so reizend zierlich durch die Stube trippelte. Von je her war ich mir, ihr gegenüber, wie eine Mutter vorgekommen, sorgend und wachend, aber auch staunend, daß dies feine Geschöpfchen meine Schwester sei.

Sie erwiderte meine leidenschaftliche Zärtlichkeit wohl, aber nach Art verwöhnter Kinder, die fühlen, daß sie uns völlig in der Gewalt haben, mit Launen und Thränen und mit gelegentlichen stürmischen Liebkosungen. Sie erreichte damit Alles. Ihre ernsthafte schwärmerische Zuneigung aber koncentrirte sich nach dem Tode ihrer Mutter auf Hans; die Beiden standen wie eine geschlossene Mauer dem Vater, der Großmutter und mir gegenüber. Es war, als habe ich nicht das mindeste Anrecht darauf, mich „Schwester“ zu nennen, als ob wir nicht einen Vater zu lieben hätten. Die Beiden waren immer einig, sie vertheidigten Einer den Andern förmlich aufgeregt, und als die schlimmen Tage mit dem Hans begannen, als ein Beweis seines ungeregelten Lebens nach dem andern eintraf, als es die heftigsten Scenen mit dem Vater gab und es endlich über ihn zusammenbrach, da war Lotte Diejenige, die mit Thränen und Verzweiflung nicht daran glauben wollte und ohnmächtig ward, als Hans den Dienst quittiren und das Vaterland verlassen mußte. Selbst der Tod des Vaters hatte sie aus dem starren Schmerz nicht aufrütteln können, sie sprach nur davon, daß Hans nun ganz verlassen sei; und während Großmutter und ich in bitteren vorwurfsvollen Thränen seiner gedachten, beklagte sie ihn, als trage er ein schweres unverschuldetes Geschick.

Der Sommerabend war schon weit vorgeschritten, die letzten Strahlen der Sonne fielen dunkelglühend über die breite Promenade und ließen die zahllosen Spazierganger, Wagen und Reiter wie in einer transparenten Staubwolke erscheinen. Das Laub der Bäume zu beiden Seiten des Weges war aschgrau, und selbst in den zierlichen Gärten der Villen bekämpfte der Wasserstrahl vergebens die immer neu sich lagernden Schichten des Staubes auf Blättern und Blüthen.

Zum Ersticken sei es, bemerkte ich, aber Lotte schien diese Meinung nicht zu theilen. Ihre dunklen Augen sahen fast durstig hinein in dieses farbenbunte sonnendurchglühte Bild; hier und da erwiderte sie, stolz den Kopf neigend, den Gruß eines Bekannten, und einmal erröthete sie flüchtig, als ein junger Reiter, in der Uniform des Xten Garderegiments, die Hand zum Gruß erhob.

„Eberhard von Stoßen, Hansens bester Freund,“ sagte sie. „Armer Hans!“

„Der mit schuld ist an seinem Untergange,“ ergänzte ich bitter.

„Schuld?“ erwiderte sie, „schuld sind unsere Verhältnisse, unsere jammervollen Verhältnisse! Hätten wir Vermögen, so wäre Hans der ehrenwertheste Mensch."

Ich schwieg; es war immer dieselbe Antwort.

Endlich lag der frische grüne Kirchhof vor uns; wie tiefer Friede überkam es mich. Weit hinter uns war das Gedränge, der Lärm der Straßen geblieben, nur wenige Gestalten weilten an einzelnen Gräbern, und in der breiten Mittelallee, langsam auf und ab wandelnd, die beiden alten Damen, die, wie der Todtengräber uns einmal erzählte, jeden Tag ihre Promenade hier zu machen pflegten. Als ein wunderlicher Spaziergang war es mir sonst immer erschienen; jetzt, seit den letzten schweren Wochen, begriff ich es: hier war Friede, Ruhe und Hoffnung auf das Ende aller Erdenqualen.

Wir saßen stumm neben einander auf dem Bänkchen vor den drei Hügeln; dort meine Mutter, dann Lottchens Mutter, und dieses neue Grab das unseres Vaters. Weinen thaten wir Beide nicht, auf unseren Gemüthern lag es wie Trotz; wir dachten Beide an Hans. Jetzt ahnt er noch nicht, daß hier ein neuer Hügel – oder hatte die Trauerkunde ihn schon erreicht, nachdem er kaum den Fuß auf festen Boden gesetzt? Eine schwere furchtbare Botschaft für ihn! Ich konnte ihn mir vorstellen, wie erschüttert er war, wie er sich anklagte, schuld an des Vaters raschem Tode zu sein; ich wußte, er würde weinen, toben, sich die Haare raufen, und eine halbe Stunde nachher würde er, ein lustiges Liedchen pfeifend, nach irgend einem Amüsement ausschauen. Unbegreiflicher, liebenswürdiger, kindlich guter Hans!

Lotte war plotzlich aufgestanden und näher zu dem Grabe getreten, und auf einmal kniete sie nieder, warf die Arme über den Hügel des Vaters und begann stille aber heftig zu weinen; ihr schlanker Körper bebte und zuckte im verhaltenen leidenschaftlichen Schmerz. Wohl eine Viertelstunde lang verharrte sie so, und ich störte sie nicht; endlich erhob sie sich und trocknete ihre Thränen. „Es hilft doch nichts, man muß versuchen, was aus solchem erbärmlichen Dasein zu machen ist.“

„Wie meinst Du?“ fragte ich sie.

Sie sah unendlich gleichgültig in das Blättergewirr hinein. „Hans sagte immer,“ kam es von ihren Lippen, „wir Menschen seien wie die Puppen auf meinem Kindertheater, die unsere Hand am Draht hinschob, wie es uns beliebte; er war in seinem Glauben der reine Türke.“

[11] Ich sah sie noch immer fragend an.

„Aber ich,“ setzte sie rasch hinzu und wischte über ihre gerötheten Augen, „ich will mich nicht schieben lassen. ich will nicht! Ich mag nicht so weiterleben!“

Und sie wandte sich kurz und schritt zwischen den Hügeln hinunter, so rasch, daß ich kaum zu folgen vermochte.

Schweigend kehrten wir nach Hause zurück; Lotte, um sich sofort auf die Chaise longue zu werfen und „Schnips“, Hansens zurückgelassenen Pinscher, zu streicheln, zu küssen und zu necken und ihm dabei von seinem Herrn vorzuplaudern. Und das Thier horchte bei dem Worte „Herrchen“ hoch auf, sprang vom Sofa und lief zur Thür, als warte es auf den bekannten Tritt, und kam zu Lotte zurück und sah sie fragend an mit den klugen glänzenden Augen. Da nahm sie das Thierchen empor und drückte ihr Gesicht in das gelbe Fell „Nein, ich will nicht!“ hörte ich sie noch einmal sagen.

Die nächsten Wochen vergingen mit Vorbereitungen für den Umzug. In ihrem Zimmer studirte die alte Frau den Rotenberger Wohnungsplan, legte das Centimetermaß an diesen und jenen Gegenstand und bezeichnete diejenigen Meubel, die verkauft werden sollten, auf einem großen Bogen Papier. Es gab furchtbare Thränenscenen, wenn Lotte erfuhr, daß irgend ein Lieblingsstück in fremde Hände wandern müßte; das Speisezimmer mit den geschnitzten Eichenmeubeln wurde stückweise von ihr vertheidigt, allein vergebens; es wäre ja nicht möglich sich davon zu trennen, meinte sie.

„Am leichtesten doch davon,“ entschied die Großmutter; „was wir behalten, sind Andenken an Eure Mütter, den Firlefanz da schaffte der Wilhelm“ – so nannte sie den Verstorbenen – „erst an, als er Regimentskommandeur wurde und in seiner Stellung repräsentiren mußte. Ich nehme meine alten lieben Sachen, Ihr Euer Boudoir; wir haben dort nur drei Zimmer, also beruhige Dich, Lotte!“

Aber Lotte beruhigte sich nicht. An dem Tage, wo ein Händler die Meubel abholte, lag sie in Weinkrämpfen auf dem Sofa; sie schluchzte Tag und Nacht, sie wurde blaß und elend, und schließlich mußten wir zum Arzt schicken.

„Nerven!“ meinte der freundliche Mann. „Luftveränderung! Es paßt ja ganz vortrefflich, daß Sie Berlin verlassen; Landluft, aus der Großstadt hinaus, das wird’s thun!“

Aber die Angst wich doch nicht von mir. Als am letzten Abend unseres Berliner Aufenthaltes das Kind noch immer weinte, setzte ich mich zu ihr an das Bette und nahm ihre kleine heiße Hand in die meine.

„Lotte, Herzensliebling,“ bat ich, „habe doch einmal Vertrauen zu mir – nicht wahr, Du läßt Etwas hier zurück, das –“

„Ja, ja,“ schluchzte sie, „mein ganzes Glück –“

„Und Dein Herz, Prinzeßchen?“

„Ach Unsinn!“ antwortete sie in ganz verändertem Ton und hörte auf zu weinen.

„Ich dachte es, weil Du so unglücklich bist; mir kam der Freund vom Hans in den Sinn; weißt Du, der Eberhard von Stolten, Du hast soviel getanzt mit ihm. Ach, Lotte!“

Sie schwieg, aber sie lachte leise.

„Was sollte ich mit dem,“ sagte sie dann, „er hat ja beinah eben soviel Schulden wie Hans.“

„Ja freilich! Aber wenn Du ihn lieb hast, wäre das noch ein Grund mehr zum Weinen.“

„Ich einen armen Mann heirathen?“ fragte sie fast empört; „aber, Tone, Du bist närrisch! Es ist ja so schrecklich, arm zu sein, es ist ein Unglück! Und wenn er ein Halbgott wäre – niemals! Nein, das hieße ‚sich schieben lassen‘, und ich lasse mich nicht schieben!“

„O!“ sagte ich erstaunt und vorwurfsvoll, denn mir schwindelte einen Moment der Kopf. Sie hatte ja jede seiner augenfälligen Huldigungen mit ihrem reizendsten Lächeln in Empfang genommen.

„Was habe ich denn verbrochen?“ erkundigte sie sich.

„Du hast ihn nicht gerade entmuthigt.“

„Ja, als sein Onkel noch lebte," bemerkte sie trocken.

Ich wußte, was das hieß. Der Neffe hatte für den künftigen Erben des alten reichen Mannes gegolten; nun war dieser gestorben und hatte des Neffen nicht gedacht.

„So ist es doch völlig aussichtslos“ setzte Lotte hinzu und gähnte. Mir stockte das Herz vor solcher Vernunft.

„Ich glaubte, Du hättest ihn lieb und Deine Thränen wären um ihn geflossen?“

Sie sagte weiter nichts als: „Das ist ja alles Einbildung, ich bin nicht sentimental.“

„Dann kann ich mich also beruhigen?“ fragte ich kühl.

„Völlig!“ erwiderte sie kurz und legte den schönen Kopf auf die andere Seite.

Ich ging fast bestürzt hinaus und in das Zimmer unseres verstorbenen Vaters. Der Vollmond sandte sein bläuliches Licht in die Fenster, durch keinen Vorhang mehr gehindert, und zeigte mir die völlig leeren Wände. Es war mir unbeschreiblich traurig zu Muthe. Was war aus Charlotte geworden in den letzten Wochen? Hatte das Unglück so verfinsternde Schatten über ihr junges Gemüth geworfen, oder brachen die Zeichen eines häßlichen Charakters jetzt hervor, wo die Sonne nicht mehr strahlend über unserem Hause stand? Es giebt Menschen, die das Unglück weich und gut macht, es giebt auch Seelen, die sich verlieren im Leid.

[29] Ich trat ans Fenster und suchte nach allen möglichen Gründen, die für Charlottens Worte eine Entschuldigung sein könnten, und ich fand nur einen. Sie war allzusehr verzogen, allzusehr verwöhnt worden, von mir, von dem Vater, von der Großmutter und zuletzt von der Gesellschaft. Ja freilich, wir trugen die Schuld! – Hand aufs Herz, Tone, wenn Dir alle Welt so zu Füßen gelegen wie der schönen Schwester, wenn Dir jeder Wunsch erfüllt worden wäre, bevor Du ihn noch ausgesprochen, was wäre aus Dir geworden? Hättest Du die Flügel so still zusammengelegt wie jetzt? Und kämst Du Dir schon so alt vor, so vernünftig und so fertig mit dem, was die Welt zu bieten vermag? Es war mir freilich auch nicht leicht geworden, so „vernünftig“ zu werden, war ich doch ebenso lebensfreudig wie sie und hätte auch so gern gefallen im lichthellen Ballsaal; aber da tönte mir das Wort in die Ohren: „die Andere“.

Die schöne Werthern und „die Andere“ hießen wir. Ich hörte mich einst im Gespräch so nennen von einem Paar Lippen, deren Lachen und Plaudern ich so gern gelauscht, fast zu gern. „Die Andere“ – und welch ein Ton dazu! Und dann bemerkte einmal eine junge Frau hinter mir, daß die „Andere“ sich auch just so anzieht wie ihre schöne Schwester; „haben Sie je etwas Ungleichartigeres gesehen, wie die Wertherns?[“]

Ich habe an jenem Abend in meinem stillen Zimmer ewig lange vor dem Spiegel gestanden und habe mir gelobt, nie wieder Balltoilette zu machen, und die „Andere“ hat es gehalten. Es war, als ob dies Wort meine Selbsterkenntniß erst geweckt hätte – oder mein Mißtrauen? Ich fand, daß der Vater, die Großmutter, Hans, selbst die Dienstleute mich als die „Andere“ betrachteten. Lotte, Lotte und immer zuerst Lotte, und ich fand, daß ich unbewußt ganz ebenso mit ihr gethan.

Wie traurig war ich damals, und wie schnell überwand ich doch Alles und fand mich, kraft meiner natürlichen Anlagen, in die Stelle der Hausmutter und der guten allzeit bereiten Rathgeberin, und wie nöthig ward es bald! Manchmal zwar kam heiß die alte thörichte Sehnsucht nach Lebensfreuden und nach Glück über mich, dann ließ ich Wirthschaft und Stopfekorb und grub die thränenden Augen in die Kissen meines Bettes. Und wenn ich mich wieder ausgeweint, so ward es mir leicht, das Prinzeßchen zum Ball zu putzen und die Zügel der Wirthschaft wieder fest zu halten. Und immer ruhiger und zufriedener wurde ich – bis das Unglück kam; der Vater todt, der Bruder fort ins Elend und wir – mittellos, ganz mittellos, sobald die hochbetagte Frau die Augen schloß. Wie bang, wie öde dehnte sich die Zukunft vor mir! So stand ich am Fenster in jener Mondnacht und sah in [30] den winzigen Hof hinunter und auf die entblätterte Akazie, die des Vaters Freude gewesen. Der Anblick hatte mich sonst immer traurig gestimmt: wie ein Gefangener war mir der Baum erschienen zwischen den grauen Mauern der Hintergründe; – heute dünkte es mich, als gäbe es keine schönere Aussicht auf der weiten Welt, als könnte ich mich nicht trennen von dem einsamen Baum, auf den nun fremde Menschen blicken würden von diesem Fenster aus.


Ja, sehr schwer ward das Scheiden, und wir ließen doch nichts weiter zurück, als todte Vergangenheit.

Es hatte gereift an jenem Morgen und empfindlich kühl war es während der Droschkenfahrt durch die schlummernde Stadt. Abschied hatten wir von niemand genommen, die Stunde der Reise war sorgsam verschwiegen geblieben; so kam es, daß wir unbehelligt unser Gepäck besorgen und ungesehen in das Frauenkoupé dritter Klasse schlüpfen konnten. Lotte, die ihr letztes Taschengeld an ein Hundebillet für Schnips gewendet hatte, setzte sich wie ein Opferlamm auf die harte Bank; sie war sehr blaß, aber sie weinte heute nicht. Ich machte der alten Dame einen bequemen Sitz aus Kissen und Schlummerrollen zurecht und schob ihr ein Bänkchen unter die Füße. Lotte rührte sich nicht; sie sah starr hinaus in das Häusergewirr, welches der Zug zunächst durchschnitt, und ihre Hände umfaßten ein großes Veilchenbouquett, das gestern Abend für sie abgegeben war mit einer wappengeschmückten Karte. Als der Zug an den letzten Häusern vorüberbrauste, warf sie die Blumen mit hastiger Bewegung hinaus, als sollte nichts sie erinnern an das, was hinter ihr versank. Dann holte sie tief Athem, legte den Kopf zurück, zog den Schleier vor das Gesicht, und so blieb sie während der ganzen langen Fahrt.

Da draußen aber war allmählich die Gegend immer schöner geworden und das Flachland längst einem hügeligen Terrain gewichen. Anmuthig lugten Dörfer aus dem bunten Laube des Herbstwaldes, wolkenlos blaute der Himmel über der Erde; nach langer Regenzeit der erste schöne Tag. Der September grüßte noch scheidend. – Wenn’s so licht wird um uns herum, dann faßt das Herz wieder Muth, und was ich lange nicht gekonnt, ich begann Pläne zu machen, Hoffnung an Hoffnung zu knüpfen, Luftschlösser zu bauen. Wer weiß, welch Glück in dem Städtchen auf uns lauert? Es sitzt vielleicht schon auf der Schwelle der kleinen Wohnung und wartet nur auf unser Kommen, um uns seine Rosen in den Schoß zu werfen? Lotte findet vielleicht einen Prinzen, Großmama lebt auf in der schönen Luft, im Verkehr mit den alten Bekannten, und, ob es nicht eines Tages an die Stubenthür klopft und unser lieber Hans kommt wieder, ruhig, gesetzt, kein bißchen mehr leichtsinnig? Das wäre das Schönste! – Und als hätt’ ich dies Alles schon fest an seinen vier Zipfeln, rückte ich näher zu der alten Großmama, drückte ihr die Hände und sah in ihr kleines verwelktes Gesichtchen. „Es wird noch Alles gut,“ sagte ich, „noch Alles!“

Und die alte Frau neigte ernsthaft den Kopf. „Warum auch nicht? Aber es ist dennoch gut, daß die Zukunft verborgen liegt.“

Ehe die Sonne versank, hielt der Zug in Triebelsberg, der Station, wo wir das Koupé mit dem Omnibus vertauschen mußten, denn noch besaß Rotenberg keine Bahnverbindung. „Nun kommt das Anstrengendste der Reise,“ meinte die Großmutter. „Ihr könnt mich möglicherweise todt aus dem Marterkasten heben, wenn wir in Rotenberg gelandet sind. Aber das hilft denn nichts, also vorwärts! Lotte, gieb mir den Arm; Tone, besorge das Gepäck und belege Plätze in der Arche Noah.“

Das lange schmale Fuhrwerk mit den zwei abgetriebenen Pferden repräsentirte sich in der That nicht gerade vertrauenerweckend meinen Augen, als ich eilig um die Ecke des Stationsgebäudes kam; aber daneben stampften ein Paar große kugelrunde Apfelschimmel den Kies des Platzes, und auf dem Bock der stattlichen Kutsche saß ein Rosselenker, der sogar eine Art Livrée trug, ein bildhübscher junger Bursche. Er hielt die Peitsche, an der oben eine hochrothe Schleife befestigt war, wie ein Posten sein Gewehr und pfiff dazu ein Liedchen. Das Gefährt imponirte mir sehr – oder war es Neid? Ich mußte mich im Vorübergehen noch einmal danach umsehen. „Wenn ich das hätte für die Großmama!“

Da trat Etwas zwischen mich und den Gegenstand meiner Bewunderung, und eine Männerstimme fragte: „Entschuldigen Sie, Fräulein, habe ich die Ehre, eine der Werthern’schen Damen zu sehen? Ich bin Fritz Roden, und gekommen, die Herrschaften mit unserem Wagen abzuholen.“

Ich hatte schon während seiner ersten Worte freudig bejaht und legte nun meine Rechte in die treuherzig gebotene Hand des jungen Mannes. Es waren ein Paar ernste ehrliche Augen, die halb verlegen zu mir herunter sahen, denn Fritz Roden war ein junger Riese, der mich, obgleich ich ganz und gar nicht zu den Kleinen gehörte, um eine Kopflänge überragte. Und diese Augen schauten unter einer gewölbten Stirn hervor, über der sich starke blonde Haare krausten, genau so blond und dick wie bei unserem Hans. Ich hatte gar nicht das Gefühl, er sei ein völlig Fremder, und stellte ihn eiligst der herankommenden Großmutter und Schwester vor, ganz beglückt von der Aussicht, im bequemen Wagen fahren zu können und so frenndliche Menschen in dem unbekannten Rotenberg zu finden.

Er hatte wirklich etwas Unbeholfenes, der Herr Fritz Roden, denn als er jetzt vor Großmama und Lotte stand, wußte er gar nichts zu sagen; er stotterte nur und schüttelte der alten Dame die Hand, als wäre sie sein Dutzbruder; und als Lotte, die den Schleier zurückgenommen hatte, ihn von oben bis unten betrachtete, wobei sich allmählich ein staunendes Lächeln über ihr reizendes Gesicht verbreitete, wurde er so roth wie Purpur und ging eiligst voran, dem Wagen zu. Als wir eingestiegen waren, lehnte er, noch mehr erröthend, die Einladung ab, neben mir – Lotte konnte nie das Rückwärtsfahren vertragen – Platz zu nehmen, und schwang sich zu dem Kutscher auf den Bock. Lotte hatte inzwischen mit demselben staunenden Blick, mit dem sie Fritz Roden betrachtete, den Kutscher, die Pferde und die gehäkelten Schutzdecken der Wagenpolster gemustert; nun lehnte sie im Fond, den Pinscher zwischen sich und der Großmama, ließ den schwarzen Kreppschleier um ihr blasses Gesicht flattern und vom Abendwind die Stirnlöckchen verwehen und versank in Träumereien, wie es so ihre Art war.

Die Großmutter schlief, und Schnips legte den Kopf in Lottens Schoß, blinzelte noch ein wenig und schlief dann ebenfalls; der Wagen fuhr in langsamem Trott in die sinkende Nacht hinein, und hinter uns versank die Sonne in feurigem Roth. Ich starrte so lange hinein, bis mir die Augen wehthaten; und als ich mich wie geblendet umsah, erblickte ich durch die grünen tanzenden Flecke vor meinen Augen Fritz Roden, der sich auf dem Bock halb herumgedreht hatte und Lotte anschaute. Als nun mein Blick zu ihr flog, bemerkte ich, daß sie ihn ebenfalls anstaunte; aber es war ein trotziger Ausdruck in diesen großen schönen Augen, als wollte sie fragen: „Wer bist Du? Was willst Du? Ist es auch der Mühe werth, Dich zu bemerken?“

Damals verstand ich sie nicht; mir verschwand nur plötzlich jenes beglückende Gefühl, das mich noch eben belebt hatte; mich fror, und ich ärgerte mich und konnte nicht sagen, über was? Nach einem Weilchen bog Lotte sich vor und raunte mir lachend ins Ohr: „Alles ein Schlag, Tone, die dicken Schimmel und der große Mensch in Stulpenstiefeln und Joppe; die Pferde werden nicht durchgehen und er –“

Sie verstummte, denn eben wendete er sich wieder zu uns und sagte: „Jetzt sind wir gleich daheim.“

Es war völlig dunkel geworden, der Wagen fuhr schneller durch eine finstere Allee, dann rasselte er über ein entsetzliches Steinpflaster, so daß Großmutter unsanft geweckt wurde und sich räuspernd zurecht setzte. Und nun Häuser, erleuchtete Fenster; unter einem Thorbogen ging es hindurch, über einen weichen chaussirten Weg, an stattlichen Bäumen vorbei, hinter denen schwarz und massig ein langgestrecktes hohes Gebäude lag; zur Rechten ein wunderliches Gemisch von Mauern und verschnörkelten Giebeln, die in den dunklen Abendhimmel ragten, und nun noch einmal ein Thorbogen und wir fuhren in einen weiten Hof. Helle Fenster winkten uns, Hundegebell schlug uns entgegen, der Wagen hielt vor der gewölbten weit geöffneten Hausthür, und durch den erleuchteten Flur kam rasch eine kleine alte Dame, die sich eilends die Hände an der blendend weißen Schürze wischte, uns entgegen.

„Frau von Werthern!“ rief sie, „welch große Freude! Ach, und die lieben armen Kinder! –“ Dann brach ihr die Stimme im Weinen.

Das war Fritz Roden’s Mutter. So mußte sie auch aussehen, dachte ich, als wir längst in der Wohnstube am gedeckten Tisch saßen [31] und ich noch immer nicht müde wurde, ihr freundliches Gesicht zu betrachten. Ja, wenn ich überhaupt nur die traute Gemüthlichkeit beschreiben könnte! Dieses weite, nicht allzu hohe Zimmer, die schneeigen Vorhänge der Fenster, die weißgescheuerten Dielen; in der Mitte des Raumes der Tisch mit dem feinen selbstgesponnenen Damast und den altmodigen Tellern und Schüsseln; die Schrankuhr an der Wand, der solide Mahagonischreibsekretär und der große gelbliche Kachelofen, der so lustig bollernd in der Ecke stand, neben sich den Sorgenstuhl. Dazu die zierlich behende Frau mit dem herzensguten Gesicht und den blauen Augen, die heute so oft in Thränen glänzten. Und wie behutsam der Riese mit seiner kleinen Mutter umging, als sei sie ein Kind, und wie die Mutter stolz auf den „Einzigen“ blickte, wenn er durch das Zimmer schritt, oder wenn er gelassener Weise in ihr rasches Reden eingriff! Alle Befangenheit schien hier, wo er Herr im Hause, von ihm genommen, es umgab ihn plötzlich eine Art von Würde, die sein junges Antlitz eigenthümlich gut kleidete. Er saß oben an dem Ehrenplatz des Tisches und zerlegte bedächtig den Wildbraten, und vorher stand er hinter seinem Stuhl und sprach ein kurzes Tischgebet. Ihm zur Seite hatten die beiden alten Damen Platz genommen und Lotte und ich schlossen den Kreis. Lotte saß noch immer stumm, und ihre Blicke flogen hin und her zwischen Mutter und Sohn.

„Das sieht man, Frau von Werthern,“ meinte unsere freundliche Wirthin, „daß die lieben Mädelchen nur Halbschwestern sind; sie gleichen sich nicht eine Spur.“

„Eine Familienähnlichkeit ist doch wohl vorhanden,“ erwiderte die Großmutter, die es immer peinlich berührte, wenn die Rede auf unsere so verschiedene Persönlichkeit kam.

„Auch nicht die Spur!“ erklärte Fritz Roden und that einen durstigen Zug aus seinem Glase. „Ich glaube, es würde eine Unmöglichkeit sein, sie herauszufinden; die Eine der Damen ist zudem blond, die Andere brünett.“ – Dann hob er das Glas und stand auf. „Möge es den Damen gefallen,“ sagte er einfach, „zuerst in meinem Hause, sodann in ihrer netten Heimath überhaupt. Es ist nicht schlechter hier, als anderswo, es wohnen allerwärts Menschen mit guten Herzen, und die Sonne scheint über unser kleines Rotenberg ebenso golden, wie über Berlins Häusermeer. Ja, die Luft ist schöner hier, denn sie weht über Wald und Feld ehe sie in unsere Straßen dringt. Und der Schnee ist hier weißer und reiner als in der Großstadt, und mich dünkt, auch die Rosen blühen hier schöner und frischer. Mein Spruch ist der: Möchten Ihnen Allen hier die Rosen des Friedens und der Behaglichkeit blühen. Was wir, meine Mutter und ich, dazu beitragen können, das thun wir sicher und aus aufrichtigem Herzen.“

Er stieß der Reihe nach mit uns an. Als er zu Lotten kam, flog wieder jenes leise Lächeln um ihren vollen kleinen Mund; er schien es aber nicht zu bemerken. Frau Roden hatte Großmutters Hände ergriffen und versicherte mit feuchten Augen, daß sie Alles, Alles aufbieteu würde, um es uns in Rotenberg gemüthlich zu machen.

„Kennen Sie Berlin näher?“ fragte plötzlich Lotte den jungen Mann. Es war das erste Wort, das sie sprach, und unwillkürlich erstaunte die alte Dame vor der schwingenden klangvollen Mädchenstimme.

„Ich habe dort mein Jahr abgedient,“ erwiderte er.

„Bei welchem Regiment?“ examinirte sie.

„Bei dem Xten Garderegiment.“

„Bei Hansens Regiment?“ rief Lotte freudig.

„Ich kenne Ihren Herrn Bruder,“ bestätigte er und sah prüfend zu der Großmutter hinüber, als fürchte er, sie zu verletzen.

„Er war wohl ihr Vorgesetzter und Sie standen vermuthlich bei seiner Kompagnie?“ sagte Lotte und spielte mit dem silbernen Theelöffel auf ihrem Kompotteller.

„Es stimmt beinah,“ erwiderte er lächelnd. „Er war eben Fähndrich geworden.“

„Hans hat uns schweren Kummer bereitet,“ begann die Großmutter plötzlich, „er hat seine Schwestern an den Rand der Armuth gebracht und seinen Vater in das Grab. Mein Sohn hatte ihn auf einen Bremer Lloyddampfer geleitet und kam krank vor Aufregung und Kummer zurück nach Berlin. – Am folgenden Tage machte ein Herzschlag seinem Leben ein Ende.“

Es ward unheimlich still nach diesen Worten im Zimmer, nur unterbrochen durch das Klirren des Löffels, den Lotte heftig auf den Teller fallen ließ.

„Eine harte Beschuldigung!“ sagte Fritz Roden endlich.

„Aber eine gerechte!“ erwiderte die alte Frau. „Er war ein Spieler.“

Lotte fuhr empor, wie ein verwundetes Reh, und ihre großen Augen füllten sich mit funkelnden Thränen.

„Davon weiß ich nichts,“ sagte Fritz Roden. „Ich weiß nur, daß er sein letztes Geld einem armen Soldaten gab, der nach Hause reiste, um die Mutter zu begraben, und daß er sich blindlings in die Spree stürzte, um irgend eine lebensmüde Person zu retten.“ Er sah plötzlich zu Lotte hinüber, und da traf ihn ein Blick, so dankerfüllt, so heiß, daß er verlegen inne hielt und in sein Glas blickte.

„Ja, das that Hans!“ rief sie, „und ich weiß noch viel mehr solcher Züge von ihm. Aber das Ungewöhnliche, das, was nicht dem alltäglichen Schlendrian entspricht, das gilt heute für verwerflich, verachtenswerth! Hans war ein Mensch, der –“

„Der sehr leichtsinnig war,“ vollendete die Großmutter gelassen. „Gerade diese Züge, die Du betonst, bekunden einen Mangel jeden Ernstes, jeder reiflichen Erwägung. Es giebt ein Sprichwort: ‚Allzugut ist liederlich!‘“

Lotte schwieg, aber sie sah zu dem jungen Mann hinüber, als erwarte sie Hilfe. und als er stumm verharrte und nur leise und wie zustimmend das Haupt neigte, kam wieder ihr verächtliches Lächeln; sie lehnte sich in den Stuhl zurück, legte den Kopf an die hohe Lehne und betrachtete angelegentlich das braune geschnitzte Balkenwerk der Decke. Frau Roden aber suchte eifrig nach allerhand Trostgründen und führte ein Beispiel nach dem anderen an, in denen verlorne Söhne gebessert zurückgekehrt waren. Und so ging das Gespräch in der traurigen Bahn weiter, bis die Wanduhr zehn laute summende Töne hören ließ und gleich darauf draußen eine Thurmuhr ihr nachfolgte.

Sogleich erhob sich meine Großmutter; es wurden Lichter auf blitzblanken Messingleuchtern gebracht, und wir gingen durch den kühlen großen Hausflur, in dem es so eigen nach frischer Milch roch, die breite Treppe in das obere Gestock hinauf. Bis hierher gab uns auch Fritz Roden das Geleit, wünschte noch einmal alles Glück für den Rotenberger Aufenthalt und eine gute Nacht. Dann pfiff er seinem Jagdhund, der während des ganzen Abends neben ihm gelegen, und schritt aus der Hausthür.

„Er revidirt noch einmal, ob Alles wohl versorgt zur Nacht,“ erklärte die Mutter stolz. „Als mein Mann starb und er die Domaine übernahm, hatte ich begreiflicherweise Sorge, wie es werden würde; aber, so jung er noch war damals, es geht Alles genau so, wie bei dem Seligen, so schick und ruhig und glatt. Das Einzige, was ihm fehlt, ist eine Frau, denn ich kann zuweilen nicht mehr so recht, wie ich wollte. Aber – nun bitte, hier links Frau Räthin!“

Wir waren über einen großen Vorsaal geschritten, auf dem mächtige Schränke breit und behäbig standen, und betraten nun die Logirstube, in der hochgethürmte blüthenweiße Betten unseren reisemüden Gliedern freundlich winkten. Auch hier prasselndes Holzfeuer im Kachelofen gegen die Herbstkühle, und ein feiner Lavendelduft; auch hier so traut und gemüthlich, wie unten im Wohnzimmer. Großmutter sollte nebenan im einfensterigen Zimmerchen wohnen. Und als unsere freundliche Wirthin noch tausend Fragen gethan, ob und wie wir zu liegen gewohnt seien? ob wir morgen früh Milch oder Kaffee wünschten? versprach sie, gleich früh mit uns die Wohnung zu besichtigen, die ganz in der Nähe – denn darauf hätte sie besonders Werth gelegt. Und die Zimmer wären sehr hübsch; es seien ehemals fürstliche Gemächer gewesen. Das Gebäude, das Kavalierhaus geheißen, habe ein Regierender gebaut, ein prachtliebender Herr der lustigen Rokokozeit, welcher eine solche Menge von Gästen herzog, daß die Zimmer des Schlosses nicht ausreichten. Es liege diesem gerade gegenüber, und in der oberen Etage habe das kleine Quartier freigestanden; nur alte Akten hätten darin gelegen. Und der Fritz habe gleich schreiben müssen, ob das Logis nicht zu vermiethen sei und richtig, man habe es gestattet, und der Ertrag komme der Kleinkinderbewahranstalt zugute, die die Frau Herzogin hier ins Leben gerufen. Ja, so habe sich das gemacht; und freilich, die Tapeten seien alt, aber die schöne Fußbodentäfelung sei ganz deutlich wieder [32] zum Vorschein gekommen, nun Hanne und Rieke sie gescheuert und gebahnt. Es schaue ganz stattlich aus, und vom Hinterzimmer wäre Aussicht in ihren Garten. Im Frühjahr sei es dort blau von Fliederblüthen und vor Duft kaum auszuhalten, und just in dem Winkel kommen alle Nachtigallen von Rotenberg zusammen. Und nun wünschte sie vielmals „geruhsame gute Nacht“, und die kleinen Fräuleins möchten auf die Träume achten, es wäre gewiß etwas vom künftigen Bräutigam dabei und würde sicherlich wahr. Dann ging sie trippelnd hinaus und schloß so leise die Thür, als lägen wir schon allesammt im tiefsten Schlummer.

„Schlaft wohl!“ sagte nun Großmutter und ging in ihr Stübchen, und still begannen wir uns zum Schlummer zu rüsten. Lotte saß noch in ihrem weißen Frisirmantel auf dem Bette und bürstete die langen dunklen Haare, als ich schon halb im Schlafe war. Da hörte ich sie plötzlich leise vor sich hin lachen.

„Was ist denn, Prinzeßchen?“ fragte ich wieder munter geworden.

Da kam sie zu mir herüber und setzte sich auf meinen Bettrand. „Hilf mir einflechten,“ bat sie. Und während ich die wuchtigen Strähne in einander schlang, lachte sie wieder.

„Weßhalb lachst Du?“ fragte ich noch einmal.

„Weil ich mich amüsire,“ sagte sie und schüttelte aufstehend die Flechten in den Nacken zurück. „Ich finde, wir passen so ausgezeichnet gut in diese Idylle; ich wenigstens. Schlafe wohl, aber träume nicht von diesem ‚trefflichen Jüngling‘, der entschieden ein Jahrhundert zu spät auf die Welt gekommen ist. Morgen lese ich ‚Hermann und Dorothea‘ einmal wieder und denke dabei des ‚wohlgebildeten Sohnes und der sorglichen Hausfrau‘.“

„Mir gefällt es sehr gut hier, Lotte,“ erwiderte ich ärgerlich.

„Ja freilich. Es ist so urgemüthlich, so kuhstallduftig – Du hattest von jeher ein tendre für Dorfgeschichten.“

„Pfui, Lotte!“

„Ach, ich habe Sehnsucht nach Berlin, tödliche Sehnsucht!“ schluchzte sie auf einmal, „ich weiß es, ich sterbe, wenn ich hier bleiben muß!“ Und mit dieser schauerlichen Prophezeiung legte sie ihren schönen Kopf in die Kissen und weinte zum Herzbrechen.

Ich war schon wieder eingeschlafen, da hörte ich noch einmal meinen Namen rufen.

„Was denn, Lottchen – bist Du krank?“

Aber da schallte es leise kichernd durch das dunkle Zimmer: „Tone, hast Du die große Ledertasche gesehen, welche die wackere Hausfrau unter der Schürze hängen hatte? Ein großes rothes Herz aus Saffian ist darauf gesteppt. Da sind die Milchgroschen darin! sie verkauft eigenhändig das schäumende Naß. Was meinst Du, wenn sich der ‚wohlgebildete Sohn‘ in Dich oder mich verliebte und wir bekämen am Hochzeitsabend als Attribute unserer Würde nicht nur Pantoffel und Haube, sondern auch die Geldtasche?“ Und nun lachte sie so herzlich, daß ich mit einstimmen mußte, obgleich ich nichts Lächerliches darin fand.

Dann aber schlief ich ein und, o Wunder! ich stand im Traume an dem weißgescheuerten Milchtisch in dem Hausflur drunten und maß aus blitzendem Messinggefäß schäumende Milch, und auf der Geldtasche flammle das Saffianherz so roth und glühend; und ich war so glücklich im Traum, so ruhig und so dankbar!


Frau Roden hatte nicht zuviel gesagt von unserer Wohnung; es waren fürstliche Räume, die wir am anderen Tage betraten. Freilich mußten wir ein enges Hintertreppchen emporsteigen, das direkt in den Garten führte, der, ehemals wohl zum Kavalierhause gehörig, mit dem Schloßgarten zusammenhing, jetzt aber der Domaine zugetheilt war. Oben angelangt, befand man sich in einem kleinen durch Holzwände abgetheilten Flur, und auf diesen mündeten die drei weißlackirten mit schmalen Goldleisten verzierten Thüren unserer Zimmer. In dem kleinen Kabinett, welches nach dem Garten zu lag, waren die von Stuckguirlanden umrahmten Plafondgemälde noch völlig erhalten, Aurora in flatterndem rosigem Gewande auf Wolken schwebend, von blumenstreuenden Putten umgeben; in den Ecken Medaillons. Die Wände aber hatte man einfach weiß übertüncht, den Kamin vermauert, und daneben in den Winkel gedrängt, als schäme er sich seiner Dürftigkeit, stand ein kleines Kanonenöfchen, verrostet und schief.

„Hier würden die Kinder schlafen,“ entschied die Großmutter. Frau Roden aber öffnete eine Thür und hieß uns hinaustreten auf den winzigen, von zierlichem schmiedeeisernem Gitter umfaßten Balkon. Das war herrlich! In leuchtend bunten Farben lag der weite Garten zu unseren Füßen, und durch die halbentlaubten Aeste flog der Blick ins Land hinaus bis dorthin, wo eine ferne blaue Bergkette den Horizont begrenzt.

„Hier unten, diesen Theil des Gartens können Sie ruhig als ihr Eigenthum betrachten,“ sagte die alte Frau, „es ist hier so ein bischen romantische Wildniß, aber das haben junge Menschenkinder gern, mein Fritz wenigsten. Wenn ich ihn suchen wollte, dann fand ich ihn immer hier unter den hohen Bäumen, irgend ein schönes Buch lesend. Na, jetzt hat er dazu keine Zeit mehr. Aber hier, liebste Frau von Werthern, das sind die Vorderzimmer.“

Zwei stattliche Räume in der That! Hohe Fenster, reicher Stuck an der Decke und ein Paar vertrauenerweckende Kachelöfen. „Das ist ja mehr, als wir erwarten durften!“ meinte die Großmutter erfreut.

„Ja, beste Werthern! Ein jeder hätte es auch nicht bekommen, oder meinen Sie, dem Fritz und mir wäre es gleichgültig, wer durch unsern Hof und Garten läuft, um hierher zu gelangen? Ja, nicht wahr, Fräulein Lottchen, das ist eine ganz vornehme Aussicht, die Beletage des herzoglichen Schlosses gegenüber, just die Zimmer, die immer bewohnt werden! Sehen Sie, die Anita benutzt noch einmal den schönen Herbsttag und sperrt die Fenster auf.“

Ich trat zu Lotte, und wir sahen hinüber. Dort bog sich eben aus einem der hohen Fenster eine weibliche Gestalt und schlug die grünen Jalousien weit zurück; aus den dämmerigen Räumen blitzten regenbogenfarbige Lichter herüber, die ein verirrter Sonnenstrahl den Bergkrystallen der Kronleuchter entlockte, der auch zugleich die reich vergoldeten Bilderrahmen streifte. Von dem gelbseidenen Vorhang, den der Zugwind eben aus einander blähte, hob sich die zierliche Figur des tief brünetten Mädchens, die jetzt sinnend verweilte; oder war es eine Frau? Jung war sie augenscheinlich nicht mehr, und doch frappirte dieses feingeschnittene Gesicht; es lag etwas Ungewöhnliches in der Erscheinung.

„Wer ist das?“ fragten Lotte und ich wie aus einem Munde.

Das Gesicht der alten Dame nahm einen ärgerlichen Ausdruck an.

„Die Pflegetochter des Kastellans,“ erwiderte sie, „aus Italien oder Griechenland ist sie hergekommen, man weiß nicht recht wie – so als siebzehnjähriges Dingelchen. Der alte Kastellan hat sie adoptiren müssen, denn –“ Sie machte der Großmutter eine Handbewegung zu, als wollte sie sagen: „Reden wir nicht davon.“

„Sie gefällt mir," sagte Lotte.

„Ei, das ist kein Umgang für Sie, Kindchen,“ eiferte ganz roth die Frau Amtsräthin. „Wenn Sie Verkehr suchen – da hat unser Pfarrer ein niedliches Töchterchen, und beim Bürgermeister giebt’s sogar ihrer Drei, ehrbare, gute Kinder.“

Lotte hatte sich umgewandt und sah verwundert auf die hastig Sprechende hernieder.

„Ich – Umgang? Ich suche keinen hier!“ kam es von ihren Lippen.

„Nun! Nun!“ begütigte die alte Dame, „da haben wir uns falsch verstanden, Kindchen – nichts für ungut! Aber um Einsiedlerin zu werden, sind Sie noch viel zu jung, und Jugend drängt zu Jugend. Hier giebt’s auch lustige junge Füße, die gern tanzen, und droben im Rathaussaal, da klingen um Fastnacht herum die schönsten Hopser vom Orchester; Sie sollen einmal sehen, wie mein Fritz walzen kann. Nicht böse sein, Kindchen! So lange Einem das Herz weh thut, denkt man natürlich nicht an dergleichen, das versteht sich. Aber, so Gott will, kommt Jugendlust und Freude auch wieder zu Ihnen.“

Lotte hatte sich schon bei den ersten Worten umgewandt, auch jetzt würdigte sie die Sprecherin keines Blickes mehr, sondern betrachtete angelegentlich die lange Fensterreihe des fürstlichen Schlosses, das uns eine Seitenfront zuwendete. Ein schmales Boskett zog sich an der Mauer hin, die chaussirte Fahrstraße zwischen ihm und unserem Hause führte zum sogenannten Schloßplatz, dem das Gebäude seine Front präsentirte, und mündete geradeaus in den Domainenhof, dessen Einfahrt durch eine Gruppe herrlicher alter Kastanien fast versteckt ward.

Großmutter rief mich nach einem Weilchen in das zweite Zimmer, erklärte, hier wolle sie wohnen, und nun vertieften wir uns angelegentlich in die Vertheilung der Meubel, sprachen mit [34] der Frau Roden wegen einer Aufwärterin und baldiger Holzeinkäufe, und kamen schließlich ganz befriedigt in das erste Zimmer zurück, wo Lotte noch unbeweglich wie ein schwarzer Schatten am Fenster lehnte. Als ich leise meinen Arm um ihre Taille legte, wandte sie sich nicht; sie neigte nur ein wenig das Haupt, als erwidere sie einen Gruß, und als ich hinunter sah, erblickte ich Fritz Roden, das Gewehr über der Schulter, den Jagdhund auf den Fersen, und an der Jagdtasche einige Feldhühner. Er hatte den Hut schon wieder aufgesetzt, sah nicht rechts noch links, sondern ging dem Hofe zu.

„Bär!“ sagte Lotte halblaut.

[52] Als ein solches möchte ich zunächst den Eisfuchs angesehen wissen. Ihn beherbergt die Tundra, soweit sie sich erstreckt; ihm gewährt sie mindestens im Süden neben unserem Fuchse und anderen Arten seiner Sippschaft Unterhalt und Nahrung; er trägt auch ihre Farben: im Sommer ein Felsen-, im Winter ein Schneekleid; denn felsengrau oder graulichblau entsprießen die Haare seines überaus dichten Felles, und schneeweiß färben sie sich im Winter. Schlecht und recht nach anderer Füchse Art schlägt er sich durchs Leben, und doch ist sein Wesen und Gebahren gänzlich verschieden von dem Auftreten und Treiben unseres Reineke und seiner ihm ebenbürtigen Verwandtschaft. Ihm thut man schwerlich Unrecht, wenn man ihn als ausgeartetes Mitglied einer ausgezeichneten, ungewöhnlich veranlagten, geist- und erfindungsreichen Familie bezeichnet. Von der findigen Klugheit, berechnenden List und nie versagenden Geistesgegenwart seiner Sippschaft bethätigt er kaum die Anfänge. Plumpdreist ist sein Auftreten, zudringlich sein Wesen, unklug sein Gebaren. Als frecher Bettler, als unverschämter Strolch, nicht aber als listiger, alle Umstände wohl erwägender und alle ihm irgendwie möglichen Hilfsmittel nutzender Dieb oder Räuber tritt er auf. Unbesorgt schaut er dem Jäger in das Feuerrohr; ungewarnt durch die ihm geltende, dicht über seinem Leibe dahinsausende Kugel, folgt er seinem furchtbarsten Feinde; unbedenklich dringt er in das Innere der Birkenrindenhütte des wandernden Renthierhirten; sorgenlos naht er sich des Nachts dem im Freien schlafenden Menschen, um von diesem erbeutetes Wild zu stehlen oder sinnlos nach einem entblößten Gliede desselben zu schnappen. Mir selbst ist begegnet, daß ein Eisfuchs, nach welchem ich in der Dämmerung mehrere Male vergeblich schoß, wie ein Hund meinen Schritten folgte: mein alter Jagdfreund Erik Swenson vom Dovrefjelde mußte erfahren, daß ihm ein solcher Nachts die Wilddecke, auf welcher er ruhte, anfraß, und der alte Steller berichtet wahrheitsgetreu noch von ganz anderen Streichen des Thieres, von Streichen, welche Jedermann für unmöglich erklären würde, wären sie nicht durch übereinstimmende Beobachtungen hinlänglich verbürgt. Wohl mag ungenügende Kenntniß des in der Tundra nur spärlich auftretenden Menschen eine wesentliche Ursache des wundersamen Gebarens dieses Fuchses sein; der alleinige Grund aber ist jene Unkenntniß nicht. Denn weder der Rothfuchs noch irgend ein anderes Säugethier der Tundra benimmt sich so unklug wie jener; nicht einmal der Lemming kommt ihm in dieser Beziehung gleich.

[54] „Ich danke,“ sagte ich, „ich will den Kaffeetisch indessen rüsten. Wollen Sie mit uns trinken?“

„Werde leider keine Zeit haben, Fräulein Tone,“ erwiderte er freundlich. „Ein andermal, morgen oder übermorgen. Auf Wiedersehen!“

Sie waren fort, und ich nahm den Schlüsselkorb und ging in das winzige Kämmerchen, das man uns zur Küche eingerichtet hatte. Es war eine recht häßliche Gemüthsstimmung, in der ich mich plötzlich befand. Seit Jahren war ich es gewohnt, die „Andere“ zu sein und heute zum ersten Male rebellirte etwas in mir dagegen; ich hätte, Gott weiß, etwas gegeben, wenn ich einer Andern das Schlüsselbund vor die Füße werfen und ihr sagen konnte: „Quäle Du Dich mit der Prosa des Lebens, bereite Du den Kaffee und das Abendbrot – ich habe keine Zeit, ich muß fort, ihnen nach!“ Aber der kleine Raum war todtenstill, nur die Küchenuhr tickte und mahnte an meinen Marthaberuf. Die Thränen, die sonst gar fest bei mir saßen, drängten sich in die Augen und fielen auf das bräunliche Fell des Hasen, der mitten auf dem weißgescheuerten Küchentisch lag. Gedankenlos strich ich über den Pelz. ich wußte es, den hatte Fritz Roden heimlich dorthin gelegt. Fast kein Tag verging, an dem ich nicht eine ähnliche Ueberraschung vorfand, Wild, Obst, köstliche frische Butter – und wie hatte es mich stets erfreut!

Heute erschien es mir wie Hohn; ich hätte den armen Lampe am liebsten aus dem Fenster geschleudert. „Empörend!“ schalt ich es, „aufdringliches Almosenspenden!“ – Wie ich unmuthig das arme Opfer meines Zornes empornahm, um es nothgedrungen vor das Fenster in die kühle Luft zu hängen, da trug es in seinem blutigen leblosen Mäulchen eine Rose, und diese Rose ließ mich plötzlich lachen wie ein glückliches, reich zu Weihnacht beschenktes Kind; so hell und froh, daß es befremdend von den Wänden zurückscholl. Vorsichtig nahm ich die blasse Blume aus den Zähnchen des Hasen und steckte sie auf mein schwarzes Trauerkleid, und als ich nach einer Weile wieder in das Zimmer trat, bemerkte Großmutter sie und sagte: „Ei, ei, Tone!“ und als ich roth wurde, neckte sie mich:

„An seiner Mutter hast Du auch schon eine Eroberung gemacht; ich darf es Dir ja sagen, Du wirst nicht eitel darum, Tone; mein Gott, es wäre solch großes Glück!“

„Ach Großmama!“ stammelte ich athemlos.

„Ich bin recht müde, Kind,“ sprach sie weiter und streckte mir die Hand entgegen. „Es kommt Alles nach; der Aufregung und des Kummers war es zu viel im letzten Jahre. Ach, Tone, es wäre ein sehr großes Glück!“ wiederholte sie.

Und sie winkte hinüber nach dem weit geöffneten Fenster des Schlosses; dort stand unser Prinzeßchen, warf Kußhände herüber und trieb allerhand Possen, und hinter ihr erschien Fritz Roden’s lächelndes Gesicht. „Sie ist sehr schön, die Lotte,“ sagte die alte Frau, „ich meine, sie wird es alle Tage noch mehr.“ Und als fürchtete sie, mich zu verletzen, wendete sie sich zu mir: „Schönheit hat Vieles voraus, Tone, aber –“ und sie streichelte sanft über mein Haar „aber darum ist sie noch nicht die Beneidenswerthere.“

Ich küßte ihre liebe Hand; ich gönnte ja dem Prinzeßchen ihren Liebreiz neidlos und aufrichtig.




Der Oktober ging vorüber, der November kam und neigte seinem Ende zu, und häßliche, finstere Nebeltage brachte er uns, Sturm und Regen. In der Großstadt wirkt solch Wetter nicht so unmittelbar; die Gasbeleuchtung der Straßen, die geschützten, von Häusern zugeschlossenen Wohnungen lassen Alles milder erscheinen; man kennt nicht den Sturm, der sich von den Bergen herabstürzt und das einsame Haus umtost; vor den Fenstern rauschen und ächzen nicht hohe Bäume, und das Käuzchen klagt nicht in finsteren Nächten vom Giebel des steilen Daches, wo es seinen Schlupfwinkel hat. Es giebt keine Schauergeschichten, keine Geister, die in solchen Nächten lebendig werden – es ist Alles so hell, so strahlend und so nüchtern, nicht der kleinste Märchenzauber will gedeihen.

Hier aber war noch Poesie in allen Winkeln. Der Wind sang seine wilden Lieder, und lange konnte ich wachend liegen, ihm zu lauschen und der alten Rotenberger Geschichten zu gedenken, die uns Frau Roden erzählte, wenn sie zur Dämmerzeit ihre gute Werthern besuchte. Mit Fritz Roden machten wir Spaziergänge in den nahen Wald; er zeigte uns die Stelle, wo einst eine Burg gestanden und jetzt nur noch Schlehengestrüpp wucherte auf grünem Grunde. Feierlich still war der Wald, den ich im Winterschlaf noch nicht kannte; nur das dürre Laub raschelte unter unseren Füßen, und zuweilen flog eine Krähe schreiend empor, sonst kein Laut. Und wenn wir in die Tannen kamen, welch herzerfrischender Duft! Die ganze Wonne der Kinderzeit umwehte mich und mahnte an glückliche Weihnachtsabende. Und wie Fritz sprechen konnte, so einfach, so wahr und schlicht; von den Spielen, die er mit den Brüdern und Kameraden im Walde getrieben, wo sie ihre Ritterburg gehabt und ihre Räuberhöhle, wie sie Eichkätzchen gejagt und Buchnüsse gesammelt; und von der Heimkehr Abends mit rothen Wangen und furchtbarem Hunger, und wie ihm doch nirgends in der Welt ein Apfel so gut geschmeckt habe, als die Reinetten aus Mutters Keller.

Wir waren viel zusammen, fast täglich. Jeden Sonntag, das war ausgemacht, speisten wir auf der Domaine; die Martinsgans mußten wir mit verzehren und zum Schlachtfest beim Frühstück helfen. Es war mir Alles so reizvoll, so anheimelnd, ich konnte mir nichts Schöneres denken. Wie der Wind trugen mich die Füße zu der alten lieben Frau, wenn sie fragen ließ, ob mich dies oder das interessire? und dann streichelte sie mir die Wangen. „Wie das blüht! Gelt ja, unsere Luft ist besser wie die Berliner.“

„Ach, tausendmal!“ sagte ich dann aus vollstem Herzen und lief hinter ihr drein, wie der Schnips hinter Lotte. Zuweilen spielten wir Abends vierhändig, Lotte und ich, und dann saßen Mutter und Sohn andächtig lauschend, und hinterher erzählte die alte Frau von den Liedern ihrer Jugend und wie sie so gar gern gesungen. „Von der Alp ertönt das Horn“, worüber Lotte ihre stumme Hoheit gelegentlich vergaß und herzhaft lachte.

Ja, es waren schöne Tage, trotzdem Frau Sorge uns von Berlin auch in das kleine bescheidene Daheim gefolgt war und ich oft bittend vor Großmutter stand mit leeren Händen.

„Tone, Tone, wir leben noch immer zu üppig!“ meinte sie, „Du mußt Alles noch einfacher einrichten.“

„Noch einfacher?“

Großmutter sah – Gott sei Dank – schlecht; sie konnte es nicht bemerken, wie Lotte das Näschen rümpfte über das „Leute-Essen“, wie sie es nannte. Zwar legte ich ihr heimlich die allerschönsten Stücke hin, aber ihre Laune wurde in demselben Grade schlechter, wie die meinige frischer und frischer. Für mich war es Frühling, hellster grüner Mai, wie er jedem Menschenkinde einmal beschieden ist, ein Festtag jeder Tag. Denn regelmäßig klang draußen der liebe wohlbekannte Schritt auf der Treppe, und wenn er eintrat, dann stand das Zimmer voller Sonnenschein.

„Es wäre ja ein großes, großes Glück,“ sagten beständig die Augen der alten bekümmerten Frau auf dem Lehnstuhl am Fenster.

Es war zu Anfang December; ich kam mit Frau Roden aus dem Städtchen zurück, sie hatte schon einige Einkäufe auf Weihnacht gemacht. Wir waren überall mit einem an Ehrfurcht grenzenden Respekt aufgenommen worden, und mir war so recht die Achtung vor einer angesehenen sorgenfreien Existenz in das Herz gekommen. So gesund, so herzerfrischend, so behaglich war das Wesen dieser Frau, die Niemand mehr gab, als ihm zukam, die so richtig mit den Leuten umzugehen verstand, immer das rechte Wort findend. Ich erinnerte mich beschämt der zwei letzten schweren Jahre, in denen der Vater so oft sagte bei diesen oder jenen Einkäufen: „Wenn es nöthig ist, Tone, so nimm es auf Rechnung; ich kann’s jetzt nicht.“ Und ich erinnerte, wie befangen ich in die Läden trat und die unerhörtesten Preise auf unsere Rechnung setzen ließ, die ich nimmermehr bezahlt hätte, wenn die Börse in meiner Tasche nicht so trostlos leer gewesen wäre.

„Nun wollen wir heim,“ sagte endlich Frau Roden, als wir aus einem Fleischerladen traten. „Wahrhaftig, Kindchen, es giebt Schnee – da sind die ersten Flocken!“ Und in der That, es taumelten große weiße Sterne durch die Luft und legten sich auf die schwarze Straußfeder, die Frau Räthin auf dem Hütchen trug. „Und, liebes Kind,“ setzte die alte Dame ein vorher begonnenes Gespräch fort, „da hat mir der Fritz gesagt, daß die Lottchen ganz leidlich malt; – könnte sie denn nicht ihr Talent verwerthen, Ihnen ein wenig zu Hilfe kommen?“

[55] Ich sah die Sprecherin starr an[.]

„Ich meine, die Bilder verkaufen,“ erklärte sie.

„Lotte für Geld malen? Niemals!“ sagte ich bestimmt.

„So! Niemals! – Nun, Sie plagen sich und arbeiten und sorgen, während die kleine Prinzessin zu ihrem Vergnügen in den Farben manscht; Sie thun bitter unrecht!“

„Ach, Lotte ist so eigenartig,“ entschuldigte ich.

„Eigenartig? So! Was soll denn werden, wenn Sie sich einmal verheirathen?“

Ich fühlte, wie ich unter ihren Blicken verlegen wurde.

„Oh – ich!“ stammelte ich.

„Ei, denken Sie denn, es giebt nicht noch Männer, die ein vernünftiges Mädchen zu schätzen wissen? Was thut denn Einer mit solch’ verzogenem Püppchen, wie die Lotte ist? – Heiliger Gott, wenn ich dächte, so ein Prinzeßchen käme mir in meine Wirthschaft! Ja, da könnte ich doch gleich den Fritz als unzurechnungsfähig erklären lassen! Stellen Sie sich doch vor, wenn sie um neun Uhr aufstände und den Tag über malen wollte und allenfalls noch mit ihrem Hunde spielen – nicht einmal zu fressen giebt sie dem Viehchen und will ihn dabei erdrücken vor Zärtlichkeit. Nein, Kindchen, davor behüte Gott jeden rechtschaffenen Mann! Sie ist Ihre Schwester, ja – doch da sind wir –. Hören Sie, Kindchen, ich habe das immer so gehalten, am Tage des ersten Schnee giebt’s Bratäpfel und Punsch; kommen Sie heute Abend mit Großmutter und Lotte und feiern Sie das Eintreffen des Winters mit uns. Und grüßen Sie mir die Werthern.“

Wir standen vor der Thür des Gutshauses, und ich schüttelte der alten Dame die Hand. „Auf Wiedersehen!“ sagte sie noch einmal, nickte mir freundlich zu und stieg die Stufen empor in ihrem schwarzseidenen Mantel, und als ich mich an der Gartenpforte noch einmal wandte, sah ich sie neben ihrem Sohne auf der Freitreppe stehen, und sie schauten mir nach und grüßten.

Die Worte der alten Frau hatten mich wunderbar bewegt, sie kamen wie die Botschaft aus einer andern Welt; und während ich unter den kahlen Bäumen des Domainengartens unserer Wohnung zuschritt, ergriff mich der eine Gedanke, den ich bis jetzt noch immer mühsam beschwichtigt hatte, mit nicht zu bekämpfender Gewalt. Ich sah mich in dem Hause dort, vor dem ich eben gestanden; ich ging durch alle seine Räume; ich wußte, daß ich ein Recht dazu hatte, ein süßes heiliges Recht. Ich sagte „Mutter“ zu einer alten lieben Frau, ich stand an der Seite – an seiner Seite –. Vom ersten Tage, vom ersten Augenblick des Sehens an, war es so gewesen; ich, die nie eine Neigung gehabt, die schon lange geglaubt, über solche „Jugendschwärmereien“ hinaus zu sein, ich war rettungslos gefangen von den ernsten Augen, von dem stillen, ruhigen Wesen Fritz Roden’s.

Und heute – sagte nicht die eigene Mutter, ich könnte wohl einem Manne gefallen? Einen Mann beglücken? – Heiß drängte sich das Blut in meine Wangen, mir war fast schwindelig, und halb betäubt setzte ich mich auf eine kleine Steinbank unter einer breitästigen völlig kahlen Linde und sah mit brennenden Augen hinüber nach den Giebeln des Herrenhauses. Ach, die „Andere“, das Aschenpuddel, mich könnte vielleicht ein Glück treffen, wie es Millionen Frauen vergeblich erhoffen und ersehnen? Mich könnte der Mann wählen, dem mein Herz gehört, um mich heimzuführen in ein Haus voller Frieden, Behaglichkeit und Liebe? – „Ach nein, nein um Gotteswillen, denke nicht daran, denke nicht daran!“ flüsterte es in mir, „die Enttäuschung wäre zu furchtbar!“

Aber ich liebe ihn – ja – daran ist nichts zu ändern! Ich liebe ihn, das bleibt wahr und wenn Alles dawider spräche! Ich liebe ihn, liebe sein grades ungelenkes Wesen, ich liebe sein grundgutes Herz, seine pedantische Würde – ich liebe Fritz Roden!

Und ich sprang empor von der Bank mit glühendem Gesicht und lief durch die köstliche reine Schneeluft, als müsse ich flüchten vor mir selber, und stand dann herzklopfend vor unserer Stubenthür.

Dort innen eine fremde, scharf accentuirte Stimme. Und als ich eintrat, erhob sich mit einer Verbeugung die kleine schwarze Kastellanstochter aus dem Schlosse. Was das für ein paar flammende leidenschaftliche Sterne waren, die unter den langen Wimpern hervorschimmerten! Das einzige Jugendliche in dem schmalen blassen Antlitz, dessen scharfe Züge einst wunderschön gewesen sein mußten.

Lotte aber kam mir mit einem Freudenruf entgegen; das Fräulein Anita habe die Erlaubniß vom Hofmarschallamt gebracht, sie, Lotte, dürfe nach Herzenslust da drüben in den Zimmern des Schlosses kopiren.

„Da drüben?“ fragte ich beunruhigt, „vertraut man meiner Schwester nicht ein Bild an, um hier zu malen?“

„Bedaure sehr,“ sagte Anita, „es ist nicht gestattet.“

„Aber die Kälte in den Zimmern,“ wagte ich einzuwenden.

„Ich habe die Befugniß, zu heizen,“ antwortete sie ruhig.

„Du wirst Dich fürchten, Prinzeßchen,“ scherzte ich, „da drüben giebt es sicher eine weiße Frau – denke, wenn Du so allein –“

„Ich werde mir erlauben im Nebenzimmer zu bleiben,“ unterbrach mich die kleine Schwarze.

Ich erinnerte mich plötzlich an die Worte der Frau Roden: „Das ist kein Umgang für Sie, Kindchen.“ – „Und ich werde mir erlauben, meine Schwester zu begleiten,“ sagte ich, und da trafen sich meine und Anita’s Augen, ein paar Augen, die mir auf den Grund der Seele zu dringen versuchten, als wollten sie fragen: „Wer hat Dir erzählt von mir, von meiner Vergangenheit? Was weißt Du von Menschenlieb’ und Haß, von Leidenschaft?“ Aber sie sagte nur: „Wie Sie wollen!“ grüßte mit einer leichten Verbeugung, wünschte wie in Zerstreuung auf Italienisch a rivederci und war verschwunden.

[65] Prinzeßchen,“ sagte ich zu Lotte, die mit leuchtenden Augen vor ihrer Staffelei stand, „ich finde es komisch, daß Du drüben malen willst.“

„Weil Du mir nicht die geringste Abwechselung gönnst!“ fuhr Lotte heraus, und ihr schönes Gesicht wurde blaß. „Weil Du gar nicht begreifst, wie ich darbe und leide in dieser Abgeschiedenheit, in diesem Winkel! Du nicht, und die Großmutter nicht und die da drüben nicht! Du kannst es nicht begreifen, was ich entbehre; Du kochst und bratest und bist hochbeglückt, wenn Dir ein Pudding geräth – ich, o ich ersticke!“

Und sie sank auf einen Stahl und begann so herzzerreißend zu weinen, daß Großmutter erschreckt aus dem Nebenzimmer herbeikam.

„Aber Lotte!“ Das war Alles, was sie sagte.

Diese hatte sich aber in Zorn geredet; sie richtete das thränenüberströmte Gesicht auf, und die Worte stürzten ihr nur so aus dem Munde. „Was ist denn unser Leben? Früh aufstehen und Abends schlafengehen, und dazwischen eine entsetzliche Spanne Langeweile! Was höre ich denn? Tone’s wirthschaftliche Fragen oder ein Kapitel aus einem Roman von Scott oder Friederike Bremer! Wer verkehrt bei uns? Der nüchterne Weisheitskrämer, der – o, wie ich ihn hasse, diesen kleinstädtischen Bären! Oder denkst Du, es ist mir ein Genuß, wenn der große wichtige Pedant in seinen Stulpenstiefeln dahergetrappt kommt, Kaffee bei uns trinkt und mit uns spazieren geht? Was sehe ich denn an dieser Stadt? Es ist mir so gleichgültig, daß dort der Pastor wohnt und hier der Bürgermeister, und daß Martin Luther diese Handvoll rother Dächer inmitten der Bäume mit einer Schüssel gekochter Krebse verglichen hat, die mit Petersilie garniert sind. Denkt ihr, daß es mir ein Vergnügen ist, Sonntags den Oberprediger sprechen zu hören, der keinen Zahn mehr im Munde hat, wobei man nothwendig die sündhaftesten Gedanken bekommen muß? Oder die spießige Sonntagstoilette der Rotenberger Hautevolée zu bewundern? Sicher nicht! O, ich hasse dieses Krähwinkel, dieses Eulennest bis zum Verzweifeln. Und nun soll ich nicht einmal dort hinüber, weil jene Person irgend eine Vergangenheit hat! Kann mir das etwas schaden? Bin ich denn ein Kind?“

Sie schwieg völlig athemlos.

„Ach, Prinzeßchen!“ bat ich ängstlich.

„Laßt mich gewähren!" drohte sie, „oder ich thue Etwas, was ich –“

„Nun, nun, Du kleine Furie!“ Die alte Frau lächelte. „Was denn zum Beispiel?“

„O, es giebt alles Mögliche,“ zürnte das Mädchen; „denkt doch an Erna von Wallwitz, die aus Verzweifluhg einen Bierbrauer geheirathet hat.“

Ich lachte hell auf, und Großmutter meinte ernsthaft: „Sie hat eine gute respektabele Partie gemacht; er ist ein braver, gebildeter Mann.“

Lotte zuckte die feinen Schultern.

„Ihr werdet mich nicht hindern, hinüber zu gehen,“ sagte sie halb befehlend, halb fragend, „oder –“

„Oder sie heiratet einen Bierbrauer,“ scherzte die alte Dame und nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand.

„Es kann ja auch ein ungeschlachter Oekonom sein,“ murmelte Lotte und warf mir einen Blick zu, der mich bis ins Herz traf. Und plötzlich breitete sie die Arme aus und flog mir an den Hals. „Nein, Tone, wie ist es möglich. Wie ist es möglich!“ lachte sie.

„Was denn?“ fragte ich streng, als dies Kind mit unvorsichtiger Hand an mein heiligstes Geheimniß rühren wollte.

„Was denn? Wie Du Dich verstellen kannst!

‚O wie freu ich mich, mein Liebchen,
Daß Du so natürlich bist –
Unsre Mädchen, unsre Bübchen
Spielen künftig auf dem Mist!‘“

Und sie hielt sich noch immer lachend das Näschen zu. „Ich kann nichts dafür – das sagt Goethe, Tone. Es ist zum Todtlachen!“

Großmutter und Lotte hatten die Einladung zum Bratäpfelfeste abgelehnt. Großmutter war in der That angegriffen, und Lotte hatte keine Lust. „O Gott, es ist zu langweilig,“ seufzte sie, „verschone mich mit diesen heidnischen Gebräuchen und diesen Weisheitskollegien; höre Du es allein, Seele, und iß die Bratäpfel für mich mit.“

„Und was willst Du unterdeß beginnen?“

„Schlafen!“ lachte sie, „was sonst? Viel Glück, Schwester Tone, und grüß mir Deinen –“

„Lotte!“ sagte ich streng.

„Na, gute Nacht!“ gähnte sie, warf ihre schöne Gestalt auf das Sofa und griff zu einem Buche.

Ich stand noch eine Weile still vor dem Spiegel im Schlafzimmer und studirte mein Gesicht. War ich denn wirklich so ganz und gar nicht hübsch? „Zu viel Kouleur,“ sagte Großmutter immer. „Gar keine aparte Haarfarbe,“ hatte einst meine Stiefmutter bemerkt. Ja freilich, so wie Lotte war ich nicht: wer kann auch immer gleich schön sein! Ich strich über mein einfach gescheiteltes Haar, fühlte den dicken Knoten im Nacken und band seufzend den Mantel um; welches Mädchen ist sich schön genug, wenn sie Ihm gefallen will?

Es war schon spät, und ich lief durch die Wege des Gartens und über den finstern Hof; der Decemberwind heulte in den hohen Bäumen und trieb mich noch rascher vorwärts; ich flog formlich in den Hausflur hinein und vermochte kaum die schwere Thür zu halten.

„Holla!“ sagte Frau Roden, „so allein durch Nacht und Wind?“ Und sie leitete mich freundlich in die warme helle Wohnstube, wo auf schneeweißem Tische Punschgläser, Pfefferkuchen und die bewußten Bratäpfel prangten.

Ich richtete meine Entschuldigung aus, so gut ich konnte.

„Sagen wir, Lotte will nicht, Kindchen. Immer ehrlich! Wär’s eine Theaterloge in Berlin, die ich ihr heute statt meiner Wohnstube angeboten, so würde sie wohl wollen. Nun, desto mehr danke ich Ihnen für Ihr Kommen.“

Ich sah sie erstaunt an. Auf dem gütigen Gesicht lag eine hohe Röthe, und die Art, wie sie sich in die Sofa-Ecke setzte, die Gläser und Teller rückte und das Strickzeng erfaßte, hatte etwas Hastiges, das ungewöhnlich bei ihr war.

„Setzen Sie sich, mein gutes Kind; der Junge wird gleich kommen.“ Und sie winkte mich neben sich auf das Sofa.

„Sind Sie nicht wohl, Frau Räthin?“ fragte ich, denn ihre Hände zitterten.

„Doch!“ erwiderte sie, „aber – ich kann es Ihnen nicht erzählen. Da denkt man nun, man schwimmt auf spiegelglattem Meere, man hat vergessen, daß es Stürme giebt – und hui! auf einmal bläst uns ein Orkan ins Antlitz; als ob ein Meer ohne Wellen, ein Leben ohne Kämpfe möglich sei. Aber daß der Sturm von der Seite kommt –“ Sie schwieg eine ganze Weile, dann fuhr sie fort: „Was man Alles an Lebenserfahrungen sammelt, das möchte man so gern seinen Kindern geben, ihnen damit rathend und fördernd zur Seite stehen; aber die Jugend will selbst erfahren, sie wirft das gesammelte Gold in den Staub und sucht sich unter Mühsal und Enttäuschung neue Körner, die den verschmähten aufs Haar gleichen. Es soll wohl so sein, und wir haben es nicht anders gemacht. Aber er dauert mich unbeschreiblich, er und sie und wir Alle! – Da kommt er,“ setzte sie hinzu, und ihre Mienen suchten sich zu beherrschen, während ich fühlte, wie mir das Blut zum Herzen stieg und es zu zersprengen drohte. Im nächsten Moment stand er im Zimmer.

„Allein?“ war seine erste Frage, als er mir die Hand gab.

„Das Prinzeßchen hatte wohl etwas Besseres vor,“ sagte die Mutter.

Er setzte sich schweigend auf den Stuhl, auch sein Gesicht war finster. Es vergingen peinliche Minuten, in denen kein Wort gesprochen wurde. Endlich stand er auf, klingelte und hieß den Punsch bringen, füllte die Gläser und reichte sie uns, und nun hielt er seine große Rechte über den Tisch hinüber seiner Mutter hin und sah sie an mit bittenden Blicken.

[66] Sie strickte eifrig weiter, aber aus den milden blauen Augen fielen rasch ein paar Thränen auf die Arbeit.

„Mutter!“ bat er.

Da bog sie sich über den Tisch und flüsterte ihm etwas zu; aber so leise es war, hörte ich es doch; nur drei Worte, deren Sinn ich nicht gleich zu erfassen vermochte: „Die Andere, Fritz, die Andere!“

Er schüttelte den Kopf.

„Die Andere!“ bat sie noch einmal. Aber er rührte sich nicht, nur seine Hand lag noch auf dem Damasttuche, bereit die Mutterhand zu umschließen.

„Laß uns morgen darüber reden, Fritz,“ sagte sie in höchster Unruhe und setzte sich.

Er blieb unbeweglich. „Gieb mir Deine Hand,“ bat er, „es wird nicht anders, niemals!“

Da legte sie aufschluchzend ihre Rechte in die seine, hielt sich das Taschentuch vor die Augen und ging hinaus; wir waren allein in dem großen Gemach. Draußen rüttelte der Sturm an den hölzernen Läden und rauschte durch die entlaubten Kronen der Kastanien; hier innen Lampenschein, Wärme und zwei junge klopfende Herzen, so wie ich es mir ausgemalt tausendmal, tausendfach, er und ich. Er nahm sein Glas und rührte an das meine. „Trinken Sie, Tone,“ bat er zerstreut.

Einen Moment trafen sich unsere Augen; er sah aus wie berauscht. „Tone,“ begann er stockend, und es war ein Klang in seiner Stimme, daß ich meinen Kopf wie betäubt zurücklegte, athemlos vor Glück! „Tone, seien wir ehrlich gegen einander.“

„Ja!“ sagte ich.

Er erhob sich und begann im Zimmer auf- und abzugehen. „Warum kam Lotte nicht?“ fragte er, jäh vor mir stehen bleibend.

Ich sah in seine gespannten Züge und wurde verwirrt. „Sie – ich glaube, sie ist angegriffen,“ stotterte ich.

Er wendete sich und schritt wieder heftig auf und ab. Endlich kam er zurück, setzte sich mir gegenüber und ergriff meine Hand. Aber er ließ sie blitzschnell fallen, als in diesem Moment seine Mutter eintrat. „Ich sehe sie später noch,“ murmelte er und ging hinaus.

„Sie wundern sich über unser sonderbares Wesen,“ begann die alte Frau, „ich darf Ihnen aber jetzt den Grund wohl sagen, es geht Sie ja auch an. Der Fritz – Ist Ihnen schwach?“ fragte sie angstvoll. „Ach, Tone, ich hatte Anderes gewünscht, mein liebes Kind. – Es ist nun einmal so, Fritz liebt Ihre Schwester!“

Sie war ein Erbtheil vom Vater, diese Geistesgegenwart in der Noth. Die Ahnung des Glückes hatte mich schwach gemacht vorhin bis zur Ohnmacht; jetzt fuhr ich empor und sah das thränenumflossene alte Gesicht, dessen Augen angstvoll in den meinen forschten. Sie nahm meine Hand; sie hielt meine starre Miene wohl für Erstaunen.

„Ja, Sie wundern sich, Herzenskind,“ fuhr sie fort, während die Thränen ihr still auf den Wangen herabflossen; „ich habe mich auch gewundert, als ich es erfuhr. Wir standen und sahen Ihnen nach heute früh, und da sagte ich – warum sollen Sie es nicht erfahren? – Fritz, das ist ein Kind nach meinem Herzen. Da wurde er blaß und wandte sich rasch um; und als ich nachher in meinem Lehnstuhl saß und so zwischen fünf und sechs Uhr mein Dämmerstündchen hielt, da kam er und setzte sich auf die Estrade zu meinen Füßen, wie er als Junge gethan und nie mehr nachher, und da – die Liebe macht ja den Vernünftigsten zum Narren,“ fuhr sie fort, „ihm hat sie völlig den Sinn verdreht. Vom ersten Augenblick, da er die Lotte erblickt, sei er entschlossen gewesen, erzählte er; als sie den Schleier des Reisehütchens zurückgenommen, habe er gemeint, ein Blitzstrahl fahre vor ihm nieder. Anfänglich habe er sich wohl gesagt, es sei keine Frau für ihn, es wäre Unsinn, wenn er sie freite, aber jetzt sähe er es deutlich ein, ohne sie kein Leben! Ach Kind, was redet eine angstvolle Mutter nicht? Aber hole vom Himmel die Sternlein herunter und lege sie ihm zu Füßen er wird doch nur das Eine wollen – das Mädchen, das er liebt. Ach, ich weiß, wie es endet, Tone, er wird unglücklich, sehr unglücklich; aber er will nicht folgen.“

„Und glauben Sie, daß Lotte seine Neigung erwidert?“ fragte ich leise.


„Nein! Aber was schadet’s? Sie wird sein Weib werden aus – Berechnung.“

Ich schwieg. Mir kamen Lotte’s Worte in den Sinn. „Es ist ja so schrecklich, arm zu sein!“

„Ich will heimgehen,“ sagte ich und stand auf. Ich meinte zu ersticken. Frau Roden trocknete sich die Augen und half mir den Mantel umbinden

„Gutes, gutes Kind," sprach sie und strich mir über die Wange, „ich habe Sie sehr lieb, wir wollen zusammenhalten; ich habe eine Ahnung gehabt, daß mit Euch eine Aenderung in mein Leben kommen würde – aber so meinte ich es nicht.“

Als ich in den Flur trat, erblickte ich Fritz Roden im Mantel und Hut.

„Ich begleite Sie,“ sagte er, und wir gingen zusammen hinaus. Der Wind hatte sich gelegt, der Mond schaute aus schwarzen Wolken, und gespenstisch ragten die kahlen Aeste der Bäume in den Nachthimmel empor. Todtenstille lag über Haus und Garten, und unsagbar weh war mir zu Sinn. Ich schritt rasch vorwärts; nur allein sein mit meinem quälenden Schmerz! Nur allein!

„Tone," begann er da, „Sie wissen Alles – zürnen Sie mir?“

Zürnen, daß er Lotte liebte? Und dieses eine Wort zeigte meinen Wahn, mein thörichtes Hoffen im grellsten Lichte. Mich lieben, mich nur bemerken, wenn sie neben mir? – „Nein, wahrlich nicht!“ erwiderte ich bitter.

„Wollen Sie für mich bei ihr sprechen?“ fragte er. Und als ich schwieg, bat er dringend: „Ich kann es nicht, Tone; wenn sie mich ansieht unter den langen Wimpern hervor, dann ist’s vorbei. Ich bin blöde und ungeschickt; sagen Sie ihr, wie lieb ich sie habe, daß ich jeden ihrer Wünsche erfüllen will; sie soll den rauhen Boden des Lebens nie berühren, ich will sie auf meinen Armen darüber tragen, ich will Alles, Alles, Tone.“

Er hatte meine Hand ergriffen und zwang mich, stehen zu bleiben. Der Mond schien ihm voll ins Antlitz, und ich sah die ernsten lieben Augen und sah seinen zuckenden Mund. Und noch einmal wiederholte er mit bebender Stimme: „Alles, Tone!“

„Ich will es versuchen,“ sagte ich, kaum fähig zu sprechen.

„Ach, danke, Tone, danke!“ rief er und faßte meine Rechte. „Wenn Sie wüßten, welch schlaflose Nächte ich ihretwegen verbracht, welch eine Marterzeit ich durchlebt habe, seitdem ich das Mädchen gesehen! Hundertmal war ich auf dem Wege, mich Ihnen zu entdecken; – Sie lieben sie ja auch so zärtlich.“

„Ich muß heim,“ stammelte ich und zog meine Haud aus der seinen. Aber er faßte sie dennoch wieder.

„Lassen Sie mich nicht allzu lange auf Antwort warten,“ bat er, „sprechen Sie bald mit Lotte, heute noch,“ und ich fühlte, wie er zitterte. „ich bin sonst nicht so ein stürmischer Meusch, Tone, aber die Ungewißheit reißt an jedem Nerv – ich bin wie ein Gefolterter. Nicht wahr, Sie reden mit ihr, gleich, auf der Stelle?“

„Und wenn Lotte Ihre Liebe nicht erwidert?“

Er blickte mich starr an. „Das ist nicht möglich. Diese Neigung kann nicht einseitig sein, sie ist zu stark, zu ernst und wahr, Tone!“

Ich mochte wohl bitter aufgelacht haben, denn er forschte mißtrauisch in meinen Zügen. „Es klingt anmaßend, was ich sage, nicht wahr?“ fuhr er fort, „aber ich glaube genau zu wissen, daß Lotte mich nicht gleichgültig ansieht. Sie haben wohl nie darauf geachtet, Tone; es fühlt das auch nur der – – Aber nun gehen Sie, und seien Sie mein guter Engel!“

Er drückte noch einmal meine Hand. „Morgen früh schreiben Sie ein einziges Wort; die Ausgeherin kann es vorreichen bei uns. Gute Nacht!“

Ich tastete mich das dunkle Treppchen hinauf; aber dann war es, als versagten mir die Füße den Dienst, und ich setzte mich auf eine der Stufen und versuchte meiner tobenden Gedanken Herr zu werden. Das Erste, was ich empfand, war eine brennende Scham, das Gefühl einer tiefen Demüthigung. Wo hatte ich nur meine Gedanken gehabt, ich eitles, eingebildetes, thörichtes Geschöpf? Tag für Tag dieses kurzen Aufenthaltes hier durchlebte ich wieder, jedes Zusammensein mit ihm – und keinen Moment fand ich heraus, der mich berechtigte zu glauben, er liebe [67] mich! Um Lotte war er gekommen, um Lotte gegangen, für Lotte nur hatte er Augen gehabt; das, was für mich abfiel, das hatte ihrer Schwester gegolten, der treuen Pflegerin des Prinzeßchen. Ach Lotte, ich gönne Dir ein jedes Glück; nur dieses nicht! Nur dieses nicht!

Und nun sollte ich hinauf und für ihn sprechen bei ihr! Als ob das Schicksal mir den Trank noch bitterer machen wollte! Was hatte ich denn verbrochen, daß mir der liebe Gott von allen Rosen nur die Dornen gab?

So saß ich in der Kälte auf der Treppe; eisig die Füße, glühend der Kopf und die Hände geballt; ich hätte ersticken mögen vor Zorn und Weh und Scham, und ich fand weder Thränen noch Worte. Darum war ich hierher gekommen, darum? Endlich erhob ich mich, ein lähmendes Gefühl in allen Gliedern, und kam durch die Stille in unser Schlafzimmer. Am Plafond brannte die Ampel aus mattrothem Glase, ohne deren Licht Lotte nicht schlafen zu können behauptete, die sie mit tausend Thränen vor der Versteigerung gerettet hatte. Ein rosiger Schein erfüllte das Gemach, ließ das Deckengemälde in alter Frische aufleuchten und webte mild verschönernd über die Stuckguirlanden der Wände und

die alten Meubel meiner Mutter. Lautlos still war es hier innen; Lotte schlief. Sie lag in den weißen Kissen, die Haare, die ich ihr nicht wie sonst eingeflochten heut Abend, unordentlich über den Pfühl verstreut. So unhörbar athmete sie, daß man meinen konnte, es sei keine Spur von Leben in dem schönen Geschöpf.

Ich setzte mich an ihr Bett und wandte kein Auge von ihr; ich kam mir selbst unheimlich vor, wie ich sie so betrachtete. Sie sah freundlich aus im Schlafe, ein weicher Zug lag um den Mund, den sie sonst nur selten hatte; es war etwas in ihrem Gesichtchen, das mich rührte, wider Willen rührte. Was konnte sie für ihren Liebreiz? Was dafür, daß der große „Bär“ sich so rettungslos in sie verliebt, wie in jenem Märchen das Unthier in die Prinzessin? Es ist ihr Verhängniß, ihr Schicksal – ihr durfte ich nicht zürnen!

Und ihm? – Nein! flüsterte ich und sank neben der Schlafenden nieder. Niemand hatte mir weh gethan, nur ich allein trug die Schuld. Und da kamen die heißen Thränen, und wie ich sie mit Gewalt zu hemmen versuchte, klang es wie ein unterdrückter Schrei.

[86] Lotte fuhr jäh aus dem Schlafe und starrte mich entsetzt an, die ich, das Taschentuch gegen den Mund gedrückt, mich mit Gewalt zur Ruhe zwingen wollte. „Um Gotteswillen, Tone, was ist geschehen?“ rief sie und strich sich die wirren Haare aus den Schläfen.

„Nichts, Lotte, nichts; nur eine Bestellung habe ich für Dich, aber werde erst ruhig.“

„Eine Bestellung? – Hattest Du nicht geschrien?“.

„Ich stieß mich, Prinzeßchen; darf ich sprechen?“

„Das klingt ja so feierlich, Tone.“

„Es ist auch etwas Ernstes, Lotte.“

Nun wurde sie unruhig. „So rede doch!“ rief sie.

„Fritz Roden liebt Dich, Lotte, und bittet, Du möchtest seine Frau werden.“

Lotte sah mich einen Augenblick starr an, dann warf sie sich zurück und lachte, lachte, bis ihr die Thränen aus den Augen flossen. Wie das vom Herzen kam! So wie Lotte, so ansteckend, so echt und hübsch habe ich nie wieder lachen gehört. Ich schlang meine Arme um sie und lachte ebenfalls – aber mit brennendem Weh; es war ein trauriges Lachen.

„O Gott, o Gott, ich sterbe!“ rief sie endlich und trocknete die Augen.

Weißt Du denn nicht, daß er Dich liebt? Hast Du es nie bemerkt?“ fragte ich und barg mein Gesicht in ihre Hände.

„Ach, nun freilich. Er ist verliebt schon seit dem ersten Tage; ich müßte ja blind gewesen sein, hätte ich es nicht bemerkt. Aber daß er mich heirathen will, das ist so – so –“ und wieder brach sie in erstickendes Lachen aus.

„Aber da ist nichts zu lachen!“ rief ich empört und faßte ihre Schulter. „Lotte, sei ernsthaft, ich bitte Dich!“

Da wurde sie still und sah mich an.

„Wie siehst Du denn aus?“ fragte sie. „Weißt Du was – nimm Du ihn, bitte; ich – ich danke.“

„Liebst Du ihn denn nicht, Prinzeßchen, garnicht ein bischen?“ forschte ich. „Lotte, um des Himmels willen, sei ernsthaft! Meinst Du, es ist eine Rose, die Dir geboten wird? Es ist ein treues Herz, eine leidenschaftliche Liebe, das unbedingte Vertrauen eines ehrenhaften guten Menschen –“

„Ach, werde nur nicht sentimental,“ schmollte sie.

„Lotte,“ bat ich, „das ist doch keine Antwort! Ich will ja nur, daß Du überlegst. Niemals würde ich zureden, wenn ich nicht wüßte, er hat Dich lieb, wie nur ein Mann ein Mädchen lieb haben kann! Und daß Du ihn wieder lieben wirst, lieben mußt, denn er ist unbeschreiblich gut –“

„Ah bah! ’s ist ein Unsinn, Tone; schlaf wohl!“ unterbrach sie mich.

„Nein, nein, Lotte, versprich mir, daß Du, wenn Du Dich mit ihm verlobst, Dir alle Mühe geben willst, seine Liebe zu vergelten; nur mit diesem Vorsatz, Lotte, – sonst sag ihm ein ehrliches Nein. Er darf nicht unglücklich werden.“

„Wie tragisch!“ rief sie, „laß Dir nur den Schlaf nicht darüber vergehen. – Ich bin recht müde und habe heute schon genug über mich nachdenken müssen auf Großmamas Befehl.“

Sie schlang die Arme um meinen Hals und gab mir einen Kuß; und ehe ich noch mit meiner Toilette fertig war, schlief sie schon tief und fest.

Armer Fritz!

Ich that kein Auge zu in dieser Nacht; erst gegen Morgen kam der Schlummer, traumlos, aber schwer und beängstigend. Als ich erwachte, erblickte ich die Großmutter an meinem Bette.

„Bist Du krank, Tone? – Um Gotteswillen, werde nur nicht krank!“

„Ich bin ganz gesund,“ gab ich zurück, indem mir langsam die Erinnerung an das Gestern kam. „Ich stehe sogleich auf!“

„Ich hörte Dich stöhnen,“ antwortete sie, „ich bin schon so lange wach; ich habe mit Dir zu sprechen, Tone – schläft sie?“ forschte die alte Frau und deutete nach Lottes Bette.

„Ja, sie erwacht nie vor acht Uhr.“

„Erschrick nicht, Tone, ich habe einen Brief von Hans,“ flüsterte Großmutter.

„Wie geht es ihm? Was will er – was sagt er zu Papas Tode?“ fragte ich.

Großmutter hob den Kopf, strich sich nervös die weißen Haare zur Seite und raunte mir zu: „Schlecht, Tone, es geht ihm schlecht; er war krank und verlangt Geld, umgehend Geld, eine nicht unbedeutende Summe.“

„Krank? Ach, Großmama – und wir, wir haben nichts!“

„Nein, wir haben nichts,“ wiederholte sie, „ich kann ihm nicht helfen, und wenn er stirbt und verdirbt, wie er droht, so – muß er sterben und verderben; ich bin am Ende!“

Ich antwortete nicht, ich wußte, daß sie Recht hatte.

„Ich wollte Dich nur bitten, daß Lotte nichts erfährt; Du weißt, wie sie an ihm hängt. Sie würde sich bis zur Exaltation gehen lassen und, wie gesagt, es ist ihm ja doch nicht zu helfen.“

„Willst Du antworten, Großmama?“

„Nein!“ erwiderte sie.

„Wie viel verlangt Hans?“

„Achthundert Thaler! Er habe Gelegenheit, sich an einem Geschäft zu betheiligen, von dem er sich reichen Gewinn verspricht. Ich würde ihm ja gern diesen letzten Versuch ermöglichen, aber –“ sie zuckte die Schultern – „wo soll ich es herbekommen? Du mußt auch auf Lotte einwirken; sie war gestern Abend recht ungebärdig, sie kann sich noch immer nicht klar machen, daß wir für Luxusausgaben nichts mehr übrig haben. Da kam sie plötzlich und hatte einen langen Bestellzettel an die Düsseldorfer Firma geschrieben, lauter Malutensilien, ich glaube für beinahe [87] zehn Thaler. Ich schlug es ihr ab; da hat sie geweint, als sei ihr das Schlimmste widerfahren. Mit Hans seinem Unglücksbrief erhielt ich aber zu gleicher Zeit auch noch eine Rechnung von Gerson über ein neues schwarzes Kostüm, das sich Lotte bestellt hat und das heute eintreffen muß. Es ist wahrlich unnöthig für Rotenberg; ich weiß nicht, wie ich es bezahlen soll! Nun, es geht, so lange es geht!“

Sie zuckte die alten müden Schultern, wandte sich und ging hinaus.

Es giebt Tage, an denen man meint, es könne nicht hell werden. Zeiten, da man glaubt, die Sonne scheine nie wieder; wie ein Alp liegt das Dasein auf der wunden Seele. –

Ich stand auf und kleidete mich an. In der Küche rumorte schon die alte Ausgeherin; nun kam sie in das Vorderzimmer, und ich härte ihre Stimme:

„Fräulein! Fräulein Tone!“

Was war es doch, was sollte sie doch? Ach so – das Wort an Fritz Roden, das eine Wort, um das er gebeten – Ich hatte es nicht.

Vorsichtig wollte ich an Lottes Bette vorüber; da packte eine kleine Hand die Falten meines Kleides.

„Tone, einen Moment,“ bat die weiche Mädchenstimme.

„Was willst Du, Lotte?“

„Tone, ich habe furchtbar geträumt, aber ich weiß, das thut man zuweilen; ich wollte Dich jetzt nur fragen , hältst Du Fritz Roden für einen anständigen Charakter? Sag’s ehrlich, Tone – Du weißt, was ich darunter meine – großmüthig, in keiner Weise egoistisch und kleinlich, ein Kavalier?“

„O Gott, Lotte, frage mich nicht!“ bat ich. Ich hielt ihn ja für den Besten auf der Weltl

„Doch, antworte! Glaubst Du, daß er ein Gentleman ist?“

„Ja, das glaube ich,“ murmelte ich.

Sie schwieg und sah zu mir empor, das Antlitz weiß wie die Spitzen ihres Nachtjäckchens, erschreckend ernst das junge Gesicht.

„So laß ihn kommen,“ sagte sie und warf sich herum.

„Du wolltest?“ stotterte ich. „Lotte, liebst Du ihn denn wirklich, sonst – – Mein Gott, Lotte –“

„Ich will!“ klang es halb erstickt aus den Kissen zurück.

Fast schwindelnd trat ich in das Wohnzimmer. Die Frau stand noch dort und wartete auf Geld zum Einkaufen von Milch und Semmel. Ich riß ein Blättchen aus meinem Haushaltungsbuch, schrieb ein „Ja!“ darauf, knickte es und fügte die Adresse hinzu.

„Geben Sie es auf der Domaine ab an Herrn Roden, aber ihm selbst.“

Die Frau machte ein schlaues Gesicht und ging; an der Thür blieb sie stehen.

„Dann haben die Leute doch Recht,“ plapperte sie. „Na, ich spreche nicht darüber, Fräulein von Werthern.“

„Worüber?“

„Daß der Fritz Roden Ihr Schatz ist! Aber das muß wahr sein, er kriegt ’ne gute Frau. Wenn Sie Hochzeit halten, da gehe ich in die Kirche. Sie glauben’s nicht, Fräulein, aber Der hätte ’ne Jede kriegen können, die ganzen vornehmen Fräuleins sind ihm nachgelaufen; aber die Rodens haben sich immer etwas Apartes ausgesucht. Na, entschuldigen Sie nur, Fräulein, ich besorg’s schon.“

Sie ging. Ich hatte kein tadelndes Wort für die Dummdreistigkeit der Frau; ich schlug die Hände vor das Gesicht. Fritz Roden – mein Schatz! Ach, großer Gott.

Um elf Uhr war alles in Ordnung, den Freier zu empfangen. Großmutter saß im schwarzen Seidenkleid auf ihrem Lehnstuhl; sie hielt das Strickzeug in der Hand, aber die Nadeln rührten sich nicht: sie war noch immer starr ob der unerwarteten Thatsache, daß Fritz Roden und Charlotte Freiin von Werthern ein Paar werden sollten. „Die Lotte meint er, wirklich die Lotte?“ hatte sie mich schon dreimal gefragt.

„Ja, liebste Großmama!“

„Und sie will ihn? Lotte, Du willst Fritz Roden heirathen?“

„Ja!“ kam es zum wer weiß wievielten Male von den Lippen des Mädchens. Sie stand mit verschränkten Armen am Kachelofen, hatte die Schultern in die Höhe gezogen und sah aus, als ob sie fror, blaß und so eigen. Die prachtvollen Zöpfe, die sie sonst auf dem Rücken herabhängen ließ, hatte sie am Hinterkopf aufgesteckt. Sie machte den Eindruck, als sei sie um Jahre gealtert, und doch war sie wunderbar schön, schöner als ich sie je gekannt.

Als die bekannten Schritte auf der Treppe erklangen, ward sie noch um eine Schattirung bleicher; es war, als wollte sie davonlaufen; dann blieben ihre umherirrenden Blicke an einem Bilde hängen über dem Sofa – Hans in voller Uniform; eine große prächtige Photographie, die erst neuerdings bezahlt worden war von dem letzten Rest meines ersparten Taschengeldes. Sie schüttelte sich nervös und blieb.

Die Großmutter schritt zur Thür hinüber, und auf sein Klopfen öffnete sie selbst. In dem Augenblick, da er hereinkam, ging ich in das Schlafzimmer und zog die Thür hinter mir zu. Nichts hören! Nichts sehen! Nur allein – am liebsten todt! schrie es in mir. Konnte es möglich sein, konnte man solche Qualen erdulden und nicht vergehen? Und so stand ich und hörte das Sprechen, das gedämpft und undeutlich an mein Ohr schlug, hörte den bewegten Klang heraus, der gestern in seiner Stimme bebte; ich sah sein Gesicht vor mir, so ernst, so zuckend vor Bewegung, und ich hielt den Drücker der Balkonthür krampfhaft gefaßt und schaute hinaus in das winterlich öde Land, arm an Allem, sogar an Hoffnung!

Dann leise Schritte hinter mir. Sie war an meiner Seite plötzlich auf einen Stuhl gesunken. So sieht doch keine selige Braut aus!

„Geh mit,“ stotterte sie und packte meine Hand, „ich soll zu seiner Mutter.“

Sie sah mich so flehend an, ich konnte nicht widerstehen. Wir nahmen Hüte und Mäntel und kamen zusammen in das Wohnzimmer zurück. Er hielt Großmutters Hände und sprach. Ihn, den Stillen, hatte das Glück redselig gemacht; es waren Betheuerungen der innigsten Liebe und Dankbarkeit, und die alte Frauenhand strich uber den blonden Männerkopf: „Ich glaube Ihnen, lieber Roden, ich glaube Ihnen!“

Ich reichte ihm die Hand, aber ich konnte ihn nicht ansehen. Er flüsterte mir herzlichen Dank zu und drängte nun zum Aufbruch. „Meine Mutter wartet,“ sagte er.

„Tone kommt mit,“ erwiderte Lotte wie ein ängstliches Kind. Er schwieg; er hatte sich gefreut, allein mit ihr zu sein, aber sie zog mich an den Falten des Kleides nach, und so schritten wir Drei den langen mit Buchsbaum eingefaßten Weg hinunter. Er führte die schlanke Gestalt, die kaum die Fingerspitzen auf seinen Arm gelegt hatte. Am Hofthor zog sie die Hand zurück. „Es geht sich besser allein auf dem Pflaster.“

„O, thue mir den Gefallen!“ flehte er und bot den Arm aufs neue, „dort steht die Mutter am Fenster.“

Und nun gingen sie neben einander über den Hof, an den Ställen vorüber dem Wohnhause zu. Auf die Schwelle war Frau Roden getreten, als sich das junge Paar näherte. Die hellen Thränen rannen ihr aus den Augen, wie sie Lotte beide Hände entgegenstreckte. „Das walte Gott!“ sagte sie und zog das Mädchen an ihr Herz. Und als wir im Wohnzimmer standen, da sprach sie noch einmal: „Das walte Gott! Ach, machen Sie den Jungen glücklich, er ist mein Einziger – –“

Sie setzte sich in ihren Stuhl und schluchzte in das große Taschentuch laut und bitterlich. Lotte stand ruhig daneben. Sie und wir Alle mußten fühlen, daß die alte Frau an ihrer Fähigkeit, den Sohn zu beglücken, zweifelte. Zumal der Bräutigam empfand es bitter.

„Mutter!“ rief er fast streng.

Und nun trocknete sie die Augen, und um es gut zu machen, trippelte sie an den Schreibtisch und nahm aus einem Fach ein blitzendes Schmuckstück in Form eines Kreuzes, dessen Mitte ein sprühender Brillant bezeichnete.

„Das,“ sagte sie, und aus den Thränen leuchtete es freudig verschämt auf, „das schenkte mir mein guter Mann an unserem Verlobungstage; nehmen Sie es – möge es eine so herzlich glückliche Braut schmücken, wie ich es gewesen bin.“

Das schöne Mädchen hielt das funkelnde Kreuz in der Hand, ohne das geringste Zeichen von Bewegung; dann beugte sie sich, bot den Mund zum Kuß und stammelte einen Dank. Fritz Roden aber öffnete die Thür und rief in den Flur hinaus mit seiner Löwenstimme: „Heda, Leute! Mamsell, Rike, Minna! kommt [88] einmal herein!“ Und als das ganze Gesinde herzulief, bis auf die letzte Küchenmagd, die Knechte und den kleinen Stallbuben, da faßte er das Prinzeßchen um die feine Taille und sagte: „Da, seht meine Braut, ihr Leute! Morgen könnt Ihr die Verlobung feiern, die Mamsell mag sich einrichten dazu. Na, David, komm her und gieb mir die Hand. Als wir beiden Liebesleute uns zuerst gesehen, da hast Du uns gefahren; Du hast die Braut hereingeführt, und zur Trauung sollst Du uns wieder fahren! Nicht wahr, Lottchen?“

Ob sie an jenen Abend dachte? Und an ihre spöttischen Bemerkungen? Sie starrte über die Leute hinweg ins Leere hinaus und mählich stieg eine Purpurröthe in ihr Gesicht. Mit einer hastigen Neigung des Kopfes schien sie zu bejahen, dann wandte sie sich rasch. Fritz Roden mußte allein die glückwünschenden Händedrücke in Empfang nehmen, und sie stand am Fenster mit finster zusammengepreßten Lippen. In ihrer Haltung lag etwas Ungeduldiges, als möchte sie eine Last von den Schultern werfen.




Zwei Wochen waren vergangen seit jenem Verlobungstage; eine wunderbare Spanne Zeit! Wie Blei lag es auf allen Gemüthern; das einzig Strahlende waren Fritz’ Augen. Jeden Tag um fünf Uhr erschien er bei uns und blieb bis zum Abend. Gewöhnlich hatte er beim Eintreten die linke Hand, die ein Päckchen trug, auf dem Rücken versteckt, um dasselbe mit glücklichem Lächeln und möglichst unbemerkt in Lotte’s Arbeitskörbchen zu verbergen oder ihr unversehens in den Schoß zu legen. Es waren wunderliche Präsente mitunter, wie sie eben ein Mensch, der à tout prix schenken will, in einer kleinen Stadt aufzutreiben vermag; elegante Papeterien mit bemalten Briefbogen, Arbeitstaschen mit unbrauchbaren Scheren und Fingerhüten, die viel zu groß waren für Lotte’s Fingerchen, Parfüms, die geradezu schrecklich rochen, und dann mal wieder ein köstlich duftender Veilchenstrauß, der wohlthuend abstach gegen die anderen Sachen. Ich konnte mich nie entschließen, Lotte beim Empfange dieser Gaben anzusehen, sie paßten so ganz und gar nicht für sie, und doch waren sie alle freudig gegeben, mit so inniger Liebe ausgesucht, daß ich sie um jede einzelne beneidete.


Sie stellte sie alle mit einander in einen großen Kommodenkasten, den sie eigens zu diesem Zwecke leerte. Und sie konnte seinen fragenden zärtlichen Blicken mit einer Konsequenz ausweichen, die bei ihrem sonst so lebhaften Augen- und Mienenspiel zu einer förmlichen Leistung der Selbstbeherrschung wurde. Ueberhaupt war sie stiller geworden und hatte ein stolzes Wesen angenommen, das einen minder begeisterten Bräutigam, als Fritz Roden, schon nach drei Tagen zur Verzweiflung gebracht haben würde, womit sie ihn aber so unbemerkt lenkte, als sei er eine ihrer Puppen vom Kindertheater, die sie an seidenen Fädchen tanzen ließ. Nie nahm sie seinen Arm, wenn wir spazieren gingen, und sie hatte sanft, aber bestimmt abgelehnt, Besuche bei den Honoratioren zu machen, weil – sie noch in zu tiefer Trauer sei.

Er ließ es gelten, er ließ eben Alles gelten. Er kam nicht mehr in Stulpenstiefeln, weil sie geäußert hatte, er sehe aus wie ein Verwalter; er trug keine bunten Kravatten mehr, weil sie behauptete, es sei unfein. Er hatte ein langes Schreiben an die Domainenverwaltung gerichtet mit der Bitte, ihm den völligen Ausbau der oberen Etage des Gutshauses zu gestatten, und er wollte ihr künftiges Zimmerchen hellblau dekoriren, weil ihr das reizeud stehen müsse und weil doch Blau ihre Lieblingsfarbe sei.

Großmutter saß apathisch dabei. Sie hatte sich sehr verändert, die alte Frau, gleichsam als ob die Folgen der traurigen Schicksale sich geltend machten, nun die Aufregung vorüber. Sie war zusammengesunken, geistig und körperlich. Frau Roden kam zuweilen mit dem Sohne, und dann blieben die beiden alten Damen in Großmutters Stube und sprachen von längst vergangenen Zeiten; Fritz saß der Lotte gegenüber, und ich allein an meinem Nähtische.

Nun war es dicht vor Weihnacht, ein häßlicher regnerischer Tag. Lotte hatte die Arme über einander geschlagen und sah zum Fenster hinaus; sie wandte dem Bräutigam das Profil zu, und er schien gänzlich in ihren Anblick versunken. Keiner sprach ein Wort.

Endlich wendete sie sich. „Nicht wahr, Fritz,“ sagte sie ganz unvermittelt „Du bist ein sehr wohlhabender Mann?“

Er stutzte und lachte und reichte ihr die Hand. „Nun, Prinzeßchen, wir haben schon zu leben.“

„Ich will Dich etwas fragen,“ sprach sie weiter, „aber Tone soll es nicht hören.“

Ich stand auf und ging hinaus. „Ich werde unterdeß für den Kaffee sorgen,“ sagte ich freundlich.

Nach einer Viertelstunde kam ich in das Schlafzimmer und sah die Thür geöffnet nach der Wohnstube; im Begriff zu schließen, hörte ich Fritz sagen:

„Alles was Du willst, Lotte – das nicht! Es wäre ein Leichtsinn.“

Nach einer Weile kam Lotte herein, ging vor den Spiegel und ordnete die Löckchen; ich sah, wie ihre Hände zitterten und wie dunkelrothe Flecke auf ihren Wangen brannten.

„Tone,“ sagte sie, „wir glaubten doch einmal, er wäre ein Gentleman? Wir haben uns Beide geirrt.“ Mit einem heftigen Ruck stieß sie den Toilettekasten zu und nahm Hut und Mantel, „ich komme bald zurück, Tone; übernimm Du derweilen die Unterhaltung meines Bräutigams.“ Und fort war sie.

Als ich ganz bestürzt in das Zimmer zurückkehrte, fand ich ihn vor den Familienbildern und mit zusammengezogenen Brauen Hans betrachtend.

„Wo ist Lotte?“ forschte er.

„Ausgegangen, Fritz. Wußten Sie es nicht?“

„Nein!“ Er schien unruhig. „Sie hat mir etwas übel genommen,“ setzte er hinzu. „Wissen Sie, wohin der kleine Trotzkopf gelaufen ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Sie wird bald wiederkommen.“

„Nun ich werde versucheu, sie einzufangen,“ meinte er ruhig und ging ebenfalls. Aber es gelang ihm nicht; sie kam allein zurück.

„Wo bist Du gewesen, Lotte?“ fragte ich.

„Da draußen – ein wenig herum,“ war die Antwort.

Nach einer kleinen Weile kam auch Fritz Roden, Er trug wie immer ein Paket in der Hand, legte es neben Lotte’s Tasse und sah sie bittend an. Aber, siehe da! zum ersten Male war die Liebesgabe für sie gar nicht vorhanden; nicht einmal aus Versehen streifte sie ihr Blick, so dicht sie sich auch neben der Tasse befand.

„Nicht trotzen, Prinzeßchen!“ sagte er endlich scherzend.

Sie sah ihn groß an; eine namenlose Verachtung lag in dem Blicke. „O nein,“ sprach sie, „aber ich möchte Dich nicht zum Leichtsinn verleiten – ich nehme nichts wieder.“

Er lachte herzlich auf. „Lotte,“ rief er, „das war so recht wie ein Weib gesprochen, dem man einen Wunsch versagen mußte. Ihr Mädchen und Frauen seid kostbar in Eurem Gekränktsein! Sieh mal, Schatz, es sind Pralinées von Suchard, und die kleine niedliche Bonbonnière dazu.“ Er hatte das Paket geöffnet und hielt ihr die Schachtel hin.

„Ich bin kein Kind – ich danke!“ erwiderte sie, nahm einen frischen Zwieback und biß hinein, daß er zersplitterte.

„Soll ich fortgehen?“ fragte er, noch immer heiter.

„O bitte!“ erwiderte sie mit einer graziösen Handbewegung nach der Thür. – Es wäre allerliebst gewesen, hätte sie dazu gelacht. So mußte es verletzen.

Fritz Roden sprang auf. „Dann lebe wohl und besinne Dich eines Bessern.“

Sie erhob sich ebenfalls. „Adieu!“

An der Thür zögerte er: Aerger und Lachen kämpften in seinem Gesichte. Er kam nochmals zurück, hob ihr Kinn sanft in die Höhe und fragte: „Haben wir uns lieb – oder nicht, Lotte?“

„Ich glaube. es verlohnt sich, darüber nachzudenken,“ erwiderte sie.

„Lotte!“ rief er erschreckt. Aber sie entschlüpfte ihm und lief in die Schlafstube. Er stand noch ein Weilchen, dann ging er und vergaß, mir Adieu zu sagen. – –

Mir war die Scene völlig unverständlich. „Lotte,“ sagte ich und kam ihr nach, „ich will mich nicht in Eure Angelegenheiten mischen, aber es war nicht recht von Dir, ihn so zu verabschieden!“

„O, Der!“ klang es verächtlich. Sie saß vor dem winzigen Ofen, hatte die Füße gegen den Vorsprung der Thür gestemmt und ließ den Schein der Flamme uber die zierlichen Stiefeletten [90] spielen. Es war tief dämmerig in dem Raume, ich konnte ihre Gesichtszüge nicht mehr unterscheiden.

„Ach, Lotte!“ bat ich.

„Ich habe geglaubt, eine Stütze würde er für uns sein,“ sprach sie, „habe gemeint, er könne uns aus unserem Elende emporheben – was hat es mich gekostet, ehe ich es vermochte zu ihm zu sprechen! Und was antwortet er mir nach allen Liebesbetheuerungen, nach der Versicherung, daß ein jeder Wunsch von mir Befehl für ihn?“ Und nun kopirte sie seine Stimme: „‚Nein, mein Kind, das verstehst Du nicht, bitte mich darum nicht!‘ – Gott im Himmel, Tone, ich bin mir vorgekommen wie eine Bettlerin, die man mit den Hunden vom Hofe jagt.“

„Er ist doch so vernünftig, Prinzeßchen: wenn er Dir etwas abschlug, war es zu Deinem Besten.“

„O ja, sehr vernünftig!“ klang es schneidend. „Aber diese Vernunft ist kalt wie Eis, man erfriert dabei. Rasches, warmes, leidenschaftliches Thun; ein Handeln, daß die Linke nicht weiß, was die Rechte giebt, ein Funke von Edelmuth – Du suchst ihn vergebens bei diesen Menschen, die ihr Leben verbracht haben, wie der Wurm im mehligen Körnlein. Ach, und an solchen Philister mußte ich gerathen!“

„Jetzt sage, was hat es gegeben?“

„O, Du wirst mich ja auch nicht verstehen. Hans will Geld„ muß Geld haben, oder er ist verloren.“

„Um Gotteswillen!“ rief ich, „Du hast ihn um – – für Hans – gebeten?“

„Ja, denn er steht mir am nächsten, und ich habe ihn am liebsten auf der Welt. Dein Gespräch mit der Großmutter habe ich angehört, am Verlobungsmorgen und –“ sie stockte – „aber ich hätte noch nichts gesagt, noch nicht; gestern Abend indeß, da erhielt ich einen Brief von Hans, und ich weiß nun, daß er dem Elend, dem Verderben anheim gegeben ist, wenn man ihm nicht hilft, bald hilft. Da,“ ihre Stimme war fast schrill, „da bat ich ihn, dem Hans zu helfen. Und er – er setzte sich aufs hohe Pferd; sprach davon, daß er für mich und Euch Alles thun wollte, daß er aber nicht leichtsinnig genug wäre, sein Geld auf die Art ins Wasser zu werfen, und daß man Hans nichts nützen, sondern ihm schaden würde, denn nur Elend, Hunger und Kummer könnten solche Natur zum ordentlichen Menschen machen, zu sich selbst zurückführen. O, er sprach sehr schön, sehr vernünftig und bürgerlich brav, aber er nahm dabei die Larve vom Gesicht, und ich sah in die Züge eines armseligen kleinlichen Menschen. Erbärmlichkeit – und kein Ende!“

„Nein!“ rief ich, „Lotte, Du übertreibst! Nein, er hat Recht, glaube mir, dem Hans hilft kein Geld, er würde es dort wie hier in einer Stunde verspielen. Habe Achtung vor dem Besitz, daran Arbeit und treue Pflichterfüllung hängen – das Geld wäre in einen Abgrund geworfen.“

Sie nahm die Kohlenzange und stieß sie in die Gluth, dann sprang sie auf und rang die Hände in einander. „Tone, ich glaube, ich hasse –“

Sie verstummte jäh, denn eben klopfte es an die Vorderthür. Ich ging hinüber, öffnete und erblickte den jungen Kutscher: er hielt ein Schreiben in der Hand und lachte verschmitzt.

„Für die Braut unseres Herrn,“ sagte er.

ich zündete ein Licht an, nahm das Schreiben und ging zu Lotte. Sie wußte kaum, sollte sie zugreifen oder nicht. Dann nahm sie es zögernd, öffnete das Kouvert und zog einen Brief hervor. Eine Postquittung über hundert Thaler lag darin, als Absender war Lotte vermerkt. Blaß wie der Tod ward sie, und hastig legte sie den Zettel auf die Kommode, an welcher sie stand. „Außerordentlich gütig!“ flüsterte sie ironisch. Nach mehreren Minuten erst las sie den begleitenden Brief und reichte ihn mir dann. Auch jetzt noch Moralpredigt,“ sagte sie und wandte sich ab. Fritz Roden aber schrieb:

„Ich kann Dich nicht traurig wissen oder mir zürnend, und zudem war es Deine erste Bitte an mich, mein Liebling. So habe ich denn, Deines Bruders augenblickliche Verlegenheit zu mindern, hundert Thaler an ihn gesandt. Mit derselben Post geht ein Brief an einen mir befreundeten Herrn in New-York ab, die Bitte enthaltend, sofort den Herrn Hans von Werthern im Spitale aufzusuchen, mit ihm über seine Zukunftspläne zu reden und mir umgehend das Resultat mitzutheilen. Meiner Hilfe bei günstigem Bescheid ist er sicher. Ich hoffe, Dir bewiesen zu haben, daß ich nicht so engherzig denke, wie Du anzunehmen scheinst; leichtgläubig und allzu vertrauend bin ich freilich nicht, ich kenne immer gern den Boden, auf den ich meinen Fuß setzen muß.

Und nun sei diese Angelegenheit abgethan, und ich bitte Dich, bei unserem morgenden Wiedersehen sie nicht zu berühren. Schlaf wohl, mein Lieb, und sei gut Deinem Fritz.“ 

Ich sah zu ihr hinüber und wunderte mich, daß sie nicht schon längst auf dem Wege war, ihm zu danken. Aber sie stand noch immer unbeweglich, und als sie sich endlich umwandte, war ihr schönes Gesicht so gleichgültig wie immer. Sie setzte sich zum Lampenlicht, nahm ein Buch und las.

[101] Von dem Kopieren der Bilder war keine Rede mehr gewesen seit Lotte’s Verlobung; auch jetzt nicht. Es schien, als möchte sie die Staffelei nicht mehr sehen. Sie saß meistens, den Ellenbogen auf dem Fensterbrett, den Kopf in die Hand gestützt, in tiefen Gedanken; eine völlige Schlaffheit schien über sie gekommen. Im Nebenzimmer aber lag die Großmutter zu Bette. Sie war nicht eigentlich krank, „nur müde,“ sagte sie. Ich ging von Lotte zu Großmutter und von Großmutter zu Lotte, mit bangem Herzen forschend und fragend; und die alte lebensmüde Frau lächelte und bat mich, Geduld mit ihr zu haben. Aber die junge Braut sah verdrießlich und lebensmüde aus und wies mich unfreundlich zurück.

Zuweilen wurde sie merkwürdig lustig, die Lotte und begann ihr späteres Leben auszumalen mit tollem spöttischen Humor. Und dann setzte sie hinzu: „Ich kann das ja, ich bekomme ja einen steinreichen generösen Mann; in meinen Kaffees gebe ich noch eine Torte mehr als die Frau Superintendentin, und der Brokat zu meinem Kleide soll einen Thaler mehr kosten, als derjenige der Frau Postdirektorin, ich kann es ja.“ Und traf er sie in solcher Stimmung, dann ließ sie sich großmüthig von ihm in die Arme schließen und zupfte ihn am Bart, nannte ihn „ihren großen Friedrich“ und versetzte ihn mit tausenderlei Schnaken und Schnurren in den siebenten Himmel.

Meistens aber war sie still und einsilbig, bis zur Unerträglichkeit schlecht gelaunt, und der guten Stunden wurden immer weniger.

„Aber, um Gotteswillen, Tone, was ist’s mit der Lotte?“ fragte mich der halbverzweifelte Bräutigam, „was drückt sie? Was verstimmt sie so? Vielleicht vertraut sie es Ihnen an!“

Ich schüttelte den Kopf und log: „Ich weiß es nicht!“ Und ich glaubte doch es zu wissen, sie fühlte sich bedrückt, ihm verpflichtet zu sein; bedrückt, ihn verkannt zu haben; oder – ja, ich wußte es am Ende doch nicht?

Und Weihnacht kam und ging vorüber und hatte wahre Schätze in Lottes Schoß geworfen. Rührend war es, wie Fritz ihre Wünsche zu erforschen gesucht, wie er nichts unterlassen, um ihr ein Lächeln abzugewinnen, und sie, sie hatte buchstäblich nichts für ihn. Unser Zureden, sie solle eine, wenn auch noch so kleine, Arbeit schenken, war vergeblich gewesen. Wir bekamen stets die nämliche Antwort. „Laßt mich! Sollt ich ihm etwa ein Paar Morgenschuhe sticken, wie die Rieke ihrem David? Laßt mich – wir sind ja so arm.“ Sie rührte auch die Sachen nicht an, die sie bekommen; es wurde Alles wohlverwahrt zu dem Andern in Schrank und Kommode gethan; sie trug nichts, sie benutzte nichts.

„Lotte,“ bat ich, „kränke ihn nicht so furchtbar; von dem Manne, dessen Frau Du wirst, kannst Du doch ein Geschenk tragen? Es sieht ja aus, als wolltest Du über kurz oder lang das Verhältniß lösen!“

„O nein,“ erwiderte sie, „ich könnte es ja gar nicht; aber überlaß mich doch mir selbst, quäle mich nicht; – was thue ich denn?“

„Prinzeßchen,“ begann ich aufs Neue, „sei ehrlich, um Gotteswillen, sei ehrlich! Wenn Du ihn nicht liebst – noch ist es nicht zu spät –.“

„Quäle mich nicht!“ wiederholte sie trotzig, „und sorge Dich nicht um mich. Ich werde wissen, woher und wohin!“

Und in nächster Nähe schlug ein Herz in ehrlichem hellen Zorn, das hatte mit dem Instinkt der Mutterliebe herausgefühlt, daß ihr Kind leiden mußte.

„Tone, Tone!“ sagte erbittert die alte Frau auf der Domaine, „sie liebt ihn nicht! Was soll das für eine Ehe werden! Und wäre er noch so vernarrt in das schöne Lärvchen, einmal kommt er zur Einsicht. Ach, Tone, womit hat der Junge das verdient?“

Und sie trocknete verstohlen die Thränen, denn der „Junge“ durfte sie nicht weinen sehen. Und sie wollte auch nichts wieder dazu sagen, versicherte sie, denn als sie mit zagendem Finger an sein Herz gerührt, da war ihm die Zornader mächtig geschwollen und er außer sich gerathen. So, wie seine Lotte wäre, so sei sie ihm gerade recht! Er allein habe mit dem Prinzeßchen zu hausen später; beim Heirathen solle man die Worte sparen, zwei gehörten dazu, und nicht mehr –!

„Er ist in seinem Leben noch nicht so heftig geworden, Tone,“ schloß die Mutter, „er kam auch nachher gleich und fiel mir um den Hals, aber eben die Heftigkeit! Er schrie nur so laut, um seine innere Angst zu betäuben; ich weiß es, ich kenne ihn.“

So ging die Zeit hin. Das neue Jahr, das große Jahr 1870 war angebrochen; noch ahnte Niemand den Sturm, der daherbrausen sollte in gewaltiger wunderbarer Herrlichkeit. – In unserem kleinen Erdenwinkel schien die Zeit stille zu stehen: mit Schnee und Eis zogen Januar und Februar vorüber, und der März thaute den winterlichen Schmuck hinweg von unseren Bergen und lockte die Veilchen hervor im Domainengarten; da ging im warmen Sonnenschein Lotte an der Mauer hin und sammelte die kleinen duftenden Lenzesboten. Auf dem Balkon saß Großmama sorgfältig in Kissen verpackt, und athmete die warme Luft. Braune dicke Knospen schwollen an den feinen Aestchen der Bäume, hier und da schimmerte ein voreiliges Sträuchlein schon im hellsten Smaragd, und von weit her leuchtete das junge Grün der Saaten so hoffnungsfreudig in das verzagte Herz.

„Ich weiß nicht,“ sagte die alte Frau und blickte mich an, die ich ihr gegenüber saß, „sehe ich nur so schlecht, oder hast Du Dich so verändert? Wo ist Dein rundes Gesicht geblieben?“

„Ich bin ganz wohl, Großmütterchen; aber Lotte sieht schlecht aus.“

Ich schaute dem Mädchen nach, wie sie langsam an der sonnigen Wand hinschritt, sich bückte und emporrichtete und wieder bückte; und nun stand sie hochaufgerichtet und sah gradeaus, und Schnips begann sich in rasenden Galopp zu setzen und sprang bald darauf an Fritz empor, der rasch auf seine Braut zueilte. Sie gab ihm die Hand, senkte den Kopf, ließ ihn den Arm um ihre Taille legen und war genau so apathisch wie alle Tage.

Er sprach eifrig, ich hörte seine Stimme bis hier herüber, ohne die Worte zu verstehen. Sie lauschte geduldig, nahm ihre schwarze Schleppe empor; und langsam wandelnd kamen sie auf das Haus zu.

„Nein, das geht nicht länger so,“ hörte ich ihn sagen, als sie in die Thür traten. Einen Augenblick später waren sie im Vorderzimmer angelangt, und ich eilte hinüber, ihn zu begrüßen. Er sah roth und erregt aus und strich sich hastig über den Bart, wie er immer that, wenn ihn etwas lebhaft beschäftigte.

„Es geht nicht länger so,“ wiederholte er, mir die Hand gebend. „Irgend etwas muß geschehen, Tone; stehen Sie mir bei, rathen Sie, helfen Sie mir Lotte überzeugen, daß es das Beste ist, wenn wir im Mai Hochzeit machen.“

Sie hatte theilnahmlos neben ihm gestanden. Als er bei diesen Worten ihre Hand faßte, zog sie dieselbe rasch zurück und eine Purpurgluth schoß in ihr bleiches Gesicht. Aber sie antwortete nicht, sie zuckte nur schweigend die Schultern.

Er wurde ebenfalls um einen Schein röther.

„Aber worauf sollen wir denn noch warten?“ fragte er. „Sieh, ich kann Dich nicht so sehen, so traurig, so müßig. Alles, was Dich sonst gefreut hat, interessirt Dich nicht mehr. Du liest nicht, Du spielst nicht Klavier, Du malst nicht einmal mehr! – Wenn wir im Mai heirathen, könnten wir reisen; Du hast einmal gesagt, Du möchtest den Rhein sehen – gut, gehen wir dorthin. Lebe wieder auf, werde frisch wie sonst, Liebling! Nicht wahr, Tone?“

Aber sie, der er am liebsten die Hände unter die kleinen Füße gebreitet hätte, sie blieb abermals stumm.

„Nun sage Ja!“ schmeichelte er. „Drüben ist Alles in Ordnung, um Dich zu empfangen; die letzte Einrichtung besorgen Mutter und Schwester Tone; glaube nur, sie machen es uns behaglich. Und wenn wir zurückkommen, just um die Erntezeit, da ist’s so kühl und schön in unseren Bergen. Nun sage: Ja!“

[102] Er hatte halb scherzend gesprochen, aber in seinen Zügen spiegelte sich eine tiefe innere Bewegung.

Aber Lotte sagte nicht: „Ja!“ Sie hatte sich abgewandt und schaute zum Fenster hinaus, auf die grell beleuchteten Schloßwände, und nach einer langen Pause sprach sie, ohne sich umzuwenden:

„So rasch entscheide ich mich nicht; noch ist Papa kein Jahr todt.“

Er sah mich groß an; es lag etwas wie Angst und Enttäuschung in seinem Blick. Doch mit keinem Worte drang er mehr in sie.

Wie erleichtert kam das Mädchen vom Fenster zurück.

„Ich will wieder malen,“ sagte sie fröhlich, „ich will doch endlich die Erlaubniß benutzen und da drüben kopiren; in dem gelben Zimmer ist ein Stillleben, es hat mir sehr gefallen. Ich will hinübergehen und fragen, ob ich morgen beginnen kann.“ Und sie trat vor den schweigenden, finster blickenden Mann und faßte ihn an den Rockkragen. „Keine Gletscher, Friedrich – ein Stillleben; und wenn Du willst, so kannst Du es haben, wenn es fertig ist.“

Es war seit langer Zeit das erste Mal, vielleicht überhaupt das erste Mal, daß sie so zu ihm sprach. Er vergaß, daß sie in kindischer Weise die Vereinigung mit ihm ins Ungewisse hinausschob, vergaß Alles über ihre unerwartete Freundlichkeit; ein glückliches Leuchten ging über sein Gesicht.

„Ja!“ sagte er. „Male das Stillleben – bald, mein Liebling!“

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Mit wahrem Feuereifer begann Lotte ihre Wanderungen nach dem Schlosse. Dort drüben im gelben Zimmer waren die Vorhänge zurückgezogen, und zuweilen trat sie ans Fenster, die Leinwandschürze vorgebunden, und grüßte herüber. Es kam mir vor, als hätten sich ihre Züge wieder belebt; sie plauderte bei Tische und sah nicht mehr so lange starr auf einen Fleck wie sonst. Das alte reizende Lächeln, halb schelmisch – halb mokant, spielte, wenn auch nur schwach, um den Mund; wenn sie aber auf Fritz’ Wunsch den Nachmittag oder Abend bei seiner Mutter zubrachte, kam sie immer bleich zurück und klagte über Abspannung. Sie unterdrückte überhaupt nur mit Mühe einen Gähnkrampf in der Nähe der alten Frau; sie waren doch auch allesammt zu entsetzlich prosaisch und spießbürgerlich! –

Die alte Dame kannte keinen der neuen Romane, hatte keine Ahnung von Offenbach’s „Pariser Leben“, dafür stand auf ihrem Bücherbördchen neben Schiller, Goethe und Lessing ein Buch, betitelt: „Der Schutzgeist edler Weiblichkeit“, mit goldenen Regeln für Jungfrau und Weib. Lotte hatte es einmal hervorgezogen und sich über den „altmodischen“ Inhalt fast todtgelacht. Das nahm die alte Dame natürlich übel, und Fritz war in eine häßliche Lage gerathen, da jede sich bei ihm beklagte. – Die einfachen Lieder, welche die alte Frau zum Klavier gesungen in ihrer Jugend, wurden mitleidig freundlich betrachtet, und drei Tage hinter einander nannte Lotte ihre künftige Schwiegermutter immer nur „den guten Mond“, weil sie ihr freundlich mittheilsam erzählte, als sie Braut gewesen, habe sie das Lied so gern gesungen: „Guter Mond, du gehst so stille –“. Die Offenbach’schen Melodien aber, die Lotte zuweilen in Erinnerung an verschwundene schöne Stunden spielte, erklärte die alte Frau für nichtssagende Dudeleien, und legte ihr Beethoven’s Sonaten hin, worauf Lotte natürlich nicht reagirte. Ja, das Prinzeßchen langweilte sich grenzenlos, sie verstand nicht, jene oft mühsam errungene Zufriedenheit eines Menschenherzens zu schätzen, das in Arbeit und Mühe alt geworden und voll Stolz auf ein ehrenhaftes Leben zu blicken vermag. Es war einfach „spießig“ nach ihren Begriffen.

Und da drüben in der großen Giebelstube des Gutshauses saßen vier Nähterinnen und schafften an der Aussteuer.

„Kinder, ich bitte Euch,“ hatte die alte prächtige Frau eines Tages gesagt, „beschafft kein Leinenzeug: bei mir liegt es bergehoch in Spinden und Truhen, es wäre die reine Verschwendung! Der Fritz ist mein einziger, und von Großmutter Zeiten her ist für Viele gespart; seit drei Generationen hatten die Rodens keine Tochter auszustatten, es waren immer nur Söhne im Hause. Ein wahrer Segen, daß endlich einmal das Zeug ans Tageslicht kommt.“ – Und da häufte sich nun das köstlichste Linnen, der wundervollste Damast zu hohen Paketen auf und in der Ecke prangte der Name C. v. W. „Denn,“ raunte mir die alte Dame zu, „es braucht Niemand zu wissen, daß es die Lotte nicht mitbringt; die Leute sind so wunderlich hier, sie reden darum. Ich sagte, ihr hättet drüben keinen Platz für die Nätherin.“

Aber Lotte bemerkte das gar nicht. Sie stand nicht wie eine dankbare Tochter vor der alten Frau; das Mädchen mit den völlig leeren Händen, das nicht einen Heller sein nannte, um die Aussteuer zu kaufen, es fand kein Wort des Dankes für soviel Zartgefühl. Nach ihren Begriffen war es auch nur der andere Theil, der zu danken hatte – sie ließ sich herab. Sie warf den schönen Kopf in den Nacken zurück und streifte gleichgültigen Auges diese Schätze.

Vom Hans, von jenem Abend, war nie wieder die Rede gewesen; wohl aber erfuhr ich, daß Fritz Roden, auf einen Brief seines Freundes, die damals gewünschte Summe an Hans abgesendet hatte. Eine Antwort war nicht erfolgt. Ich mochte nicht daran rühren, ich schämte mich dieser Bettelei; und sie hatte den Namen des Bruders nie wieder genannt.

Das Frühjahr schwebte auf leisen, duftenden Schwingen über das Land und brachte die alte, ewig neue Lust – Vogelsang, Blüthenbäume und hoffnungsfrisches köstliches Grün, und an einem warmen duftigen Morgen zu Ende April schlug vor unserm Zimmerfenster die erste Nachtigall. Ich weiß nicht, warum ich weinen mußte; ob es die Ahnung war von dem, was kommen sollte; ob es das Bewußtsein machte, daß Lenz und Glück für Alle erschien, nur für mich nicht?

Ich führte ein seltsames Leben in jener Zeit; ich fühlte sozusagen nichts mehr. Ich wußte, daß mein Leben verrinnen würde wie ein träger Bach zwischen reizlosen Ufern, in Sorge und Arbeit, und der Gedanke macht so still, so müde und stumpf. Ich sah die alte Frau im Sorgenstuhl und dachte nach über die unendliche Spanne Zeit, die mich noch von ihrem Alter trennte; und dann betete ich: laß mich nicht so alt werden, großer Gott! Es ist ein furchtbares Geschick, zii leben, wie ich lebte! Das Einzige, was mich noch beunruhigte, war das ernste Gesicht von Fritz Roden. Er ist auch nicht glücklich, dachte ich dann, aber er kämpft, er kann noch ringen; bei mir ist Stille, ist Alles vorüber!

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„Willst Du Dir einmal ansehen, Tone, wie weit mein Bild gediehen ist?“ fragte Lotte eines Morgens, als sie im Begriff war hinüberzugehen. „Komme doch nachher und hole mich ab; es ist dort noch sonst allerhand Schönes zu sehen, die ganze wunderliche üppige Einrichtung aus der Zeit des ersten Napoleon, und Anita erklärt Alles ganz originell; es ist doch einmal etwas Anderes in diesem monotonen Einerlei. – Oder bist Du etwa zu sehr beschäftigt mit den Toilettevorbereitungen für das Souper auf der Domaine, von dem man sich diesmal nicht loskaufen konnte? Denn – o großer Triumph! – die Gesellschaft von Rotenberg soll und will endlich die künftige Frau Roden kennen lernen.“

„Für mich nicht, Lotte,“ erwiderte ich. „Ich habe mein schwarzseidenes Kleid, aber für Dich möchte ich etwas zurechtstellen; ich denke, Du nimmst Deine weiße Kachemirtoilette; als Braut und Hauptperson mußt Du Dich schön machen, Prinzeßchen. Ich wollte Dir, anstatt der blauen Bänder, schwarze Sammetschleifen daran heften.“

Sie antwortete nicht, aber zwischen den feinen Brauen zeigte sich eine verdrießliche Falte.

„Kommst Du?“ fragte sie ausweichend.

„Ja, Lotte. Du hast Recht, ich kenne die Räume nicht, in denen Du so oft jetzt bist. Ich komme so gegen halb Zwölf, dann schläft Großmama.“

„Du klingelst also am Hauptportale, Tone, und wenn die Thür aufspringt, gehst Du die Treppe hinauf, öffnest rechter Hand die mit Glasscheiben versehene Thür und biegst in den langen Korridor ein, rechts die siebente Thür ist es. Adieu, auf Wiedersehen.“

Gegen halb zwölf Uhr war ich mit der Toilette des Prinzeßchen fertig; eine elegante Robe, aus gelblich weißem Kachemir und Seidenatlas zusammengestellt. Sie hatte das Kleid getragen zu einem Bazar im Palais des russischen Botschafters, um dort [103] Blumensträuße zu verkaufen; das letzte Mal, wo das Leben all seinen Glanz und Schimmer um sie verbreitete. Ich schrak zusammen, so fremd kam mir die Gegenwart vor; man kann sich durch eine Sache aus vergangenen Zeiten so tief in Gewesenes zurückversetzen.

Nun erinnerte ich mich meines Versprechens und machte mich in Eile auf den Weg nach dem Schlosse. Beim Ueberschreiten des Domainenhofes sah ich im Herrenhause alle Fenster geöffnet, und die alte Frau erschien einen Augenblick dort; sie schlug ein weißes Staubtuch aus und war so im Eifer, daß sie mich nicht bemerkte. – Aha! Die Zurüstungen für den Abend! Und ich mußte daran denken, wie sehr sie erfreut war, als Lotte endlich den Bitten des Bräutigams nachgegeben, eine Art von Verlobungsfeier zu begehen. „Kindchen, man lebt doch einmal mit den Leuten,“ hatte sie befriedigt gesagt, „und sie nehmen Antheil an Allem, was uns betrifft, wie wir es ebenso bei ihnen thun, und glaubt’s nur, es geht nichts über getreue Freunde und gute Nachbarn! Nun wünschte ich nur, Lotte sähe freundlich aus an seiner Seite; es steht ihr so gut, und die Munkeleien hätten dann gleich ein Ende. Sie wissen ja, Tone, sie gilt hier als stolz und unliebenswürdig, auch schon deßhalb, weil sie bei Niemand Visite machen wollte.“

Ja, ob Lotte freundlich aussehen würde, konnte ich nicht rathen; aber ich fürchtete fast das Gegentheil, wenn ich an die kleine Scene vorhin dachte.

Und nun war ich unter den Kastanien dahin geschritten, stand vor dem Portale des Schlosses und zog die Glocke, auf deren Porcellangriff das Wort „Kastellan“ zu lesen war. Gleich darauf öffnete sich ein Flügel der Thür, und ich trat in eine weite Halle; zu beiden Seiten derselben führten breite Treppen nach oben, an deren untersten Stufen je zwei bronzene Ritter Wache zu halten schienen. Niemand zu sehen! Ich schritt die Marmorstiege empor, betrachtete die Büsten römischer Kaiser, welche die weißen, reich mit Stuck dekorirten Wände schmückten, und den mächtigen Kronleuchter aus Bronze. Eine kühle feuchte Atmosphäre überschauerte mich und die spukhafte Stille eines unbewohnten vornehmen Gebäudes. Oben ein weiter Vorplatz, Alles in weiß lackirtem Holz gehalten; purpurne wollene Vorhänge und rothbezogene Stühle; die Fenster gewährten einen Blick auf den Schloßhof, zwischen dessen Pflastersteinen Gras wucherte. Rechts und links weiß verhüllte Glasthüren. Ich klinkte die erstere auf und trat in einen langen dämmerigen Korridor, dessen hohe Wände regelmäßig unterbrochen waren durch geschnitzte Flügelthüren; hier und da eine Nische, Spiegel, Polsterstühle mit Bronzebeschlag. Im Weiterschreiten zählte ich die Thüren, die Siebente sollte es sein. Ich öffnete; geräuschlos drehte sich der Flügel in seinen Angeln, und ich stand auf weichem Teppich in einem kleinen entreeartigen Gemach. Alte schwere Gobelintapeten bedeckten die Wände; über schwarzem Marmorkamin ein Spiegel in facettirtem Glasrahmen, aus dem mir ein goldiger Schimmer entgegenblinkte; zwei mit schweren türkischen Stoffen verhüllte Thüren, die nach rechts und links in die Gemächer führten, und über einem wunderlichen Meubel, halb Kredenztisch, halb Spinde, besetzt mit köstlichen alten Gläsern, die prächtige Kopie der büßenden Magdalena von Battoni.

Im Weiterschreiten stockte mein Fuß, denn aus dem Nebenzimmer flog mir ein Lachen entgegen, wie ich es lange nicht gehört, und doch so bekannt, so silbern und herzlich. Und diesem Lachen folgte eine klangvolle Männerstimme, die lustig sprach: „Sie glauben mir nicht?“

Ich war regungslos stehen geblieben. Aus dem Spiegel aber, mitten aus dem goldigen Gewirr tiefgelber seidener Falten, die er zurückwarf, sah ich Lotte’s Profil; der feine Kopf mit dem dunklen Haar hob sich wunderbar von dem satten Gelb. Sie saß vor ihrer Staffelei, mir den Rücken halb zuwendend, und sah zu dem Sprecher hinüber, der neben dem Bilde stand, an welchem sie malte; ein Männerantlitz, auf dem der Uebermuth der Jugend und des Glückes lag, die blauen Augen blitzend vor Lebenslust. Es war ein Anblick, wie er einen Maler mit Entzücken erfüllen kann; mich packte er mit Angst.

„Nein, Durchlaucht,“ hörte ich sie jetzt wieder sprechen, „das glaube ich nicht. Uebrigens bin ich gerade zu Ende mit meiner Arbeit, und da meine Schwester nicht zu kommen scheint, so –; Fräulein Anita, Sie sind so freundlich und besorgen mir die Sachen in unsere Wohnung hinüber.“ Ich sah im Spiegel, wie sie sich erhob.

Im Sturm trieb es mich vorwärts; ich stand plötzlich unter den gelben Vorhängen der Thür und fühlte die blitzenden Männeraugen auf mich gerichtet, befremdet und verwundert. „Lotte!“ rief ich. – Ich weiß heute noch nicht, ob ich mich verbeugte, wie es die Etikette verlangt, als Lotte, sich umwendend, sagte: „Meine Schwester, Durchlaucht.“

„ich habe Ihr Fräulein Schwester in unverantwortlicher Weise gestört,“ redete er mich verbindlich an. „Im Begriff nach Schloß Grunen hinauf zu fahren, kam mir die Laune, hier einmal Station zu machen, und ich fand beim Betreten meiner Zimmer, ohne von dem überraschten Kastellan unterrichtet zu sein, die fleißige Malerin –“

„Und ich erschrak nicht wenig,“ fügte Lotte unbefangen hinzu und band ihr Schürzchen ab. „Aber Durchlaucht, Sie sehen, das Bild ist fertig und – ich störe nicht länger.“

„Im Gegentheil, es ist nicht fertig!“ rief er und betrachtete prüfend die Malerei. „Sehen Sie, Fräulein von Werthern, auf dem Kelchglase mit goldnem Rheinwein fehlt noch der letzte Aufsatz des vollen Lichtes; der Flaum der Pfirsiche könnte weicher sein und der Brillantring hier in der Ecke, der so achtlos und doch bedeutungsvoll neben der reichen Fruchtschüssel auf der grünen Sammetdecke liegt, ist skizzenhaft ausgeführt; Sie müssen ihm mehr Sorgfalt zuwenden; sehen Sie das Original an, es ist das Zeichen des Meisters, Pieter de Ring; Sie dürfen es nicht vernachlässigen. Meiner Meinung nach haben Sie noch viele Tage an dem Bilde zu arbeiten.“

„Es sind nur Kleinigkeiten,“ erwiderte Lotte bestimmt, „die ich ganz gut drüben nachholen kann.“ Und als der Prinz eine heftige Bewegung machte, um sie zu unterbrechen, setzte sie rasch hinzu: „Ich will das Bild noch heute verschenken, Durchlaucht.“

„An ihren Bräutigam,“ sagte ich laut, und ich fühlte, meine Stimme klang schwer und ernst. Ich konnte nicht anders.

Er sah Lotte groß an; es lag eine Frage in diesem Blick.

„Ja!“ bestätigte das Mädchen leise und blickte zu Boden. „An meinen Bräutigam.“

„Er ist zu beneiden,“ sprach der Prinz, ohne sein Auge von dem ihren zu verwenden. Und Lotte setzte hastig ihr Strohhütchen auf und nahm das noch nasse Bild von der Staffelei. Sie war blaß, und um ihren Mund lag wieder der harte Zug der letzten Wochen, der vorher wie verschwunden schien. Mit einer tiefen Verbeugung trat sie zurück, faßte mich an der Hand, grüßte Anita, die unbeweglich am Ofen stand und zum Fenster hinausstarrte, mit einem leichten Neigen des Kopfes, und im nächsten Augenblick durchmaßen wir den Korridor, eilten die Treppe hinunter und gingen bald unter den Kastanien hin der Oekonomie zu. Keine von uns hatte bis jetzt ein Wort gesprochen.

„Wie kam der Prinz dorthin?“ fragte ich endlich.

„Ich weiß es nicht, Tone,“ erwiderte sie. „Ich saß und malte, und Anita plauderte und legte Holz in den Kamin auf meine Bitte, der feuchten kühlen Luft wegen, da hörte ich einen Wagen sehr rasch fahren, so wie hier zu Lande sonst nicht gefahren wird – sie schonen ja Alle die Gäule – nun, etwa wie in Berlin; und ich sagte, das klingt wie eine herrschaftliche Equipage. Auch Anita hatte aufgehorcht; dann wurde es still. Wir sprachen noch von anderen Sachen, als ich auf einmal leichte Schritte hinter mir hörte, und als ich aufsah, stand er schon dicht neben mir. Es war mir sehr peinlich, weißt Du! Er sagte, was er zu Dir gesagt, er habe nach Grunen gewollt, und die Laune habe ihn gefaßt, Rotenberg, den Ort, wo er die langweiligsten Wochen seines Lebens vertrauert, wieder zu sehen. Es ist mir unangenehm, Tone; sprich nicht darüber.“

„Da wird Deine Lieblingsbeschäftigung wohl für ein Weilchen ruhen müssen, Lotte?“

Sie seufzte und betrachtete das Bild. „Er bleibt vielleicht nicht lange,“ sagte sie dann, „aber gleichviel, es ist nicht angenehm, so überrascht zu werden.“

Wir traten in den Gutshof, und ich wollte links abbiegen nach der Gartenpforte. Sie war zögernd stehen geblieben; „ich möchte erst noch einen Moment hineingehen, Tone oder willst Du ihm das Bild geben?“

„O nein,“ sagte ich erfreut, „ich komme mit Dir.“

[122] Lotte lief hastig längs des Hauses hin und die Stufen empor. Ich begriff sie nicht im Augenblicke, verstand nicht, daß es ein instinktartiges Flüchten war vor einer Macht, deren naher Schatten soeben über ihren Lebensweg gefallen, ahnungsvoll, beängstigend. Ich hörte ihr helles: „Ist der Herr daheim?“ aus der Tiefe des kühlen Flurs zurückschallen, und sah sie auf die verneinende Antwort hin blitzschnell in Fritz Roden’s Zimmer verschwinden. In kaum einer Minute war sie zurück mit leeren Händen. „Ich habe es auf seinen Schreibtisch gestellt,“ sagte sie, schob ihren Arm unter den meinen und nahm die Schleppe empor, die den feinen Sand auf den Steinfließen zusammenkehrte.

„Wollen wir nicht Deiner Schwiegermutter noch guten Tag sagen?“ fragte ich.

„Meinetwegen,“ erwiderte sie, „aber ich glaube, wir stören nur; sie steckt bis über die Ohren in Vorbereitungen zu heute Abend.“

In der großen Wohnstube war schon die festliche Tafel gedeckt; das grünlich dämmerige Licht, das sich durch die Kastanienblätter stahl, blitzte zurück aus prächtigem altmodischen Silberzeug und spiegelndem Kristall. In der Mitte des Tisches prangte ein Tafelaufsatz, wunderhübsch geschmückt mit Fliederblüthen, Goldregen und Jasmin; oben quer vor der Tafel war über zwei Stühle eine Art Laube gebaut von schwanken grünen Birkenbäumchen, und vor den Tellern, auf denen man die Servietten besonders kunstvoll gefaltet hatte, stand ein prächtiger Baumkuchen, auf dessen Spitze ein kleiner Amor aus Zuckerguß schwebte, als wolle er seinen Pfeil direkt auf die Menschen abschießen, die in der Laube Platz nehmen würden.

„Das ist für Euch,“ flüsterte ich und sah ängstlich Lotte an, die mit starren Blicken die Laube betrachtete. um ihren Mund glitt wieder das alte Lächeln, aber in den Augen funkelten Thränen.

„Schrecklich!“ hörte ich sie sagen.

Im Nebenzimmer trafen wir die alte Dame; sie steckte eben Kerzen auf schwere silberne Leuchter, und als sie uns erblickte, rief sie betrübt: „Da seid ihr durch das Zimmer gekommen, und Lotte sollte doch überrascht werden! Die Leute haben das Plätzchen für das Brautpaar so geschmückt. Aber nun kommt her, helft mir ein wenig, wenn ihr mögt. – Der Fritz läßt mich heute im Stiche, er ist noch nicht vom Felde zurück.“ Und sie drückte Lotte einen Bogen Papier und eine Schere in die Hand und hieß mich auf die Trittleiter zum Kronleuchter steigen, während sie selbst die Kerzen flink mit Papier umwickelte und sie mir zureichte. „Denkt nur,“ sprach sie, indem sie eilig weiter arbeitete, „da war es mir vorhin, als hatte ich einen Wagen in das Schloßthor rollen sehen und den Prinzen Otto darin erkannt. Es war wie ein Spuk – und’s wohl auch gewesen sein, denn wo sollte er jetzt herkommen? Es wird ja vorher immer gemeldet, damit das ganze Städtchen möglichst auf dem Kopfe steht. Und, nebenbei, er hat ja Rotenberg verschworen; es sei denn doch mehr als langweilig hier, und Der, der hier ein Schloß gebaut, müsse es am jüngsten Tage noch verantworten, behauptete er.“

Lotte schwieg und schnitt langsam ihre Papierstreifen. Ich sagte daher: „Sie haben ganz recht gesehen, Prinz Otto ist hier.“

Die alte Frau legte die Kerze auf den Tisch, die sie eben genommen, und schlug die Hände in einander.

„Na, da Gnade Gott!“ rief sie, „der Uebermuth, was mag er nur wieder einmal angestellt haben? Nun, da giebt’s ja Leben im Lande! Kinder, und ihr habt den Racker gerade vis-à-vis; geht nur nicht ans Fenster.“

Lotte lachte plötzlich so herzlich, daß alle ihre Zähne durch die rothen Lippen blitzten. „Kennst Du ihn persönlich, Mutter?“ fragte sie.

„Ei versteht sich,“ plauderte die alte liebe Frau. „Ein Bild von einem Jungen ist’s! So habe ich mir den Goethe vorgestellt, wie er zu Friederike nach Sesenheim kam; es ist ja kein Wunder, wenn er bei den Frauen Glück hat. Aber er macht’s zu arg! Nun, ich habe ihm einmal die Wahrheit gesagt, wie er sie vielleicht noch nie gehört hatte; ich konnte es,“ fuhr sie fort, „er war als Kind aller Augenblicke hier bei uns und mit meinem Jüngsten, dem Max, bald in der Scheune auf dem obersten Balken, bald in der Apfelkammer oder irgendwo sonst, wo sie nicht hingehörten. Und als erwachsener Mensch ist er noch jedesmal herüber gekommen und hat mir die Hand gegeben und gesagt: ‚Frau Roden, so schön wie die Kartoffelpuffer, die Sie mir gebacken haben, und die wir da in der Küche gleich aus der Pfanne aßen, hat mir nichts wieder geschmeckt.‘ Na, das ist nun auch weiter nichts; ich wollte ja erzählen wie ich ihm eine Standrede hielt. Es war vor zwei Jahren; wegen irgend eines tollen Streiches, den er zu Hause begangen, hatte der Herzog ihm hier Klausur gegeben, damit er ‚fern von Madrid‘ über sich nachdenke. Na, er that das sicher auch zuweilen, aber eigentlich stellte er nur unser gutes Rotenberg auf den Kopf. Seiltänzer ließ er kommen und einen Elefanten hat er sich gekauft, auf dem er im Schloßgarten spazieren ritt, als Türke gekleidet. In dem halbverfallenen Theaterchen mußte eine Wandertruppe lauter leichtfertigen Singsang von Offenbach spielen, und alle Gassenjungen pfiffen und alle Mädchen sangen das dumme Zeug, daß man sich hätt’ die Ohren zuhalten mögen. Freibillets vertheilte er, aber immer nur an die Häuser, wo hübsche Töchter waren, so daß die Galerie des Theaters voll lauter blonder und brauner

Mädchenköpfchen saß, das eine immer niedlicher als das andere – und die dummen Dinger bildeten sich noch was Rechtes darauf ein. – Nun ist da drüben an der Ecke Schuster Paul; der hatte so ein liebes Ding von achtzehn Jahren, so weiß und rosenroth, und so ein Paar dunkelblaue Augen, wie ich sie noch kaum gesehen. Sie war mein Pathenkind, und ich hatte immer viel auf sie gehalten. Na – aber es ist nicht recht, daß ich Euch das erzähle, ich will’s kurz machen. Es kam ein Tag. wo die Anna ihr Leben drum gegeben hätte, wenn es nicht so war, wie es eben war; heimlich lief das arme Mädel bei Nacht und Nebel aus dem Vaterhause, dort oben ins Gebirge zu einer Tante und ist bis heute nicht wieder gekommen, und die Mutter grämte sich schier zu Tode um das Kind; vor dem Vater aber darf man bis zur Stunde ihren Namen noch nicht nennen. Aber geschehen ist geschehen. Und in der Zeit, wo das ganze Städtchen voll von der Sache war und die Spatzen es auf dem Dache erzählten, kam just mein Prinz mal herüber zu mir, in der Dämmerung eines regnerischen Herbsttages, und da nahm ich die Gelegenheit beim Schopf und sagte zu ihm: ‚Durchlaucht,‘ sagte ich, ‚die Menschen, die der liebe Gott auf Erden über die andern stellt, die hat er darum erhöht, daß sie ein Vorbild sein sollen für ihre Unterthanen!‘ Da sah er mich lächelnd an und sagte: ‚Aber, Frau Roden, das besorgen ja mein Vater, der Herzog, und mein Bruder, der Erbprinz, schon nach Kräften!‘ Ich schaute ihn so recht ernst an, und dabei zeigte ich hinüber nach Schuster Paul’s kleinem Hause; wir standen zusammen am Fenster, und er lächelte immer noch. Ich ließ mich aber nicht irre machen. ‚Durchlaucht,‘ sprach ich weiter, ‚es ist nur eines armen Schusters Kind, aber die Eltern haben’s just so lieb gehabt, wie Ihre Frau Mutter Sie, mit Thränen und Sorgen.‘ Seht ihr, da verschwand das Lachen von seinem Gesicht, und er gab mir die Hand. ‚Schelten Sie nur, Frau Roden, ich weiß, Sie meinen es gut –‘“

Sie schwieg; Lotte hatte sich abgewandt und schnitt eifrig Papier; man hörte weiter nichts, als das Klappern der Schere.

„Ach Gott,“ seufzte die alte Frau noch einmal und nahm ein Wischtuch vom nächsten Stuhl. „Was wird der hier wieder Alles aufstellen!“

Als wir bald darauf nach Hause gingen, sagte Lotte aus tiefen Gedanken heraus: „Weißt Du, Tone, er erinnert mich sehr an unsern Hans.“

„Wieso, Lotte?“

„Der war ebenso lustig, so unsinnig und so liebenswürdig wie Prinz Otto.“

„Und so leichtfertig,“ setzte ich hinzu.

Es war acht Uhr Abends, als wir hinübergingen zu dem Feste; Großmutter feierlich im schwarzen Moirékleid, die [123] Spitzenmantille um die Schultern und das Blondenhäubchen auf dem weißen Scheitel. Ich in schwarzem Seidenkleid mit lang nachrauschender Schleppe und der kleinen Brillantbroche der verstorbenen Mutter. Uns voran ging Lotte; reizend sah die schlanke weiße Mädchengestalt aus, rosig angehaucht von der Gluth der untergehenden Sonne. Es hatte ein wenig geregnet, wunderbar frisch war die Luft, auf jedem Blättchen schimmerte ein Thautropfen. Lotte hatte den Kopf zurückgebogen und athmete mit geöffneten Lippen den Duft ein.

„Mir ist angst,“ sagte sie dann, „als läge ein Gewitter in der Luft. Ich wollte, wir wären erst wieder auf dem Heimwege.“

Da trat unter den Linden ein großer Mann hervor und kam uns eilig entgegengeschritten.

„Lotte, Mädchen, wie schön bist Du!“ rief er, hielt sie an beiden Händen von sich ab und betrachtete sie entzückt. „Das ist lieb von Dir, daß Du ein lichtes Kleid angezogen hast; aber nun komm, es schadet nichts, wenn die Gäste ein wenig auf uns warten müssen; nicht wahr, Tone, Sie sagen der Mutter, wir kämen gleich nach? Ich muß mich erst noch bedanken bei Lotte.“ Und er zog sie mit sich fort zu der Bank unter den niederhängenden Lindenzweigen, auf deren Sitz ein prachtvoller Blumenstrauß schimmerte.

Wir schritten weiter, und die alte Frau sagte: „Es ist so wunderlich mit Lotte; ob sie sich geniert vor uns? Es sieht immer aus, als ob sie sich nur nach innerem Kampf von ihm berühren ließe. Hast Du bemerkt, es schien, als wäre sie am liebsten gleich hinter uns hergelaufen?“

In der That holte uns das Brautpaar schon an der Gartenpforte wieder ein; der Dank mußte sehr kurz gewesen sein. Im förmlichen Sturmschritt kamen sie hinter uns; Lotte in der einen Hand ihre Schleppe, in der andern einen duftenden Rosenstrauß. Sie war blaß, er roth. Merkwürdig – er sah unvortheilhaft aus in dem schwarzen Frack und der weißen Halsbinde; die Jagdjoppe, die Stulpenstiefeln kleideten ihn besser.

Aus dem Gesellschaftszimmer schallte uns lautes Sprechen entgegen; Rieke in blendend weißer Schürze riß die Thür auf, und Großmutter überschritt an meinem Arm die Schwelle. Lautlos still ward es in dem großen Gemach, in welchem das Abendroth den Kerzenschein noch verdunkelte. Ein Rücken von Stühlen, das Knistern seidener Kleider, ein Chaos von neugierigen Menschengesichtern und dann die Stimme der Hausfrau: „Die Freifrau von Werthern und ihre älteste Enkelin – und – dort die liebe Braut meines Sohnes!“

Das Brautpaar war hinter uns eingetreten. Einen Augenblick noch die tiefe Stille, dann rauschte ein Strom von Worten über uns daher: „Ehre – Freude – Bekanntschaft.“ Großmutter saß wie hingeweht auf dem Sofaplatz, ich neben der jungen Frau Diakonus; Lotte aber stand noch immer an der Seite des Bräutigams; auf ein Flustern von ihr schob er einen Stuhl neben mich, und sie ließ sich nieder. Wunderlich! Das Gespräch kam nicht recht wieder in Fluß. Zuweilen flogen mehrere Engel hinter einander durch das Zimmer. Die Blicke der Anwesenden streiften immer und immer wieder das schöne stolze Gesicht der Braut. Ein paar junge Mädchen in rosa Batistkleidern flüsterten leise mit einander, Fritz sprach abseits mit einem Herrn über Ernte-Aussichten, und Großmama hatte sich mit der Frau Oberförster vertieft.

Ich versuchte, Lotte mit in das harmlose Gespräch über die Akustik der Marienkirche, das ich mit der kleinen blonden Nachbarin führte, zu ziehen – vergebens; sie schwieg konsequent. Es that mir leid; ich allein wußte ja, wie hinreißend Lotte plaudern konnte. Da auf einmal tönte der Name des Prinzen Otto ins Gespräch, und als ob alle Schranken gefallen wären, so lachte und sprach es jetzt durch einander.

„Er will für immer hier wohnen,“ sagte Jemand.

„O bewahre! Er ist auf höheren ‚Wunsch‘ hier, wie schon öfter –“

„Ob er Gondelfahrten arrangiren wird, wie vor zwei Jahren?“ rief ein junges Mädchen mit leuchtenden Augen.

„Nun, da werden wir wieder etwas erleben,“ seufzte der Bürgermeister.

„Es giebt aber sicher Theater,“ rief Frau Oberförster vergnügt.

„O ja, an Spektakel wird’s nicht fehlen!“ bemerkte der Gatte trocken.

Zuletzt war ein lebhaftes Für und Wider den Prinzen. Die Herren zuckten die Achseln und schienen nach dem erlauchten Gast nicht viel zu fragen; die Frauen zogen mit tausend Gründen für ihn ins Feld.

„Es kommt ein bischen Geld unter die Leute,“ sagte die behäbige Frau Bürgermeisterin. – „Man hört doch mal wieder Musik,“ meinte eine Andere. – „Rotenberg versauert, wäre er nicht zuweilen hier.“ – „Ja, ja!“ stimmten die jungen Mädchen ein.

„Nun, das ist wieder die alte Lehre,“ übertönte die Stimme des Oberförsters die eifrig Sprechenden. „Wenn Jemand bei den Frauen Glück haben will, muß er nur ein Dutzend recht dumme Streiche begehen und sorgen, daß so und soviel Liebesabenteuer ihm nachgerechnet werden können und –“

Der Chorus der Damen brachte ihn sofort zum Schweigen.

„Das war nicht hübsch!“ meinte die Frau Superintendentin, „aber der Herr Oberförster ist immer so boshast.“

Es war eine förmliche Empörung, die gegen den lachenden Mann mit dem stark ergrauten Bart heranzog. Er stand am Fenster und hielt sich die Ohren zu.

„Aber meine Damen,“ versuchte er zu beschwichtigen, „es ist eine unbestreitbare Thatsache! Als irgend ein berühmter Räuber hingerichtet wurde vor noch gar nicht langer Zeit, fand man in seinem Nachlaß Tausende von zarten Briefen.“

Die Meldung, daß servirt sei, machte der Debatte ein Ende. Das Brautpaar schritt voran in das Eßzimmer, und Lotte stand mit undurchdringlicher Miene vor ihrem Ehrenplatz. Dann saß sie unter den hängenden Birkenzweigen; aber es machte einen seltsamen Eindruck, dieses schöne unbewegliche Mädchengesicht. Ich bemerkte, wie sie jede Schüssel zurückwies, wie Fritz sich besorgt zu ihr beugte, und wie er endlich aufstand und mit raschem Griff die Zweige knickte, so daß der Schmuck zur Erde sank.

Ich hatte meinen Platz neben dem jovialen Oberförster gefunden; er wollte eben seine Behauptung von vorhin noch mehr beleuchten, da klang es hell in das Sprechen hinein. Der Superintendent hatte, aufstehend, an das Glas geschlagen und schickte sich zum Reden an.

Er wandte sich zu dem Brautpaar. Er sprach von dem Glück, das einem Hause widerfahre, in welches eine liebliche Braut eintrete; mit Rosen solle man ihr die Schwelle bestreuen zum Dank für die Rosen der Freude, die sie bringe. Er sprach von der Familie Roden, die schon lange in diesem Hause wohne und mit Stolz auf wackere ehrenwerthe Männer, auf tugendhafte Frauen zurückblicken könne, und er betonte, daß diejenige, die dem letzten Roden die Hand reiche, sich als hochbeglückt erachten dürfe, denn von Jugend auf sei er ein Mensch gewesen, der das Herz auf dem rechten Fleck habe. Und so trinke er denn auf das Wohl des jungen Paares, das er bald vor dem Altare der Marienkirche zu sehen hoffe; auf einen seligen Braut- und einen fröhlichen Ehestand.

„Hoch!“ riefen die Gäste im brausenden Chor und drängten sich mit den Champagnergläsern in der Hand zu Braut und Bräutigam.

Mitten in diesem Tumult sah ich die mir gegenüber befindliche Thür sich öffnen, und im Rahmen derselben erschien – Prinz Otto. Er war in elegantem Promenadenanzug und blickte mit lachenden Augen auf die Scene. Frau Roden bemerkte ihn zuerst; ich hörte ihr bestürztes: „Daß Gott – der Prinz!“ Dann war sie gegangen, ihn zu bewillkommnen.

Er war kein Fremder in diesem Kreise, und er schien ein gern gesehener Gast; lauter freudig überraschte Mienen begrüßten Se. Durchlaucht. Er aber nahm nach einem ritterlichen Kompliment vor meiner Großmutter, nach einem herzlichen Handdruck mit Fritz Roden, einen Stuhl, rückte ihn an Lotte’s Seite und bat, man möge sich nicht stören lassen, er wolle nur seinen persönlichen Glückwunsch zu der Verlobung seines alten Jugendgespielen darbringen, um bald wieder zu verschwinden. Und in der That, er störte nicht. Er begann so unbefangen mit Lotte zu plaudern, stieß mit Fritz an, lachte herzlich wie – wie jeder andere junge Mann, der da weiß, daß er ein willkommener Gast ist im heiteren Kreise. Er lehnte jede Speise ab, aber er schlürfte den perlenden Champagner mit großem Behagen.

Ich sah, wie auch Lotte öfter nippte, wie ihre Augen zu leuchten begannen und sie gesprächiger wurde; wie allmählich die alte bezaubernde Lotte dasaß.

[124] Schweigend verhielt sich der Bräutigam und drehte den leeren Kelch zwischen den Fingern; ich glaube, er und ich, wir waren die Einzigen in der Gesellschaft, die still blieben; ich vor athemloser erstickender Angst. Mich dünkte es unerträglich in dem warmen Zimmer, unter den flackernden Kerzen, in dem Geruch von Wein, Speisen und stark duftenden Blumen. Aber Niemand dachte an das Aufstehen, denn der Prinz saß neben Lotte und plauderte und trank und vergaß, daß er vom Gehen gesprochen.

Endlich sprang er auf und bot Lotte den Arm. „In den Garten, meine Herrschaften!“ rief er, „es ist eine wunderbare Frühjahrsnacht draußen.“

„Kommen Sie, Tone,“ flüsterte Fritz und gab mir den Arm. Er riß mich förmlich hinter dem Paare her, das durch den Hausflur an den gaffenden Dienstleuten vorüber ging.

Bläulicher Mondenglanz hielt die Erde umfangen, fast betäubend dufteten Flieder und Goldregen, und im Gebüsch sang die Nachtigall. Wie im Traum schritt ich der weißen vor uns schwebenden Gestalt nach; keiner von uns sprach ein Wort, nur sein Arm zitterte. Er that mir unsagbar leid. Ich weiß nicht, warum mir plötzlich die Thränen heiß in die Augen kamen.

„Weinen Sie, Tone?“ fragte er.

„Nein!“ log ich.

„Wie gefällt Ihnen denn Se. Durchlaucht?“ forschte er, und es lag ein bitterer Ton in der Stimme. Aber ehe ich noch antworten konnte, hatte er hinzugefügt: „Kehren wir um! Ich bin es müde auf diesen Schlängelwegen hinterher zu laufen.“

Ich blieb zögernd stehen.

„Was wollen Sie denn, Tone?“ sagte er weich. „Was echtes Gold ist, schmilzt nicht an diesem Flackerfeuer.“ Und wir wandten uns und gingen stumm zurück, und als wir uns dem Lindenplatze näherten, blinkten Windlichter auf, und der Herr Oberförster füllte die Glaser aus einer großen Bowle.

„Nun singt doch, Kinder!“ hörten wir ihn sagen. „Aber wo ist denn die Jugend? Natürlich ausgeschwärmt, im Garten vertheilt; nun, wir haben’s auch nicht besser gemacht.“

Ich litt nicht, daß Fritz sich in dem Kreise zeigte ohne Lotte, und ich leitete ihn unvermerkt vorüber an dem Wege, der zu dem Platze führte. Ich wollte ihn irgend etwas fragen, und mir fiel weiter nichts ein, als Hans. „Sie schrieben doch damals an einen Freund in New-York?“

„Ja, allerdings.“

„Haben Sie nie Antwort bekommen?“

„O doch, Tone; aber sprechen wir heute Abend nicht davon. Gehen wir.“

„Nicht ohne Lotte!“ beharrte ich.

„Man soll Niemand zwingen; sie amüsirt sich vielleicht. Hören Sie, Tone!“ In der That schallte jetzt ihr Lachen zu uns herüber.

„Das ist sie doch?" fragte er, „so kann doch Lotte nur lachen?“ – Und als jetzt das weiße Kleid unfern auftauchte, rief ich laut:

„Lotte! Lotte! Dein Bräutigam sucht Dich!“

Da kamen sie; und im Mondschein sah ich ihre rosigen Wangen und blitzenden Augen und das Lachen um ihren Mund. Schweigend ging sie neben Fritz her und schweigend schritt der Prinz neben mir. Nach einer Weile sagte er nachlässig: „Es ist doch besser, ich empfehle mich auf Französisch, ich störe sonst vielleicht die Gesellschaft. Ich kenne noch aus meiner Jugendzeit Weg und Steg hier, und wenn ich dort durch jenes Gebüsch dringe, so stehe ich ungesehen an der Gartenpforte. Gute Nacht, Fräulein von Werthern!“

Im nächsten Augenblick schlugen hinter seiner schlanken Gestalt die vom weißen Mondlicht beleuchteten Büsche zusammen; er war verschwunden. Unter der Linde aber begannen sie zu singen, selbst die Alten stimmten ein. Lotte saß neben ihrem Bräutigam, hatte den schönen Kopf an den Stamm des Baumes gelehnt und schaute in die leise zitternden Aeste, die im Lichtschein smaragdgrün aufleuchteten. Großmutter kam mir entgegen und flüsterte: „Führe mich nach Hause, Tone, ich will mich zur Ruhe legen. Du kannst ja wieder hergehen.“

Aber ich blieb daheim und setzte mich auf den Balkon, der über den Garten hinaus hing. Dort unten schimmerten die Lichter durch die Blätter, und die Lieder, die sie sangen, klangen an mein Ohr; und als sie endlich verstummten, da sang die Nachtigall fort.

Dann Schritte und das Rauschen von Frauenkleidern. Lotte kam; unter dem Balkon blieb sie stehen. „Gute Nacht!“ sagte er weich und küßte sie. „Und noch einmal Dank für das Bild, Du hast mich innig damit erfreut!“ Aber sie schüttelte hastig den Kopf. „Gute Nacht!“ Sehr laut und sehr kalt klang es, und wie ein Spuk war sie verschwunden.

Ohne ein Wort mit einander zu sprechen, gingen wir schlafen. Als ich aber aus tiefem Schlummer auffuhr nachts, da saß sie hoch im Bette und starrte in den Mondenglanz, ohne sich zu regen.




Rotenberg steht auf dem Kopfe – es war nicht zu viel gesagt! Das kleine langweilige Städtchen schien urplötzlich wie verwandelt; vom Schloßthurm wehte die rothweiße Fahne lustig in der duftigen Maienluft, und in dem uns gegenüberliegenden Flügel des Schlosses waren alle Läden zurückgeschlagen. Es sah nicht aus, als ob des Prinzen Erscheinen eine flüchtige auf der Durchreise gefaßte Laune sei. Es hatte vielmehr Alles den Anschein, als wolle er länger bleiben. Im Souterrain hantirte ein Koch mit blendend weißer Mütze, und am Abend des zweiten Tages trafen einige Wagen, Pferde und zwei Lakaien ein, – der fürstliche Hofhalt begann.

Und nun die guten Rotenberger! Im Hirschengarten war Koncert angesagt; in der Einsiedelei droben am Walde italienische Nacht; auf der Schützenwiese, wo man schon Buden und Zelte für das diesjährige Vogelschießen erbaute, prangte ein Zeichen in rothen und weißen Farben, das die Gilde dem Prinzen zu Ehren errichten ließ, der schon vor zwei Jahren Ehrenmitglied geworden war. An allen Straßenecken aber klebten riesige Zettel mit der Ueberschrift:

Herzogliches Hoftheater zu Rotenberg.
„Die schöne Galathea“.

Wir wurden herrlich aus dem Morgenschlummer geweckt, der dem Tage nach dem Verlobungsfeste Lotte’s folgte, denn feierlich zogen die Klänge der Musik in unser stilles Zimmer: „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren“. Die Stadtkapelle brachte dem Prinzen ein Ständchen.

Ja, das lachende Leben ging wirklich los; nur wir saßen still daheim, stiller noch als je. Lotte hatte den kleinen Balkon zu ihrem Platz erkoren; dort, unter der dunkelrothen Marquise, die ich aus alten Gardinen hergestellt, saß sie und las, oder ihre Finger hielten eine Arbeit, oder sie träumte in den Garten hinaus. Sie war nicht einmal zu einem Spaziergange zu bewegen, seitdem wir auf dem einsamen Waldpfade über die Höhe des Berges urplötzlich Sr. Durchlaucht gegenübergestanden und er sich uns verbindlichst grüßend angeschlossen und uns somit genöthigt hatte, mit ihm und seinem Begleiter, einer prächtigen Dogge, welche Schnips sehr von oben herab behandelte, durch die Promenaden und an der Domaine vorüber heimzukehren. Die Leute hatten die Fenster aufgerissen, um uns nachzuschauen. Fritz, der uns kommen sah, empfing uns auf dem Domainenhofe und begleitete uns durch den Garten nach Hause. Er sagte nichts darüber, und wir auch nicht, aber Lotte ging nicht mehr aus seitdem.

Heute nun brachte uns ein Lakai ein zierliches Schreiben ins Haus, die Aufforderung zu einem bal champêtre im Schloßgarten! Lotte überflog kaum das Billet und legte es gleich hin, die Großmutter aber fragte seufzend: „Kann man refüsiren?“

„Ich – gewiß!“ sagte Lotte.

„O ja,“ antwortete ich der alten Dame, „wir haben ja Trauer.“

„Für mich ist er nur der unverheirathete Kavalier,“ erklärte Lotte, „der nicht die Berechtigung hat, Damen zu empfangen; und wenn alle die Hiesigen es sich zur Ehre schätzen Sr. Durchlaucht Befehlen zu gehorchen, ich danke dafür.“

„Mir soll es lieb sein,“ nickte die Großmama, nahm ihre Zeitung wieder vor und vertiefte sich in die Hofnachrichten, denen zu Folge die Enthüllung des Standbildes Friedrich Wilhelm’s des Dritten im Lustgarten zu Berlin mit großer Feierlichkeit stattfinden würde. Die Zeitung war das Einzige, was der alten Dame noch ein Interesse abzugewinnen vermochte; sie ließ dann und wann ein hm! hm! vernehmen oder schüttelte den Kopf und alterirte sich über die Schreiereien der Franzosen. Und dann konnte sie lebhaft aus ihrer frühsten Jugend erzählen, wie sie das Schießen von Leipzig auf dem väterlichen Gute, das an der [126] sächsischen Grenze drei Meilen vom Schlachtfelde lag, mit großer Deutlichkeit gehört habe. Sie war dabei sehr erregt und sah um Jahre jünger aus. „Wir erleben gewiß noch einmal ein Leipzig!“ schloß sie dann gewöhnlich.

„Gott sei Dank, wir sind im tiefsten Frieden,“ flüsterte ich und dachte an die Angst, die ich Sechsundsechzig um den Hans ausgestanden. Was kümmerte mich auch Napoleon und Luxemburg und die spanische Thronfolge? Hier in nächster Nähe ward ja ein Kampf gekämpft, schwer und heiß, Glück und Frieden vernichtend.

„Rufe Fritz,“ bat Lotte zuweilen und ging mit fiebernden Wangen von einer Stube in die andere; und die alte Ausgeherin trabte nach der Domaine, und bald eilte er durch die grünen Wege des Gartens mit sorgenvollem Gesicht herbei. Und wenn sie ihn kommen sah, packte es sie wie Angst; sie lief hastig in das Schlafzimmer und war nur mit Mühe zu bewegen, den Gerufenen zu empfangen. Es ward immer eine peinlich stumme Scene, und er ging, wie er gekommen, bedrückt, geängstigt.

Auf die Absage zum Balle erschien Anita bei uns. Der Prinz ließ fragen, ob er Frau von Werthern seine Aufwartung machen dürfe? Die alte Dame gerieth förmlich in Ekstase über diese Liebenswürdigkeit und bestellte der lächelnden Anita, daß es ihr eine Ehre sein würde, Durchlaucht bei sich zu sehen.

Nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr kam er wirklich das schmale Treppchen herauf und saß in unserem Zimmer respektvoll der Großmama gegenüber. Lotte war nicht sichtbar. Die blitzenden Augen forschten einen Moment enttäuscht in allen Winkeln umher, dann plauderte er heiter von allerlei harmlosen Sachen, von seiner Mutter, von einem Aufenthalt in Baden-Baden, einer Reise nach dem Orient, die er vor einigen Jahren unternommen, und schließlich kam er auf Rotenberg, auf seinen Ball, und just in diesem Augenblick trat Lotte ein. Ich sah sie befremdet an. Sie hatte in aller Eile ein weißes Sommerkleid angelegt; ihre langen schwarzen Zöpfe hingen auf dem Rücken herunter, und ihr Gesicht war farblos wie das Gewand.

Prinz Otto sprang empor, wie elektrisirt. „Wir sprachen eben von dem kleinen Fest; Sie müssen kommen, Fräulein von Werthern!“

„Ich bedaure lebhaft, Durchlaucht. Sie wissen. wir trauern noch um den Vater,“ erwiderte sie lächelnd.

„Dann will ich den Tanz absagen lassen!“ rief er.

„O niemals, Durchlaucht!“ stotterte sie erröthend. „Ich bitte, mich zu entschuldigen.“

Er schwieg und empfahl sich. Am Abend aber flogen Briefe durch das Städtchen, worin das Fest, einer Reise wegen, die der Prinz unternehmen müsse, abgesagt war. Auch wir erhielten das Billet. Schweigend starrte Lotte darauf. – „Gott sei Dank, er reist!“ fuhr es mir durch den Sinn. Aber er dachte nicht daran! Er saß am Tage des aufgegebenen Balles am geöffneten Fenster des gelben Zimmers und las.

Anita aber kam über die Straße herüber und wollte Fräulein Lotte sprechen. „Ich bringe Farben, die das gnädige Fräulein vergaß,“ sagte sie mir und schlüpfte zu Lotte auf den Balkon.

Mir zuckte es in den Füßen, ihr nachzugehen, indeß – ich fürchtete Lottes Augen, die so deutlich zu sagen verstanden: „Was willst Du hier?“ Als ich endlich zu ihnen trat, plauderten sie von Italien und allerhand gleichgültigen Dingen, und die Farbentuben lagen auf dem Tische.

„Weißt Du, Tone,“ sagte Lotte, „ich will italienisch lernen; Anita giebt mir Unterricht, wir verabredeten es neulich schon mit einander. Es ist eine so himmlische Sprache!“

Ich sah das Mädchen überrascht an, aber ich fand keinen triftigen Grund für meinen Widerwillen. „Ja, wenn Du meinst, Lotte! freilich, nöthig –“

„Nein, nöthig ist es nicht!“ fuhr sie gereizt empor. „Nöthig ist es auch nicht, daß man malt und liest! Alles dergleichen ist überflüssig, so meinst Du doch? Die Kunst, die Schönheit, die Poesie – nöthig nicht! O, das schreckliche Wort!“

„Aber Lotte, thue es doch, wenn es Dir Spaß macht!“ – Sie hätte ja Recht gehabt, wenn es nur Anita nicht gewesen wäre.

„O, sicher thue ich es, und morgen beginnen wir –.“

Nachmittags setzte sie ihr Strohhütchen auf und nahm ihr kleines Portemonnaie, und als sie wieder kam, trug sie Schreibhefte und eine alte vergilbte italienische Grammatik in der Hand; sie war ganz Feuer und Flamme.

Abends ging ich einen Augenblick hinüber zu Frau Roden. Fritz war eben vom Felde heimgekommen; ich traf ihn im Hausflur.

„Allein?“ fragte er traurig.

„Ja, Fritz, denn Lotte lernt Italienisch; sie will Unterricht nehmen bei Anita.“ Und in meiner Angst setzte ich hinzu: „Leiden Sie es doch nicht, Fritz, sprechen Sie ein Machtwort.“

Er sah mich groß an. „Ich?“ fragte er bitter und ging in sein Zimmer.

Frau Roden wurde bleich bei dieser neuen Caprice. Sie schluckte herzhaft an ihrem Aerger, aber auch sie schwieg. Nur das Eine sagte sie beim Abschied: „Von Energie ist keine Spur mehr in ihm, Tone; er war sonst ein ganzer Mann, und er kann sich nicht entschließen, mit einem Ruck der Erbärmlichkeit ein Ende zu machen! Ach, Tone, und solche Naturen packt es am gewaltigsten; er hat sie zu lieb, zu lieb!“

Ich sprach ihr Trost ein; sagte, daß Lotte kein kleinlich angelegter Charakter sei; daß sie genug edlen Stolzes besitze, um ihr Wort voll und ganz einzulösen. Aber die alte Frau schüttelte den Kopf. „Sie will vielleicht! Ja, daran zweifle ich nicht, allein – Gott wird helfen,“ setzte sie hinzu und trocknete ihre Thränen.

So ging es denn weiter, unaufhaltsam, und dennoch schien Alles stille zu stehen. Um uns herum des Sommers Lust; Musik an allen Orten, auf dem Schützenplatz und in den Koncertgärten; Abends strömten die Menschen in das Theater, und in der Nacht hörten wir die Schritte, das Sprechen und Lachen der Heimkehrenden bis in unser kleines Zimmer hinauf, und drüben im Schlosse blinkten helle Fenster. Aber irgend etwas war nicht in Ordnung, Prinz Otto nicht mehr der Alte. Die Loge im Theater blieb leer, das Zelt auf der Schützenwiese war umsonst gebaut, und die hübschen Rotenberger Mädchen hatten vergeblich die reizendsten Toiletten bei der Schneiderin bestellt; Prinz Otto blieb allem fern.

„Was thut er denn?“ fragte man sich unter einander. „Er liest, er malt, er ist schlechter Laune,“ sagte Anita zu uns.

„Weßhalb?“ erkundigte sich Großmama, Anita zuckte die Achseln und schwieg.

„Reist er nicht bald ab?“ forschte ich.

„O, kein Gedanke!“ antwortete die kleine schwarze Person. „Vorgestern ist seine Bibliothek gekommen.“

Da ist etwas nicht in Ordnung! So dachte auch ich und blickte auf Lotte, die kein Auge von ihrer italienischen Grammatik erhob.

„Da ist etwas nicht in Ordnung,“ sagte Großmutter und las den Leitartikel in der Zeitung noch einmal. Und dann erzählte sie mir ein Langes und Breites vom Prinzen von Hohenzollern, von Spanien und Napoleon. Ich hörte nur mit halbem Ohre; ich war so ganz bei Lotte und Fritz.

Und dann kam jener Tag!

Lotte war früh aufgestanden und saß nun auf dem Balkon. Es hatte geregnet und noch immer bedeckten graue tiefe Wolken den Himmel; die hielten jeden Sonnenstrahl ab. Das Mädchen hatte sich fest in ein weiches warmes Tuch gehüllt, als ob sie fröstelte, und hielt Schnips auf dem Schoß. Als ich ihr das Frühstück brachte, sah sie zu mir empor mit ein Paar so müden glanzlosen Augen, daß ich erschrak.

„Lotte, Du bist krank?“ fragte ich.

„Ich glaube,“ sprach sie.

„Was fehlt Dir, Liebling? Rede doch!“ bat ich ängstlich. „Komm herein,“ erwiderte sie. Und als wir im Zimmer standen, sagte sie kurz und hart: „Es muß ein Ende werden – ich ertrage es nicht länger – ich kann Fritz Roden mein Wort nicht halten!“

Da war es heraus!

„Lotte!“

„Ich kann nicht!“ wiederholte sie fest und fuhr ruhig fort, als ich schwieg: „Ich habe ihn nie lieb gehabt. Ich hatte es mir so leicht gedacht – ich wußte nicht, was ich that, als ich ‚Ja!‘ sagte. Ich meinte, so ein armseliges Leben, wie wir jetzt führen, könne ich nicht ertragen, und ich hätte es in der That auch nicht ausgehalten. – Und dann – der Hans; ich glaubte ihn zu retten. – Nicht wahr, Du weißt, was ich meine, Tone?“

Sie wollte mich schmeichelnd umfassen; ich stieß sie zurück und schlug die Hände vor das Gesicht, und bittere Thränen rannen mir aus dem Augen.

„So sprich doch!“ rief sie ungeduldig.

[127] „O, Du bist schrecklich!“ stöhnte ich.

„Mein Gott,“ sagte sie, „weil ich noch in der letzten Stunde den Muth habe, eine Lüge einzugestehen? Von Tag zu Tag habe ich gehofft, er würde mir im ehrlichen Zorn den Ring vor die Füße werfen; er that’s nicht. Nun muß ich den Knoten zerschneiden. Ach, ich kann es nicht länger ertragen, es ekelt mir vor der Komödie. Geh zu ihm, Tone, erzähle ihm die Wahrheit, mache mich so schlecht Du willst und kannst, aber bringe mir die Freiheit – bringe sie mir, und bald!“ Sie hatte laut gesprochen.

„Ich kann es nicht!“ erwiderte ich erschüttert. Ich dachte an seine guten treuen Augen, an sein trauriges Gesicht, und dabei wollte ich zur Thür, um sie zu schließen, damit Großmutter nichts höre.

„Aber ich kann es!“ sagte da eine bebende Stimme, und das blasse Gesicht seiner Mutter schaute mich an. Und nun trat die alte Frau in das Zimmer, in welchem ein trübes Dämmerlicht herrschte, und stand vor Lotte, die zum erstem Male in ihrem Leben das Haupt vor ihr senkte.

„Ich kann es, Charlotte,“ wiederholte sie, „und gleich soll es geschehen, aber –“

Sie hielt inne, eine Todtenstille herrschte in dem kleinen Raum. Man hörte nur das rasche Athmen der Frau, die sprechen wollte und doch nicht konnte – vor Weh. Und plötzlich wandte sie sich und ging lautlos zur Thür hinaus, durch das Nebenzimmer und die Treppe hinunter.

[141] Als Frau Roden das Zimmer verlassen hatte, da kam es über mich wie wilde Verzweiflung.

„Lotte,“ jammerte ich, „Lotte, besinne Dich doch! Noch ist es Zeit, rufe sie zurück. Sage, daß Du zu rasch gesprochen –. Du kannst nicht so entsetzlich hart und grausam sein! Du hieltest ja immer Dein Wort, mach’ ihn nicht so unglücklich!“

„Eben, weil ich das nicht will!“ sagte sie fest und kalt.

Ich lief auf den Balkon. Ganz weit schon dort unten ging die Mutter; nicht zögernd, langsam – nein, rasch und fest schritt sie dahin, als fürchte sie eingeholt zu werden. Nie in meinem Leben kam ich mir unglücklicher, gedemüthigter vor, als in dieser Stunde. Das war der Dank für alle Wohlthaten!

Aber Lotte blieb ruhig; sie begann sogar Toilette zu machen. Zwar die Hände zitterten ein wenig und auf den Wangen brannten ein paar rothe Flecken, aber sie holte tief Athem und das klang, als sei eine Bergeslast von ihrer Seele genommen. Als sie fertig war, kam sie zur Großmutter herüber.

„Großmama,“ sagte sie, mit fester Stimme, „ich habe meine Verlobung aufgelöst.“

Die alte Frau starrte sie verständnißlos an. „Scherze nicht,“ sagte sie streng.

„Ich scherze nicht; ich kann ihn nicht heirathen.“

„Warum nicht?“

„Ich liebe ihn nicht.“

„Und was für ein Recht hattest Du zu solcher Komödie?“ rief die Greisin, und die matten Augen sprühten förmlich auf. „Ist ein ehrliches Männerherz grade gut genug, um mit ihm zu spielen, wie Du mit Deinem Hunde spielst? – O nein, mein Kind, so war das nicht gemeint; noch habe ich ein Wort mitzureden! Und wenn Du vorhin in kindischem Uebermuth Unverantwortliches gesprochen, so gehst Du jetzt sofort zu ihm und bittest Deinen Bräutigam um Verzeihung! Sofort!“

Die zitternde Frau hatte sich halb im Lehnstuhl erhoben und zeigte gebieterisch nach der Thür. Eine namenlose Angst lag in den alten Augen, trotz aller Strenge.

„Großmama,“ rief Lotte außer sich, „das kannst Du nicht wollen, darfst Du nicht wollen!“

„Ich will, daß Du ein Wort hältst, das Du freiwillig gegeben hast!“ klang die Antwort. „Geh!“

„Ich gehe, aber ich komme nie wieder,“ drohte das Mädchen; „ehe ich ihn heirathe – lieber todt!“

„Geh!“ wiederholte die alte Frau noch einmal. Da wandte sich Lotte trotzig; aber ehe sie die Thür erreichte, ehe ich ihr nacheilen konnte, war der Kutscher eingetreten und reichte ihr ein Päckchen. Hastig griff sie darnach, und als ihre Hände das Papier auseinander rissen, da erklang es hell auf der Diele und rollte durch das Zimmer und blieb zu meinen Füßen liegen – ein einfacher goldener Reif.

„Zu spät!“ sagte die Großmutter und sank zurück; wie geschlagen lehnte das alte kummervolle Gesicht in dem Polster des Stuhles; und ich bückte mich, hob den Ring auf und legte ihn auf das Spiegeltischchen.

Dann fand ich mich plötzlich auf dem Wege zur Domaine; ich ging nicht, ich flog. Ich mußte ein freundliches Wort sprechen, das fühlte ich, und dennoch bangte mir. Ich meinte, sie müßten mich hinausstoßen mit Haß und Verachtung – um meiner Schwester willen. Als ich athemlos an der Gartenpforte anlangte, sah ich Anita plötzlich vor mir stehen. Ach so, der Tag der italienischen Stunde! „Ich glaube nicht, daß meine Schwester heute im Stande ist,“ stotterte ich –. Sie sah mich forschend an und sagte: „Ich werde fragen; ich kann ja wieder gehen, wenn es nicht paßt.“

Ich eilte an ihr vorüber, den Hof entlang, dem Hause zu. Im Flur stand Frau Roden, so ruhig wie immer; sie beobachtete, wie eben ein Mädchen frische schäumende Milch in einen großen Steintopf goß. Die alte Frau sah mich erst, als ich dicht neben sie trat, und sie reichte mir sofort freundlich die Hand. Dann deutete sie nach seiner Zimmerthür, legte den Finger auf den Mund und führte mich die Treppe hinauf. Ich folgte ihr auf den Zehen gehend; es war, als sei ein Sterbender im Hause, und so schwer lag es mir auch auf dem Herzen.

In das Stübchen, wo wir zuerst geschlafen in Rotenberg, hatte sie mich geleitet. „Dort unten könnte er doch in mein Zimmer kommen, und er würde es nicht ertragen, Sie heute zu sehen,“ erklärte sie halblaut. Dann zog sie mich auf das kleine Sofa zwischen den Fenstern.

„O, sagen Sie mir, wie erträgt er es?“ bat ich.

[142] Bis jetzt hatte sie die Thränen herzhaft verschluckt; nun liefen ihr doch ein paar helle Tropfen über die Wangen. „Er hat’s wohl kommen sehen,“ sprach sie, „aber trotzdem –. Zuerst wollte er hinüber, er konnte es nicht fassen; nun hat er sich eingeschlossen. Ich sage auch weiter nichts jetzt, was soll Trost und Zureden in solchen Augenblicken? Aber –“ und es zuckte wieder um ihren Mund, „ich habe an der Thür gehorcht, es war als ob – doch ich habe mich wohl geirrt, es klang wie Weinen.“ Sie sah mich an, als wollte sie mich fragen, ob sie wohl recht gehört habe? „Nachher hat er David hinüber geschickt; er brachte den Ring, nicht wahr?“

Ich bejahte.

„Nun ist’s am Ende,“ sagte sie. „Wozu dies Alles erst? – Sein ganzes Herz hing an ihr –.“

Dann sprang sie auf. „Das war seine Stimme; er rief wohl nach seinem Pferde?“

Wir standen athemlos an der etwas geöffneten Thür und lauschten. Er sprach ruhig zu dem Verwalter, dem alten Müller, die Worte drangen bis zu uns hinauf: „Zeitung – Benedetti – unerhört – der Krieg ist da, eh’ man es denkt!“ – „Mir soll es recht sein,“ hörten wir den Verwalter sagen.

„Ei, großer Gott, der sitzt freilich im Trocknen,“ flüsterte die alte Frau; aber dann ward sie still, denn Fritz sprach. „Mir auch, Müller, sehr!“ – Gleich darauf tönte der Hufschlag des Pferdes zu uns herauf.

Ich eilte zurück ans Fenster. Dort ritt er, grade die Straße hinauf an unserem Hause vorüber, ruhig, aufrecht wie immer. Mit schimmernden Augen sah ihm die Mutter nach.

„Gott sei Dank!“ sagte ich, „er scheint ruhig.“

„Er scheint!“ erwiderte sie, „Sie kennen meinen Jungen nicht.“ Und nach einer Pause setzte sie hinzu: „Da fliegt die erste Botschaft von dem Bruch in die Welt hinaus,“ und sie deutete auf Anita, die beflügelten Schrittes unter den Kastanien dahin eilte. „Hui! da giebt’s etwas für die Klatschbasen, und wie wird Se. Durchlaucht sich freuen!“

„Der Prinz?“ rief ich verletzt. „Was geht es den Prinzen an?“

Da legte die alte Frau ihre Hand auf meine Schulter: „Gebe Gott, daß es nicht mit Thränen endet!“

„Aber Lotte denkt nicht an ihn,“ versicherte ich. Doch sie wandte sich um und antwortete nicht; sie drückte mir nur stumm die Hand, und als sie die Thränen sah in meinen Augen, klopfte sie mir freundlich auf die Wange. „Wir bleiben uns gut, Kindchen; – ich bin keine von denen, die ihren Groll auf unschuldige übertragen. Kommen Sie wieder, kommen Sie nur recht oft und grüßen Sie mir meine alte gute Werthern.“

„Sollte das Ernst sein mit dem Kriege?“ fragte ich.

„Wie’s Gottes Wille ist,“ erwiderte sie; „an Gutes glaube ich nicht mehr!“

Als ich heimkehrte, fand ich Lotte am Fenster der Vorderstube; sie rührte sich nicht, und ich ging an ihr vorüber zur Großmutter. Die alte Frau saß am Schreibtisch vor ihrem geöffneten Schmuckkästchen und betrachtete ein Paar köstliche Brillantohrringe.

„Das ist das Letzte,“ flüsterte sie, und die länglichen Tropfen funkelten in der zitternden Hand. „Packe sie ein, Tone, und schicke sie an ‚Friedberg und Söhne‘ unter den Linden; und da das Briefchen. Ich kann so schlecht damit fertig werden; meine Arme sind wie gelähmt.“

„Was willst Du thun, Großmutter?“ fragte ich ängstlich. Ich kannte die Ohrringe; sie waren ein Andenken aus den Tagen des Glückes und der Jugend; die alte Dame hatte sie nie ohne Thränen angeschaut. „Die schenkte mir mein Mann, als der Junge geboren ward,“ hatte sie uns oft erzählt. Der „Junge“ war mein Vater; er lag auf dem Garnisonkirchhof in Berlin – aber bis heute hatten diese Steine ihr immer und immer wieder jene Stunde zurückgezaubert, die allerschönste, da er in der Wiege schrie und dieses alte Antlitz so jung, so selig lächelnd auf Mann und Kind geblickt. „Was willst Du thun?“

„Dem Fritz Roden die Summe zurückerstatten, die er auf ihren Wunsch für den Hans geliehen –. Was geht ihn Hans an?“

„Es wird ihn verletzen,“ wandte ich ein.

„Ich kann und will keine Almosen nehmen,“ erwiderte sie stolz; „Lotte selbst bat darum.“

Ich that ihren Willen; das alte Gesicht sah so furchtbar entstellt aus. Da waren sie wieder, die Sorgen, die quälenden Sorgen! „Was wird aus Euch, aus Lotte?“ flüsterte sie. „Und dazu die Wolken, die von Frankreich herüber ziehen! Tone, komm nachher wieder, lies mir vor; der König schon in Berlin, die Stadt in ungeheurer Aufregung; der Thiers hatte zwar zum Frieden gesprochen, als ob das etwas helfen könnte! Mir ist schrecklich Angst, Tone – ich dachte doch, ich könnte ruhig sterben –. Nun, ich erlebe das Ende nicht mehr!“

„Ach, Großmutter,“ bat ich, „sprich nicht so!“ Mir fiel nichts ein; womit sollte ich sie trösten? Ich siegelte das Päckchen und wollte es, auf ihren Wunsch, selbst nach der Post tragen, dann stockte mein Fuß auf der Schwelle der Verbindungsthür – Lotte stand noch immer am Fenster, aber sie hielt ihr Tuch in der Hand und machte eine leise, grüßende Bewegung, und als meine erstaunten Blicke hinausflogen, da fiel eben der gelbe Vorhang drüben vor einer rasch zurücktretenden Gestalt zusammen.

„Lotte!“ rief ich vorwurfsvoll.

Sie wandte sich. Ein rosiges, selig lächelndes Mädchengesicht blickte mich einen Moment an, dann wurden die Züge augenblicklich ernst. „Was willst Du?“ fragte sie finster.

„Nichts!“ stieß ich hervor und eilte an ihr vorüber. Auf der Straße sagte ich mir ein „Nein!“ nach dem anderen; ein „Unmöglich!“ nach dem anderen. Ich mußte mich geirrt haben!

Am Abend blieb es dunkel im Schlosse; aber in der zehnten Stunde rollte ein Wagen rasch auf unserer Straße dahin, und in dem blassen Dämmerlicht, das der Mond trotz verhüllender Wolken gewährte, flatterte ein weißes Tuch zu unserem Fenster empor; – oder hatte ich mich wiederum getäuscht?

Ich wollte ehrlich fragen, ob ich recht gesehen heute Nachmittag und vorhin? Aber als ich unser Schlafzimmer betrat, lag sie schon im Bette, und als ich näher hinsah, schlief sie, und um ihren Mund zog sich ein Lächeln. Ich ging zur Großmutter und las ihr vor; die alte Dame ruhte in ihren Kissen, die Hände gefaltet. Ihre blassen Lippen bewegten sich leicht. „Gott gebe das Beste! Er schütze unseren König und unser Vaterland,“ sagte sie zuletzt, als ich ermüdet innehielt. „Es kommt eine große Zeit, eine gewaltige Zeit, Tone; aber, denk an mich – wir siegen, wir siegen!“

Ich sah sie fragend an. Ich hatte ganz mechanisch gelesen, meine Gedanken waren bei Lotte; wie ein leerer Schall waren die Worte von meinen Lippen gekommen. Krieg! Er wünscht sich ja Krieg, er wollte vergessen! –

Gegen Morgen kam ein heftiges Gewitter; ein furchtbarer Donnerschlag weckte Lotte und mich zu gleicher Zeit, prasselnd schlug der Regen auf die Blechplatten des Balkons und gegen die Fensterscheiben. Ich stand auf und schickte mich an, zu Großmutter zu gehen; sie hatte immer Angst beim Gewitter. Ich mußte hart an Lotte’s Bett vorüber; sie blinzelte unter den langen Wimpern hervor, und nun streckte sie die Hand aus und hielt mich an den Kleiderfalten, wie schon einmal.

„Tone, bist Du mir böse?“ Und als ich sie ernsthaft ansah, ließ sie mich los und sagte: „Ach, ihr seid Alle so anders als ich; Du bist so vernünftig, so kalt, so ewig gleich –. Hast Du schon jemals Herzklopfen gehabt, Tone? Athemloses, erstickendes Herzklopfen? Ist Dir schon jemals schwindelig gewesen vor lauter Glück und Lust?“

– „Laß mich!“ rief ich empört und gereizt. „Vielleicht versteh’ ich Dich noch einmal, jetzt vermag ich es nicht. Ich bin zu traurig, zu sorgenvoll! Und nun laß mich zu Großmama; sie war gestern so aufgeregt.“

„Ich stehe auch auf!“ rief Lotte mir nach; „ich glaube, nach dem Regen sind alle Rosen im Garten aufgesprungen.“ Das klang so frisch, so jubelnd; wie lange hatte ich sie nicht so gehört!

Die alte Frau schlief. Regungslos lag sie in den Kissen; auch jetzt noch, als ein erneuter heftiger Donner das Haus erbeben machte. Leise schlich ich mich an ihr Bette und bog mich über sie; ein seltsam ruhiges weißes Antlitz ruhte auf dem weißen Pfühl. In athemloser Angst griff ich nach der Hand – eiskalt durchschauerte es mich, und entsetzt schrie ich auf –; das war kein Schlaf!

Ich erinnere mich nicht mehr genau, was ich that und begann, ich fühlte nur Eins deutlich, wir waren nun ganz verlassen!

Lotte, die meinen Schrei gehört, kam, noch im Nachtkleide, herübergestürzt. ihre angstvollen Augen erfaßten mit einem Blick das Schreckliche. „Todt?“ fragte sie, und ein nervöser Schauer schüttelte ihren Körper.

[143] „Todt! Todt!“ jammerte ich, „und Du bist schuld daran! Unser einziger Schutz, unsere einzige Zuflucht!“

Und diesmal war Lotte die Stärkere, die Gefaßte. „Tone, sei ruhig! Tone, gieb mir die Hand, stehe doch auf; – wir sind nicht schutzlos; denke doch nicht gleich das Schlimmste,“ bat sie. Und an mir vorüber beugte sich ihr warmes junges Antlitz auf die kleine welke Hand der Todten. „Vergieb mir, Großmama!“ – Und während ich wie zerschmettert liegen blieb vor dem Bette, eilte sie, sich anzukleiden. Im Nebenzimmer hörte ich, wie sie die Aufwartefrau mit der Trauerbotschaft zu Anita sandte. Es dauerte auch nicht lange, und die kleine schwarze Person war in dem Sterbezimmer.

Lotte und sie richteten mich empor und führten mich in unsere Wohnstube, ich fühlte Kölnisches Wasser an meinen Schläfen und trank bitteren schwarzen Kaffee, den Lotte mir vorhielt, und dazwischen klang wie im Traume ihre Stimme an mein Ohr: „Sorgen Sie, Anita, daß man es sofort schreibt –.“

„Sehr wohl, gnädiges Fräulein! Gnädiges Fräulein brauchen sich um nichts zu kümmern, ich sorge für Alles. Und jetzt werde ich drinnen die Fenster öffnen und die gnädige Frau Großmama so schön, so schön legen und das Zimmer aufräumen und Blumen aus dem Garten holen, und wenn das gnädige Fräulein etwas zur Trauertoilette befehlen – und den Sarg –“

Da richtete ich mich auf. „Sie rühren Frau von Werthern nicht an!“ rief ich.

„Aber Tone, das kannst Du nicht Alles übernehmen,“ beschwichtigte Lotte. Doch schon hatte ich die Thür des Sterbezimmers hinter mir geschlossen. Sie kamen nicht nach, und ich saß da am Bette der alten Frau und dachte weiter nichts, als daß wir den letzten Halt unseres jungen Lebens verloren hatten, ich und Lotte.

Die sanfte Berührung einer Hand, die sich auf meine Schulter legte, ließ mich emporfahren. „Armes Kind!“ sagte die weiche Stimme der Frau Amtsräthin. „Meine gute alte Werthern!“

Und sie strich über die runzelige Wange der Verblichenen, legte ein Leinwandtuch über die todten Augen, fügte die Hände über der Brust zusammen und strich die Falten der Decke glatt.

„Kommen Sie, Tone,“ bat sie dann, „hier will ich die Vorhänge schließen und die Fenster dahinter öffnen. Kommen Sie aus dem dumpfen Zimmer; sie schläft still und friedlich hier –. Ich gehe mit Ihnen in Ihr Schlafstübchen oder in die Küche, dort sind wir allein.“

Ich folgte ihr; wir mußten durch das Wohnzimmer. Lotte saß am Schreibtisch, völlig in Toilette und schrieb; Anita hatte am Fenster Platz genommen und hantirte in schwarzem Krepp und Flor umher. Großer Gott! Ja, es mußte sein! Wohl dem, der so stark ist, die Aeußerlichkeiten nicht zu vergessen in solchen Stunden –. In der Küche sank ich auf den nächsten Stuhl; ich war wie betäubt.

„Ei, Tone, nicht so den Muth verlieren!“ mahnte die kleine gute Frau. „Denken Sie, wie hoch betagt unsere alte Werthern war, es ist gar natürlich, daß sie die Augen schloß –“. Sie verstummte, sie mochte wohl fühlen, es sei kein Trost, was sie sagte.

„Es ist zu viel auf einmal!“ stieß ich hervor, „zu viel! Was soll aus Lotte werden? Ach, Lotte!“

„Der liebe Gott verläßt Niemand, Tone.“

Ach ja, wenn mir der liebe Gott das nur selber sagen wollte, laut und deutlich; aber es blieb Alles stumm auf mein verzweifeltes banges: Was nun?

So saßen wir eine lange Zeit; dann erhob sich Frau Roden. „Ich will nun gehen, Tone,“ flüsterte sie, „und alles Nöthige besorgen, Sarg und Todtenfrau – auch Mittagessen und Wein schicke ich herüber.“ Sie brach plötzlich ab, denn Lotte hatte die Thür geöffnet und schaute herein.

„Ist es Dir recht, Tone, wenn wir das Begräbniß auf deu neunzehnten Juli festsetzen?“ fragte sie. Ich hob den Kopf und dachte nach; wir hatten den Siebenzehnten heute.

„So rasch?“ fragte ich.

„Aber wozu dieses Zögern, Tone? Sag doch selber, der Tischler muß es wissen.“

In der That erschien hinter ihr der Kopf eines Mannes. Frau Roden stand mit der Miene des höchsten Erstaunens dabei.

Ich nickte stumm, und Lotte verschwand.

„Ich bin wohl überflüssig, Tone?“ Die Stimme der alten Dame bebte. „Anita besorgt schon Alles? Das will ja nichts weiter sagen, aber Tonchen, wenn Sie ein Herz brauchen und ein gutes Wort, dann kommen Sie zu uns.“ Sie strich mir mit der Hand über den Scheitel und ging.

Lotte handelte für mich oder – ließ handeln. Es geschah Alles, was in solch traurigem Falle geschehen muß, still und geräuschlos. Und als der Abend kam, flammten die Kerzen aus dem ernsten Grün, mit dem man das letzte Bett der Großmutter umstellt hatte. Inmitten des Zimmers war sie aufgebahrt, und sie ruhte dort so friedlich in dem weißen Gewand, das man ihr angethan, und dem klaren Häubchen um das stille Antlitz. Lotte und ich hatten dort gestanden und sie angeschaut, als Anita uns rief. Nun saßen wir im Wohnzimmer, ohne Licht, und sprachen kein Wort.

Dann fing sie an, umher zu wandern, lautlos, auf dem Rande des Teppichs; ihre dunkle Gestalt glitt vor meinen Blicken hin und wieder, und leise rieselte die Trauerschleppe hinter ihr.

„So sprich doch eine Silbe!“ redete sie mich endlich an.

„Mir ist sehr bange,“ sagte ich.

„Es wird auch wieder anders!“

„Woher hast Du diesen Muth, Lotte? Wir sind schlimmer dran, als die Bettlerin am Wege!“

„Nous verrons!“ sagte sie. „Ich verzweifle nicht so leicht.“

„Die einzige Zuflucht hast Du uns verscherzt –.“

„Es giebt mehr als eine; ich fürchte mich nicht!“ das klang so hell, so siegesgewiß. Ich fragte unwillkürlich noch einmal: „Woher dieser Muth?“ Und als sie schwieg, fuhr ich fort: „Meinetwegen ist es ja nicht; mit vierzig Jahren habe ich eine Stiftsstelle in Berlin, und bis dahin werden die Kräfte ja wohl ausreichen zur Arbeit. Aber Du, Lotte, wie willst Du es anfangen unter fremde Leute zu gehen? Es ist so schwer im Banne der Dienstbarkeit.“

„Ich?“ das klang wie ein belustigter Aufschrei. Sie verstummte aber gleich, und wieder begann sie ihre Wanderung. Zuweilen trat sie an das weit geöffnete Fenster, wie horchend. Vom Schloßthurm schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde, endlich elf Uhr. „Komm,“ sagte ich, „laß uns zu Bette gehen, vielleicht erbarmt sich der Schlaf über uns.“

„Nein, ich kann nicht schlafen, noch lange nicht,“ erwiderte sie hastig. „Bleibe bei mir, Tone, ich bitte Dich.“ Ich lehnte den Kopf zurück, und meine Angen hafteten wieder auf dem schmalen Lichtstreif, der sich durch die Thür des Sterbezimmers drängte.

„Ein Todter ist so furchtbar unheimlich im Hause, man meint beständig die bekannten schweren Athemzüge zu hören, ein Aechzen, ein Rascheln; – hörst Du nichts?“ flüsterte Lotte.

„Ja, aber es ist Täuschung.“

„O nein, es kommt ein Wagen, horch! Ich habe mich nicht getäuscht.“ Und sie eilte zum Fenster und bog sich weit hinaus.

Ich hörte im schlanken Trabe einen Wagen vorüber fahren: nach wenig Sekunden war das Rasseln verstummt, er mußte sein Ziel erreicht haben. „Was ist Dir, Lotte?“ fragte ich sie, die noch immer hinausschaute, und ich kam herüber und faßte nach ihrer Hand. Sie antwortete nicht, aber ich fühlte, wie sie zitterte und wie ihr Athem schwer ging. Nach der Richtung ihres Kopfes zu schließen, blickte sie unverwandt zum Schlosse hinüber. Aus dem Zimmer des Prinzen drang matter Lichtschein durch die Vorhänge; nun theilten sich diese, eine Männergestalt erschien auf dem hellen Hintergrunde und das Fenster öffnete sich –. Lotte war unbeweglich wie eine Statue. – Dann ein Ton, wie wenn zwei Hände leicht zusammengeschlagen werden, und die Vorhänge fielen zurück; regungslos hingen die Falten hernieder.

„Tone! Tone!“ flüsterte Lotte und schlang ihren Arm um meinen Hals; „ach, Tone!“ Und dann zog sie mich in das Zimmer hinein, und indem sie mich anf das Sofa drückte, kniete sie vor mir und barg ihr heißes Gesicht in meinen Schoß. „Gräme Dich nicht, sorge Dich nicht, es wird Alles gut!“

Mir fielen plötzlich Frau Roden’s Worte ein: „Ei, wie wird Se. Durchlaucht sich freuen über Lotte’s Freiheit!“ Sollte sie dennoch Recht haben? „Um Gotteswillen, Lotte, woran denkst Du? Lotte, es wäre entsetzlich – auch das noch!“

„Ich weiß nicht, was Dir einfällt!“ erwiderte sie erregt; „frage mich nicht und ängstige Dich nicht. Ich bin nicht zu bedauern; bitte, schweige.“

„Lotte,“ sagte ich und faßte ihre Hand, „ich kann arbeiten, ich werde für Dich sorgen, versprich mir nur – –“

[144] „Gar nichts!“ rief sie stolz. „Ich wiederhole Dir, ich werde Dir nie zur Last fallen, lieber ginge ich zu Hans nach Amerika. Aber höre doch auf, ich bin nicht im mindesten verzweifelt.“ Und sie zündete Licht an, ging ins Schlafzimmer und begann ihre Nachttoilette zu machen.

Ich blieb allein in der finsteren Stube. Unaufhörlich ging es mir durch den Kopf: Und was nun? – Nach Berlin zurück! Lotte mußte Unterkunft finden im Hause ihres Vormunds, und ich – ach, für mich war ich ja nicht besorgt! Und endlich versank der rastlose Wirbel der Gedanken in eine nicht zu bewältigende Müdigkeit; ich tastete mich durch den finsteren Raum und warf mich angekleidet auf das Bett.


Mit schweren Gliedern und schmerzendem Kopf erwachte ich am andern Morgen, und wie mit Centnergewichten fiel die Gegenwart auf mein Herz.

Ich richtete mich empor, ein wunderbarer blaugoldener Schimmer drängte sich durch die Vorhänge. Lotte hatte schon ihr Lager verlassen; im Nebenzimmer hörte ich leise sprechen und erkannte Anita’s Stimme. Es kam mir vor, als habe sie einen gewissen demüthigen Tonfall, den ich früher nicht bemerkte. Als ich nach einer Weile in das Wohnzimmer trat, stand Lotte fertig angekleidet vor ihrem Schreibtisch und betrachtete wie verlegen ihre schmale weiße Hand. Sie kam mir nicht entgegen, sie nickte nur stumm mit dem Kopfe. Anita war verschwunden.

O, diese erdrückende Stille und Schwüle in dem Zimmer, trotz der kühlen Morgenluft! Neben Lotte’s Theetasse lag ein Strauß stark duftender Orangeblüthen; sie machten meinen Kopfschmerz nur noch weher.

Der Vormittag ging stumm vorüber; ich hatte keinerlei Energie mich empor zu raffen. Lotte schrieb; ich dachte nicht darüber nach, an Wen? Im Nebenzimmer hörte ich dann schwere Tritte und Flüstern – der Sarg ward gebracht. Ich hatte nicht das Herz, das stille Antlitz noch einmal zu sehen.

Und derweil begann schon der Sturm durch die Welt zu brausen, der herrliche, der furchtbare Sturm. Auf den Gassen standen die Menschen beisammen und sprachen von „Kriegserklärung“, die stündlich kommen müsse. Von Haus zu Haus, von Herz zu Herz flog der eine Gedanke: „Der alte Feind! Auf, gegen ihn mit Gut und Blut, mit Allem was wir haben!“ Keiner, Keiner dachte noch an eignen Kummer, als hätten die Hunderttausende deutscher Herzen nur einen Schlag, den für des Vaterlandes Ehre! – Ach, wer da so unsichtbar hätte wandern können durch Deutschlands Städte und Dörfer, hinein blicken in Haus und Hütte, wie viel edle Begeisterung, wie viel freudigen Opfermuth, wie viel Hochherzigkeit und Selbstverleugnung hätte er zu schauen bekommen! Und nur ich saß da und konnte mich nicht fassen!

Krieg! Wirklich Krieg! Das heißt doch – Thränen und Leid, und Leid und Thränen? Als ob es noch nicht genug des Jammers! Das war Alles, was ich zu denken vermochte.

Und der Tag verging und ein zweiter brach an, der Begräbnißtag. Gegen elf Uhr brachte man den Sarg das Treppchen hinunter; er mußte durch den Domainengarten getragen werden, am Thore des Gutshofes wartete der Leichenwagen. Ich habe nichts von Allem gesehen und gehört, denn ich saß an dem einzigen Orte, wo ich ungestört verweilen konnte, in der kleinen Küche, nach dem stillen Garten hinaus. Nur das Geläut der Glocken, das die alte gute Frau zum Kirchhof begleitete, scholl in mein Ohr.

Und mitten hinein in dieses Friedensgeläut tönte der Ruf: „Zu den Waffen! der Krieg ist erklärt, die Einberufungsordre da!“

Ich wußte es nicht, da stürzte Lotte in mein Zimmer. – Der vom Begräbniß heimkehrende Prediger hatte die Nachricht mitgebracht. Sie war blaß, sie rang die Hände, sie zitterte an allen Gliedern. Es war, als ob ihr Anblick mich gewaltsam emporrüttelte.

„Tone, das ist furchtbar!“ stammelte sie.

Ich folgte ihr in das Vorderzimmer, wo der Geistliche noch stand. Von der Straße her schallten Rufe und ungewohnter Lärm. „Ihre Trauer wird milder werden in dem großen allgemeinen Leid,“ sagte der alte Mann, „helfen auch Sie mit tragen; Gemeinsamkeit giebt vielen Trost, viel Freudigkeit.“

Als er gegangen, trat ich zu Lotte, und einen Augenblick hielten wir uns fest umschlungen; ich fühlte ihr klopfendes Herz an dem meinen und hörte ihre bangen schluchzenden Athemzüge.

„Es ist furchtbar!“ flüsterte sie. „Ich glaubte noch immer, der Sturm ziehe vorüber.“

„Aengstige Dich nicht, Lotte, wir sind ja beisammen, wir haben uns!“ Nun sie zitterte, kam mir der alte Muth wieder.

„Wir sind ja Soldatenkinder, Lotte,“ fügte ich noch hinzu und gab sie frei aus meinen Armen, „und wir haben Beide leider Keinen, der da mit hinausziehen darf. – Wenn der Vater noch lebte, wenn Hans noch hier –“

Aber sie achtete meiner Worte nicht; sie lief nach der Thür, und dort blieb sie stehen, die Hände an die Schläfen gepreßt; und dann kam sie wieder ans Fenster. Sie stand offenbar unter dem Banne einer furchtbaren Gemüthsbewegung.

Dann stürmte es draußen die Treppe empor und ohne anzuklopfen ins Zinimer; Anita war es, athemlos. Ihre Augen suchten Lotte, und Beider Blicke trafen sich; es war, als ob sie Beide sprechen wollten und meine Gegenwart ihnen die Lippen schloß.

„Sie wissen es schon,“ begann endlich die Italienerin verlegen, „der Krieg – auch Se. Durchlaucht reisen morgen schon.“ Ich sah Lotte’s Antlitz nicht, sie hatte sich abgewandt; aber mir ward es mit einem Male leichter ums Herz, und still ging ich aus dem Zimmer. Wenn wirklich der lustige Prinz ein Tendre für Lotte gefaßt, so brach dieses Kriegsgewitter segensreich in den schwülen Liebestraum hinein. Ich wunderte mich, als ich Anita sofort nach mir das Wohnzimmer verlassen hörte und sie mit Windeseile durch den Gartenweg fliegen sah. Und als ich sogleich zu Lotte zurückkehrte, fand ich sie mitten in der Stube, die Hände vor das Gesicht geschlagen.

„Was ist Dir, Lotte?“

Da sanken ihre Arme herunter; ich sah Thränen in ihren Angen, und seltsam zuckte es um ihren Mund, wie, glückliches Lächeln, und doch schmerzverzogen.

Genau weiß ich nicht mehr, wie es in den nächsten Stunden ward; bei großen Ereignissen ist der Sinn wie trunken. Ich dachte nicht mehr an unsere bange Zukunft, was galt des Einzelnen Sorge noch? Die alte Aufwartefrau, die uns das lauwarme Mittagessen aus dem Speisehause brachte, hatte drei Söhne, die „mitmußten“, und der Aelteste besaß schon Weib und Kind und Geschäft. Aber die Alte klagte nicht.

Sie setzte die Schüsseln auf den Tisch und sagte: „Herr Roden hat eben die Leute auf dem Hofe versammelt und ihnen eine Rede gehalten. Er muß auch mit,“ setzte sie hinzu und heftete einen Blick auf Lotte, der nicht allzu freundlich war; „und Niemand kann wissen, wer wiederkommt!“

Ach, Er! Ich hatte seiner noch nicht gedacht heute, und ich sah Lotte an bei diesen letzten Worten, ob ihr das Herz nicht schlug in Reue, ob sie ihn lassen würde, ohne ein Wort, ohne eine Bitte um Verzeihung. Aber Lotte hatte gar nicht zugehört. Den Kopf auf die Hand gestützt, rührte sie das Essen nicht an. Draußen auf der Gasse lärmten die Jungen aus der Nachbarschaft und spielten Krieg mit den Franzosen; in unserem Zimmer war es desto stiller; ich saß dann am Fenster, Lotte am Schreibtisch. Sie kraulte hastig in den Kästen herum, zerriß Briefe und band andere zusammen, – ich begriff ihr Thun nicht. Ein paarmal that ich den Mund auf, um ruhig mit ihr noch einmal über Fritz Roden zu sprechen, aber ich wußte nicht, wie beginnen. Ein paarmal wandte sie sich, als wollte sie reden, einmal trat sie sogar dicht zu mir heran, aber auch sie schwieg; in jähem Wechsel kam und ging die Farbe auf ihren Waugen. Sie warf keinen Blick nach den Fenstern drüben, obgleich von Zeit zu Zeit der Prinz dort sichtbar wurde.

„Ich ersticke hier fast,“ sagte sie endlich, „ich wünschte, es wäre Abend.“

Als es dämmerte, erhob ich mich und fragte sie, ob sie mich auf den Kirchhof begleiten wolle.

„Morgen! Morgen!“ erwiderte sie, „heute laß mich; ich werde ein wenig im Garten auf- und abgehen.“ Und als ich zur Thür hinausschritt, kam sie mir hastig nach. „Tone!“

Wieder war es, als wollte sie sprechen, aber sie brachte weiter nichts heraus als: „Wenn Du dort betest, vergiß mich nicht! – Wann kommst Du zurück?“

„Ich weiß es nicht, Lotte – bald.“

[146] So trennten wir uns. – Lotte hat nie Vertrauen zu mir gehabt; sie kannte nur ihren eignen Willen. „Ich lasse mich nicht schieben!“

Da draußen kontrastirte der Lärm seltsam mit unserem stillen Trauerhause. Aus dem Domainenhofe standen die sämmtlichen Pferde; ich hörte Fritz Roden’s Stimme aus den Ställen erschallen, die Knechte liefen geschäftig ab und zu, und der alte Schafmeister, der noch von Anno 13 war, stand eifrig sprechend vor dem Küchenfenster. So rasch wie möglich ging ich über den Hof.

In den sonst so ruhigen Straßen das aufgeregteste Leben; vor den Thüren die Weiber in Angst und Unruhe, in den Schenken die Männer, die Kinder in vollster Begeisterung vaterländische Lieder singend. Erst auf dem Friedhof ward es stiller. Ich habe lange da draußen vor dem frischen Hügel gesessen; als ich aufstand, war es um mich her fast dunkel.

In der Stadt noch dasselbe Leben und Treiben, ferne Musik klang herüber und Hurrahrufen; nur unsere Straße lag jetzt in tiefster Ruhe. Ich warf einen Blick zu den Fenstern des Schlosses hinauf, es schimmerte Lichtglanz hinter den Vorhängen; bei uns drüben war es dunkel. Lotte saß wohl noch im Finstern! Dann schoß mir einen Augenblick der Gedanke durch den Kopf, was wohl Anita heute Nachmittag gewollt hat? Ob der Prinz etwa herübergekommen, sie zu sehen? Es wäre schrecklich peinlich, hätte er sie allein gefunden; – oder doch nicht? Er war Kavalier, er würde heute, am Begräbnißtage uns nicht stören, er hatte ja der Form genügt und mit dem prachtvollen Kranze ein paar theilnehmende Zeilen geschickt. Arme Lotte, sie war so ganz allein!

Ich beschleunigte meinen Schritt und langte athemlos in unserer Wohnung an. „Verzeihe, Lotte!“ sprach ich beim Hereintreten in das finstere Zimmer, „ich habe mich verspätet.“

Keine Antwort! Ich öffnete das Schlafzimmer – „Lotte!“ rief ich – kein Laut. „Lotte!“ schallte meine Stimme in den Garten hinaus. – Vergebens! Eine seltsame Angst überkam mich, mit bebenden Fingern zündete ich Licht an und trat ins Wohnzimmer zurück. Da lag mitten auf dem Tische ein Brief:

„An meine Schwester!“

Und im nächsten Augenblick lasen meine erschreckten Augen die wenigen Worte:

„Ich werde noch heute Prinz Otto’s Weib, denn schon morgen scheidet er. Die Trauung findet um acht Uhr in aller Stille in seinen Gemächern statt. – Ich hatte nicht den Muth, es Dir heute Mittag zu gestehen, denn ich hätte einen Widerspruch nicht ruhig ertragen, und die Stunden des Glückes sind uns karg genug bemessen. Verzeihe Deiner Lotte.“ 

[157] So weit kam es! War ich denn blind gewesen bisher? Wie mit einem Zauberschlage trat Lottes Wesen in das wahre Licht: ihr Leichtsinn, ihre Frivolität erschienen mir grenzenlos in diesem Augenblick. Prinz Otto hatte den Bräutigam aus ihrem Herzen verdrängt; noch trug sie den Ring des Andern am Finger, und schon waren die treulosen Gedanken zum Fürstenschloß hinübergeflattert. Und heute, gerade heute –!

So stand ich, den Brief in der zitternden Hand, als sich langsam die Thür öffnete und Fritz Roden eintrat. Er kam zu mir herüber und bot mir die Hand; das flackernde Licht warf einen zuckenden Schein über sein Gesicht; es kam mir vor, als sei er ein Anderer geworden, so verändert sah er aus, oder machte es die Uniform, die er schon trug?

„Ich wollte Ihnen Lebewohl sagen, Fräulein Tone,“ sprach er, „Ihnen und Charlotte. Es ist besser, man scheidet in Frieden, wenn man auf solchen Wegen hinauszieht, wie ich. In dieser Nacht reise ich ab, um den Schnellzug in T. zu treffen. Morgen um zehn Uhr bin ich bei meinem Regiment.“

Er hatte sich, während er sprach, ruhig im Zimmer umgesehen und heftete nun seinen ernsten Blick fragend auf mich. Und als ich stumm blieb und nur mit der Hand auf den nächsten Sessel wies, sagte er: „Ich danke, Fräulein von Werthern, viel Zeit habe ich nicht, es muß so manches noch besprochen werden; was ich Ihnen zu sagen habe, läßt sich auch so abmachen." Er zögerte –. „Sie stehen nun so allein mit ihrer Schwester,“ begann er abermals –

Da drängte sie sich endlich empor, die ganze tiefe Bitterkeit meines Herzens, in den Aufschrei: „Allein! Ja ganz allein!“ Und dann brach ich in Thränen aus, die ersten seit dem Tode der alten Frau.

Nach ein paar Augenblicken wußte er Alles, Alles.

Eine furchtbare Pause entstand, durch nichts unterbrochen, als durch sein schweres Athemholen. „Hier können Sie nicht bleiben,“ sprach er endlich fast heiser, „ich bringe Sie zu meiner Mutter.“

Ich schüttelte den Kopf, aber er wiederholte sein „Kommen Sie“ jetzt so bestimmt und ruhig, daß ich ihm folgte, als hätte ich keinen eigenen Willen mehr. So gingen wir neben einander durch den stillen Garten; berauschend dufteten die Centifolien in dieser wonnigen Sommernacht, und vom Gutshof scholl das Singen der Mägde und Knechte. Ueberall tiefster heiliger Friede, nur in der Menschen Herzen Kampf und Noth. Einen Augenblick blieb er stehen, deutlich klangen die Worte des Soldatenliedes zu uns herüber:

Morgen marschiren wir, Ade! Ade! Ade!
Wie lieblich sang die Nachtigall
Vor meines Liebchens Haus,
Verklungen ist nun Sang und Schall,
Das Lieben ist nun aus,
Das Lieben ist nun aus – Ade!

Ob er an den Abend dachte, wo die Nachtigall gesungen und Lotte neben ihm stand? Er fuhr sich über die Augen; dann schritt er weiter, nicht langsamer und nicht rascher, und vor der Wohnstube angekommen, öffnete er die Thür und ließ mich eintreten. Verwundert schaute die alte Frau auf, die Wäsche in einen kleinen Koffer legte. „Hier bringe ich Tone, Mutter,“ rief er. Dann war er gegangen.

Ich konnte nicht anders, ich flüchtete zu ihr, schlang beide Arme um ihren Nacken und weinte von Neuem. Und als ich ihr endlich Alles geklagt, schob sie mich zurück und starrte mich an, als sei ich nicht bei Sinnen. „Lotte – Trauung!“ stammelte sie. „Weiß er – Alles? – Armer Junge, auch das noch!“

Dann schüttelte sie den Kopf und fragte wieder: „So rasch? Getraut – sagen Sie? Heute? Anita hat die Vermittlerin gespielt, natürlich! – Daß er die Einwilligung bekam? Freilich, er ist der Abgott seiner Mutter, und sie mögen froh sein, ihn unter der Haube zu wissen. Und die Eile? Das macht der Krieg, der Superintendent traut morgen fünf Paare. – Ach, wenn ich’s nur fassen könnte, Tone! – Tone, ich muß zu meinem Fritz!“

Doch ehe sie noch die Thür erreichte, trat er wieder ein. Angsterfüllt sahen wir ihn an, aber er setzte sich ruhig an den Tisch.

„Nun thue den Koffer weg,“ bat er seine Mutter, „die letzten paar Stunden laß uns gemüthlich sein mit einander. – Fräulein Tone, bleiben Sie bei meiner Mutter, wenn es Ihnen kein Opfer ist, die alte Frau ist gar so allein.“

Ich reichte ihm die Hand als Zusage; zarter konnte der Verlassenen keine Zuflucht geboten werden.

„Ich danke Ihnen,“ sprach er, „ich gehe nun ruhiger fort.“

So saßen wir, wie immer, in der gemüthlichen Wohnstube; auf dem Tische funkelte goldener Rheinwein in den alten Römern; es sah so still und friedvoll aus.

„Mögen wir uns glücklich wiedersehen,“ sprach er und stieß mit seiner Mutter an. Und dann redeten sie von diesem und jenem in der Wirthschaft, von allem Möglichen, nur nicht von dem, worüber sein Herz fast brach, und nicht vom Scheiden. Einmal noch fuhr er dunkelroth empor; Musik schallte in das Zimmer und Fackelglanz brach durch das Fenster – Prinz Otto bekam von den Reservisten ein Ständchen. Wunderbar feierlich erscholl es: Ein’ feste Burg ist unser Gott!

Begeisterte Hochrufe auf den Fürsten und den Prinzen folgten, und endlich das Lied, das Hunderttausende deutscher Herzen höher schlagen ließ:

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall –“

und:

„Lieb Vaterland, kannst ruhig sein -“

Der alten Frau leuchteten die Augen. „Wo bleibt unser eignes Weh?“ fragte sie mich. „Weinen Sie nicht, Tone, es ist doch etwas Großes um ein ganzes Volk in Waffen.“ Und sie sah stolz zu ihrem „Jungen“ empor, obgleich ihr das alte Herz fast brach. Er war ihr Letzter.

Ich wollte die wenigen Augenblicke nicht stören, die Mutter und Sohn noch vereinten. Unter dem Vorwande, in unserer Wohnung allerlei verschließen zu müssen, entfernte ich mich. Und in den finsteren vereinsamten Räumen stellte ich mich ans Fenster und barg die fiebernde Stirn in mein Tuch. Lotte, ach Lotte!

Und allmählich ward es tiefe stille Nacht, lichtlos und schweigend lag das Schloß. Dann kam ein Wagen in schnellem Trabe daher und hielt jäh unter meinem Fenster. „Leben Sie wohl, Antonie,“ scholl es herauf.

Aber ich konnte nicht antworten; ich sank in die Kniee und legte meine Stirn auf den harten kalten Marmor der Fensterbank: schrankenlos brach der Jammer in mir durch. Wild und heiß habe ich geweint um sein und mein Elend und um das Leben, das so öd und hoffnungsarm vor mir lag.


„Die Frau Gräfin läßt das gnädige Fräulein bitten, in der Dämmerung doch einmal herüber zu kommen,“ lautete Anitas Bestellung, die mich am andern Tage in unserer Wohnung aufsuchte, wo ich mit schwerem Kopf und noch schwererem Herzen die nachgelassenen Papiere der Großmutter ordnete. Dem Vorschlag der Frau Roden gemäß sollte ich schon heute völlig zu ihr übersiedeln, und nun gab es so vieles noch zu erledigen und vieles konnte nicht eher geschehen, bis ich mit Lotte geredet.

„Die Frau Gräfin?“ fragte ich.

„Gräfin Charlotte Kaltensee, die Gemahlin Sr. Durchlaucht,“ erklärte Anita, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ach so – meine Schwester. Sagen Sie ihr, ich würde kommen. Se. Durchlaucht ist abgereist?“

„Vor einer Stunde,“ erwiderte sie. „Die Gräfin ist trostlos.“

Anita entfernte sich. Ich räumte weiter; ich konnte es nicht über mich gewinnen, einen Blick zu den Fenstern drüben zu thun. Als es dunkelte, ging ich zu Lotte; ich kann sagen, nicht mit freundlichen Gedanken.

Anita öffnete mir und führte mich durch die spärlich erleuchtete Halle den Korridor entlang bis zu der Thür, durch die ich schon einmal getreten war, an jenem Tage, als der Prinz [158] Lotte zum ersten Male sah. Ich folgte ihr und durchschritt das kleine Zimmer. „Bitte, linker Hand in den gelben Salon,“ flüsterte die Italienerin, dann entfernte sie sich. Ich hatte mit einem Male rasendes Herzklopfen, als ich vor der verhangenen Thür stand; es war eine Art Schwindel, oder machte es die eigenthümlich schwere Atmosphäre in diesen fürstlichen Räumen, stark durchduftet von Rosen und Orangeblüthen? Mit zitternder Hand faßte ich endlich die seidenen Falten und trat in das Gemach.

Es war erhellt durch verschiedene auf Etageren und Tischen vertheilte Lampen. Ueberall ein goldig heller Schein, blinkende Reflexe, ein Geriesel von schweren leuchtend gelben Stoffen; Landschaften und Menschenbilder in breiten goldenen Rahmen, prächtige alte Möbel, unzählige Nippes und am Boden ein weicher Teppich in satten Farben. Und dort, unter dem großen Bilde, auf dem wundervoll gemalte spielende Putten ihre rosigen Glieder über den Rahmen zu strecken schienen, lag auf einer chaise longue, den Kopf in die Kissen geborgen, Lotte.

Sie hörte mich nicht. Ihre langen schwarzen Zöpfe hingenüber das weiße spitzenbesetzte Negligé herab; – sie hatte es einst bei einer Theatervorstellung getragen in der Rolle einer eleganten jungen Frau – es war mir eine häßliche Mahnung und half mich noch bitterer machen. Alles Komödie! klang es verächtlich in mir.

„Lotte!“ rief ich dann. Da schrak sie empor, und ich sah in ihr schönes verweintes Gesicht.

„Tone,“ bat sie wie ein Kind, „bleib bei mir!“ Und aufstehend schlang sie die Arme um meinen Hals und versenkte ihre glühenden Wangen an meine Schulter. „Ich bin so glücklich, so glücklich, Tone! Vergieb mir und sage mir, daß Gott nicht so grausam sein kann, daß er wiederkommen muß!“

„Sprichst Du kein Wort, Tone? Hast Du keinen Segenswunsch für mich?“ fragte sie, sich emporrichtend. „Wenn Du wüßtest, wie grenzenlos lieb ich ihn habe, Du ständest nicht mehr mit so strenger Miene da, Tone. Du zürnst mir,“ fuhr sie fort und ließ nun auch ihre Arme von meiner Schulter gleiten, „weil ich Dich nicht ins Vertrauen zog? Aber es ging Alles so rasch – weißt Du. An dem Tage, wo ich meine Verlobung löste, da hatte er schon Nachricht, daß der Krieg unvermeidlich sei, und da – im Sturm hat er mir mein Ja! abgenommen. Er reiste sofort zu seiner Mutter –. Die entsetzliche Eile, die mir just so unsympathisch ist wie Dir, sie bedingt der Krieg; ich wäre unter allen Umständen für eine Anstandsfrist gewesen –. Aber so, wenn man so liebt, wenn man nicht weiß, ob man ihn wiederkehren sieht, dann schwinden alle kleinlichen Rücksichten –. Freilich,“ fuhr sie nach einer Pause ungeduldig fort, „das begreifen nicht alle Menschen, dazu gehört vollstes Empfinden, wahre Leidenschaft – Liebe!“

„Ja,“ sagte ich, und das Herz klopfte mir bis in die Zungenspitze, „und noch etwas mehr gehört dazu, um mit dem Verlobungsring am Finger dem Anderen sein Herz zu geben.“

„Ach Tone,“ erwiderte sie mitleidig, „was verstehst Du davon; wir wollen nicht mehr darüber reden. Du wirst es ebenso wenig begreifen, daß ich Fritz nie gut war, wie daß ich meinen“ – sie stockte – „Gatten unsagbar liebe.“

„Dann durftest Du Rodens Antrag auch nicht annehmen.“

„Aber,“ rief sie ungeduldig, „ich kannte Otto noch nicht! Ich gab doch Roden nur mein Jawort, um Euch und mich vor dem Verhungern zu bewahren!“

„O, das ist schrecklich, Lotte!“

„Mein Gott, das ist der Welt Brauch, Tone. Ich wäre vielleicht auch ganz zufrieden geworden schließlich, und die solide Spießbürgerlichkeit hätte mir zuletzt ebenso gut gemundet wie der ewige Kartoffelsalat, mit dem Du uns in letzter Zeit jede Woche ein paarmal satt gemacht hast –. Aber da sah ich ihn, und vom ersten Tage an, von der ersten Stunde an liebte ich ihn. Weißt Du noch, hier in diesem Zimmer? Und da –“

„Da hättest Du Fritz Roden bei Zeiteu sagen müssen, wie es um Dich stand.“

„Aber wußte ich denn, ob mich der Prinz –“

„O, ich verstehe,“ unterbrach ich sie bitter, „und da wolltest Du abwarten? Dann, wenn der schillernde bunte Schmetterling davon flog, hättest Du das spießbürgerliche vertrauensvolle Herz immer noch am Faden, – und würdest Dich mit ihm eingerichtet haben!“

„Ich bitte Dich, Tone, höre auf!“ rief sie heftig; „sei froh, daß ich in dem Augenblick, wo wir gänzlich verlassen dastanden, eine rettende Hand fand, die uns bewahrt vor dem Schlimmsten, was es giebt, vor des Lebens Noth.“ Und als ich schwieg, fuhr sie fort: „Davon wollte ich mit Dir sprechen; Otto wünscht, daß Du bei mir bleibst. – Ich soll diese Zimmer bewohnen bis auf Weiteres: Schloß Kaltensee ist noch nicht eingerichtet; es liegt in Bayern, wo der Herzog große Besitzungen hat. Es ist mir zum künftigen Wohnsitz angewiesen; wie Du weißt, führe ich auch den Namen. Es ging Alles so rasch, ich war wie in einem Traum. Ich habe ein höchst anständiges Nadelgeld, es ist gesorgt für uns Beide; ein großes Glück, Tone!“

Sie hatte sich in einen kleinen Fauteuil gesetzt und lehnte den schönen Kopf zurück.

„Ach Tone, der entsetzliche Krieg!“ seufzte sie. Und denke Dir nur, nicht einmal eine Brauttoilette hatte ich; das alte weiße Cachemirkleid mußte ich anziehen, und der Prediger sprach so kurz, so wenig feierlich, es geht ja Alles unter in dieser schrecklichen Mobilmachung. Er war mit zwei Herren, einem Rittmeister von E. und einem Kammerherrn der Herzogin, als Trauzeugen herübergekommen. Einen Myrtenkranz hat Anita mir in Hast und Eile zusammengebunden, und wäre nicht der Brillantreif gewesen, um den er sich schlang, kein Mensch hätte in mir die Braut eines Prinzen vermuthet. Aber nun sprich doch einmal, Tone! Nimmst Du ein Glas Wein mit ein paar Früchten? Im Speisesaal steht noch unser einziger und letzter Mittagstisch, fast unberührt; ach Tone, ich konnte vor Weinen nicht essen! Werde ich je wieder ihm gegenüber sitzen und ihm eine Aprikose schälen?“

Und sie sprang empor, eilte durch das Zimmer, schlug die Hände vor die Augen und lachte und weinte in einem Athem. „Am liebsten liefe ich ihm nach in den Krieg,“ schluchzte sie. „Ach, daß ich hier sitzen muß und mich sehnen und bangen! O du großer Gott.“

Sie war hinreißend in ihrer jungen Liebesseligkeit, in der Angst um den Geliebten. Aber auf mich übte es keinen Zauber. Ich mußte an Fritz Roden’s blasses Gesicht denken, an seine Augen, aus denen alles Leben gewichen schien, als er erfuhr, daß sie einen Andern gefreit.

„Du bleibst doch gleich hier?“ fragte sie. „Ich wollte Dich noch bitten, an den Vormund in meinem Namen zu schreiben; es mußte alles per Depesche gehen in der Hast. Auch wegen Großmama –. Der gute Mann wird gänzlich konsternirt sein. Ach Tone, Großmama. Glaube mir, ich traure herzlich um sie.“

Ich mochte wohl eine abwehrende Handbewegung gemacht haben, denn sie verstummte.

„Ich will Dir gerne den Brief schreiben, Lotte,“ sagte ich dann, „aber hierbleiben kann ich nicht. ich habe Fritz Roden versprochen, seiner Mutter zur Seite zu stehen in der Zeit, wo er vom Hause fort.“

Lotte war anfänglich sprachlos, dann wurde sie böse. „Das geht nicht!“ rief sie bestimmt.

„O ja, es geht, Charlotte!“

„Aber ich darf nicht allein bleiben, Otto will es nicht.“

„Dein Mann wird doch für eine passende Persönlichkeit sorgen können; überdies ist Anita da,“ erwiderte ich.

„Aber ich kann sie nicht mehr leiden!“ fuhr sie auf, „sie ist so unverschämt vertraulich. Was gehen Dich Rodens an?“

„Nichts – das ist wahr. Aber mein Rechtlichkeitsgefühl drängt mich, in Etwas den Kummer gut zu machen, der durch uns über sie gekommen ist. Außerdem – ich liebe die alte Frau wie –“

„Wie eine Mutter!“ ergänzte Lotte ironisch.

„Ja!“ bestätigte ich aus vollstem Herzen.

„Otto wird es Dir übelnehmen,“ begann sie nach einer Pause. „Er sagte gestern Abend: Deiner Schwester setze ich natürlich ein Jahresgehalt fest – wie –“

Ich fuhr empor. „Er ist sehr gütig, aber ich muß danken!“

„Was hast Du nur gegen ihn?“ fragte sie schmollend.

„Daß er feige, daß er ehrlos handelte, als er die geliebte Braut eines braven Mannes heimlich zu gewinnen wußte, das habe ich gegen ihn!“ wollte ich ausrufen. Aber ich schwieg; warum sollte ich etwas aussprechen, das sie selbst hätte fühlen müssen, und – sie hatte sich ja so leicht, so leicht gewinnen lassen.

[159] Eine lange Pause entstand. Anita war unhörbar durchs Zimmer geschritten und hatte auf einem Tischchen Wein, Früchte und Kuchen arrangirt, das sie nun herbeitrug. Sie stellte noch eine silberne Schale voll krystallklarer Eisstückchen hinzu, fragte nach der Frau Gräfin weiteren Befehlen, und als Lotte ungeduldig den Kopf schüttelte, verschwand sie ebenso leise, wie sie gekommen war. Sie hatten sich Beide überraschend schnell in die veränderte Situation gefunden; daß sie jüngst lange Nachmittage zusammen verplauderten, war vergessen; Lotte ganz Herrin – Anita ganz Untergebene.

Als ich noch immer schwieg und Lotte ansah, die mir halb den Rücken wendete, so daß ich nur das feine Profil erblickte, überkam es mich plötzlich wie Mitleid mit diesem schönen sonnigen Geschöpf. Gott allein wußte, was ihrer noch harrte an der Seite des Mannes, dem sie so rasch zu eigen geworden. Sollte ich ihr die einzigen glücklichen Stunden mit finsteren Prophezeiungen verderben? Eilig erhob ich mich. „Behüt Dich Gott, Charlotte, verzeihe meine trübe Stimmung; morgen, übermorgen, wenn ich ruhiger geworden, dann sprechen wir zusammen. Heute nur noch Eines: mögest Du glücklich werden so recht von Herzen glücklich.“

Sie wandte sich, ihre Augen leuchteten, ein helles schönes Roth flog über ihr Gesicht. „Ich bin es schon, Tone, und werde es bleiben, wenn Gott mir meinen Otto gesund heimschickt.“

Sie faßte mich um und schritt mit mir bis zur Thür.

„Komm morgen wieder,“ bat sie, „ich muß Dir noch sein Brautgeschenk zeigen und das Diadem, das die Herzogin durch den Kammerherrn schickte. Ja, und dann sprechen wir noch einmal über unser Zusammensein.“

„Nein, Lotte, darüber nicht, das ist nicht anders; rede mir nicht mehr davon.“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, drückte ich ihr die Hand und ging, wie ich gekommen, mit schwerem Herzen. Und sie blieb allein in ihrem goldenen Käfig, mit ihren süßen Erinnerungen und ihrem großen vermeintlichen Glück, ohne daß ihr auch nur der leiseste Gedanke kam: „Du hast einen Menschen, einen guten treuen Menschen, elend gemacht, vielleicht fürs Leben.“




„Wir wollen arbeiten, Tonchen, das ist der beste Trost!“ sagte Frau Roden am anderen Morgen. Und wir arbeiteten. Was haben wir Alles geschafft in jener schweren Zeit! Sachen, die gar nicht nöthig waren. Die alte Frau wußte immer etwas Neues, und wie Recht hatte sie: Arbeit ist der beste Trost!

Still, sehr still war es in dem weltfernen kleinen Städtchen, in dem alten Herrenhause; und derweil flogen die ersten Siegesbotschaften jubelnd über das deutsche Land. Von Thurm zu Thurm schwangen sich die Glockenklänge. Sieg! Sieg! Es ist ein Wort, berauschender als Wein. Selbst in unsere Einsamkeit kam vorübergehend Leben, die Menschen strömten nach den Straßenecken, wo die Depeschen angeheftet wurden; die Kinder bekamen „frei“ in der Schule; alte Feinde schüttelten sich die Hände: Leute, die nie mit einander gesprochen, riefen sich mit frohen Mienen die Kunde zu, vom Rathsthurme bliesen die Stadtmusikanten: „Nun danket alle Gott!“ und in der Kirche erbrauste die Orgel und jubelnde Menschenstimmen fielen ein. Ja, Jubel, Jubel überall.

Dann kam die Zeitung mit der ersten Verlustliste; herzbrechend, wenn man die schlichten Namen in langen Reihen hinter einander las. Welch eine Welt voll Jammer und Weh lugte unsichtbar hinter jedem einzelnen hervor! Und man starrte darauf hin und fragte sich, was man beginnen würde vor Verzweiflung, wenn das Auge einen lieben theuren Namen dort erblicken müßte?

Aber so sehr auch der fortstürmende Siegeszug die Gemüther in Athem erhielt, die Nachricht von der Heirath des Prinzen Otto mit der schönen Lotte von Werthern machte dennoch Sensation. Die guten Leute hatten Lotte noch ganz selbstverständlich als Fritz Roden’s Braut im Sinn – von der Entlobung war ja kein Wörtlein über die Schwelle des Hauses gekommen, und nun verbreitete sich plötzlich das Gerücht von der romanhaften Verbindung. Wie wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird und immer weitere Kreise sich auf der stillen Oberfläche dahin ziehen, so ging es von Lippe zu Lippe, von Ohr zu Ohr, leise und zweifelnd – ja, wer weiß, ob es wahr ist? Als aber eines Tages der prinzliche Landauer durch die Straßen brauste und in die schimmernden grauseidenen Polster die schlanke, in elegante Trauer gekleidete Gestalt der jungen Frau sich schmiegte und ihr schönes stolzes Gesicht, vom schwarzen Spitzenhütchen umrahmt, gleichgültig über die gaffenden, die Fenster aufreißenden Leute hinweg sah, da wußte man es endlich, daß die Brautschaft mit dem Roden vorüber und der Prinz, der lustige Prinz Otto, sie heimgeholt habe in sein Schloß.

Frau Roden’s Besuchzimmer wurde gar nicht leer von all den Menschen; aber die neugierigen Fragen blieben hinter den erstaunten Lippen, wenn sie mich erblickten und die liebe alte Frau mich so freundlich als ihren Trost in der Einsamkeit, als ihre Hausgenossin vorstellte. So klug wie sie gekommen, gingen sie wieder und hatten nur gerade erfahren, daß Herr Roden, nach welchem sie sich so angelegentlich erkundigten, Gottlob wohlbehalten in Frankreich marschire, und daß er fleißig schreibe.

Unsere Wohnung stand verschlossen, die Möbel verhangen; nur einige der lieben alten Sachen hatte ich mir herüber tragen lassen in die Zimmer, die mir Frau Roden eingeräumt; dieselben, in denen wir zuerst wohnten. Wohn- und Schlafstube war daraus geworden; am Fenster stand mein Nähtisch, in der Ecke das Klavier und am Ofen das Körbchen für Schnips. Der kleine vierbeinige Freund hatte zwar ein schöneres drüben bei Lotte, aber zuweilen besuchte er mich doch, als wollte er seiner alten Pflegerin nicht ganz untreu werden, und dann schmeckte ihm die Milch, die ich ihm vorsetzte, immer köstlich.

Lotte hauste still vornehm in ihrem kühlen Schloß und beantwortete die vielen, vielen Briefe und Depeschen, die ihr täglich neue Liebesgrüße von dem Prinzen brachten. Er war im zweiten bayerischen Korps; sein Bruder, der Erbprinz, stand bei den Sachsen und Fritz Roden marschirte mit seinem alten Regimente, den preußischen Garde-Füsilieren.

Und weiter, weiter ging die Zeit; so bang, so schwer für uns Daheimbleibende. Und wenn sich auch emsig die Hände regten zu allem Möglichen, was da hinausgeschickt ward, um das Elend zu lindern – die Gedanken ließen sich nicht abweisen, sie flogen über die Schlachtfelder und suchten die Fährten, wo sie gezogen und gestritten; überall, überall, im heißen Sonnenbrand, auf staubigen Straßen und in regnerischen Bivouaknächten. Ach Gott, behüte und schütze sie. Wohl hundertmal fragte die alte Frau: „Wie mag’s ihm gehen?“

Wie rasch konnte sie durch die Stube eilen dem Briefträger entgegen, um den Feldpostbrief in Empfang zu nehmen. „Warten, warten!“ sagte sie dann athemlos zu dem alten Manne und riß das Schreiben auf, und wenn die Mutteraugen erblickten, was sie ersehnt hatten, daß er gesund und wohlbehalten, so langte sie in die Ledertasche unter der Schürze, und jedesmal kriegte der schmunzelnde Alte einen harten Thaler. Und dann rief sie das ganze Haus zusammen auf dem großen Flure und Alle mußten hören, was er berichtete. Zuweilen versagte ihr die Stimme vor Rührung, dann las ich weiter, und immer stand auch ein Gruß an Fräulein von Werthern dabei.

Und so kamen jene Augusttage! Ahnungslos saßen wir am achtzehnten unter den schattigen Kastanien auf dem Hofe und schnitten Bohnen ein; Frau Roden und ich auf der Bank zwischen den Fenstern, in einiger Entfernung die Mamsell mit den Mägden auf den Stufen der Haustreppe. Vor uns spielten einige Kinder, die dem verheiratheten Oberknecht gehörten, der in einem Seitengebäude wohnte und zu seinem größten Kummer daheim geblieben war, weil er lahmte. Frau Roden amüsirte sich, wie die Kleinen so tapfer Krieg führten; sie gingen wie die Wütheriche auf einander los; das kleine Mädchen aber sang aus Leibeskräften, während es neben der Mamsell auf den Sandsteinstufen saß und ihre Puppe wiegte:

„Eins, zwei, drei,
Mit den Franzosen ist’s vorbei!
Sie wollten avanciren,
Sie müssen retiriren –
Eins, zwei, drei,
Mit den Franzosen ist’s vorbei.“

Gar komisch klang es aus dem Kindermunde, und Frau Roden lachte herzlich. „Das ist alt, das konnte meine Mutter schon singen,“ sagte sie.

Da kam ein Lakai durch das geöffnete Thor auf den Hof, der mich zu Lotte rief. Ich band meine Küchenschürze ab und ging hinüber.

[173] Du mußt mir helfen,“ rief Lotte mir freudestrahlend entgegen; „denke Dir, die Herzogin will mich sehen – endlich! Ach, Tone, es war ein demüthigendes Bewußtsein, daß man keinerlei Notiz von mir nahm, daß man mich nicht kennen zu lernen wünschte! Und nun, wie liebenswürdig: die Herzogin kommt ganz inkognito nach – es soll aussehen wie eine zufällige Begegnung – nach Schloß Grunen: dort sollen wir uns treffen, und Du mußt mich begleiten. Sieh’ doch selbst, was die Fürstin schreibt“ – sie hielt mir einen zierlichen Brief unter die Augen. „Sie will Die sehen, die ihren Lieblingssohn in Fesseln schlug. O, sie soll ganz reizend sein! Tone, um Gotteswillen, was mache ich für Toilette?“ Und sie zog mich erregt in das Schlafzimmer und hieß Anita einige Kartons aus der Ankleidestube bringen. Sie zitterte und lächelte und war wie ein glückliches Kind.

„Ich freue mich, Lotte,“ sagte ich, „es wird Dir wohlthun. Hast Du gute Nachrichten von Deinem Manne?“

„O, prächtige! Er liegt in einem schönen Schlosse bei St. Nicolas und amüsirt sich herrlich, und er hat mir in Nancy einen ganzen Karton voll Seidenstoffe gekauft, lauter weiße Seide; er sagt, ich dürfe nur noch Weiß tragen.“ Und sie nahm Anita fast hastig die duftige weiße Mullrobe mit echten Kanten geschmückt aus der Hand. „Das, Tone? Geht das? – Natürlich nur, wenn wir schönes Wetter haben morgen. – Anita, holen Sie den Hut mit den weißen Straußfedern. Nicht wahr, Du kommst mit, Tone?“

Ich konnte es nicht abschlagen in ihrer Seligkeit: war mir doch auch ein Stein vom Herzen, daß man endlich Notiz von ihr nahm. „Wann soll das Rendezvous sein?“

„Um zwei Uhr morgen Nachmittag; wir fahren um Zwölf hier weg – sei pünktlich, Tone.“

Ich versprach es, lobte die Toilette, und als, in das gelbe Zimmer zurückgekehrt, die junge Frau hastig zu dem Schreibtische [174] eilte, fragte ich: „Du willst es dem Prinzen mittheilen? Ich störe wohl, Lotte? Dann also auf Wiedersehen morgen.“

Ich erzählte Frau Roden, daß die Herzogin Lotte sehen wolle und sehr gnädig geschrieben habe.

„Es ist ganz gut, Tonchen,“ sagte sie und schüttete Bohnen aus dem Korbe in eine Schüssel. „Ja, ihre Durchlaucht, das glaube ich wohl, sie hat einen Narren an dem Jungen gefressen; aber der Herzog wird dem Sohne diese Heirath nie verzeihen; er ist so wie so gar nicht nach seinem Gusto eingeschlagen.“

„Warum hat er’s zugegeben?“ rief ich.

„Kindchen, wer hätte sich nicht einmal überrumpeln lassen!“

Und der Tag ging hin; Abends kramte ich Lotte zu Liebe noch ein wenig für meinen Anzug zurecht. Die alte Frau, die herauf gekommen war, saß in dem Sofa und studirte die Zeitungen. „Wer weiß, wie es jetzt da draußen aussieht?“ meinte sie.

Ach, wenn wir dorthin hätten blicken können, auf das blutigste Schlachtfeld des ganzen Krieges!

Strahlend heiter war die Sonne am andern Morgen aufgegangen. Frau Roden trippelte von ihrer Kaffeetasse ans Fenster, um nach dem Briefboten zu schauen; aber der machte heute nur eine bedauernde abwehrende Bewegung und ging vorüber.

„Ei, das ist garstig, Tonchen!“

„Vielleicht Mittag,“ trostete ich.

„Vielleicht!“ seufzte sie.

Und dann ward es zehn Uhr; ich saß am Schreibtisch der Frau Amtsräthin und half ihr das Rechnungsbuch durchsehen – da auf einmal schlug die große Glocke der Marienkirche an und alle anderen stimmten ein, daß die Luft voll Klang und Jubel war. „Eine neue Siegesnachricht!“ rief ich und stürzte zum Fenster, und nun liefen auch schon die Menschen nach der Schloßgartenmauer, wo eben ein riesiges Plakat angeklebt wurde. Aber die Leute waren so still, so gar nicht wie sonst; fast bestürzt schauten sie einander an.

„Tonchen, ich muß hinaus!“ rief die alte Frau und nach ein paar Augenblicken lief sie wie ein junges Mädchen unter den Kastanien dahin. Ich weiß nicht, warum es mir wie lähmend in die Glieder fuhr, und wie starr ich in das blasse Gesicht der Zurückkehrenden gesehen haben mag, als sie ans Fenster kam und mir herauf sagte:

„Eine große Schlacht gewonnen bei Gravelotte, aber unser Erbprinz ist gefallen!“

Der Erbprinz todt! Das war mehr als Trauer, was mich packte; es war die Ahnung kommenden Unheils.

Und derweil stand Lotte vor dem großen Spiegel ihres Ankleidezimmers, im weißen spitzenbesetzten Kleide, lächelnd, strahlend, selig, und wußte nicht, daß soeben ihr Glück zu wanken begann. Sie hatten im Schloß noch keine Ahnung, als ich athemlos die Treppe hinaus kam. Lotte probirte eben das Hütchen auf, dessen weiße Feder sich so leuchtend von dem dunklen Haar abhob.

„Guten Morgen, Lotte!“ sagte ich, so ruhig es mir möglich war. Aber ehe sie noch antworten konnte, stand Anita im Zimmer, leichenblaß, an allen Gliedern zitternd, ein Bild des Entsetzens.

Lotte sah sie und schrie auf: „Um Gotteswillen – er ist todt, Tone! Erbarme Dich!“ So gellend und markerschütternd klang es, ich werde es nie vergessen.

„Nein, Lotte, Dein Mann nicht – der Erbprinz ist es, er fiel bei St. Privat.“

„Der Erbprinz ist gefallen? der Erbprinz?“ stammelte sie, „der Erbprinz? – Ach Gott, ich danke Dir!“ und sie brach in Thränen aus.

Anita stand noch immer keines Wortes mächtig; wir überhörten das leise Räuspern hinter der Portiere, die Schritte auf dem Teppich, erst als jemand flüsternd sagte: „Eine Depesche für Frau Gräfin,“ erblickten wir den Aelteren der beiden Lakaien, der wie mitleidig auf die weinende junge Frau schaute.

Sie nahm das Papier, öffnete und las:

 „Grunen unmöglich.
 von Oerzen.“

Das war der kurze, vielsagende Inhalt –. „Unmöglich!“ hörte ich Anita wiederholen.

Und draußen läuteten die Glocken weiter, und Stimmen und Tritte vieler Menschen schallten herauf. Als ich an das Fenster trat, standen die Leute Kopf an Kopf und sahen empor, als müßten sie hier die Bestätigung der Todesbotschaft erfahren. Und gleichsam zur Antwort sank eben die Flagge auf dem thurmartig vorgeschobenen Ausbau des Schlosses herunter, bis auf halb Mast –. Sie zeigten nach dem Thurme, sie blickten wieder nach den Fenstern. sie standen in stummen Scharen, und immer neue kamen hinzu.

Und hier innen saß Lotte und weinte den Schreck hinweg und dankte Gott inbrünstig, daß Er den Geliebten beschützte.

„Ist kein Trauergottesdienst?“ fragte sie dann. Anita wurde auf Kundschaft gesandt. Mit fast heiserer Stimme meldete sie, die Leute strömten schon zur Kirche.

„Komm, Tone!“ sagte Lotte. Mitten durch das Gewühl schoben wir uns und gelangten in das kühle von Menschen überfüllte Gotteshaus. Der Küster, der uns erblickte, wollte die fürstliche Empore aufschließen, aber er konnte vor Aufregung den Schlüssel nicht finden, und schon setzte die Orgel ein. „Gehen wir in den Rodenschen Kirchstuhl,“ flüsterte ich, „in dem Gedränge können wir nicht bleiben.“

Sie folgte mir, noch in dem leichten Sommerkleide, mit dem sie sich für die Fürstin geschmückt hatte; ihr Antlitz war blaß und ein wunderbarer Ausdruck von Angst, Schmerz und Glück darin. Als ich eintrat, erblickte ich im Schatten des Pfeilers Frau Roden: sie saß im Hauskleide und ihrem schlichten Häubchen, nur ein Tuch über die Schultern, die Hände um das Gesangbuch gefaltet, und da stand Lotte vor ihren Augen! Ich hatte an dies Begegnen nicht gedacht; aber die alte Dame sah die schöne Frau nicht an, und als Lotte sich auf die gegenüberliegende Bank setzte, winkte sie mich neben sich.

„Tone,“ klang es in namenloser Angst, „er war dabei, gestern – sein Regiment war mit! Und der König von Preußen sagt in der Depesche selbst: ‚Ich wage nicht nach den Verlusten zu fragen.‘ – Wenn mir Gott das gethan hätte!“ Und sie hielt meine Hand in ihrer zitternden Rechten und vermochte nicht mit einzustimmen in das Lied, das jetzt von der Orgel herabbrauste und in das Hunderte von Menschenstimmen einfielen:

 „Was Gott thut, das ist wohl gethan!“

Mir aber ward plötzlich, als sei alles Licht, alle Farbe geschwunden um mich her; ein grauer gespenstiger Schleier wogte vor meinen Augen, ich hörte nur das Eine: „Tone, er war dabei!“ – Barmherziger Gott, Du mußtest ihn beschützen! schrie es in mir. Und dann scholl des Predigers Stimme herauf:

„Die Edelsten in Israel sind auf Deiner Höhe erschlagen! Wie sind die Helden gefallen und die Streitbaren umgekommen!“

„Herr, Du hast Schweres gefordert, die Hoffnung des Landes hast Du uns genommen, den Edelsten aus unserer Mitte. Im Fürstenschlosse der Residenz weinen greise Eltern, trauert unsere geliebte Erbprinzessin, die erst vor Jahresfrist ihre Hand in die des Gatten legte, der nun gestern den Heldentod gestorben an der Spitze seiner Schar. Und doch hat unser Herzog gesagt, und wir dürfen es getrost mit ihm sprechen: ‚Heil ihm und Allen, die dort liegen auf der blutigen Walstatt, sie starben nicht umsonst, sie fielen für das Vaterland!‘ – Noch wissen wir nicht, die wir hier versammelt sind, wer von uns dort draußen auf dem Schlachtfelde einen Sohn liegen hat, einen Bruder, einen Gatten, denn heiß war der Kampf, und viele – viele sind’s der Todten. Doch wen es auch treffen möge, er sehe hin auf unser Fürstenhaus, dessen Mitglieder in Demuth und Ergebung ihre Kniee beugen, und spreche wie sie: Herr, Dein Wille geschehe!“

Herr, Dein Wille geschehe! – Ach, wie Wenige vermochten wohl demüthig und fromm dies nachzusprechen! Die alte Frau saß schier unheimlich still da. Sie hat mir später gesagt: „Ich ging in die Kirche und konnte doch nicht beten.“ – Und mir, mir ging es ebenso.

Als wir hinaustraten auf den von Menschen wimmelnden Kirchplatz, hatte sich der Himmel bezogen, und fernes dumpfes Murren ließ sich hören. Ich führte Frau Roden am Arm; Lotte, von Anita gefolgt, eilte voran, es war ihr wohl peinlich neben uns zu gehen. Ich sah der schönen Frau nach, wie sie durch die Menge ging, die ihr ehrerbietig auswich; manch einer zog den Hut, aber sie blickte nicht rechts noch links.

Da hörte ich eine Stimme aus dem Menschenstrom: „Wenn die Erbprinzessin einen Sohn haben wird, nun, dann bleibt’s beim Alten, sonst haben wir den Otto.“

„Daß Gott erbarm!“ murmelte es dicht neben mir, „da wollen wir beten, daß es ein Prinz ist.“

[175] Ich sah fragend auf Frau Roden. „Die arme Erbprinzessin!“ sagte diese.

„Und wenn es ein Mädchen?“ forschte ich und das Herz stockte mir.

„Dann wird Prinz Otto Thronerbe.“

Um Gotteswillen – und Lotte? Mir war es, als müßte ich ihr nachstürzen, ihr sagen: „mache Dich bereit, nimm Abschied von Deinem Glück!“ Aber noch war nicht Alles verloren, noch war das fürstliche Kind nicht geboren – sie durfte noch hoffen. – Und auch wir. Noch war ja keine Schreckenskunde in das alte Herrenhaus gelangt, noch stand die Hoffnung neben uns, die milde Trösterin.

In der Wohnstube auf der Domaine ward es dunkel, das Gewitter kam herauf. Gegen ihre Gewohnheit saß Frau Roden ruhig in ihrem Lehnstuhl und sah starr in die rauschenden wogenden Kastanienzweige vor dem Fenster. Zuweilen stöhnte sie leise auf. „Ein Zeichen nur, daß er lebt!“ murmelte sie. Aber es kam keines. Angstvoll hockte ich ihr zu Füßen auf der Estrade; still war es im Hause, still in den Straßen, nur der Regen rauschte hernieder, einförmig und trübselig. Die Nacht brach an; umsonst ward das Abendessen aufgetragen.

Wir gingen zu Bette und standen übernächtig wieder auf, während der langen bangen Nacht unaufhörlich die Frage wiederholend: lebt er? Und ich antwortete mir: „Er ist todt, er ist todt; er hat den Tod gesucht, weil er ohne Lotte nicht leben will!“ – der Gedanke verfolgte mich mit furchtbarer Gewalt und ward endlich in meinem Herzen zur Gewißheit.

Am andern Morgen erschienen die Extrablätter mit den Details des Kampfes, und ich erschrak über die Zahl der Gefallenen. Die Garde hatte am meisten gelitten.

„Herr Gott, gieb mir Kraft,“ sagte die bleiche Frau, und die Hände vermochten das Blatt nicht mehr zu halten.

Gegen Abend kam ein Telegraphenbote in das Haus. Es war ein schrecklicher Moment, als die alte Dame die Depesche in Empfang nahm: „Geben Sie mir einen Stuhl, Tone – so – und Licht –.“ Und dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und löste zögernd die Oblate.

„Tone!“ sagte sie nochmal.

Da konnte ich nicht anders, ich knieete vor ihr nieder und barg den Kopf in ihren Schoß. Ich hörte das Knistern des Papiers und den Seufzer, der ihre Brust hob.

„Verwundet am Arm. Nicht Angst haben, bald Nachricht. Neben mir fiel Hans von Werthern."

Sie hatte es tonlos vorgelesen. Ich hob den Kopf, und wir schauten uns in die Augen. „Hans!“ schluchzte ich. Es war eine Todesnachricht, die ich gehört! Der Bruder, der einzige war es, und dennoch kam es wie süßer Friede über mich; ich konnte weinen, mit Ehren um ihn weinen. Mein erster Gedanke galt der alten Frau, die draußen auf dem Friedhof lag. Ach Großmutter, Art läßt nicht von Art. Er kam aus Amerika – um hier zu sterben fürs Vaterland! Er hat Alles, Alles gut gemacht!

Frau Roden war wie umgewandelt. „Mein Junge muß her!“ Damit stand sie auf, zog sich an und streichelte mich: „Tonchen, ich fühle mit Ihnen! Ja, gehen Sie nur zur Gräfin, ich gehe auch; der Müller muß hin, er muß den Jungen holen, wenn er –“ sie verschluckte ihre Thränen – „noch zu holen ist.“

Sie begleitete mich hinaus, und während sie nach der Verwalterwohnung schritt, eilte ich zu Lotte. Sie saß am Tisch, vor sich das Bild des Prinzen.

„Lotte,“ fragte ich, nicht wissend wie ich es anfangen sollte, ihr die Nachricht vom Tode des Bruders, an dem sie mit leidenschaftlicher Liebe hing, so schonend wie möglich mitzutheilen, und setzte mich neben sie auf die Chaise longue, „hattest Du Briefe?“

„Nein,“ erwiderte sie. „Ach doch,“ setzte sie dann in einem Tone hinzu, mit dem man von etwas Nebensächlichem spricht, „einen Brief von Hans; er ist herübergekommen, um den Feldzug mitzumachen. Wäre er lieber dort geblieben; es ist so schrecklich peinlich, er könnte mir doch Unannehmlichkeiten bereiten. Wenn er nur Otto nicht in den Weg laufen möchte, um etwa seine Vermittelung zu suchen für persönliche Angelegenheiten.“

Ich sah zu Boden, und die Thränen liefen mir über das Gesicht. Den ungeliebten Bräutigam hatte sie um Unterstützung für ihn gebeten; Fritz Roden sollte es sich zur Ehre schätzen, dem leichtsinnigen Schwager Geld über Geld zu geben –. Der Gedanke, der Bruder könne sich dem Prinzen nähern, machte sie tief verstimmt. Auch die schwesterliche Liebe hatte sie als unnützen Ballast über Bord geworfen, als sie in das fürstliche Schloß zog.

„Warum weinst Du?“ fragte sie ungeduldig.

Da legte ich ihr die Depesche auf den Tisch und ging ins Nebenzimmer. Sie hätte mich doch nicht ansehen können in diesem Augenblick.

Nach einer Weile folgte sie mir und fiel mir leidenschaftlich schluchzend um den Hals. Und wir saßen in dem dunklen Zimmer, Hand in Hand und weinten um unseren Hans. Ich wußte, sie gäbe viel, viel in diesem Augenblick, hätte sie die letzten Worte über ihn nicht gesprochen. – Nun schwiegen wir Beide; was war auch noch zu sagen?

Als ich spät herüber kam, fand ich das Haus noch lebendig: Frau Roden packte eben in eine Reisetasche Wein, Liköre und alle möglichen Eßwaaren; ein Koffer stand schon fertig. „Darin ist Wäsche und Leinwand, Tonchen,“ sagte sie, „um elf Uhr in dieser Nacht fährt Müller ab.“

Um halb elf Uhr kam er, in Ueberrock und Hut, einen mächtigen Spazierstock in der Hand und einen Mantel über dem Arm. Er war ein stiller ernster Mensch von ungefähr fünfzig Jahren; in derselben gelassenen Weise, wie er seinen täglichen Geschäften nachging, setzte er sich an den Tisch, um eine Reisestärkung zu nehmen, zu der ihn die alte verweinte Herrin nöthigte.

„Müller,“ sagte sie, „ich denke, Sie werden sich wohl durchfinden, Deutsche giebt’s da überall; fragen Sie nur immer, wo Sie hinkommen, ob ein Lazareth in dem Orte, und dann suchen Sie, suchen Sie nur unverdrossen, Sie werden ihn ja doch erkennen, und wenn er noch so jammervoll aussehen sollte, nicht wahr, Müller?“

„Ja, Frau Amtsräthin,“ erwiderte er, „ich werde ihn schon kennen.“

„Und geben Sie alle Tage Nachricht; die Feldpostkarten stecken da in der Koffertasche, und Tinte und Feder: und schonen Sie nur das Geld nicht an unrechter Stelle, ich weiß Ihre Sparsamkeit sonst sehr zu schätzen, aber hierbei nicht.“

„Ja, Frau Amtsräthin.“

„Müller, ob Sie ihn wohl finden?“

„Ich denke doch!“

„Ach, es mag bunt dort aussehen – lieber Gott!“

„Nun, das schon, Frau Amtsräthin!“

„Müller, und wenn er sehr, sehr krank ist, dann telegraphiren Sie mir, dann komme ich; ich werde mich schon durchfinden. Sehen muß ich ihn noch einmal, und wenn er mich auch nicht mehr kennt –. Und, Müller, wenn das Allerschlimmste, – wenn sie ihn schon begraben hätten – den Fleck doch wenigstens, wo mein Letzter liegt –.“

Sie weinte leise in ihr Tuch, und Müller aß weiter, aber in seinen grauen Augen flimmerte es ebenfalls feucht. „Na, Frau Amtsräthin,“ sagte er nach einer Pause, „so schlimm wird’s ja nicht gleich sein, und da hilft nun das Weinen nichts, da heißt’s: den Kopf oben. – Das ist der Krieg: Sie weinen nicht allein, Frau Amtsräthin.“

„Ja, Müller, es hilft nichts, Sie haben Recht; und ich bin ja auch keine schlechte Patriotin, ich will ja gern Alles für das Vaterland hingeben, und ich bin ja so stolz, daß wir gesiegt haben. Wenn ich aber daran denke, was es für mich heißt, mein letzter Junge ist hin, er kommt nicht wieder, er tritt niemals mehr über die Schwelle dort und sagt nie wieder ‚Mutter‘ zu mir – in den Augenblicken, da denke ich nicht an Ruhm und Ehre, da denke ich nur, daß mir alten Frau die letzte Stütze unter den Armen weggezogen ist, daß kein Sonnenstrahl meine alten Augen wieder treffen wird –. Ach, Müller, und da fragen Sie einmal alle die Mütter, die seit gestern da draußen ein Kind, einen blühenden Jungen, kalt und starr liegen wissen, ob eine von ihnen sich hinstellt wie eine Heldenmutter und Gott für die Ehre dankt, daß ihr Kind den Tod fürs Vaterland sterben durfte? Nein, sie sind Alle in die Kniee gebrochen und haben Alle nur das Eine empfunden, Schmerz, heißen Schmerz. Von den Frauen rede ich, Müller, von den Müttern, aber darum haben wir unser Vaterland doch lieb.“

„Freilich, Frau Amtsräthin,“ erwiderte er bedächtig, „ich weiß es von meiner seligen Schwester, wie die gejammert hat, als ihr jüngster Sohn bei Königgrätz geblieben ist –. Ja, das soll wohl sein: sie haben die Kinder groß gezogen und hängen jeden Tag [176] eine neue Hoffnung auf so einen Blondkopf –. Das nimmt auch kein Mensch übel, Frau Amtsräthin, der König von Preußen nicht und Bismarck nicht und Moltke nicht, beweint müssen sie werden, die braven Jungen und werden es auch, und nicht nur von den Müttern – das ganze Land thut es. Aber die Frau Amtsräthin sollten vorerst die Thränen noch sparen, noch lebt der junge Herr, und so lange ein Athemzug im Menschen ist, soll man die Hoffnung nicht lassen. Leben Sie wohl, Frau Amtsräthin, der Wagen ist draußen."

„Adieu, Müller! Grüßen Sie meinen Fritz. Mein Lebtag will ich’s Ihnen nicht vergessen, daß Sie da hinaus gehen –.“

„O Frau Amtsräthin, das ist bloß meine Schuldigkeit,“ sagte der Mann. „Adieu, Fräulein von Werthern.“

„Adieu, Herr Müller,“ sagte auch ich, „grüßen Sie Ihren jungen Herrn.“

Die alte Frau folgte ihm und ich saß am Fenster, der Lampe den Rücken zugewendet. – Ob er ihn finden wird? dachte ich und hörte auf das verhallende Rollen des Wagens. Ob er ihn finden wird – und wie? Todtwund und mit fieberndem Körper, oder schon – schon nicht mehr unter den Lebenden, wie unser armer Hans? –

Frau Roden kam nicht wieder, und als ich sie suchen ging im ganzen Hause, da fand ich sie endlich in ihres Sohnes Zimmer; auf dem Schreibtisch stand ein Licht, und sie saß auf dem Sofa und hielt einen alten Strohhut von ihm in der Hand. „Er war vom Kleiderständer gefallen, Tone,“ sagte sie leise; und ich that, als ob ich nicht wüßte, daß die kleine Frau ihn erst mühsam hatte herunter langen müssen, um etwas von ihrem Fritz zu haben, an das sie ihre Wange schmiegen konnte.

Und dann fragte sie dasselbe wie ich: „Ob Müller ihn bringen wird?“ Und als ich schwieg, setzte sie jammernd hinzu: „Was soll dann aus uns werden, Tone?“

„Aus uns?“ fragte ich. Wie ein Stich traf dieses „uns“ mein Herz. Aber da rollte schon der Hut vor meine Füße, und die alte Frau hatte mich umfaßt und küßte mich auf die Stirn. „Du weißt nicht, Kind, wie lieb ich Dich habe!“

Und ihre weichen welken Hände umfaßten mein heißes verweintes Gesicht einen Augenblick, dann zog sie mich hinauf und führte mich die Treppe hinauf zu meiner Stubenthür. „Schlafen Sie,“ sagte sie, „es war ein schwerer Tag – Gott wird barmherzig sein!“ Und da stand ich im Dunkeln, und das Herz wollte mir zerspringen, so stürmisch schlug es gegen die Brust.

Was sollte aus uns werden – aus mir? Ach, elender konnte ich nicht sein, wenn er todt, elender nicht als jetzt, denn er würde Lotte nie vergessen, nie! Nein, das dumme Herz klopfte umsonst so hoch empor. Und wenn er heimkehrte, würde ich gehen – wohin? Irgend wohin, die Welt ist groß, und hilfreiche Hände werden überall gebraucht. „Ich will in einem Lazareth Verwundete pflegen,“ sagte ich, als meine Augen schlaflos ins Dunkle starrten.




Tage und Tage waren vergangen. In dem sonnigen Zimmer, das neben Frau Rodens Schlafstube lag, stand ein schneeweißes Bette; wollene Gardinen waren aufgesteckt, damit auch am Tage Dunkelheit geschafft werden konnte, wenn müde heiße Augen sich schließen wollten; ein zweckmäßiger Krankenstuhl harrte am Fenster seiner Bestimmung, alles was sich irgend zur Bequemlichkeit des Verwundeten eignete, war in dem freundlichen Raume beisammen, nur er, dem diese Vorbereitungen galten, war nicht heimgekehrt.

Recht spärlich waren bis jetzt die Nachrichten von Müller eingetroffen, nur langsam kam er vorwärts, die Eisenbahnen fand er zerstört, Fuhrwerk kaum zu haben, und eine Spur des Gesuchten war bis jetzt nicht zu ermitteln gewesen. Man hatte die zahllosen Verwundeten in die verschiedensten Orte vertheilt. – Und nun die Zeitungsnachrichten mit immer neuen Berichten dieser blutigen Tage; war es ein Wunder, wenn der Muth tiefer und tiefer sank?

Endlich stand auch sein Name unter den Verwundeten, unter den Schwerverwundeten. „Herr Gott, und ich bin nicht bei ihm!“ stöhnte die alte Frau; „die Einzige, die er noch auf der Welt – und so weit von ihm.“ Und dann fragte sie wieder, ob sie stark genug sei, hinzureisen, um muthlos selbst zu antworten: „Ich käme nicht bis an die Grenze!“

Dann nach vierzehn Tagen eine Karte aus Pont à Mousson: „Ich habe ihn gefunden, es geht auch schon besser; in zwei Wochen, sagt der Arzt, können wir uns vielleicht langsam auf den Heimweg machen. Er ist seit gestern erst wieder bei Besinnung und schwach zum umpusten; er freute sich sehr, mich zu sehen, und grüßt seine Mutter herzlich. Jetzt schläft er, die Frau Amtsräthin können ihn nun nach Herzenslust pflegen, denn für diesen Feldzug hat er wohl genug, und sollte es noch ein Jahr dauern. Ich gebe von nun an regelmäßig Nachricht. Müller.“

Ich war bei Lotte, als die Karte kam: in ihrer Herzensseligkeit schickte Frau Roden sie mir herüber ins Schloß.

Lotte that, als sähe sie nicht, daß mir der Diener etwas überreichte. Sie arbeitete ruhig an dem fürstlichen Wappen, das, auf weißem Atlas in Roth und Gold ausgeführt, eine Schreibmappe zieren sollte, die sie ihrem Prinzen zum Geburtstag schenken würde. Mit glücklichem Lächeln betrachtete sie von Zeit zu Zeit die geschmackvolle Arbeit in einem kleinen Spiegel, der vor ihr auf dem Tische stand. Wir saßen im fürstlichen Garten; es war einer der wundervollen Tage, wie sie nur der September zu bringen vermag, und außerdem hielt noch ein zierliches, roth und weiß gestreiftes Zeltchen jede Zugluft von uns ab. Die Vorhänge waren zurückgenommen, und der Blick schweifte über den üppiggrünen, durch wundervolle alte Bäume geschmückten Garten.

Lotte hatte Briefe und Depeschen bekommen und vom Hofjuwelier im Auftrage Sr. Durchlaucht einen entzückenden Schmuck, der im geöffneten Etui vor ihr stand und dem die Sonnenstrahlen ein verführerisches Blitzen und Leuchten entlockten. Sie war in der allerrosigsten Laune, denn eine Freundin in Berlin, die kleine Else von Reckenthien, mit der sie in neuester Zeit wieder in Korrespondenz getreten war, hatte ihr geschrieben, daß man viel von der Verbindung der schönen Lotte von Werthern mit dem Prinzen Otto spreche, und daß sie, trotz des Krieges, das Gesprächsthema der Berliner Gesellschaft sei. Prinz Otto aber hatte ihr mitgetheilt, daß, sobald der Krieg vorüber – und man hoffe ja, daß in allernächster Zeit Friede werde – sie ihre Hochzeitsreise nachholen würden, und sie möge nur sagen, ob sie zunächst Neapel oder Rom für einen längeren Aufenthalt wählen wolle.

Sie war so in die Wappenstickerei und ihre Zukunftsträume versenkt, daß sie die leise Aeußerung der Freude gar nicht bemerkte, die mir die schlichten Worte der Postkarte entlockten. Die alte Frau hatte dazu geschrieben: „Bleiben Sie nur drüben, Tonchen, denn ich gehe eben zum Herrn Superintendenten und zur Frau Oberförsterin, um ihnen mitzutheilen, daß er lebt.“

Wir sprachen ja nie von Fritz Roden, wozu auch heute? Ich konnte aber nicht dafür, daß meine Hand zitterte, als ich Lotte eine Tasse Kaffee einschenkte, um die sie mich bat, und daß ein Tröpfchen des braunen Trankes auf ihre Hand flog, welche die Stickerei hielt. Sie sah ärgerlich empor: „Aber, Tone, ich bitte Dich! das konnte mir die ganze Arbeit verderben.“

Ich war erschreckt und bat sie um Verzeihung. Aber ihre Miene blieb schmollend.

„Ich möchte wirklich wissen, Tone, was Dich so aufregt?“

„Es war eine freudige Nachricht, Lotte.“

„Von wem hast Du denn Nachricht?“

„Nicht ich, Frau Roden hat sie; Fritz geht es besser. Du weißt wahrscheinlich nicht – er war schwer verwundet.“

Sie hob den Blick und sah mich an; es war aber nichts von Theilnahme darin, es war die reinste Verwunderung, ich mochte wohl hastig und erregt gesprochen haben. Und als sie schwieg, sagte ich: „Da wir einmal bei dem Thema sind, Lotte, ich gehe nach Berlin, wenn Fritz zurückkommt.“

„Warum denn, mein Gott?“ fragte sie, und wieder wollten ihre Augen auf den Grund meiner Seele dringen. Und unter diesem Blick fühlte ich, wie mir das Blut heiß in die Wangen schoß; ohne eine Antwort setzte ich mich und strickte weiter an den groben Socken aus selbstgesponnenem Garn der Domainenschäferei, die für unsere Braven im Felde bestimmt waren.

„Meinetwegen brauchst Du Dein Asyl nicht aufzugeben,“ fuhr sie fort; „was kannst Du dafür, wenn ich diese Verbindung löste? Er ist viel zu gutmüthig und war viel zu sehr verliebt, als daß er es Dir entgelten lassen würde, was die Schwester ihm angethan. Also, Unangenehmes in diesem Sinne hast Du nicht zu riskiren. Oder sind es andere Gründe?“

„Nein!“ sagte ich kühl.

[178] „Früher habe ich mir einmal eingebildet, Du liebtest Fritz Roden,“ fuhr sie fort, „Aber seitdem ich Dich so gelassen dasitzen sah und häkeln, wenn er als mein Bräutigam kam, sagte ich mir – nein, wenn Jemand liebt, dann zieht er doch eher einen Sprung von der Brücke ins kalte Wasser vor, ehe er ansieht, wie der Gegenstand seiner Neigung eine Andere in die Arme nimmt. Nicht wahr, Tone?“

Ich konnte nicht antworten; sie hatte ja nicht gesehen, wie ich gekämpft und gerungen, wie ich auf der dunklen Treppe gesessen in Qual und Verzweiflung, wie mir das Herz zum Zerspringen pochte, jedesmal wenn ich seine Schritte hörte, und wie viel durchweinte Nächte mich dieses „ruhige Dasitzen“ gekostet hatte.

Auch sie schwieg, und ihre kleinen, bei den letzten Worten zur Faust geballten Hände lösten sich langsam, „Und darum, meine ich, kannst Du ruhig da drüben bleiben, ohne daß Dein beneidenswerther Gleichmuth ins Schwanken kommt,“ sagte sie endlich.

„Das nennst Du Liebe?“ fragte ich, die letzten Worte überhörend.

„Ja, das ist Liebe!“ erklärte sie bestimmt. „Soll es etwa Liebe sein – angenommen Du hättest Fritz Roden gern gehabt – wenn Du kommst und ihm das Wort bei mir redest, mir seinen Antrag überbringst, mich in der gräßlichsten Zeit meines Lebens, meinem Brautstande, dazu anhältst, ihm gebührlich zu begegnen, mich auf den Knieen bittest ihm mein Wort nicht zurückzugeben, weil er sonst unglücklich würde? Tone, weißt Du, solche Art Edelmuth hat keine Frau, die liebt; selbst die edelste Seele nicht, für die ich Dich im Großen und Ganzen halte. So kann sich Niemand in der Gewalt haben und wäre er in Selbstbeherrschung geübt, wie Keiner.“

„Ich glaube an bessere Liebe,“ sprach ich halblaut.

„Dann ist es aber keine Liebe,“ fuhr sie zornig auf, „Drehe Dich doch nicht immer auf einem Fleck, Tone; nenne es Freundschaft, Zuneigung, Wohlwollen, wie Du willst – aber rede nicht von Liebe! Liebe ist nicht besser oder schlechter, sie ist immer und überall dieselbe, sie duldet nichts Fremdes, Du willst mir doch nicht weismachen, daß Du –“

„Darf ich Dir die Zeitung weiter vorlesen, Lotte?“ unterbrach ich sie kurz.

„Nein, ich danke! Ich kann diese Kriegsberichte bald nicht mehr hören,“ erwiderte sie verdrießlich, „ebensowenig wie ich die entsetzlichen Socken kaum noch sehen kann, die Du permanent strickst.“

Das war wieder die alte kapriciöse Lotte Werthern, die Unglaubliches leistete, wenn es ihre Ansicht zu behaupten galt; die so weh thun konnte mit ihrer Zunge, Ich strickte schweigend meine Nadel vollends ab und begann die Arbeit zusammenzurollen, als ich auf dem sonnenbeschienenen Mittelweg Anita erblickte. Sie war in schwarzer Kleidung, und ihre kleine Gestalt nahm sich besonders vortheilhaft darin aus; es war Alles unendlich zierlich an ihr bis hinunter auf die Schuhchen und die spitzenbesetzte Taffetschürze. Sie hatte einen eigenthümlich schwebenden Gang, und ich mußte wieder daran denken, wie schön sie noch vor wenig Jahren gewesen sein mochte.

Erst als sie näher kam, bemerkte ich, daß sie sichtlich verstört aussah und ihre Blicke sich halb mitleidig, halb befriedigt auf Lotte richteten. Anita’s Augen konnten nichts verschweigen von dem, was in ihrer Seele vorging, „Frau Gräfin“, sagte sie mit mühsam zur Ruhe gedämpfter Stimme, „ich bringe keine gute Nachricht, heute früh ist in R. ein todter Prinz geboren.“

Wenn ein Blitz vor mir niedergefahren wäre, ich hätte nicht entsetzter sein können. Aber Lotte sagte nur: „O! – todt? Wie traurig!“

Sie hatte keine Ahnung, daß mit dem kleinen wappengeschmückten Sarg noch etwas Anderes hinabgesenkt werden würde als die Hoffnung des Landes, als das letzte Glück der zu Tode gebeugten verwittweten jungen Mutter.

Anita schwieg und sah mich an; unsere Augen begegneten sich bang und verständnißvoll. Und Lotte saß da und wickelte den rothen Seidenfaden um die Nadel und dachte an einen Kranz für den Sarg.

„Da möchten Sie den Gärtner benachrichtigen, Anita,“ begann sie, „einen Veilchenkranz soll er arrangiren; er hat soviele Veilchen jetzt, und es sind Frühlingsblumen. Arme Prinzessin! Wie geht es ihr, Anita? Woher überhaupt wissen Sie es?“

„Die ganze Stadt spricht davon, Frau Gräfin.“

„Man wird es mir wohl anzeigen. Benachrichtigen Sie den Gärtner wegen des Kranzes.“ – Anita ging in den Garten hinein.

[195] Es war eine furchtbare Schwüle, die ich empfand der jungen Frau gegenüber; als sei ein Gewitter in der Luft und müsse im nächsten Moment losbrechen und vernichtend auf ihr Haupt fallen. Sie selbst ruhte in den Sessel zurückgelehnt und sprach nicht; aber ich sah, wie Röthe und Blässe wechselten auf dem schönen Gesicht. In welchen Träumen wiegte sie sich nur? „Ich will an Otto schreiben,“ sagte sie endlich, „nur ein paar Worte. Begleitest Du mich hinauf?“

„Ich komme nach, Lotte.“

Sie ging, und ich folgte ihr mit den Augen, bis sie in der Glasthür des Schlosses verschwunden war. Was sollte aus diesem leidenschaftlichen Geschöpf werden, wenn man ihr sagen würde: „Geh, Du bist nicht hochgeboren genug, um die Frau des künftigen Thronerben zu sein!“ – Ich konnte es nicht ausdenken, ich sprang empor und begann durch die Gartenwege zu wandern, vorüber an den leuchtend bunten Teppichbeeten, dem plätschernden Springbrunnen und den weißen Marmorstatuen, die aus dem Dunkel der Bosketts schimmerten. – Aber war denn schon Alles verloren? Wenn nun der Prinz sie mehr liebte als Thron und Fürstenhut? Ist nicht die Ehe heilig? Wie wollten Menschenhände daran rütteln, wenn sie Beide einig waren, nicht von einander zu lassen in alle Ewigkeit?

Da kam, als sollte ich eine Antwort auf meine Fragen erhalten, Anita herüber.

„O, es ist schlimm für die Gräfin, Fräulein von Werthern,“ sagte sie im Vorbeigehen.

Ich wandte mich auf einem anderen Wege dem Schlosse zu und fand Lotte in ihrem Zimmer vor dem wunderlichen Schreibtisch, dessen Füße vergoldete Löwenkrallen bildeten und der eine Uhr trug, auf welcher eine große goldene Sphinx lag mit fast unheimlichem Blick, deren schwarzer Marmorsockel eine französische Inschrift trug: ‚Was die Zukunft birgt im dunklen Schoß, ist ein Räthsel, unlösbar für den Augenblick, doch die Zeit wird es enthüllen!‘

Vor ihr lag ein fertiges kouvertirtes Schreiben.

„Lies Du die Adresse,“ bat sie, es mir reichend, „ich bin so konfus heute. Ist Alles richtig?“

„Es ist in Ordnung, Lotte.“

Sie dankte und schritt zur Klingel. „Tone,“ sagte sie, als der eintretende Diener den Brief in Empfang genommen hatte, „da muß noch eine Kunstgeschichte von Rom zwischen unseren Büchern sein, schicke sie mir herüber, ich will Vorstudien machen.“

„Gern, Lotte! ich möchte nun auch hinübergehen, oder willst Du, daß ich bleibe?“

„Nein, nein, Tone, ich werde lesen.“ und sie nahm ein kleines Elfenbeinkästchen und setzte sich wieder an den Schreibtisch, und im Gehen sah ich, daß sie Briefe herausnahm, seine Briefe. Ob sie doch wohl ahnte und sich Trost und Muth aus ihnen holen wollte?

Just vor dem Schloßportal traf ich Frau Roden; sie kam aus der Stadt zurück mit freuderothem Gesicht und drückte mir die Hand. „Gottlob,“ sagte sie.

„Wissen Sie schon? Ein todter Prinz!“ fragte ich.

Sie nickte, und ihre Miene wurde ernst; aber sie erwiderte nichts darauf.

Und am folgenden Abend, als ganz Deutschland in einem Jubeltaumel war, als alle Glocken läuteten und von Berg zu Berg die Freudenflammen aufsprühten; als die Nachricht von Mund zu Mund flog: „Napoleon gefangen! Napoleon hat seinen Degen dem König von Preußen übergeben!“ als die Luft erfüllt war von Musik und begeisterten Hochrufen, da rollte vor das Schloß ein eleganter Wagen, und ich sah in der leichten Dämmerung, die schon durch das Geäst der Kastanien webte, wie ein Herr behende ausstieg und in dem Portale verschwand. Sollte es Prinz Otto sein? fragte ich mich.

Ich saß am Fenster meines Stübchens, und vor mir auf dem Nähtisch lag ein Brief an meinen Vormund, die Bitte enthaltend, mir in einem Berliner Hospitale eine Stelle als Pflegerin zu verschaffen. Frau Roden ahnte davon nichts, das wußte ich; und ich, ich konnte nicht anders. Es war kein verzweifelter Sprung von der Brücke, wie Lotte sagte, aber ich fühlte mich nicht stark genug, die alten bittern Herzenskämpfe von Neuem zu bestehen.

Kein Laut im ganzen Hause. Mägde und Knechte, alle waren sie draußen um die Freudenfeuer schüren zu helfen und Vorbereitungen zur Illumination zu treffen. Die große gewaltige Siegesnachricht überflammte die Trauer des Fürstenhauses. Es war eine hohe, eine heilige Begeisterung, und ihre Strahlen drangen in das ärmste Hüttchen, in der des Lebens Noth die Herzen mählich stumpf gemacht hatte. Mit freudeverklärten [196] Gesichtern standen die Leute vor den Hausthüren und selbst dem kleinsten Kinde auf dem Arm wurde erzahlt: „Napoleon ist gefangen, seine Armee hat die Waffen gestreckt!“ und das älteste Mütterchen nickte mit dem Kopfe und dachte an langst verflossene bange Kriegsjahre.

Napoleon gefangen! Herr Gott, Du bist gerecht!

Und da kamen durch des Hauses Stille Töne zu mir herauf, schwach und zitternd und so vergangen, wie die Klänge des ehrwürdigen tafelförmigen Instrumentes, die sie begleiteten –. Eine alte Frauenstimme sang: „Nun danket alle Gott!“

Da lief ich die Treppe hinunter, stellte mich hinter den Stuhl der Frau Amtsräthin und fiel ein mit meinem jungen frischen Sopran: „Der große Wunder thut an uns und allen Enden!“

Wie das klang, und wie ich das Bild über dem Klavier nur noch durch Thränen sehen konnte, das ernste hübsche Männergesicht –; und wie es mir auf einmal wieder so unmöglich dünkte, fortzugehen aus diesem Frieden!

Ja, viel edler Frieden in Land und Haus und Herzen, mein Tonchen,“ sprach die alte Dame leise und drückte meine Hand. „Und nun kommen Sie mit in den Keller; heute Abend sollen die Leute jeder sein Glas Wein haben; da liegt noch ein Fäßchen rother Elsässer, den mögen sie austrinken; Jürgen soll ihn heraufbringen. Und dann können wir die Lichter anzünden; ich glaube, im Kaufladen an der Ecke brennen sie schon.“

Aber die alte Frau mußte allein in den Keller steigen, denn Lotte ließ mich plötzlich rufen. Als ich eilig zu ihr in das erleuchtete gelbe Gemach trat, war das Gewitter schon emporgezogen und stand gerade über dem Haupte der todtblassen Frau, die mir, scheinbar so ruhig, entgegentrat. – Daß es so rasch kam, wer hätte das gedacht!

„Kammerherr von Oerzen,“ sagte Lotte vorstellend; und aus einem der Sessel, die sich um den runden Tisch inmitten des Zimmers gruppirten, erhob sich ein schlanker Mann von vielleicht fünfundfünfzig Jahren, in schwarzem Anzug, den Trauerflor um den Arm, den glänzenden Hut in der Hand, und verbeugte sich formell. Er ließ ein verlegenes Hüsteln vernehmen, sah mich mit seinen blaßblauen Augen neugierig forschend an und nahm erst wieder Platz, als Lotte in ihren Stuhl zurücksank und ich mich neben sie gesetzt hatte.

Es war unheimlich still im Zimmer, nur durch die geöffneten Fenster drang ferne Musik, Jauchzen und Schreien.

„Siegesjubel!“ begann der Kammerherr endlich, indem er sich zu mir wandte. „Die glänzende Außenseite! Und wie traurig in der Einzelwirkung oft doch der Krieg, wie manches blühende Leben, wie manche schöne Hoffnung wird zerstört! Da giebt es für den Einzelnen, von dem ein schweres Opfer gefordert wird, nur den Trost: Es ist für das allgemeine Wohl.“

Er sah zu Lotte hinüber, um deren blasse Lippen es zuckte, wie in bitterem Hohn. Sie erwiderte kein Wort.

„Gnädige Gräfin werden das sicher voll und ganz verstehen?“ fragte er, sich lächelnd verbeugend, wobei seine Augen durchdringend an ihrem unbeweglichen Antlitz hingen.

„Nein,“ erwiderte Lotte, „ich verstehe es nicht und will es nicht verstehen, Herr von Oerzen! Haben Sie die Gute, dem Herzog zu sagen, daß Sie leider mit einer Frau zu verhandeln das Unglück hatten, die so schwer von Begriffen ist, daß sie das Wohl des Ganzen nicht zu erfassen vermag; daß sie aber eine Frau ist – eine Frau, die ihren Mann unsagbar liebt und schon deßhalb gar keinen Platz mehr in ihrem Herzen übrig hat für die ‚andern Interessen‘. Sagen Sie dem Herzog, daß diese Frau von Politik keine Ahnung besitzt, aber daß sie verstände, treu zu sein und ihr Wort zu halten.“

Lotte hatte mit mühsam beherrschter Stimme gesprochen. Sie stand auf bei den letzten Worten, neigte vornehm ihren schönen Kopf gegen den verblüfften Kavalier, und im nächsten Augenblick fielen die gelben Seidengardinen hinter ihrer schlanken schwarzen Gestalt zusammen.

Ja, nun wußte ich es, – es war soweit –. Ich wollte ihr nach, aber der Kammerherr hielt mich wie verzweifelnd zurück.

„Gnädiges Fräulein,“ sagte er ernst, „es ist ein furchtbar peinlicher, ein sehr delikater Auftrag, mit dem ich vor die Gräfin getreten bin. Helfen Sie mir, stehen Sie mir bei! Es ist eine Angelegenheit der kältesten Vernunft, der Politik; und ich begreife, daß sie in einen Liebesfrühling fallen muß wie ein vernichtender Frost. Aber es giebt so eiserne Nothwendigkeiten, so unabweisbaren Zwang, daß – daß –“

Er hielt inne und wischte sich die Tropfen von der Stirn.

„Ich weiß, was Sie meinen, Herr von Oerzen –. Jeder Mensch ahnte, was kommen würde nach dem Tode des Thronerben und der Geburt des todten Prinzen, nur meine Schwester nicht, meine arme Lotte.“

„Gnädiges Fräulein – die Tradition, die Sitte ist unerbittlich, eisern –; aber sie muß es sein -.“

„O, ich verstehe Sie völlig,“ erwiderte ich, und die Stimme zitterte mir. „Sie sagten es ja vorhin deutlich genug: ‚Der Einzelne muß zurückstehen vor dem Ganzen‘. Es klingt wundervoll und mag auch sehr edel sein, aber – –“

„Aber Sie haben die Antwort der Gräfin gehort,“ unterbrach er mich hastig. „Ich kann, ich darf sie dem Herzog nicht überbringen; ich muß mindestens mit einem Schein von Nachgiebigkeit zurückkehren.“

„Sie kennen meine Schwester nicht!“

„Mein Gott, gnädiges Fräulein, die Gräfin ist eine so außerordentlich feinfühlende kluge Dame, – sollte sie nicht einsehen, daß der Prinz Otto eben nicht mehr seinen Neigungen leben kann, daß er ernste Pflichten zu erfüllen hat?“

„Sie liebt ihren Gatten,“ stammelte ich, und die Thränen kamen mir in die Augen.

„Ich beschwöre Sie, gnädiges Fräulein, schaffen Sie mir noch eine Viertelstunde Gehör bei der Gräfin.“

„Ich will es versuchen,“ antwortete ich und schritt mit Herzklopfen in das nächste Gemach. Sie war nicht hier, aber aus dem folgenden Zimmer drang ein Stöhnen in mein Ohr; ich eilte hinüber und stand gleich darauf in der Schlafstube. Die Ampel an der Decke verbreitete rosiges Licht in dem traulichen Raume und entlockte der Fürstenkrone uber dem blau verhangenen Bette, welche die schweren seidenen Falten am Plafond zusammenhielt, ein mattes Blinken. Unhörbar schritt der Fuß über den blauen rosenbestreuten Teppich, und ich kniete nieder neben Lotte, die wie ein Marmorbild in einem Fauteuil saß, der Lampe den Rücken zugewandt, die starren Augen auf das lebensgroße Oelbild des Prinzen gerichtet, die Hände fest in einander geschlungen. Sie bemerkte mich erst, als ich sie leise berührte.

„Lotte, meine gute Lotte!“ sagte ich weich.

„Was willst Du?“ fuhr sie empor.

„Ich glaubte, Du weintest, Lotte.“

„Ich? Nein – warum? Weil der Herzog mir diese Vogelscheuche geschickt hat? Nein! Empört bin ich – aber Otto wird mich zu rächen wissen! – Weißt Du, warum er kam, Tone?“ fuhr sie aufgeregt fort. „Ich sollte mich hinsetzen und ihm schreiben: da er nun den zweifelhaften Vorzug habe, Erbprinz von X. X. zu sein, so wollte ich seinem Glück nicht im Wege stehen und gebe ihm die Freiheit – die Freiheit, sich irgend eine Prinzessin zu wählen, denn eine solche muß es ja sein. Ich, Tone, ich sollte das schreiben mit dieser Hand, mit der ich jeden Tag versichert habe, daß ich ihn in alle Ewigkeit lieben werde! Ich soll ihn fortweisen und habe ihn kaum besessen! Eine angemessene Rente haben sie mir anbieten lassen, und die unbegrenzte hochfürstliche Dankbarkeit noch als Zugabe – Mein Gott!“

Sie schwieg, und ihre kleine Hand, an welcher der Trauring funkelte, griff in das Haar und krallte sich dort fest. „Niemals!“ wiederholte sie, „niemals. ich lasse mich nicht schieben!“

„Lotte,“ bat ich, „Herr von Oerzen will Dich nur noch einmal auf einen Augenblick sprechen.“

„Nein!“ rief sie und sprang empor. „Nein! – Sage Du ihm, Prinz Otto’s Sache wäre es, die unbequeme Frau zu verstoßen, und keinem andern Spruche fügte ich mich, niemals! Und er,“ sie sank wieder zurück in den Sessel und fügte wie beruhigt hinzu – „er liebt mich! Bestelle ihm, das wäre mein letztes Wort.“

„Die Frau Herzogin wünscht, ihr das Bitterste zu ersparen,“ lispelte der Kammerherr schier fassungslos ob meiner Antwort, „ihm und ihr. Die Frau Herzogin sprachen heute früh noch zu mir darüber, daß es für die Gräfin unendlich viel angenehmer sei, sie gäbe ihm in edler Uneigennützigkeit die Freiheit zurück, als wenn der Prinz ihr sagen muß: ‚Mein liebes Kind, so und so – ich habe Dich heiß geliebt, aber die Verhältnisse –.‘ Sie verstehen, Fräulein von Werthern?“

[198] „Verzeihen Sie, Herr von Oerzen,“ fragte ich zitternd, „und wenn Prinz Otto das nicht sagt, wenn er meine Schwester so liebt, daß er auf ihren Besitz nicht verzichtet, dann?“

Er wurde verlegen, tödlich verlegen; er stotterte von „Schönheit – geistigen Vorzügen der Gräfin – ewiger Zuneigung – unbarmherzigem Geschick – Pflichtgefühl – fürstlichem Geschlecht, das nur noch auf zwei Augen stehe –“

„Es war eine thörichte Frage,“ sagte ich bitter, „Pardon!“

Er starrte auf die Thränen, die aus meinen Augen flossen, und – er war ja auch nur ein Mensch. „Fräulein von Werthern,“ begann er warm und nahm meine Hand, „Sie kennen Prinz Otto nicht; aber, wäre er auch ein Anderer, der Ernsteste, Beste, Ehrlichste; hätte er auch die Ueberzeugung, daß er und sie auf ewig unglücklich seien, der Eine dort, der Andere hier – er könnte doch nicht anders. Es giebt Pflichten, denen sich der Mensch, der Fürst nicht entziehen darf; die Zeiten der Philippine Welser und des alten Dessauer sind vorüber. Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein, helfen Sie mir in diesem Sinne und nehmen Sie zu gleicher Zeit die Versicherung, daß mir nie ein Weg schwerer ward als der, der mich heute in dieses Zimmer führte.“

Er drückte mir die Hand, verbeugte sich und war im nächsten Augenblick gegangen.

Ich eilte wieder hinüber in das Schlafzimmer zu Lotte, aber da fand ich die weißen Schiebethüren hinter dem Vorhange geschlossen, und als ich pochte, erhielt ich keine Antwort. „Lotte!“ rief ich in meiner Herzensangst, „nur noch ein Wort, liebe Lotte!“

Kein Laut, kein Ton antwortete.

Rathlos wandte ich mich, da stand Anita vor mir. „Herr von Oerzen läßt Sie bitten, die Gräfin doch möglichst zur Unterschrift des Einliegenden zu bewegen,“ sagte sie und hielt mir ein Päckchen Papiere, in einem Kouvert verschlossen, entgegen.

Ich nahm es wie mechanisch und schritt zurück in das gelbe Zimmer; Anita folgte mir und machte sich allerhand zu schaffen, während ich von tiefem Schmerz ergriffen am Tische stand.

„Fräulein von Werthern,“ begann da Anita in ihrem eigenthümlich accentuirten Deutsch, „der Herzog meint es gut mit der Gräfin – er – er – wenn die Gräfin glaubt, daß –“ Ich sah sie groß an, und sie verstummte einen Moment. „O Fräulein von Werthern, Sie mochten mich nie leiden,“ fuhr sie fort, „Sie gingen immer so stolz an mir vorüber, und wenn Sie mich ansahen, war es, als wollten Sie sagen: ‚Ich wittere, daß hier nicht Alles in Ordnung ist.‘ – Wie es gekommen, daß ich hier in diesem Schlosse bin, daß mich die Menschen mit solchen Blicken betrachten dürfen, das ist eine lange traurige Geschichte; ich will sie Ihnen nicht erzählen, nur bitten will ich: möchte doch die Gräfin dem Vorschlage folgen, der ihr heute gemacht worden ist! Sie erspart sich viel Schmerz, denn er“ – sie kam mir ganz nahe, „er ist Einer, von denen das deutsche Sprichwort sagt: ‚Er geht über die Leiche seines Bruders!‘“

Ich starrte sie an. Was konnte sie von dem Vorschlage wissen?

Da nahm sie ein silbernes Theebrettchen, auf welchem ein halb ausgetrunkenes Glas Selterswasser stand, und im Hinausgehen bog sie das Gesicht über die Schulter zurück und lachend rief sie: „Ich weiß es aus eigenster Erfahrung, wie man derartige Sachen hier zu arrangiren versteht!“

Das klang so furchtbar frivol; aber in ihren großen dunklen Augen funkelten ein paar Thränen und standen in grellstem Widerspruch zu dieser Lustigkeit. Zum ersten Male kam das Mitleid über mich mit diesem Mädchen; mir graute in dem Schloß, in den üppigen Zimmern. O, hätte Lotte nie einen Fuß hierher gesetzt! Und da klang mir ihr altes Wort plötzlich hohnvoll in die Ohren. „Ich lasse mich nicht schieben!“ – Ach Lotte, wie furchtbar rächt sich Alles im Leben!

Und die Lampe verbreitete ihren Schein so hell und traulich; die Uhr tickte; gleißend hob sich der goldene Leib der Sphinx von dem schwarzen Marmor ab, darauf sie ruhte. Wie hieß doch die Devise? „Was die Zukunft birgt im dunklen Schoße, ist ein Räthsel, unlösbar für den Augenblick, doch die Zeit wird es enthüllen.“

Mir war sie nicht dunkel, die Zukunft. Ich sah Lotte hier hinausgehen aus dem Schlosse, und ich sah mich drüben aus dem traulichen Hause scheiden, und auf der Straße, die zum Thore hinausführt, treffen wir uns, Beide gehen wir – wohin? Ich weiß es nicht! Aber arm sind wir, so bettelarm an Glück und Stern –.


Am folgenden Tage bekam ich ein Billet von Lotte. „Begleitest Du mich heute Abend ins Koncert?“

Erschreckt sah ich Frau Roden an; wir hatten seit gestern nur von Lotte und immer wieder von Lotte, von ihrer Seelequal und großen Betrübniß gesprochen. Es war eine fremde Sängerin im Ort und der Ertrag des Koncertes für Verwundete, für Wittwen und Waisen bestimmt.

„Gehen Sie mit, Tonchen; bei Manchen äußert sich der Schmerz so eigenthümlich,“ sagte die gute alte Dame, „bedenken Sie, in welcher Unruhe die Frau sein muß.“

Ich sagte zu; und bald nachdem Lotte meine Antwort empfangen haben mußte, rasselte ihre Equipage durch die Straßen. Sie fuhr spazieren mit Diener und Kutscher und allem fürstlichen Zubehör. Am Abend, als ich mich schweren Herzens entschloß, sie zu dem Koncert abzuholen, fand ich sie in schwarzem Krepp und Spitzen, mit Schleppe und Fächer in der elegantesten Trauertoilette, die je die Welt erblickte. Und so schritt sie durch den schmalen Gang, den man zwischen den Stühlen des Publikums gelassen, so weit vor als möglich, gefolgt von Hunderten von Blicken und von dumpfem Gemurmel. Von Mund zu Munde ging es. „Die Gräfin Kaltensee!“

Ich saß neben ihr wie auf Kohlen; Lotte ohne eine Miene zu verziehen, scheinbar ganz in die Musik vertieft.

In der ersten Pause sagte sie: „Nun komm!“ Und abermals passirten wir unter hundert Blicken den Saal.

„Gefiel es Dir nicht?“ fragte ich sie in der Garderobe.

„Ich habe nicht zugehört –.“

„Aber Lotte!“

„Ich wollte ihnen nur zeigen, daß ich noch nicht durch ein Vehmgericht beseitigt wurde,“ lachte sie. „Und,“ setzte sie hinzu, „daß ich auch keineswegs die Lust habe, so mir nichts dir nichts von der Bildfläche zu verschwinden.“ Und sie nahm meinen Arm und sprach, während wir durch die stillen Gassen schritten, von Rom, vom kommenden Winter, von allem Möglichen.

„Lotte,“ sagte ich an der Schloßecke, während der Diener voraneilte, die Thür zu öffnen, „das Kouvert – den Brief, ich legte ihn auf Deinen Schreibtisch, und einen Zettel daneben – hast Du es gefunden?“

„Ja wohl! Es ist bereits zu Asche verwandelt; es brannte so lustig wie mir je ein Papier, auf dem so perfides nichtsnutziges Zeug geschrieben stand. Gute Nacht, Tone.“

„Hattest Du Nachricht von Prinz Otto?“

„Just so, wie alle Tage.“

„Gute Nachrichten, Lotte?“

Sie lachte sorglos. „Was sonst? Schlaf wohl, Tone!“ –

Und so ging es Tag für Tag. Mit lächelnder Miene fuhr Lotte spazieren, und vom Schloß herüber trug der Herbstwind verlorne Klänge ihres Klavierspieles in unsere Fenster. Auch zu Fuß zeigte sie sich in dem Theil des Schloßgartens, der dem Publikum zugängig war; und hier traf ich sie einmal, als ich aus der Stadt zurückkehrte. Erschreckt sah ich sie an, ihr Antlitz war so bleich, und unter den Augen auf den Wangen lag ein fremdartiges Roth; durch den kleinen Schleier flimmerte es so merkwürdig intensiv. „Um Gott, bist Du krank, Lotte?“ fragte ich.

„Nein,“ erwiderte sie, neben mir gehend.

„Du siehst so roth aus?“

„Bah Soll ich mir von den guten Leuten hier nachsagen lassen, daß ich mich bleich und elend härme?“

Ich sah sie näher an. Wahrhaftig – Schminke! Es war mir so traurig, daß ich mich umwenden mußte, um sie nicht sehen zu lassen, wie mich dies erschütterte.

„Sage mir nur Eins, Lotte,“ bat ich, „weiß Prinz Otto von der Absicht seines Vaters?“

Sie zögerte einen Moment mit der Antwort. „Er muß den Brief bekommen haben, worin ich es ihm mittheilte, denn ich habe auf andere Fragen, die ich in demselben Schreiben that, Antwort erhalten. Das – hat er nicht erwähnt.“

„Und was denkst Du davon, Lotte?“

[199] „Daß er mich nicht aufregen will und dem Herzog seine Meinung nicht vorenthalten haben wird.“

„Und willst Du abwarten?“

„Nein; ich habe ihm nochmals darüber geschrieben –.“

Und wieder vergingen Tage. Ich meinte, Lotte werde immer blasser; und immer deutlicher trat die Schminke hervor. „Gewißheit!“ bat ich den lieben Gott, „zu ihrem Besten!“

Umsonst. Es blieb Alles ruhig. Briefe, Geschenke, Blumen trafen täglich ein, und Lotte fuhr spazieren, – spielte Klavier und sang. Und eines Tages erklärte sie mir, sie habe an Fräulein von Reckenthien geschrieben und sich in Berlin bei ihr angemeldet; es sei nicht zum Ertragen langweilig hier. Mitte September wollte sie reisen; Anita sollte als eine Art Kammerfrau sie begleiten.

[210] Eines Morgens trat der Telegraphenbote in unser Haus und brachte der Frau Amtsräthin die schönste Botschaft, die sie je in ihrem Leben bekommen hatte – wie sie heute noch behauptet. Mit dem Rufe: „Tonchen, heute Abend kommen sie!“ riß sie die Thür des Wohnzimmers auf, „da steht’s Kind! Ach, Du großer gütiger Gott!“

Ja, da stand es: „Heute Abend acht Uhr treffen wir ein. Müller.“ – Die Depesche war aus Köln. Und wie kam da Leben in das Haus! „Sophie, Kinder – in den Garten! Schneidet Grünes und Blumen!“ rief die alte Dame. „Mamsell, schlachten Sie die jungen Hähne; Kind, Tone, glaubst Du, daß er Hähnchen essen darf? Und Apfelmuß? Er ißt so gerne [211] Apfelmuß, Mamsell. Tonchen, einen Lorbeerkranz! Herzenskind, gehen Sie zum Schloßgärtner, einen Lorbeerkranz, so schön er ihn machen kann!“

Und die kleine Frau lief aus der Küche in das Krankenzimmer und öffnete die Fenster, und von dort lief sie in die Leutestube. „Jürgen, daß der Wagen blank gewaschen ist, und laufe zum Superintendenten und sage ihm eine Empfehlung von mir, und der junge Herr käme heute! Und zu Doktor Rother, er soll gegen halb neun Uhr hier sein, man kann ja nicht wissen. Bestelle auch ein Faß Bier in der Brauerei für Euch. Um fünf Uhr fahren wir hier ab, Jürgen; ich hole meinen Jungen selbst aus Triebelsberg.“

Es war plötzlich wie ein kribbelnder Ameisenhaufen, bald lag der Flur voller Grün, und Frau Amtsräthin und ich und die Mägde, was Zeit und Hände hatte, band Guirlanden. Die kleine Frau saß auf der untersten Stufe der Treppe, und mitten in der Arbeit schlug sie die Hände vor das Gesicht: „Ich denke nur an die Armen, Tonchen, die keine Kränze winden dürfen, weil ihnen Niemand heimkehrt.“

Und dann ging’s mit zitternder Hast weiter. Als es Mittag war, da prangten vor der Einfahrt des Hofes zwei riesige Tannenbäume, von Pfeiler zu Pfeiler schlang sich eine prächtige Guirlande, und auf einem Transparent stand, mehr gut gemeint als schön:

Du tapferer Krieger,
Franzosenbesieger!
Von Deinen Wunden
Mögst Du gesunden
Im Vaterhaus!

Das hatte der alte Schafmeister angegeben. Die Mamsell fand den Vers geschmacklos, aber sie schwieg, als sie seine Bedeutung erfuhr. Der alte Mann berichtete nämlich, daß er den Reim noch von „damals“ im Gedächtniß habe, als nach der Schlacht bei Leipzig ein junger Herr Roden hier wieder eingezogen war, „freilich mit einem Beine weniger, als er in den Kampf ging, aber sonst kreuzfidel,“ wie sich der Alte ausdrückte. Der Großonkel von Fritz mußte es gewesen sein. Und die Frau Amtsräthin entschied: „Es bleibt! Es ist historisch, und nebenbei – Fritz weiß, daß es ihm Freude machen soll, und wahr ist’s auch, was darauf steht.“

Die Treppengeländer, die Hausthür und jegliche andere Thür waren mit Kränzen umhangen, an den Wänden im Flur Festons, und von der Mitte des Gewölbes, wo die große Lampe hängt, zogen sich die anmuthigen Gewinde nach allen vier Ecken des Raumes hinab, und gar wunderschön nahmen sich die bunten Astern in dem Spargelkraut aus. Ueberall Blumen; in der Stube der Tisch gedeckt mit dem Schönsten, was das Haus barg, mit dem Damasttafeltuch, welches zur Taufe des Fritz zum erstenmale aufgelegt worden war. Mütterchen prangte im schwarzseidenen Kleid; die Bänder des Häubchens waren himmelblau und um den Hals trug sie einen schönen altmodischen Kragen von echten Spitzen.

Nur in dem Zimmer, darin er wohnen sollte, ward keine Blume gelitten; da lag einsam der Lorbeerkranz auf dem Tischchen vor dem Bette.

Und wie selig fuhr sie dann in dem großen Wagen davon, umgeben von Decken und Kissen und Fußbänken. Und während dem saß ich oben in meinem Stübchen und las einen Brief des Vormundes, der mir mit kurzen Worten mittheilte, ich könne sofort in das Elisabeth-Hospital eintreten. Was denn vorgefallen sei, daß ich eine Zuflucht verlassen wollte, über die ich anfangs so hoch beglückt gewesen?

Konnte ich’s ihm denn sagen? Ach, wenn ich überhaupt nur erst gesprochen hätte! Aber wenn es einmal soweit war, dann sagte Frau Roden gerade: „Tonchen, im Winter wollen wir Beide doch den großen Teppich fertig sticken, den ich für Fritz angefangen habe.“ Oder: „Tonchen, im Winter lesen Sie mir fleißig vor; mit meinen Augen wird’s immer trüber.“ Oder: „Kindchen, Sie müssen Whist lernen; wird’s Ihnen nicht zu langweilig sein mit mir Alten und dem kranken Jungen?“

Dann war mir die Kehle wie zugeschnürt, ich konnte keine Silbe vom Fortgehen sprechen. Und so lange dort drüben noch nichts entschieden war – durfte ich denn auch?

Ich konnte es mir nicht verhehlen, ich war in fieberhafter Aufregung, – mir bangte vor dem Wiedersehen. Tag und Nacht hatte ich an ihn gedacht, und seit der Stunde, in der die alte Dame gejammert: „Tone, was soll aus uns werden?“ da waren meine Gedanken rebellisch geworden und ließen sich absolut nicht gängeln, wenn auch immer und immer wieder eine Stimme in mir warnte: Du armes Ding, hast Du denn vergessen, daß Du „Die Andere“ bist?

„Nein, nein! Ich wollte ja vernünftig sein; er war eben nur ein Freund, ein Bruder, ein Kranker noch dazu, körperlich und geistig krank; denn sein Herz wird noch lange nicht genesen von den Wunden, die Lotte ihm geschlagen.

Und die Stunden vergingen, die Dämmerung sank herab, und ich stand am Fenster und sah durch die Lücke zwischen den beiden Kastanienbäumen auf die Fahrstraße längs des Schlosses; auch die Fenster unserer früheren Wohnung konnte ich erblicken; goldig blinkten sie im Scheine des Abendhimmels.

Da Pferdegetrappel, das Rollen eines Wagens; ich erkannte die alten Fuchse und ging zur Stubenthüre, um ihn unten zu begrüßen. Stufe für Stufe kam ich hinunter, wie Blei lag es mir in den Gliedern, und so trat ich inmitten der Leute unter die buntgeschmückte weitgeöffnete Pforte des Hauses. Langsam kam das Gefährt über das Pflaster des Hofes, das Verdeck des Wagens war hochgeschlagen, und Jürgen winkte vom Kutscherbock so eigenthümlich mit der Hand, als wollte er sagen: „Man sachte, man still! Wir sind noch lange nicht so weit, bis zur lauten Freude!“

Ich eilte die Stufen hinab an den Schlag. „Fritz,“ hörte ich Frau Roden sagen, „da sind wir! Da ist Tonchen!“ Und eine matte Stimme sprach darauf: „Guten Tag, Fräulein Antonie!“

Dann war Herr Müller aus dem Wagen gesprungen und Jürgen vom Bock, und sie postirten sich am Schlag; auch Frau Roden stieg aus. Ich konnte ihre Züge nicht mehr unterscheiden, aber sie drückte meine Hand so eigen und so fest. „Recht vorsichtig,“ bat sie, und nun hoben sie ihn heraus.

So schlimm war es? Ich stand wie gelähmt vor Schreck. „Pst! Nicht merken lassen, Tonchen,“ flüsterte sie, „ja nicht!“ – Ja, war denn das der blühende stattliche Mann, der vor kaum acht Wochen hinauszog, in der Vollkraft der Gesundheit? Wie ein Kind trugen sie den Riesen in das Haus, und der Schein des Lichtes streifte ein bis zur Unkenntlichkeit abgemagertes Gesicht und matte, tief eingesunkene Augen.

„Ins Bette, Männer,“ hörte ich ihn sagen, „wenn ich liege, mögen mich die Leute begrüßen.“

Alles war stumm. Wie bittere Ironie hingen die Kränze über den Thüren, wie Hohn stand dort die festliche Tafel.

„Lauft noch einmal zum Doktor Rother,“ befahl Frau Amtsräthin, „er soll bald herkommen.“ Dann verschwand sie im Krankenzimmer. „Ach Du lieber Heiland!“ sagte die Mamsell, und die Thränen rannen über die dicken rothen Wangen. Scheu und still gingen die Leute davon, und ich stand noch immer in dem festlich geschmückten Flur und konnte es nicht fassen.

Dann öffnete sich die Thür, und Frau Roden kam heraus, von Jürgen gefolgt, der nach der Küche schritt. „Tone,“ flüsterte sie vor mir stehen bleibend, „wollen Sie noch immer gehen, um in Berlin Kranke zu pflegen?“

Ich blickte sie erschreckt an.

„Ich weiß Alles, Tone! Glauben Sie, ich hätte nichts gemerkt? – Wenn es Sie keine zu große Ueberwindung kostet – da drinnen, da fänden Sie auch wohl, was Sie suchen.“

Ich reichte ihr stumm die Hand. „Gott lohne es Ihnen,“ sprach sie, „daß Sie mich nicht verlassen jetzt!“ – Ich ging in mein Zimmer, band mir eine Schürze um, zog weiche leise Schuhe an und kam wieder hinunter. „Nun führen Sie mich an meinen Platz,“ sagte ich zu der kleinen Frau, die eben mit einer Schüssel Wasser und Leinwand durch den Flur schritt.

Ohne Weiteres gab sie mir, was sie trug. „Kommen Sie, mein Kind!“

Leise trat ich an sein Bette; er hatte die Augen wie in tiefer Erschöpfung geschlossen; der kranke Arm lag auf der Decke. Die Binden waren unsauber geworden durch die lange Fahrt; behutsam begann ich, sie abzuwickeln. Da schlug er die Augen auf, und wir sahen uns an. Wie Sonnenschein ging es über sein Gesicht. „Ach Sie, Fräulein Tone?“ sagte er herzlich, „Sie wollen das thun?“ Er hob die Linke zum Handschlag. [212] „Es scheint Alles viel schlimmer, als es ist; ich bin matt von der Reise. Wie gut, daß ich daheim!“

„Ja, mein lieber alter Junge,“ sagte Frau Roden, „nun wollen wir Dich bald gesund kriegen, aber sprich nicht so viel.“

Als Doktor Rother ihn untersucht hatte, erhielt ich meine erste Anleitung in der Pflege von Wunden. „Sorgfalt, Fräulein von Werthern, und Akkuratesse, große Akkuratesse!“ sagte der freundliche alte Mann. „So halten Sie den Arm – so ist’s recht, es wird schon werden, dazu können wir am besten eine junge weiche Frauenhand gebrauchen; gelt, Du armer Kerl?“

„Versteht sich, Pathe!“ erwiderte er mit einem Versuch zu scherzen.

„Ja, ja, das glaub’ ich wohl! Na, nun nur hübsch ruhig, und gutes kräftiges Essen und frische Luft und Geduld, dann wollen wir Dich schon auf die Beine bringen. Und, Fräuleinchen, Akkuratesse! Akkuratesse!“

Er strich dem Kranken über das Gesicht und ging, um ein wenig zu essen, und Frau Roden war froh, daß ihre Vorbereitungen doch in Etwas zur Geltung kamen. Ich führte den alten Herrn hinüber an den festlich gedeckten Tisch, an dem Müller schon Platz genommen hatte. „Nun leisten Sie mir Gesellschaft,“ bat er mich und goß sich Rothwein ein.

„Herr Doktor,“ fragte ich, „er ist sehr krank?“ –

„Herunter ist er, furchtbar herunter! Aber er kommt auch wieder herauf. Prost. Fräulein von Werthern, auf das Wohl des Kranken!“

„Wir haben nichts zu befürchten?“

„Fürchten? Fürchten? Wenn ich mir einen Holzsplitter einreiße, habe ich ebenfalls zu fürchten. Seien Sie gescheit, kleines Fräulein, und essen Sie hier mit; sehen Sie nur, wie goldbraun die Mamsell die Hähnchen gebacken hat.“ Und der allezeit lustige Mann hieb tapfer darauf ein, und ehe ich’s versah, waren die beiden Herren in ein eifriges Feldzugsgespräch verwickelt, und Müller gab haarsträubende Berichte aus den Lazarethen zum Besten.

Als der Doktor endlich nach der Uhr sah und rasch aufstand, um Hut und Stock zu ergreifen, sagte er im Flüstertone: „Er wird fiebern, Fräulein von Werthern, erschrecken Sie sich nicht, und lassen Sie die kleine schwächliche Frau sich nicht ängstigen und überanstrengen; die Wunde ist durch den Transport etwas entzündet. Zur Noth Eisumschläge auf den Kopf, Sie haben’s ja im Keller. Ich komme morgen mit dem Frühesten.“

„Hat ihm die Reise geschadet?“ rief ich angstvoll.

Er zuckte ungeduldig die Schultern. „Liebes Kind, es ist eine schwere Verletzung, und für dergleichen pflegt eine lange Eisenbahnfahrt nie von Vortheil zu sein. Aber tausendmal besser, er liegt hier in dem sauberen Hause als in vom Lazarethfieber durchseuchten Räumen. Nur den Kopf oben, sonst kann ich Sie nicht als Pflegerin gebrauchen.“

Nein, ich hätte nicht fortgekonnt, denn es kamen schwere Tage und Nächte; Stunden, in denen der Kranke die furchtbarsten Schmerzen litt, in denen ihm das klare Bewußtsein geschwunden schien und er den Namen „Lotte“ unzählige Male aussprach, und die Hände mir zitterten, welche frische kühle Tücher auf seine Stirn legten.

„Es ist nicht allein die Wunde,“ sagte der Doktor, „es sind auch die Folgen der Aufregungen und Strapazen; hier wirkt vieles zusammen.“

Während der nächsten Tage sah ich Lotte nicht; ich wußte nur, daß sie noch nicht nach Berlin abgereist sei, und daß sie nach wie vor spazieren fahre. –

Dann erschien der dreißigste Oktober, ein echter Herbsttag. Der Sturm fegte welke Blätter im Wirbel gegen die Fenster, und dann und wann kam eine Regenhusche, wie im April. In den Zimmern war zum ersten Male eingeheizt, und die Flammen spielten lustig in den weißen Porcellanöfen, als freuten sie sich der wiedererlangten Gunst bei den Menschen. Trotz aller finstern Wolken draußen war hier innen Sonnenschein eingekehrt, denn der Kranke befand sich, nach seiner eigenen Aussage, zum ersten Male wieder menschlich und wollte aus der Zeitung vorgelesen haben.

Mutterchen, Du kannst das nicht, es strengt Augen und Stimme an, – wenn aber Fräulein Tone –“ er wendete den Kopf zu mir und sah mich an. „Ich quäle Sie recht, nicht wahr?“ Er hielt mir die gesunde Hand entgegen und drückte die meine herzlich. „Ich muß doch wissen, ob wir schon vor Paris stehen?“

Eilig lief ich in das Wohnzimmer, um Zeitung und Lampe zu holen, und ertappte mich dabei, daß ich leise vor mich hin sang. Einen Moment war ich selbst erschreckt, dann fiel mein Blick durch das Fenster auf das Schloß, und ich dachte daran, daß ich eigentlich heute Lotte besuchen wollte. Vielleicht nach Tische; ich konnte ja ruhig fortgehen. Die bittenden Blicke sollten heute einmal keine Gewalt über mich haben, nahm ich mir vor; die Augen, die mir immer folgten, wenn ich durch das Krankenzimmer schritt, die so enttäuscht aussehen konnten, wenn ich hinausging.

„Ja, ja, Fräulein von Werthern,“ sagte neulich der Doktor, „Kranke sind Tyrannen; sie gönnen dem, der sie pflegt, nicht Ruh noch Rast; förmlich eifersüchtig sind sie. Das muß man in Geduld ertragen, es ist die pure Langeweile.“

„Aber Doktor!“ hatte Fritz Roden sich vertheidigt, „Dankbarkeit ist es, und –“

„Schöne Dankbarkeit! Adieu, Fritz.“

Ich nahm die Zeitung und schritt durch den Flur. Das ganze Haus duftete nach Obst; die Kellerthür stand offen, und die Mägde schleppten Tragekörbe voll der köstlichsten Winteräpfel hinunter

Da riß Jemand ungestüm die Hausthüre auf, daß der Klang der Schelle dröhnend an den Wänden entlang fuhr – Anita stürzte herein, blaß und verstört.

„Ist sie hier?“ rief sie.

„Wer? Meine Schwester?“

„Die Gräfin! Ich habe sie hinüber laufen sehen.“

„Nein!“ sagte ich erschreckt.

„Dann ist sie im Garten oder in der alten Wohnung.“ Und fort eilte das Mädchen.

Ich warf die Zeitung auf eine Bank und eilte in den Sturm hinaus, hinter Anita her. An der weit offenen Gartenthür holte ich sie ein.

„Anita, um Gotteswillen, was ist’s?“ stieß ich hervor.

„Sie muß schlechte Nachrichten bekommen haben, sie war wie eine Verzweifelte, ich traue ihr Alles zu. – Fräulein, dort hinten fließt die Rote!“

Wie ein Pfeil flog ich vorwärts. „Lotte!“ rief ich. „Lotte!“ Aber das Rauschen des Windes in den Bäumen übertönte meine Stimme. – „Ein Sprung von der Brücke,“ klang es mir in die Ohren. „Lotte, nur das nicht, nur das nicht!“

Und ich tastete mich den kleinen Abhang hinunter und stand dann auf dem Wege, neben welchem das stille tiefe Flüßchen dahin zieht.

„Lotte! Lotte!“ Ich weiß nicht mehr, wie rasch ich dahin stürzte und wie ich endlich erschöpft in die Kniee sank neben der schlanken Gestalt, die hart am Rande des Wassers, so dicht, daß ihr Fuß darüber zu schweben schien, die Arme um den Stamm einer Erle geschlungen hatte. „Lotte, was – was willst Du thun?“ schrie ich auf und richtete mich empor. Sie wandte das Haupt zu mir herum, und noch war es licht genug, um das.todtenblasse Antlitz zu erkennen und die Augen, in denen ein irres Feuer schimmerte.

„Ich? – Nichts! Es ist so schwer!“ murmelte sie und ließ sich von mir hinwegziehen auf festen Boden.

„Komm,“ sagte ich und leitete sie zu der Bank, die unfern am Wege stand, aber sie strebte vorüber, und ich schritt neben ihr durch die feuchten Wege des dunklen Gartens.

„Wo willst Du hin, Lotte?“

„Nach Hause.“ –

„Ach Lotte, Du gehst falsch.“

„Nicht ins Schloß will ich!“ Und sie stieß meinen Arm zurück.

„Nein, Lotte; komm mit in mein Zimmer, Du weißt, wo wir mit der Großmutter die erste Nacht schliefen. Dort drüben ist Alles kalt, und die Möbel sind verhangen. Komm!“

Folgsam wie ein Kind ging sie neben mir her. An der Gartenpforte erblickte ich Anita, die sich zurückzog, als sie uns sah, dann in einiger Entfernung hinter uns kam und den Weg zum Schlosse einschlug. Willenlos folgte mir Lotte in das Haus, das sie nie wieder betreten hatte, seitdem sie seinem [214] Herrn die Treue brach. Sie schien aber keinerlei Empfindung dafür zu haben, langsam stieg sie neben mir die Treppe hinauf und stand in meinem Stübchen zwischen unseren lieben alten Möbeln.

„Nun, Lotte, setze Dich, oder lege Dich nieder; sprich doch, was ist geschehen? Hast Du Dich erschreckt, hast Du schlechte Nachrichten? Sag’s doch! Du weißt ja, Lotte, ich trage Alles mit Dir!“ Ich schlang die Arme um ihren Hals; aber da glitt sie mit einem Aufschrei zu Boden, lag mit dem Kopf auf den Dielen, krallte die Hände in das Haar; endlich brach sie los, die furchtbarste Verzweiflung ihres armen stolzen Herzens. Es war nicht möglich, Einhalt zu thun. „Wenn Hans noch lebte, wenn er ihn todtschießen könnte!“ schrie sie heiser; und immer und immer wiederholte sie: „Wenn Hans noch lebte!“

Wie lange es so gedauert, erinnere ich mich heute nicht mehr. Frau Roden und ich brachten die völlig Erschöpfte endlich auf mein Bette. Blaß und still sah mich die gute kleine Frau an. „Tone, was ist geschehen?“

Ich wußte es nicht, noch immer nicht; erst nach Stunden erfuhr ich es durch den zerknitterten Brief, den Lotte in der Hand hielt, und den sie mir endlich als Antwort auf meine vielen Fragen gab. Er war vom Prinzen.

Mit brennenden Augen las ich. Leidenschaftlich zärtliche Worte waren es, Versicherungen unwandelbarer Liebe und endlich hieß es: „Meine Eltern scheinen es ja verteufelt eilig zu haben, mich unter die standesgemäße Haube zu bringen; die Wittwe meines Bruders läuft mir nicht davon, sollte ich meinen, und so schnell lasse ich meines Lebens Glück mir nicht rauben. – Wir verhandeln mündlich über diese Angelegenheit. Ich denke, vorläufig verderben wir uns unsere reizende Korrespondenz nicht mit solchen trüben Dingen.“ –

Dann tanzten die Buchstaben vor meinen Augen, ich sah nur noch die Worte: „Aeußerliche Schranken – niemals trennen.“ Nun begriff ich Lotte’s Verzweiflung.

„Arme Lotte!“ Ich beugte mich über sie und streichelte ihr heißes Gesicht.

„Habe ich das verdient?“ Und mit wüthender Geberde schleuderte sie den Trauring von sich, als ob er, dem sie ihn vor die Fäße zu werfen gedachte, dort in dem Winkel des Zimmers stehe. „Stecke ihn ihr doch an und werde glücklich!“ fuhr sie fort und richtete sich halb im Bette auf, „aber denke nicht, daß meine Augen Dich nur noch streifen werden!“ und so saß sie, die Fäuste geballt, zitternd und fast erstickend vor Zorn. Es blieb nichts übrig, der Arzt mußte geholt werden.

„Was wird das, Doktor?“ flüsterte ängstlich Frau Roden.

Er sprach ein paar beruhigende Worte, verschrieb eine Arznei und zuckte die Schultern. Noch einmal wagte ich, ihn zu fragen: „Kann es schlimmer werden, bester Herr Doktor?“

„Abwarten!“ sagte er im seiner kurzen Manier und ging.

Und sie sprach weiter, unaufhörlich; aber ruhiger schien sie zu werden. Sie war im Mondschein in dem Garten, und die Nachtigall sang. „Otto!“ sagte sie. Wie innig das klang. Sie plauderte von ihrem Brautkranz, und wie kurz die Stunden; vom Scheiden und vom Wiedersehen, bis sie aufs Neue in wilde Delirien verfiel: „Hans, räche mich. Schieße ihn todt, todt!“ – So ging es bis zum grauenden Morgen; da erst ward sie still, und endlich hatte der Schlaf sie doch gefunden. Sie lag das Gesicht nach der Stube zugewandt und um den Mund ein Lächeln.

Leise schlich ich mich hinaus und saß in meinem Stübchen auf dem Sofa. Mich fröstelte in der Morgenkühle, und der Kopf war mir schwer. Ich hatte es kommen sehen, und nun es geschehen, war es dennoch mit all der Schwere eines plötzlichen großen Unglückes hereingebrochen. – Als ich aus einer Art von Halbschlaf erwachte, schien die Sonne hell in das Zimmer und vor mir am Tische stand – Lotte. – Sie sah furchtbar bleich aus, unordentlich die Kleider und das Haar, und so merkwürdig der Ausdruck ihres Gesichtes.

„Wie geht es Dir, Lotte? Warum bleibst Du nicht liegen?“

„Ich bin nicht mehr müde,“ erwiderte sie und sah an mir vorüber. „Mich friert nur.“

Ich zog sie ins Sofa, deckte sie zu, ließ Feuer anmachen und brachte ihr heißen Kaffee. Sie trank auch, aber sie saß dann wieder regungslos in der Sofa-Ecke und sah auf einen Fleck. Leise kam ich herzu, um ihr die wirren Haare zu ordnen;

da bog sie den Kopf zur Seite, und von unten herauf traf mich ein funkelnder böser Blick.

Ich versuchte es nicht mehr; ich versuchte auch nicht mehr zu sprechen, denn ich bekam keinerlei Antwort. Sie blieb unbeweglich, und um Mittag saß sie noch so. Als der Arzt erschien, wurde er sofort verabschiedet; sie sei ganz gesund!

Frau Roden erhielt so wenig eine Antwort, wie ich; vor meiner Zimmerthür sprachen wir flüsternd zusammen, die alte Dame und ich. „Lassen Sie sie allein, es ist eine Krise,“ sagte sie, „und kommen Sie einmal herunter zum Fritz. Ich hatte gehofft, man könnte ihm die ganze Sache verheimlichen, aber der Doktor hat sich wohl verplappert, oder woher er es sonst wissen mag – er ist furchtbar verstimmt und unruhig.“

„Wenn ich nur wüßte, was nun werden soll?“ fragte ich.

„Die Arme ist noch nicht zur Besinnung gekommen, Tonchen! – Fritz muß schon vernünftig sein.“ Das Letzte klang wie ein Seufzer.

Ich ging hinunter in das Krankenzimmer und trat an das Sofa, auf dem Fritz Roden jetzt den Tag zu verbringen pflegte. Er hatte Bücher und Zeitungen vor sich auf der Decke liegen, aber er las nicht. Machte es die Einbildung? Sein „Guten Tag“ klang mir nicht so wie sonst, und sein Blick streifte die kleine Uhr auf dem Tische neben dem Lager. Es war drei Uhr Nachmittags.

„Haben Sie auch Zeit für mich?“ fragte er, als ich mich still ans Fenster setzte und eins der Blätter ergriff, um vorzulesen.

Ich sah ihn an, er war dunkelroth geworden bei diesen Worten, dann wieder bleich, und es zuckte nervös um den blonden Vollbart. „Ja, ich habe Zeit.“

„Wirklich?“ Es klang so komisch, wie Besorgniß und doch auch wie Hohn. „Wirklich? Nein, lassen Sie das Lesen; ich bin zu nervös, zu unruhig – um zu hören.“

Ich ließ das Blatt sinken und sah zum Fenster hinaus. Was sollte ich auch thun? Hier saß ja nur „Die Andere“, und droben, in seinem Hause, weilte die, die er nie vergessen, unglücklich, krank und schutzlos!“ –

„Ich bitte Sie, Fräulein von Werthern,“ sprach er weiter, „bleiben Sie meinetwegen nicht hier, Sie sind sicher wo anders nöthiger.“

Ich fuhr empor. „Ich gehe schon; Ihre Mutter schickte mich, weil sie meint, Lotte brauche Ruhe und Sie Erheiterung. Ich werde meine Pflichten gegen Lotte nicht vernachlässigen.“

Wie schnell ich die Zeitung auf den Tisch warf und, die Thränen verbeißend, an seinem Lager vorüber zur Thür eilte, ich weiß es nicht mehr. – Es war die Angst, die aus ihm sprach, die namenlose Angst um Lotte. Also immer noch!

Gegen Abend redete Lotte mich an. „Tone, hast Du Schreibzeug?“ Ich holte bereitwillig das Verlangte und zündete die Lampe an. Und sie schrieb. Sie war noch immer in ihrem wirren Haar und dem nachlässigen Anzug, und ihre Feder warf große hastige Bnchstaben auf das Papier. In kurzer Frist war der Brief fertig.

„Tone, besorge Du ihn zur Post,“ bat sie. – Ich trug den Brief fort, er war an den Prinzen.

Als ich zurückkehrte, begegnete Anita mir am Hofthor; sie trug einen Brief und eine Depesche in der Hand. „Die Gräfin hat die Briefe nicht angenommen; ich soll sie in ein Kouvert thun und dabei vermerken, die Gräfin sei verreist.“

„Vom Prinzen, Anita?“

„Ja!“ antwortete das Mädchen und ging weiter.

Als ich in mein Zimmer trat, erblickte ich Lotte, hastig hin und her wandernd; sie sah förmlich unheimlich aus. „Die Person ist bereits impertinent genug, mich fühlen zu lassen, daß – –“ Sie war, die Hände zur Faust geballt, vor mir stehen geblieben, aber sie vollendete nicht; es war, als fände sie keinen passenden Ausdruck.

„Wen, Lotte? Wen meinst Du?“

„Anita meine ich – wen sonst? Ich habe ihr gesagt, sie soll mir einige Sachen herüber bringen, und sie bleibt ewig lange! Nun, ich habe ja auch nichts mehr zu befehlen,“ lachte sie und lief ans Fenster, und von dort begann sie wieder ihren Kreislauf durch das Zimmer.

Ich zündete schweigend die Lampe an und zog die Vorhänge zu.

[215] „Es ist zum Ersticken hier,“ bemerkte Lotte und stieß mit dem Fuße die Thür zum Schlafzimmer auf; „diese Stuben sind niedriger als ein Gefängniß, fürchterlich!“

In diesem Augenblick klopfte es, und Anita trat mit einer Korbwanne ein, bedeckt mit einem Tuche. Lotte nahm sie ihr aus der Hand, stellte sie auf den Tisch und riß die Decke hinweg.

„Was fällt Ihnen ein!“ rief sie zornig und wies auf verschiedene Schmucketuis. Glauben Sie, daß ich den Bettel behalten will? Hier!“ Sie ergriff eins der Etuis aus schwarzem Leder, auf dem ihr Monogramm, mit der Grafenkrone darüber, in Gold gepreßt stand, „hier!“ und krachend lag es zu Anita’s Füßen, daß ein blitzendes goldenes Armband heraussprang. „Und hier – und hier!“ Drei bis vier andere Kästchen folgten, nach denen sich Anita bestürzt bückte. – „Und da!“ Und dem Mädchen hart am Kopf vorbei flog eine Kassette, aus der klingend und klirrend Gold- und Silberstücke sprangen und hüpfend durch das Zimmer rollten.

„Was habe ich Ihnen gesagt?“ rief sie; „die Briefe wollte ich haben! – Wie kommen Sie dazu, mir eigenmächtig mit diesem Plunder unter die Augen zu treten? Setzen Sie ihn wieder hin, wo Sie ihn fortgenommen; ich will ihn nicht!“ Und sie stieß mit der Fußspitze an das nächstliegende Etui, daß es in die äußerste Ecke des Zimmers flog.

Sprachlos standen wir dabei. Sie hatte eine kleine Truhe aus Elfenbein mit Silberbeschlag ergriffen und ihre zitternden Finger öffneten sie mit einem winzigen Schlüsselchen. Sie war voller Briefe; und im nächsten Augenblick saß Lotte vor dem Ofen, und ihre Hand warf, soviel sie der beschriebenen Blätter zu fassen vermochte, in die Gluth.

„Um Gotteswillen, Frau Gräfin!“ rief Anita erblassend und eilte zu ihr, „verbrennen Sie nichts, keine Zeile; jedes Wort des Prinzen ist wichtig für Sie in Ihrer jetzigen Lage, für Ihre nächste Zukunft!“

„Gehen Sie,“ befahl Lotte kurz.

„Frau Gräfin!“ flehte das Mädchen.

„Gehen Sie!“ wiederholte die zornige Frau noch einmal mit erhobener Stimme, und das flammende Papier beleuchtete ihr blasses Gesicht; sie sah entsetzlich aus, fast entstellt.

[225] Kopfschüttelnd wandte sich Anita, suchte Geld und Schmuck zusammen und ging still hinaus. Und Lotte verbrannte die Briefe. Einmal war es, als ob ihr Blick hängen bliebe an einem der Bogen, als ob sie lese; einen Augenblick lehnte sie den Kopf gegen die Kacheln des Ofens, und die feine Hand schwebte wie unschlüssig über den Flammen, aber gleich darauf züngelten sie auch um diesen Brief, und hastig warf sie den Rest hinterdrein und sah zu, wie es aufloderte und zu Asche verbrannte, und wie in den schwarzen verkohlten Resten die glühenden Funken spielten.

Ich konnte den Anblick nicht ertragen; ich wandte mich und ging in die Schlafstube. Nach einem Weilchen hörte ich laut auflachen und als ich erschreckt zurückkam, hatte sie ein Karton geöffnet vor sich stehen, und in der Hand einen kaum verwelkten Myrtenkranz. Sie lachte noch immer; laut und schrecklich klang es, kalt und unheimlich, und dabei standen funkelnde Tropfen in den großen Augen. So lachte neulich Anita auch.

„Lotte, beste Lotte!“ rief ich angstvoll und nahm ihr den Kranz fort, während sie in den nächsten Stuhl sank und die Hände vor das Gesicht schlug und weiter lachte; dieses schreckliche verzweifelte Lachen!

Zitternd warf ich den Krauz in die Schachtel zu dem verdorrten Rosenstrauß, der noch darin lag; – Blumen, die nur einen Tag geblüht, nichts zurücklassend als wehe Dornen und ein todeskrankes Herz.

Ich kniete neben ihren Stuhl und umfaßte sie. Aber sie stieß mich zurück und schwer sanken ihre Arme herunter. „Laß mich!“ murmelte sie, „ich bin müde, todmüde und will schlafen!“

Sie stand auf und ging an mir vorüber, und im Nebenzimmer warf sie sich auf das Bette, das am Nachmittag für sie bereitet war, und dort lag sie unbeweglich. Als ich nach einiger Zeit bange lauschend ihr nachschlich, war es mir, als thue sie keinen Athemzug.

Dann ein leises Klopfen an der äußern Stubenthür, und als ich mich umwandte, schaute Frau Roden herein. „Kindchen,“ flüsterte sie, während ich, den Finger auf den Mund gelegt, leise zu ihr hinüber kam und sie auf den Flur hinaus drängte, „Kindchen, hat hier denn jemand gelacht? Fritz behauptet, er habe Lachen gehört.“

„Ja,“ sagte ich; „Lotte ist entsetzlich aufgeregt.“

„Wenn sie nur schlafen möchte oder weinen könnte!“

„Ich glaube, daß sie einschlafen wird,“ erwiderte ich, „sie ist ganz erschöpft.“

„Haben Sie denn einen Augenblick Zeit für uns? Ich versuchte vorhin den Arm zu verbinden, er stöhnt aber so sehr, ich bin so ungeschickt, Tonchen. Es ist zu schlimm, wenn man nicht mehr sieht.“

Ich lief eilig die Treppe hinunter und stand dann an seinem Lager. Sogleich machte ich mich daran, die ungeschickt angelegten Binden zu ordnen, aber er wendete den Kopf nicht herum von der Wand. Ob er wirklich um sie litt, die dort oben in Schmerz und Zorn lag?

„Fritz,“ begann ich, „darf ich Ihnen etwas vorlesen heute Abend?“

„O, bemühen Sie sich doch nicht –.“

„Aber ich thue es gern, damit Sie auf andere Gedanken –“

„Wissen Sie denn, ob mir meine Gedanken so unlieb sind?“ fragte er eigensinnig, wie nur ein Kranker es vermag.

Ich antwortete nicht; er that mir weh in diesem Augenblick. Und nun sah er mich an.

„Weinen Sie?“ sprach er gereizt. Und als ich stillschweigend das Buch nahm und mich an sein Lager setzte, fühlte ich, wie meine Stimme zitterte bei den ersten Worten, und wie sein Blick groß und voll auf mir ruhte. Im Sofa-Eckchen strickte Frau Roden, und dann verstummte das Klappern der Nadeln, nur meine Stimme klang noch, einförmig und farblos; ich las ohne Gedanken, rein mechanisch. Es war eins der letzten Kapitel aus dem „Ekkehard“.

Dann brach ich jäh ab, über uns begannen wieder die kleinen hastigen Schritte, hin und her, hin und her. Erschreckt sah ich zu ihm hinüber; er lag, den Kopf auf den gesunden Arm gestützt und die Augen auf mich gerichtet, völlig ruhig.

„Lesen Sie weiter,“ bat er.

In diesem Augenblick war es, als ob ein schwerer Gegenstand dort oben umfiel; es krachte förmlich. Ich warf das Buch auf den Tisch und wollte hinauf, da griff er nach meinem Kleide und hielt mich fest. „Ja, das ist recht, Mutter, sieh Du zu, was geschehen ist!“ rief er der hinauseilenden Frau nach. „Sie bleiben hier, Fräulein von Werthern, Sie zittern ja schon wieder; diesen Aufregungen scheinen Sie nicht gewachsen.“

In der That, ich war kaum fähig mich zu rühren.

„Armes Kind!“ sprach er weich und sah zur Decke empor. Meinte er Lotte?

„Sie ist sehr krank,“ erwiderte ich. Oben verstummten jetzt die Schritte, es ward still. Nach einer Weile kam Frau Roden zurück.

„Aengstigen Sie sich nicht, Tone,“ sagte sie mild; „der Schmerz will austoben bei solchen Naturen.“

„Fahren Sie fort,“ bat er mich, scheinbar ohne darauf zu hören, und wischte sich über die Stirn. Aber ich konnte nicht lesen, ich hatte keinen Willen in diesem Augenblick, und er nahm mir ungeduldig das Buch aus der Hand und las weiter, wo ich aufgehört: „‚Krank?‘ sprach Ekkehard. ‚Es ist nur eine Vergeltung‘ –.“ Dann stockte er, die Worte mochten ihm wunderlich passen; und er las für sich, so eifrig, daß ich meinte, er würde es nicht gewahr werden, wenn ich nun aufstände und hinaufginge zu Lotte. Aber bei der leisesten Bewegung senkte er das Buch und schaute mich an.

„Sie wollen schon fort?“

„Ich ängstige mich.“

Er antwortete nicht, aber er sah noch finsterer aus als vorhin.




Es kam eine schwere Zeit über mich. Lotte verfiel in eine Art Apathie; sie wollte sich nicht anziehen, sie wollte nicht sprechen und nicht essen; alle Mühe war vergebens, sie zu bewegen, sich ein wenig aufzuraffen. Scheu kauerte sie in dem Winkel des Sofa, nachlässig im Morgenkleide, das Haar in einen Knoten am Hinterkopf aufgesteckt, die Arme unter einander geschlagen, und starrte auf einen Fleck.

Ich hatte gebeten, ich war heftig geworden; sie bemerkte es kaum. Frau Roden drang ernstlich in sie, keine Miene zuckte in ihrem Gesicht. Sie war nur einmal aus diesem Zustande erwacht, als ein Brief vom Prinzen kam; sie hatte mit zitternder Hand darauf geschrieben, daß Adressatin durchaus keine Briefe annähme! Dieselben Worte hatte sie auf einem Schreiben des Kammerherrn vermerkt. Und nun waren schon neun Tage vorüber, und immer noch dasselbe.

Und alles Dies in dem Hause, in das sie Undank und Untreue gebracht! Aber daran dachte sie nicht; woran sie überhaupt dachte in dieser Zeit? Es war etwas Schreckliches – ich habe es erst später erfahren. –

Kein Wort gegen Lotte bekam ich unten zu hören; wenn jemals dem Bibelwort „Segnet, die Euch fluchen“ nachgeeifert ist, so war es unter dem alten Schieferdache des Domainenhauses. Der Arzt verordnete Wein – und das Beste aus dem Keller stand vor dem schweigenden jungen Weibe; Blumen und Früchte stellte die alte Frau still vor sie hin – kein Wort des Dankes lohnte ihr. Es war eine unheimliche Schwüle überall.

Und dazu schallte die Hausthür zur Besuchsstunde wieder fleißig, und Allewelt, die sonst in Wochen und Monaten nicht erschien, kam nun, nach dem Befinden des Patienten zu fragen mit einem Eifer, der mich dunkelroth machte und Frau Roden ein feines Lächeln abnöthigte. Ihrem Sohne ergehe es gut, erwiderte sie höflich kühl; von der, die sich unter ihr Dach geflüchtet, sprach sie keine Silbe, so deutlich auch die Anspielungen, die man wagte –. Aber wir erfuhren dennoch, in welch heller Aufregung die Stadt sich befand. Die unglaublichsten Gerüchte durchschwirrten die Luft, und daß Lotte in ihrer Noth dem [226] ehemaligen Bräutigam zu Füßen gefallen war, ihn um Verzeihung angefleht habe, ward in tausend Variationen verbreitet.

Ich ging umher, wie auf glühenden Kohlen; was sollte nun werden? Hier bleiben konnte Lotte nicht, allein ziehen lassen durfte ich sie ebenfalls nicht; in ihrem jetzigen Gemüthszustande war selbstverständlich keine Rede davon. ich hätte sie begleiten müssen, aber – wohin? Und wie leben? Und wenn ich auch arbeiten wollte von früh bis spät, es würde kaum für Lotte reichen, wir besaßen nichts, wirklich nichts!

Vom Hofe blieb jede fernere Nachricht aus. Ob die Scheidung bereits angebahnt war? Ob nicht? Wir erfuhren es nicht. Und immer tiefer drückte mich das Bewußtsein zu Boden: hier darf sie nicht bleiben; es hieße, Güte und Freundlichkeit allzusehr mißbrauchen.

„Charlotte,“ begann ich eines Nachmittags, als ich sie mit hundert guten Worten zwingen wollte, etwas Kaffee zu trinken, und sie widerwillig meine Hand zurückschob, welche die Tasse hielt, Charlotte, ich muß ernstlich mit Dir sprechen, so geht es nicht länger. Was hast Du beschlossen? Welche Nachrichten hast Du dem Kammerherrn gegeben? – Du wirst einsehen, daß wir in diesem Hause nicht länger bleiben können. Bitte, sag’s mir, was gedenkst Du zu thun?“

Sie sah mich an und zuckte die Schultern. „Ich habe ihnen den Bettel vor die Füße geworfen!“ antwortete sie endlich.

„Das ist unüberlegt von Dir gewesen, Charlotte,“ tadelte ich.

Sie zuckte abermals die Schultern und sagte tonlos: „Mir ist Alles gleich!“

Es waren die nämlichen Worte, die sie täglich so und so oft sprach. Verzweifelt lief ich hinunter in die Wohnstube, wo Frau Roden am Fenster saß und strickte. „Was soll nun werden?“ fragte ich, „liebe Frau Amtsräthin, was soll nun werden?“

Sie verstand mich und erwiderte: „Geduld, Tonchen, sie ist noch krank, sie ist eine von den Naturen, die nie hoch genug steigen und nie tief genug fallen können. Geduld!“

„Aber sie darf Ihnen nicht länger zur Last sein.“

Sie strich mir mit der Hand über das Gesicht. „Sie ist mir nicht zur Last, Tonchen; ich habe nur ein Bedenken –“ und ihre Augen richteten sich besorgt auf die kleine Tapetenthür, die in das Zimmer des Sohnes führte. „Ich fürchte, er hat noch immer nicht überwunden,“ flüsterte sie und nickte mir kummervoll zu. „Er ist ungeduldig, er lauscht auf jeden Tritt dort oben; ich wollte ihn eigentlich umquartieren, ihn wieder in sein altes Zimmer bringen, nach dem Hofe hinaus; doch als ich davon sprach, ward er so heftig, wie ich ihn noch nicht gesehen habe –. Er fragt ja nie nach ihr, Tonchen, – aber ich weiß, was ich weiß, er kann sich vor mir nicht verstellen.“

Ich sah es ein, tausendmal! Wenn ich nur eine Auskunft gewußt hätte. „Ich werde Alles versuchen, um Lotte zu bewegen, mit mir fortzugehen,“ sagte ich; „es wird ihr auch gut thun – ich –“

„Sie, Tonchen? Sie habe ich nicht gemeint,“ unterbrach mich die alte Frau. „Und wohin wollten Sie auch? Nein, jetzt heißt’s abwarten, bis Charlotte wohler, bis die Scheidungsangelegenheit erledigt ist. Aengstigen Sie sich nicht; ich passe schon auf. Denken Sie lieber daran, wie wir meinen Jungen etwas heiterer bekommen, denn so wird’s nichts mit dem Besserwerden.“

Und wieder vergingen Tage um Tage und nichts änderte sich in Lottes Zustand. Draußen goß es in Strömen, und das trübe dunkle Novemberwetter drückte die Gemüther noch mehr zu Boden. Der Einzige, der mir ruhig erschien, war Fritz. Zwar versicherte die besorgte Mutter das Gegentheil, aber mir kam es vor, als wäre seine Miene gleichmäßig froh, wenn ich an seinem Lager sitzend vorlas oder seinen Arm verband. „Ekkehard“ war zwar beiseite gelegt, aber ich hatte soviel aus den Zeitungen zu berichten, denn Metz und Paris waren in den Vordergrund getreten.

Eines Nachmittags klopfte es an die Thür unseres Stübchens oben, das ich grade verlassen wollte, und Anita kam herein. Sie brachte einen Brief. Ich aber ging hinaus, denn ich wußte, dort unten in dem Krankenzimmer wurde ich schon längst erwartet. Da stand das Kaffeegeschirr auf dem Sofatisch und die Lektüre lag bereit; Frau Roden saß neben dem Sohne und hielt seine Hand.

„Tonchen!“ rief sie mir entgegen, „er wird schon ungeduldig; nun rasch den Kaffee, er schmeckt nicht, wenn Sie ihn nicht eingießen.“ Und bald saßen wir gemüthlich um den runden Tisch, und ich griff zur Zeitung und las.

„Oben geht jemand,“ unterbrach er mich nach einer Weile.

„Anita ist es,“ warf ich hin und las weiter, und dabei vergaßen wir alle Drei unsere eignen Angelegenheiten so sehr, daß endlich Fritz Roden bemerkte: „Mein Gott, es ist ja schon dämmerig; halten Sie ein, Fräulein von Werthern, schonen Sie Ihre Augen.“ Nun gab es noch ein Hin und Her über das Gehörte, und endlich stand Frau Roden auf und ging hinaus.

Es plaudert sich so hübsch in der Dämmerung, im warmen Zimmer, und Fritz Roden, der sonst nie im eigentlichen Sinne des Wortes redselig zu nennen war, sprach ohne Aufhören in seiner ruhigen Weise. Es war Alles so schlicht und klar, was er sagte, ohne jeglichen Aufputz; so klar und einfach, wie sein ganzes Sein und Handeln. Dann stockte er, denn oben wurde Klavier gespielt. Das war Lotte, so spielte nur sie. Wie kam sie dazu? Deutlich und süß scholl er herunter, der wundervolle Chopin’sche Trauermarsch, und mitten darin brach sie jäh ab und ging in eine Mazurka über.

„Was soll das heißen?“ fragte ich mich, und scheu blickte ich zu ihm hinüber; er lag still und schien zu lauschen.

Und weiter und weiter spielte sie, und wie wenn sie erwacht aus langem Leid, so erklang immer lebensvoller, immer bewegter ihr wundervolles exaktes Spiel.

„Fräulein von Werthern,“ sagte er plötzlich, „ich habe den ‚Ekkehard‘ zu Ende gelesen ohne Sie – zürnen Sie mir?“

„O nein!“

„Und eine Stelle – sie steht so ziemlich am Schluß, die ist die schönste im ganzen Buche, so einfach, so ergreifend und wahr; oder vielleicht hat sie mich nur so gepackt!“

Oben verstummte jetzt das Spiel so plötzlich, wie es angefangen; ich hörte hin und her wandern und fand nicht den Muth hinauf zu gehen, um zu fragen, was das Spiel bedeute, ebenso wenig wie ich ihn fand, nach jener Stelle im „Ekkehard“ zu fragen.

Aber er vermißte meine Antwort nicht, er sprach weiter. „Wissen Sie denn, Tone, daß Sie just heute vor einem Jahre in Rotenberg eintrafen? Grade in dieser Tagesstunde mag es gewesen sein, als Sie den Fuß über unsere Schwelle setzten. Hatten Sie nicht daran gedacht? Ich habe es nicht vergessen –. Nicht wahr, damals habe ich von Rosen gesprochen, die Ihnen und den Ihrigen in Rotenberg erblühen sollten? War’s nicht so? Und statt der Rosen kamen Dornen, statt Glück – Unheil, Tod, Krankheit und noch Anderes, viel Traurigeres. Es war ein schweres Jahr für uns Alle; und dennoch möchte ich die Wunden nicht missen, die es mir geschlagen hat. Sie glauben nicht, Tone, wie köstlich es ist zu genesen, denn, wer nie krankte, wie kann er dieses täglich mehr sprossende Wohlbefinden ermessen? Nur ein wieder Sehendgewordener jubelt dem Lichte zu.

Es befremdet Sie wohl, daß ich so spreche? Ich bin keine poetisch veranlagte Natur, aber mir ist seit ein paar Tagen, als ob ein ganzer Frühling mich umfangen hielte; ich bleibe nur noch mit Mühe auf dem Sofa hier, ich möchte hinaus in die frische Luft, hinaus zu meinem Regiment, dem Siegeszug unserer Truppen zu folgen; und doch kann ich den Arm noch nicht bewegen, und bin vorläufig nur ein Krüppel. Aber die Sehnsucht ist da, wie sie im Lenz die Menschen packt, so gewaltig, hoffnungsselig, so glückverheißend –. Nun, und Sie haben kein Wort für mich?“

Ach – Lotte! Er liebte sie immer noch, und der Frühling, der ihn umfing, war ihre baldige Freiheit. Mir war zu Muthe wie an jenem Abend, als er mir sagte: „Sprechen Sie für mich bei Ihrer Schwester.“

Arme thörichte „Andere“ Du!

„Hat Dich das Klavierspiel gestört?“ fragte Frau Roden, die eben wieder herein kam, mit schier ängstlicher Stimme.

„Nicht im Geringsten,“ erwiderte er.

„Sonst möchtest Du doch lieber wieder Dein Zimmer bewohnen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist so gemüthlich neben Deiner Stube; laß mich hier.“ Und als ich aufstand und hinausgiag, rief er mir noch nach: „Ich bitte Sie, der Gräfin nicht zu sagen, daß man das Spiel hier unten so deutlich hört; es stört mich wirklich nicht!“

[227] Oben stand Lotte am Fenster und wandte den Kopf nach mir um. „Ich habe einen Brief vom Kammerherrn,“ sagte sie. „Sie sind ungeheuer gnädig, sie wollen mir zur Annahme oder Ablehnung der Revenue noch Bedenkzeit lassen, jeden Moment stehen mir Gelder zu Gebote; der nunmehrige Herr Erbprinz habe selbst die Höhe der Summe bestimmt. Bis zum Ablauf dieser Frist soll ich hier in Rotenberg verbleiben. Alles Andere wegen der Scheidung würde sich finden. Der gute Mann giebt mir den väterlichen Rath, ich möchte mich als Wittwe des Prinzen betrachten und die sogenannte Abstandsrente als sein Vermächtniß. Sehr gütig!“

Das war wieder der alte spöttische Ton. „Lotte,“ sagte ich fest, „wochenlang kannst Du in diesem Hause nicht bleiben.“

Sie zuckte die Schultern.

„Du mußt doch Mittel haben, um bis zur Ordnung Deiner Verhältnisse eine anständige Wohnung zu miethen?“

„Ich habe nichts, denn ich nehme nichts an von dort.“ Sie machte eine Geste nach dem Schlosse hinüber. „Uebrigens, es muß ja noch Geld von Großmutter vorhanden sein,“ setzte sie hinzu.

„Von Großmutter?“ rief ich. „Lotte, Du weißt doch, daß wir ihre Ohrringe verkauft haben, um Rodens die Summe zurück zu erstatten, die Du für Hans geliehen –“

„Dann weiß ich nicht, wie es werden soll,“ erklärte sie und wandte sich wieder zum Fenster. „Mache, was Du willst.“

„Ich werde mit Frau Roden sprechen, Lotte.“

„Thue das doch!“ erwiderte sie gleichgültig.

Der folgende Tag war ein Sonntag, ein doppelter Festtag für das Haus, denn der Arzt hatte dem Patienten erlaubt, das Zimmer zu verlassen und zum ersten Male mit uns zu speisen. Frau Roden ging in stiller Seligkeit um den Tisch, zupfte am Tafeltuch, ordnete an der Blumenschale, die mitten darauf prangte, und sah durch die Champagnerkelche, ob sie auch sauber geputzt seien; der Herr Doktor hatte das perlende schäumende Getränk extra als vortrefflich erklärt für den Rekonvalescenten. Im ganzen Hause duftete es nach Berliner Räucherpulver, untermischt mit dem kräftigen Geruch, der zuweilen, beim Oeffnen der Thür, aus der Küche quoll. Und dazu schien hell die Sonne durch die klaren Vorhänge; es war ein köstlicher Sonntagvormittag.

Nun saß die alte Dame endlich in ihrem Lehnstuhl am Fenster und sah die Leute aus der Kirche kommen; und ich ging, nachdem ich einige Flaschen Rothwein, die ich eben aus dem Keller geholt, an den Ofen gestellt hatte, zu ihr hinüber, um mit ihr wegen Lotte zu sprechen.

„Was wollen Sie denn, Kindchen?“ fragte sie. Und ich erzählte, daß Lotte Rotenberg nicht verlassen dürfe, bis die Scheidung erfolgt sei, daß sie aber keinenfalls in diesem Hause bleiben werde „Und da habe ich mir gedacht, ob Lotte und ich nicht wieder unsere alte Wohnung bezögen und ich vielleicht neben meiner Wirthschaftsführung Klavierstunden geben könnte? – Weitere Pläne sind ja vorläufig nicht zu machen.“

„Warum wollen Sie Stunden geben?“ fragte die alte Frau, „und warum wollen Sie mit hinüber ziehen?“

„Ich kann doch Lotte nicht allein lassen in ihrer jetzigen Gemüthsstimmung.“

„Sie sollte sich Anita mit hinübernehmen; müssen Sie immer das Aschenbrödel spielen?“

„Lotte ist zu stolz, um irgend etwas vom Prinzen anzunehmen,“ sagte ich.

„Zu stolz?“ unterbrach mich ärgerlich Frau Roden. „Sie ist doch sein ehrliches Weib geworden; wenn durch unabweisbare Verhältnisse diese Ehe getrennt wird, so ist es seine Pflicht und Schuldigkeit, der Frau eine sorgenfreie Existenz zu schaffen –. Und das geschieht auch, dafür kenne ich den Herzog, und wenn ihm hundertmal der ganze Handel nicht recht war. ‚Zu stolz!‘ sagen Sie? – Hm!“

Ich war verwirrt. So bitter hatte diese sanfte Frau noch nie gesprochen. Aber einer Antwort wurde ich überhoben, denn geräuschlos that sich die Tapetenthür auf, und Fritz kam in das Zimmer.

Die Mutter flog vom Sessel auf und ihm entgegen. „Gottlob, mein Junge!“ sagte sie und richtete sich an ihm empor, um ihn zu küssen. „Ja, Gottlob!“ erwiderte er und schaute mit sichtlichem Behagen in dem freundlichen sonnendurchleuchteten Zimmer umher. „So weit wären wir!“

Dann setzte er sich auf den Platz der Mutter, und während diese vor ihm stehen blieb, sagte er zu mir: „Ich hörte eben, Sie wollen umquartieren, Fräulein von Werthern. Das würde ich nie erlauben! Bitte, sagen Sie Ihrer Frau Schwester in meinem Namen, daß sie über die Zimmer dort oben verfügen möge, so lange sie derselben bedarf. Uns wird es eine angenehme Pflicht sein, ihr dieses Asyl zu gewähren.“

Frau Roden entfärbte sich; sie sah ihn sprachlos an. Er aber schien es nicht zu bemerken; er streichelte ihre Hände und fragte: „Nicht wahr, Mutter, wir waren immer gastfreie gemüthliche Leute? So soll’s auch bleiben. – Nicht wahr?“ wiederholte er noch einmal, um eine Nüance lauter.

„Du bist der Herr im Hause,“ erwiderte sie tonlos, wandte sich um und machte sich an der eingelegten Kommode zu schaffen, auf welcher uralte Porcellanfiguren standen; mit zitternden Händen wischte sie den Staub von dem gelben Hut einer Schäferin.

„Sind Sie einverstanden?“ fragte er lächelnd auch mich.

„Ich habe gar nichts zu entscheiden; ich meine, das muß Lotte thun.“

„Gewiß,“ erwiderte er ruhig, „fragen Sie Ihre Frau Schwester.“

Wie ein Kind ließ ich mich von ihm schicken und kam zu Lotte hinauf. Sie stand vor dem Spiegel und befestigte eine Broche am Kleide; sie war völlig in Toilette. Mich dünkte, sie sah schöner aus als je, in ihrer Blässe und dem einfachen schwarzen Trauerkleide, das sie um den Vater trug und nie wieder angehabt hatte, seitdem sie Gräfin Blankensee geworden. Es packte mich etwas wie Zorn; ich setzte mich an das Fenster und sprach kein Wort, während sie leise raschelnd vor dem Spiegel beschäftigt war und ihr feines Heliotrop-Parfüm mir den Kopf noch mehr einnahm.

„Du bist so still, Tone,“ begann sie endlich, ohne den Blick von dem Spiegel zu wenden; „hast Du eigentlich mit Frau Roden schon gesprochen?“

„Eben,“ sagte ich mühsam.

„Und?“

„Fritz Roden läßt sich Dir empfehlen, und Du möchtest über diese Zimmr verfügen so lange es Dir beliebt –.“

Sie sah mich an; unter den langen dunkeln Wimpern leuchtete es seltsam auf, aber sie antwortete nicht sogleich. Gelassen vollendete sie ihre Toilette, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab und sagte endlich, vor mir stehen bleibend: „Ich werde es dankbar annehmen.“ Dann trat sie noch einmal vor den Spiegel, raffte ihre Schleppe zusammen und verließ die Stube. Ich hörte, wie sie langsam die Treppe hinunter stieg.

Und da flüchtete endlich die Vernunft vor einem leidenschaftlichen Schmerzensgefühl! Ich eilte in die Schlafstube, warf mich vor meinem Bette auf die Kniee und schluchzte wie ein Kind, in namenloser Angst.

„Aber Tonchen!“ sagte eine sanfte Stimme, und Frau Roden faßte mich an die Schulter. „Was ist Ihnen denn?“ fragte sie, ängstlich in mein verweintes Gesicht blickend.

Ich streifte nur ihre Augen; sie hatte ebenfalls Thränen vergossen; ich wußte warum, aber ich log dennoch. „Ich habe an den Hans gedacht und an unsere Zukunft.“

Sie lächelte, als wollte sie sagen: „Ich will es glauben, Tonchen –.“ „Kommen Sie herunter, Kind,“ bat sie dann: „sorgen Sie, daß keine Thränenspuren mehr zu sehen sind.“

Und während ich an den Waschtisch eilte, um meine brennenden Augen mit kaltem Wasser zu kühlen, fuhr sie fort: „Ich stand noch immer an der Kommode, da öffnete sich die Thür und Charlotte trat herein. Kind, mir stockte das Herz und meine Augen suchten sein Antlitz, wie er dies Wiedersehen wohl ertragen würde. Er stand auf, machte der schönen Frau eine Verbeugung und sprach ihr seine Freude aus, sie so wohlauf wiederzusehen. Er blickte so ruhig auf sie nieder, als habe er sie gestern zum letzten Mal gesprochen. Er hat sich furchtbar in der Gewalt; und das um meinetwegen.“

Sie hielt inne. „Er ist ja majorenn!“ seufzte sie, „und es ist eine alte Erfahrung: Widerspruch und Hinderniß schürt die Flamme ganz gewiß. Ich lege meine Hände in den Schoß und sehe zu; ich kann nichts weiter thun, als stille beten, daß Gott ihm den rechten Weg weisen möge.“

Im Wohnzimmer saß Lotte Fritz Roden gegenüber, und sie spielte, während er von St. Privat erzählte, mit einer weißen [228] Aster, die sie aus der Blumenschale genommen hatte. Eben trug das Mädchen die Suppe auf, und wir waren dann friedlich vereint um den Tisch – Elemente, die, wie es vor Kurzem noch den Anschein hatte, niemals mehr zusammen kommen sollten. Wie sonst sprach Fritz das Tischgebet, aber das Amt des Vorlegers, das ich übernommen hatte, als er in den Krieg ging, verwaltete ich auch heute noch, denn sein Arm litt es nicht.

Es war eine peinvolle Stimmung; schweigend ward die Suppe verzehrt. Dann nahm Fritz die Rothweinflasche, und indem er ungeschickt mit der linken Hand die Gläser füllte, sprach er, sich zum Scherz zwingend: „Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, doch seine Weine trinkt er gern. – Stoßen wir an auf unsere Truppen dort draußen im Felde; ein Dank ihnen für die Tapferkeit, mit der sie uns Haus und Hof beschirmten vor Feinden und Kriegsleid und uns solche Friedensstunden zu erhalten wußten, wie die heutigen sind. Es konnte schlimm hier aussehen.“

Lotte stimmte lebhaft zu. „Wir haben ja so oft erzählen hören von Großmutter, wie schrecklich der Krieg ist; die hatte anno Dreizehn noch so frisch im Gedächtniß, als wäre es gestern gewesen.“

„Gewiß, die alte Dame sprach gern davon,“ erwiderte Fritz; „hätte sie doch Sedan noch erlebt.“

„Ja, sie starb zu früh,“ bestätigte Lotte; „wäre sie leben geblieben, es würde Manches anders sein.“

Sie seufzte und ließ ihre schönen dunklen Augen schmerzerfüllt durch die Fenster schweifen. Es sah genau so aus, als wollte sie das rasche Sterben der armen Frau, die so schwer gekränkt, die im Kummer um sie schied, verantwortlich machen für ihre leichtsinnige Heirath. Ich wurde roth für sie. Um die Lippen von Fritz zuckte etwas wie Lächeln, Frau Roden aber bemerkte gelassen:

„Das pflegt man so nachher zu sagen! Meine gute alte Werthern war eine müde, gebrochene Frau; sie hatte keine Macht mehr, zu hindern, was schon so gut wie abgeschlossen war. Oder habe ich Sie nicht recht verstanden, Frau Gräfin?“

Lotte schwieg. Einen Augenblick ward es unheimlich still; aber Fritz Roden machte der kleinen Scene rasch ein Ende, indem er mir seinen Teller herüberreichte. „Fräulein von Werthern, noch einen Löffel Suppe; jetzt kommt der Rekonvalescentenhunger; Sie wissen ja, ich sagte es Ihnen gestern schon.“

Ja, ich wußte es, daß er gesunde an Körper und Seele – daß ihn der Frühling umfing –.

Lotte und er sprachen weiter vom Feldzug, und allmählich mischte sich auch Frau Roden in die Unterhaltung; sie wollte ihn ja keine Befürchtung merken lassen. Und so verlief der Mittag schließlich in jener zierlichen formellen Art, wie es zu geschehen pflegt, wenn mitten zwischen den Menschen ein unsichtbares beängstigendes Gespenst Platz genommen hat, das Alle genirt, und wenn Keiner es dem Andern gestehen will.

Nach Tische gingen Lotte und ich hinauf. Sie mit leichtem, elastischem Schritt, der sonderbar abstach gegen ihren langsamen Tritt heute früh.

„Er sieht merkwürdig gut aus,“ bemerkte sie, indem sie sich auf das Sofa warf und die Decke empor zog, „nicht mehr so roth und robust; er hat etwas Kavalières bekommen, etwas Sicheres. Es ist neu, eine Errungenschaft des Soldatenlebens, ich kannte es wenigstens nicht an ihm.“

„Du hast ihn überhaupt nicht gekannt!“ entfuhr mir bitter.

„Kann sein! Ich nahm mir nicht die Mühe,“ erwiderte sie und vertiefte sich in ihr Buch.

Ich holte Mantel und Hut und ging spazieren. Den einsamsten Waldpfad suchte ich auf, über welkes Laub und feuchten Grund schritt ich; um meine Stirn wehte der kalte Herbstwind, und Baum und Busch standen traurig, ohne Blätter, aller Sommerfreuden bar. Und während ich ziellos weiter wanderte, kam ich ins Reine mit meinem armen verworrenen Herzen. Ich redete in mich selbst hinein mit aller Macht: egoistisch war ich gewesen und keineswegs mädchenhaft stolz! Was für ein Recht hatte ich zu weinen, wenn in des Mannes Seele Wunden zu heilen begannen, an denen er schwer gelitten; wenn alte Hoffnungen neu erblühen wollten? Ich schämte mich meiner heutigen Thränen bitterlich; und als sich noch eine entschuldigende Stimme in mir erhob: „Du weißt, daß Lotte ihn nicht liebt, daß er unglücklich wird mit ihr,“ – so sagte ich mir darauf: „Wirf Berge dazwischen und Du wirst eine Liebe nicht hindern, die, wie Fritz Roden’s Liebe, das Ergebniß ist seines innersten Wesens, fest, zähe, treu! Es gilt, Tone, Du bleibst ‚Die Andere‘, wie Du es immer warst, – die Hand darauf!“ Und im Muff preßten sich meine beiden Hände fest ineinander.

„Du wirst auch nicht bitter und ungerecht werden, Du wirst nur stolz sein, Tone, sehr stolz.“ –

Ach, Stolz thut mitunter furchtbar weh. Er ist nur das Tuch, mit dem man eine wunde Stelle verhüllt, damit die Menschen nicht starren und staunen: Seht! seht die Aermste – wie mag das sie schmerzen!

Aber die verbergende Hülle drückt und reizt die Wunde, und das Herz empört sich, wenn der Mund lächeln will; krank und elend wird das Gemüth. Und ich dachte an die Stunden, die ich an seinem Bette zugebracht, plaudernd und vorlesend; an die Worte der Mutter, die in der Zärtlichkeit für mich ihrem Munde entschlüpft waren; dachte daran, wie sie ihm schon einmal gesagt, daß sie sich „Die Andere“ viel lieber zur Schwiegertochter gewünscht habe, als die schöne Schwester. Und dann kamen alle die thörichten Gedanken mit stürmischem Herzklopfen, und seine Augen sah ich, wie sie mir folgten im Krankenzimmer, so sonderbar, so unablässig. – –

Wo war der Stolz? Hervor damit! Und auf dem Fuße wandte ich mich und ging den Weg zurück, den ich gekommen; durch die herbstlichen Wälder, die bereits im Schatten der Berge standen. Weit draußen in der Ferne aber lag die Landschaft noch im lichten Sonnengold, und zwischen den Stämmen der hohen Buchen sah ich sie schimmern und locken; und eine heiße Sehnsucht faßte mich, hinauszulaufen, fort von hier, nach einem Ort, wo Niemand mich kennt mit meinen thörichten Gedanken und der Maske, die mir so schwer ward zu tragen, – Geduld, auch das wird kommen!

Als ich in das Haus trat, war es schon dämmerig und oben ertönten die machtvollen Klänge von Lotte’s Klavierspiel. Es war kein Mensch in dem geräumigen Flur, nur die Thür zu Fritzen’s Zimmer stand angelehnt und ließ einen schmalen Lichtstreifen sehen. Er lauschte wohl ihrem Spiel. – Leise kam ich zu der Treppe geschritten, da öffnete sich rasch die Thür, und seine Stimme fragte hastig:

„Wo waren Sie so lange, Tone?“

„Im Walde,“ gab ich zurück.

„Welcher Unsinn, allein in den Wald zu gehen!“

Ich lachte. „Ich bin ja immer bisher allein gegangen.“

„Das soll aber nicht sein!“ rief er heftig. „Sie sind zu jung für derartige Extravaganzen.“

„Ich?“ rief ich, halb belustigt, halb verletzt. Ich kam mir so alt vor, so verstoßen aus dem Reiche der Jugend; Niemand hatte bis jetzt darnach gefragt, ob ich allein gehen dürfe.

„Ja, Sie,“ erwiderte er und stand nun in dem Flur. „Mutter hat sich geängstigt, wissen Sie das?“ klang es gereizt.

„Es thut mir leid. Mir war er eine große Wohlthat, dieser einsame Spaziergang.“

„Fräuleinchen,“ rief es da aus der Tiefe des Zimmers; „einsame Spaziergänge machen nur Verliebte oder Trotzköpfe!“

Das sprach der Doktor, der auf ein Schwatzstündchen zu seinem Pathensohn gekommen war.

„Sie haben Ihre Diagnose verfehlt, Herr Doktor,“ gab ich lustig zur Antwort, „weder das eine noch das andere Leiden trage ich mit mir herum!“ Und ich ging mit festen Schritten nach oben. In der Dunkelheit konnte er die Röthe ja nicht gesehen haben, die auf meinen Wangen brannte. – Die Mamsell aber lugte aus ihrer Stube, in der sie Sonntagsfeier hielt. „Ei, ei! Waren der Herr böse, als Sie nicht heim kamen, Fräulein von Werthern. Die Zeitung lag auf dem Tische und der Kaffee wartete.“

Ja natürlich – die Zeitung!

Lotte aber fragte, als ich eintrat. „Schon wieder da?“ und begann ein anderes Stück. Ich saß still am Nähtisch und wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, „stolz“ zu sein. Ich hatte das beschämende Gefühl einer Niederlage, noch bevor ich in den Kampf gegangen.

Was war es nur für eine neue Laune, daß er so besorgt um mich that?

[250] In Rodens Hause ging Alles ruhig so weiter, ganz wie es angefangen hatte. Lotte spielte Klavier, wir aßen zusammen und plauderten zusammen, nach wie vor verband ich Fritz den Arm, nach wie vor las ich laut die Zeitung vor; und daß Lotte allmählich immer öfter die Wohnstube betrat, schien nur natürlich: was sollte sie da droben allein sitzen. Sie strickte eines Tages sogar, ohne nervös zu werden, an einem großen wollenen Soldatenstrumpf.

Sie war stiller als sonst, aber sie sah bezaubernd aus, besonders wenn sie die schönen Haare einfach um den Kopf gewunden trug, ein anspruchsloses weißes Schürzchen vorgebunden hatte und mit sanfter Stimme die Frau Amtsräthin fragte, ob nicht irgend Etwas zu helfen sei?

Sie schien so geknickt, so reuig; ich glaube, sie hätte ohne Zögern die bewußte Ledertasche mit dem rothen Saffianherz und dem schmutzigen Kupfergeld angehängt und Milch verkauft, wenn es nur irgend leise gewünscht worden wäre. Aber die kleine Hausfrau trug das Zeichen ihrer Würde unentwegt unter ihrer weiten schwarzen Wollschürze, die sie nur Sonntags mit einer seidenen vertauschte, und schien keineswegs gewillt, der schönen Frau auch nur eine Haarbreite von ihrem Recht abzutreten. – Jedenfalls ist Lotte niemals mit mehr Höflichkeit behandelt worden, niemals öfter „Frau Gräfin“ genannt, wie in jener Zeit von Frau Roden. Eines Tages, als das Stubenmädchen der alten Dame den gefüllten Suppenteller zuerst reichte, bemerkte diese unwillig: „Rieke, wie tausendmal habe ich Dir befohlen, daß Frau Gräfin zuerst bedient wird. – Verzeihen Sie, Frau Gräfin!“ Und sie reichte ihr so energisch den Teller hinüber, daß an ein Zurückweisen gar nicht zu denken war.

Als das Mädchen hinausgegangen, bat die junge Frau erröthend: „Liebe Frau Roden, ersparen Sie mir dies entsetzliche ‚Frau Gräfin‘; nennen Sie mich doch einfach wieder ‚Lotte‘.“

„Frau Gräfin,“ lautete die freundlich ernste Erwiderung, „das würde ich mir nie gestatten; nicht wahr, das sehen wir auch Beide vollkommen ein?“ Und Lotte ward blaß und schwieg. Fritz Roden aber führte die Unterhaltung fort, als habe er kein Sterbenswort vernommen.

Und so kam das Weihnachtsfest näher, und nichts änderte sich in unserem wunderbaren Zusammenleben. Schnee lag auf den Feldern und Bergen, und die Wohnstube duftete wieder nach den Bratäpfeln der alten Dame. In Frankreich aber zog es von allen Seiten gegen Paris heran, und der furchtbare eiserne Gürtel schloß sich fest und fester um die unselige Stadt.

Wir hatten Niemand mehr da draußen in Feindesland, bei Kälte und Eis. Der Sohn des Hauses weilte siech daheim, unser Hans ruhte in den Gräbern von St. Privat, und Lotten’s Gemahl – er ward nicht mehr genannt. Ob sie seiner noch gedachte, und wie? Ich sollte es erst durch einen Zufall erfahren.

Eines Abends im allerletzten Tagesgrauen kam Anita, just in dem Augenblick, als mir der Briefträger einen Feldpostbrief in die Hand legte, mit der Adresse der Hausfrau. Anita wollte mich sprechen, und ich ließ sie in Frau Roden’s Stübchen treten, denn oben spielte Charlotte Klavier.

„Ich will nur erst Frau Roden den Brief geben, warten Sie einen Augenblick,“ bat ich und ging in die Wohnstube, wo Mutter und Sohn noch im Dunkeln am Ofen saßen und sprachen.

„Wer kommt?“ rief die alte Dame. „Ich hör’s am Schritt – es ist unser Tonchen!"

„Ja; und denken Sie, Frau Roden, mit einem Briefe komme ich, einem Feldpostbrief an Sie.“

„Ei, was in aller Welt?“ fragte sie und nahm den Brief. Tonchen, klingeln Sie, Rieke soll die Lampe anzünden. Ein Feldpostbrief an mich? Ich kenne keine Seele da draußen, außer unsern David und Oberförsters Georg, und die – –. Von wem ist er denn, Tone?“

„Ich weiß es wirklich nicht,“ betheuerte ich und ging zu Anita.

„So Anita, da bin ich, was wünschen Sie?“

„Fräulein von Werthern,“ begann das Mädchen, „der Kammerherr von Oerzen ist vorhin angekommen; – ich glaube, er will morgen die Gräfin besuchen. Er war sichtlich in schlechter Laune und fragte, wie es denn zugehe, daß die Gräfin nicht ruhig drüben in ihren Zimmern geblieben sei. Ich sagte, sie habe sich zu sehr gebangt und wäre zu ihrer Schwester gegangen. Nun haben sie ja wohl drüben in R. etwas davon gehört, was sich hier die Spatzen auf den Dächern erzählen, nämlich, daß Herr Roden und die Gräfin sich ausgesöhnt hätten und daß es nicht unmöglich sei, sie strichen die prinzliche Heirath ganz aus in ihrem Gedächtniß, und es bliebe beim Alten. Das aber scheint der Frau Herzogin geradezu gefährlich, denn der Prinz ist keineswegs so sehr entzückt gewesen von dem raschen Eingreifen der Herrschaft in seinen Liebestraum. – Kurz und gut, Fräulein von Werthern, aus den Fragen des Kammerherrn habe ich mir so viel herausgerechnet, daß man auf jeden Fall die Gräfin von dieser Idee abbringen möchte, denn wenn der Prinz öfter Gelegenheit hat, sie zu sehen, so ist das keine glückverheißende Aussicht für seine künftige Ehe.“

„Liebe Anita,“ sagte ich, „wenn sich die Zwei heirathen wollen, wird es auch der Herzog nicht hindern. Doch noch ist es nicht so weit. – Fritz Roden ist krank, und meiner Schwester Scheidung noch nicht ausgesprochen.“

„Ich wollte es Ihnen auch nur mittheilen, Fräulein von Werthern; es ist mir, als beruhige sich mein Gewissen, wenn ich der Gräfin nützen könnte. Ich habe ihr im Frühling alle Briefe des Prinzen gebracht.“ –

„Das habe ich längst gewußt,“ bemerkte ich bitter.

„Es thut mir heute leid,“ sagte sie leise, „aber ich habe auch keinen freien Willen. Sie glauben nicht, wie heftig die Leidenschaft des Prinzen war, und wie sehr die Gräfin die Flamme zu schüren verstand, mit ihrer äußerlichen Kälte.“

„Da ist ja auch nichts mehr zu ändern durch Reue, Anita.“

Sie stand noch ein Weilchen zögernd an der Thür, dann ging sie, und ich kehrte in das Wohnzimmer zurück. Auf den ersten Blick sah ich schon, daß der Feldpostbrief, der vor Frau Roden auf dem Tische lag, etwas Besonderes enthalten mußte, denn die kleine Frau schien ganz ungewöhnlich echauffirt zu sein und warf mir einen so wunderlich fragenden Blick über die Brille hinweg zu, als wollte sie mich irgend eines schweren Verbrechens anklagen. Fritz war verschwunden. – Noch aber hatte ich keine Ahnung, wie nahe mich der Inhalt des Briefes anging, und daher fragte ich nur: „Doch keine schlechten Nachrichten?“

„Nein, – aber unerwartete, Tonchen. Sie hätten wohl Vertrauen zu mir haben können!“

Ich stutzte. „Worum handelt es sich denn?“

„Um Sie.“ –

„Um mich?“

„Hier ist ein Brief für Sie, der als Einlage sich in dem meinen befand. Er enthält einen Heirathsantrag.“ – –

„Für mich?“ Ich lachte auf einmal so herzhaft, wie seit langer Zeit nicht mehr.

„Aber, Kind, das ist doch weiß Gott nicht zum Lachen!“ sprach die alte Frau gereizt.

„Aber Wer denn in aller Welt? Es muß ein Irrthum sein, man wird Lotte meinen.“

„Nicht so vorschnell! Setzen Sie sich gefälligst, ich werde Ihnen das an mich gerichtete Schreiben vorlesen.“

Erwartungsvoll nahm ich Platz.

„Unterschrieben ist es: von Brenken, Hauptmann im X ten Regiment,“ – Und sie sah mich bei Nennung dieses Namens forschend an.

„Ich kenne ihn,“ erwiderte ich stotternd, „er war Adjutant meines Papa’s und kam täglich in unser Haus. Indessen – er muß Lotte meinen.“ –

Aber sie unterbrach mich, indem sie zu lesen begann:

 „Verehrte Frau!
Sie werden sich wundern, daß der fremde Mensch, der sich am Schlusse unterzeichnet, an Sie zu schreiben wagt und, mehr [251] als das, sogar eine herzliche Bitte an Sie richtet, für deren Erfüllung er Ihnen immer dankbar bleiben wird.

In Ihrem Hause lebt die Tochter meines leider zu früh verstorbenen Kommandeurs, Fräulein Antonie von Werthern. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Sie, verehrte Frau, bei der jungen Dame Mutterstelle vertreten, und darum wende ich mich zunächst an Sie. Ich liebe Fräulein von Werthern schon lange; ihre liebliche Erscheinung hat es mir nicht minder angethan, wie ihr sanftes, allezeit freundliches Wesen, und wenn ich mich stets bescheiden im Hintergrunde hielt, ihr bisher kein Zeichen meiner Neigung gab, so geschah es, weil ich dem geliebten Mädchen nichts für die Zukunft zu bieten vermochte.

Vor zwei Wochen bin ich Hauptmann geworden, ich besitze ein kleines Vermögen und brauche nun nicht länger zu zögern, Fräulein von Werthern um ihre Hand zu bitten. – Sie schütteln vielleicht über die Thorheit den Kopf, im Kriegsgetümmel an Liebe und Freien zu denken, – aber gerade hier hat mich mächtiger denn je die Sehnsucht gepackt, ihr zu sagen, daß ich sie liebe; zu wissen, daß sie meiner freundlich gedenkt.

So lege ich beifolgendes Schreiben zunächst in Ihre Hände mit der Bitte, es Fräulein von Werthern zu überreichen. –“

Sie schwieg und ich auch. Mir schwindelte; es war ein neues mächtiges Gefühl für mich: Du wirst begehrt! Du wirst geliebt! Du, „Die Andere“! – Ist es denn möglich, mich hätte jemand bemerkt? Mich? fragte ich unbewußt halblaut.

Frau Roden stand auf und ging in das Nebenzimmer. Hastig griff ich nach dem Brief. Ja, da stand es, und da lag auch das andere Schreiben „an Fräulein Antonie von Werthern“. Mit einem Wohlgefühl ohne Gleichen nahm ich das schlichte Kouvert; es war nicht das himmeljauchzende Glück, das ein Mädchenherz empfindet, wenn es den Antrag des Mannes empfängt, dem ihr Herz gehört – daran dachte ich nicht; es war etwas Anderes. So muß der Blume zu Muthe sein, die unbeachtet unter Gestrüpp erblüht ist, und auf die plötzlich ein Sonnenstrahl fällt.

Ich war ihm so dankbar, dem Verfasser des Briefes, den ich ja tausendmal gesehen, ohne eine Ahnung von dem, was in seinem Herzen vorging. Deutlich stand der schlanke blonde Mann vor meinen Augen, still und ernst und immer höflich, unermüdlich um die Zufriedenheit seines Kommandeurs besorgt; und ich erinnerte mich auch der Thränen in seinen Augen, als er mir beim Begräbniß des Vaters die Hand drückte. Und der hatte mich lieb?

Ich stand und stand, ehe ich mich entschloß, den Brief zu erbrechen, und dann las ich treue herzliche Worte. Wie war es denn möglich?

Und nun ging ich endlich hinauf und zu Lotte. Sie hatte Licht angezündet und schrieb. „Wie siehst Du denn aus?“ fragte sie, mich erstaunt betrachtend. Und stockend erzählte ich ihr und zeigte ihr den Brief.

„Der Brenken? Herr des Himmels. Darum stand er auch immer so ewig lange auf dem Korridor herum! Nun, das ist ja ein großes Glück; ich gratulire Dir. – Und wenn ich mir’s recht überlege, Ihr paßt auch zusammen.“

Meine Gedanken bekamen auf einmal eine andere Richtung. „Ich kenne ihn nicht genug,“ erwiderte ich, „und ich liebe ihn nicht.“

„Ach, um Gotteswillen, fange damit nicht an,“ rief sie. „Es ist ja ein riesiges Glück für Dich, Tone.“

„Ich habe eben besondere Ansichten vom Glück,“ gab ich zurück.

„Du möchtest vermuthlich weit lieber ein Pensionat anlegen oder in einem Badeort möblirte Zimmer vermiethen?“

„Lieber, als einen guten braven Menschen belügen.“

„Was heißt denn das?“ fragte sie; „wieso würdest Du ihn belügen? Weil Du an den vom Himmel geschneiten Freier bisher gar nicht dachtest und ihn folglich auch nicht lieben kannst? Er liebt Dich ja, – das ist genug.“

„Ich kann Dir nicht alle meine Gründe sagen, Lotte; aber, bitte, nimm an, sie seien triftig; lasse mich ohne Dein Zureden handeln.“

Sie warf einen forschenden Blick auf mich, dann sagte sie langsam: „Sollte am Ende gar Dein Herz nicht mehr frei sein?“ – Und als mir heiß das Blut zum Kopfe empor wallte, nickte sie mit einem langgedehnten: „Ach so! – Aber überlege es doch recht ordentlich, Tone; ein Sperling in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dache. Frage nur Deine lebenserfahrene Gönnerin unten; sie wird es Dir sicher bestätigen.“

Ich antwortete ihr nicht, holte mir Tintenfaß und Feder und schrieb einen Absagebrief. Wie dankbar ich ihm war! Weßhalb ich seine Hand zurückwies – ich konnte es ihm natürlich nicht sagen, so wenig, wie ich sein ehrliches Herz betrügen wollte, indem ich ihm das meine gab, das auch nicht den allerkleinsten Platz mehr für ihn hatte. ich schrieb freundliche gute Worte und wünschte ihm aufrichtig ein anderes schöneres Glück.

Wie immer kamen wir um acht Uhr zum Abendbrot hinunter, Lotte und ich; und wie immer machte ich mich daran, den Thee einzuschenken. Fritz kam nicht zu Tische; er sei etwas angegriffen, sagte die Hausfrau, und wolle in seinem Zimmer speisen.

„Fritz geht im Januar nach Wiesbaden,“ erzählte sie dann, „der Doktor sagt, es wäre Zeit, weil die Wunden nun vernarbten. Ich hätte ihn gern begleitet,“ fuhr sie fort, „aber was soll aus der Wirthschaft werden, da tanzte wohl hier Alles auf den Köpfen herum; die Mamsell hat’s faustdick hinter den Ohren, und dem guten Müller pariren sie nicht.“

„Ich würde schon aufpassen,“ erwiderte ich.

„Ach Sie!“ sagte die alte Frau. „Nein, nein, Tonchen, so angehende Bräute, Leute mit Liebesgeschichten im Kopf, sind schlechte Wächter.“

Ich lachte; es mochte so herzlich klingen, daß Beide mich erstaunt ansahen.

„Liebste Frau Roden,“ begann Lotte, „da nun einmal das Gespräch auf diese Angelegenheit kommt, so setzen Sie doch Tone den Kopf ein wenig zurecht. Sie kennen ja unsere Lage – ist es nicht eine Thorheit, wenn sie sich da noch lange Bedenken macht, weil sie ihn nicht – liebt?“

Frau Roden sah plötzlich mit einem gänzlich veränderten Blick zu mir herüber. „Beim Heirathen soll man die Worte sparen, Frau Gräfin, es ist eine alte Lehre; das mögen die Zwei allein, und jeder für sich mit seinem Herzen ausmachen.“

Lotte schwieg; ich sah auf den Teller. Wenn sie gewußt hätte, daß eine ablehnende Antwort schon frisch und fröhlich auf dem Wege nach Frankreich dahin flog! Ich hatte keineswegs das Gefühl, eine Uebereilung begangen zu haben, und – Ueberlegen? Läßt sich damit Liebe schaffen? Schwindet sie denn vor – Ueberlegung? Wenn ich hundert Tage darüber nachgedacht hätte von Morgens bis Abends, die Sache wäre nichts anders geworden. Und weil ich ein armes Mädchen war, dem die Zukunft düster und schwarz vor Augen lag, darum sollte ich einem ehrlichen Menschen das Wort geben, das mir die Vernunft abgepreßt, sollte neben ihm gehen wie eine Heimwehkranke, die immer und immer wieder den Kopf nach dem Lande zurückwendet, wo ihr Herz geblieben ist? Die nicht einmal dahin denken dürfte, weil es Sünde wäre?

Nein, so vernünftig konnte ich nicht sein! Mich fror bei dem Gedanken. – Und warum sollte ich nicht allein durchs Leben gehen können? Immer doch besser, als zu Zweien – ohne Liebe. Ich konnte nicht traurig sein heute Abend, es war unmöglich.

Nach Tische, als Lotte hinaufgegangen war, pochte ich an Fritz Roden’s Thür, die frischen Binden in der Hand. „Die barmherzige Schwester ist da!“ rief ich neckend.

„Herein!“ erwiderte er, und Frau Roden erhob sich von dem Stuhle zur Seite des Sofa, um mir Platz zu machen, und ging hinaus.

Er sah mich so groß und forschend an, als ich nun neben ihm stand, daß ich roth wurde und die Augen niederschlug. „Und so plötzlich erfährt man es?“ sagte er, „so unvermittelt? Haben Sie gar nichts gewußt? Ich glaube, Mutter kränkt sich über Ihren Mangel an Vertrauen.“

Ich mußte lächeln wider Willen. „Sie konnten nicht erstaunter sein, als ich. Aber nun, bitte, Ihren Arm.“

„Ueberlegen Sie ernstlich!“ sagte er, eigenthümlich gepreßt.

„Ueberlegen?“ rief ich empört. „Was ist da zu überlegen?“ – Ich war in dem Wahne, er wolle zureden. Und der Sonnenschein, der mich umfangen hielt, wich plötzlich dem tiefsten Schatten; [252] mit zitternden Fingern legte ich die Binde um und heftete die Nadel darein. „Und daß gerade Sie und Lotte mir diese Rathschläge geben, das macht mich lachen!" stieß ich hervor. Aber ich lachte nicht; mir liefen die Thränen aus den Augen.

Er sprang auf die Füße und hielt mich bei der Hand. „Lachen Sie doch,“ sagte er, „lachen Sie gründlich, Sie haben Recht. – Aber daß Sie mich daran erinnern, Sie – –“

„Ich wollte Ihnen nicht weh thun,“ stotterte ich; er sah so blaß auf einmal aus.

„Ich Ihnen auch nicht, bei Gott nicht!“

So standen wir neben einander, und noch immer hielt er meine Hände. „Ich will Sie um Verzeihung bitteb, Tone,“ flüsterte er, „wenn – –“

„Nein, nein!“ wehrte ich ab; ich ahnte, was das ‚Wenn‘ heißen sollte. Und als in diesem Augenblick wieder Lotte’s Klavierspiel herunter scholl, da konnte ich es nicht lassen, und wie im Scherz sprach ich seine eigenen Worte: „Ueberlegen Sie, Fritz, überlegen Sie!“ Und dabei kamen mir wieder die dummen Thränen auf den Wangen heruntergelaufen, und ich konnte sie nicht einmal trocknen, denn er hielt meine beiden Hände noch immer fest und ließ sie eine ganze Weile nicht los. „Sie liebe treue Rathgeberin!“ sagte er warm; aber eine Antwort auf meine Warnung bekam ich nicht. Er seufzte nur, ließ meine Hand sinken und setzte sich still an den Tisch; und still ging ich hinaus.

Es war wohl schon zu spät.

Und sein Stolz? „In Liebessachen kennen die Männer keinen Stolz,“ sagte meine Großmutter einmal. – Auch er nicht? Wie durfte, wie konnte ein Mann die Frau noch einmal an seine Seite ziehen, die ihn betrogen?

Bang und grübelnd setzte ich mich zu der alten Dame, die mit sorgenvoller Miene am Tische strickte. „Haben Sie geweint?“ fragte sie.

Ich wurde verwirrt und küßte ihre Hand.

„Die Heirathsgeschichte geht Ihnen im Kopfe herum, Tonchen.“

„Schelten Sie mich und halten Sie mich für unvernünftig, liebe Frau Roden, – ich kann den Hauptmann von Brenken nicht heirathen,“ erklärte ich fest.

„Ach Kind,“ sagte sie, „ich Sie schelten? Gott sei gelobt – es war mir ja, als wollte Einer meine eigne Tochter wegholen.“ Und sie küßte mich auf beide Augen. „In die Augen hatte sich der Mann verliebt und in dies liebe Gesicht? Aber es ist wirklich wahr, Tonchen, Sie sind hübsch! Ich habe es zwar schon immer gewußt, so wie heute ist es mir aber noch nicht aufgefallen; – muß mich da ein Wildfremder erst aufmerksam machen!“

Und sie küßte mich und sah mich freudig erregt an; und mir war doch so bang zu Muthe. Wo war mein Stolz geblieben?




Am andern Morgen ließ der Kammerherr fragen, wann Frau Gräfin zu sprechen sei. Lotte, die gerade am Kaffeetisch in unserem Stübchen saß, gab den Bescheid: „Um fünf Uhr Abends.“

Anita verzog den Mund zum Lächeln, denn sie hatte eben erzählt, daß Herr von Oerzen um vier Uhr wieder abzureisen gedächte, weil er Abends bei der Frau Herzogin zur Tafel befohlen sei. Ich glaubte, Lotte habe es überhört, und bemerkte: „Aber Lotte, das geht nicht, Herr von Oerzen will doch – –“

„Um fünf Uhr!“ unterbrach sie mich. „Ich habe Kopfschmerzen und bin nicht im Stande, eine aufregende Unterhaltung zu führen; gegen Abend wird es gewöhnlich besser; ich kenne mich.“

„Lotte, wenn Du nur nicht auf mich dabei rechnen willst; ich kann nicht bei Dir bleiben, weil ich Frau Roden versprochen habe, Besorgungen mit ihr zu machen.“

„Aber, süßes Kind, ich habe Dich ja noch gar nicht aufgefordert, dieser Konferenz beizuwohnen.“

„Dann ist es gut,“ sagte ich ärgerlich über ihren ironischen Ton.

Lotte trank ruhig ihren Kaffee aus, verabschiedete Anita, die noch immer an der Thüre stand, und ging in das Schlafzimmer. Ich horte sie am Kleiderschrank und an der Kommode kramen; dann kam sie wieder, über den Arm ein weißes Kaschmirnegligé und begann die blaßblauen Schleifen davon abzutrennen.

Ich wußte nicht recht, was das bedeuten sollte, und ging hinunter, den Pflichten nach, welche die alte Frau mir allmählich im Haushalte übertragen hatte. Einige Stunden war ich, mit dem klappernden Schlüsselbund an der Seite, umher gewandert, im Keller und in der Wäschekammer, nun kam die gemüthliche Frühstücksstunde und die neue Zeitung. Frau Roden war aufgeräumt und guter Dinge, sie saß neben Fritz und schrieb einen langen Zettel für Weihnachtskommissionen. „Tonchen, nun machen Sie ein anderes Gesicht,“ bat sie, „weinen Sie nicht um die Angelegenheit mit dem Kammerherrn, die Sache wird sich schon ausgleichen.“

Aber ich konnte meiner Stimmung nicht Herr werden; ich hatte es auf der Zunge, zu bitten: lassen Sie mich heute hier! Mir war Lotte’s Wesen so räthselhaft, erschien mir so siegesgewiß; irgend etwas plante sie. ich mußte immer daran denken, sie setze sich während unserer Abwesenheit Fritz gegenüber im dämmerigen Zimmer und erzähle ihm und lache mit ihrer klingenden Stimme, die so süß und weich sein konnte; und dann und dann – – Ich war auf dem Punkte, vor brennender Angst zu weinen: sie – so schön und klug, und er hatte sie so lieb!

Lotte ließ sich Kopfschmerzen halber bei Tische entschuldigen. Ich wußte aber, sie lag auf dem Sofa, las und knabberte Bonbons. Frau Roden, die mitleidig hilfsbereit mit Eau de Cologne und Citronenscheiben hinaufeilen wollte, hielt ich nur mit Mühe zurück.

„Ach so!“ lächelte sie. Sie kannte diese Kopfschmerzen noch aus der Brautzeit her.

Als ich gegen vier Uhr hinaufkam, um Hut und Mantel zum Ausgehen zu holen, blieb ich staunend an der Schwelle des Schlafzimmers stehen; Lotte war im weißen spitzenbesetzten Kaschmirkleid und steckte sich eben ein zierliches Häubchen auf das dunkle Haar. Reizend sah sie aus in diesem einfachen Anzug, dessen eleganter Schnitt der Figur sich vollendet anpaßte. Aber mir ward nur noch beklommener zu Muthe.

„Wozu das?“ fragte ich.

Sie erröthete ein wenig und nahm das Flakon mit ihrem Parfüm.

„Ich glaubte, Du seist ausgegangen,“ erwiderte sie ausweichend und rauschte an mir vorüber wie eine Fee, nur eine Wolke des schweren süßen Geruches blieb im Zimmer. Ich hörte, wie sie sich drinnen wieder auf das Sofa legte; über die Lampenglocke hatte sie wohl den purpurrothen Seidenschirm geworfen, wie sie es liebte, denn gluthrothes Licht quoll durch die Thürspalte. Ich konnte mich nicht entschließen, sie noch einmal zu sehen, und ging direkt aus der Schlafstube hinunter.

Im Hausflur stand die Frau Amtsräthin schon bereit; Rieke mit der Laterne und einem mächtigen Handkorb schritt voran. Und so, die alte Dame am Arm, wanderte ich vom Hofe. Unter den Kastanien eilte ein Herr an uns vorüber mit leichtem eleganten Schritt, das war der Kammerherr.

„Gott im Himmel, was wird Lotte thun?“

„Aengstigen Sie sich nur nicht, Tonchen,“ tröstete Frau Roden, „es wird schon Alles gut werden.“ – Ob sie denn gar nicht mehr besorgt war? Oder hatte sie sich darein gefunden, daß die Beiden – –?

Und aus einem Laden wanderten wir in den andern; ich achtete kaum der Einkäufe und schrak wie aus einem Traume empor, wenn die Frau Amtsräthin mich um meine Ansicht über dies und jenes fragte. Ich sah nur immer das weiße Kleid vor mir, das purpurrothe Licht darüber ausgegossen; das Antlitz, das so schön, die Augen, die so gluthvoll blicken konnten!

Und Minuten auf Minuten verrannen, endlos schienen die Besorgungen. Ich zählte in Gedanken die Stufen der Treppe, ich sah zwei kleine Füße darauf hinunter gleiten und sah eine weiße Schleppe durch den Hausflur rieseln; meinte ein leises Klopfen an einer wohlbekannten Thür zu hören und die klare Stimme: „Darf ich eintreten?“

Wie hundertmal hatte ich diese Frage während der letzten Wochen gehört! Ich preßte die Hände im Muff zusammen:

„Ja, ja!“ antwortete ich zerstreut auf eine Frage der alten Dame.

„Aber Tone, was ist Ihnen? Sie sehen ja so wunderlich blaß aus?“ fragte sie und blickte von der Reihe Petroleumlampen, die zur Auswahl vor ihr stand, in mein Gesicht.

„Augenblicklich gehen Sie nach Hause, Kind,“ fuhr sie fort, „ich werde allein fertig. Gehen Sie, Tonchen!“

Ich gehorchte ganz mechanisch. Eine Weile stand ich noch auf dem Bürgersteig im Schein des Ladenfensters, als müsse ich mich besinnen auf das, was ich eigentlich wollte, dann trieb es mich vorwärts durch die spärlich erhellten Straßen. Ob es Ahnungen giebt? Ich glaiibe daran seit jener Stunde.

Durch die kahlen Aeste der Bäume schimmerte mir das rothe Licht entgegen, und darin glitt ein Schatten auf und ab. Ich blickte hinauf; also noch immer war der Kammerherr oben – Gottlob!

[253] Langsam schritt ich weiter, und meine Blicke flogen zu den zwei Fenstern unter den unsern – sie waren dunkel. Ich wunderte mich, denn er liebte es nicht, lange in der Dämmerung zu sitzen; sein Wesen war so ganz und gar nicht angethan, sich in müßige Träumereien zu versenken.

Nun trat ich in das Haus, stieg die Treppe empor und kam leise in unser Schlafzimmer. Mir brannte die Stirn unter dem Pelzmützchen, der Mantel drückte mich fast zu Boden, hastig warf ich Beides ab; dann blieb ich starr, die Sachen noch in der Hand – deutlich und klar drang mir FritZ Roden’s Stimme ins Ohr.

„Nein, das bestreite ich,“ sagte er.

Er hier oben –– er bei ihr! Die Thür stand nur angelehnt; ich wollte hin, um sie zu schließen; was ging es mich an, wenn sie zusammen sprachen! Aber ich kam nicht vom Fleck, die Glieder versagten mir den Dienst.

Und nun drangen sie in mein Ohr, herzverwirrend und süß, jene paar einfachen Worte, die es vermochten, daß ich in die Kniee zusammenbrach und wie betäubt meinen Kopf an die Bettpfosten lehnte: „Ich darf es Ihnen wohl anvertrauen, Frau Gräfin, ich liebe ihre Schwester.“

Mir war, als müßte ich weinen und lachen, als müßte ich aufschreien wie erlöst von dumpfer jahrelanger Qual. Ich schloß die Augen wie ein Mensch, den plötzlicher Sonnenglanz blendet, und ich öffnete sie weit und sah den Spalt der Thüre und hörte seine gedämpften Schritte auf dem Teppich und hörte, wie Lotte zu lachen begann.

„O! So rasch?“ sprach sie dabei.

„Das sollten Sie nicht fragen,“ erwiderte er.

„Sie wollen sich als leidenschaftlicher Charakter aufspielen? Sie Fritz?“ Und wieder brach sie in ihr helles klingendes Lachen aus, das doch so verzweifelt und so gereizt klang. – Und nun rauschte ihre Schleppe und dann erlosch der helle Streifen; sie mußte bei ihrem Wandern just vor der Thür stehen geblieben sein.

„Mein Herr,“ hörte ich sie spöttisch sagen, „wir spielen hier Komödie! Die Rollen sind in unseren Händen ganz allein; wollen Sie den Inhalt des Stückes mit ein paar Worten erfahren? Ich gehe morgen nach Dresden, in eine Art Gefängniß, das mir die Herzogin dort bereitet hat, um mich hier los zu werden: sie hat Angst, der Prinz könnte mich doch wohl nicht so rasch vergessen. Ich bin ehrlich genug zu gestehen – ich gehe ungern, sehr ungern; und deßhalb wünschte ich Sie zu sprechen –. Ich wäre hier geblieben, – – ich hätte gern den goldenen Reif, den ich einst aus der Hand schleuderte, wieder vom Boden aufgenommen und an meinen Finger gesteckt –. Sie sehen, ich bin wirklich ehrlich; – – gern, sage ich; und wollen Sie wissen aus welchem Grunde?“

Aus Rache, Frau Gräfin,“ erwiderte er ruhig.

„Aus Rache!“ bestätigte sie langsam. „Und Sie, Fritz Roden, Sie lieben mich noch, lieben mich eben noch so wie in jenen Tagen, wo Sie mir Tone mit Ihrer Werbung schickten. Und nun stellen Sie sich hin, schlagen die Arme unter einander und lügen mir vor mit einer Miene, wie sie gleichgültiger nicht sein kann, wenn Sie mit dem Verwalter reden: ‚Ich liebe Ihre Schwester!‘ Und würde ich Sie fragen: ‚warum? wie kam es?‘ so müßten Sie als ehrlicher Mann antworten: ‚Aus Rache, Frau Gräfin, aus Rache‘.“ und sie begann wieder zu lachen.

„Welche Gründe mich leiten, – das muß Ihnen völlig gleichgültig sein.“

„Ist es mir auch!“ rief sie, „mich dauert nur das arme Närrchen, denn –“

Weiter hörte ich nichts mehr. Ich raffte mich auf und eilte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Im Hausflur stand ich mit meiner Empörung, meinem heißen Zorn und wußte nicht wohin? Dann riß ich die Thüre auf und stürmte über den Hof, dem Garten zu; – nur jetzt Niemand sehen!

Aus Rache! –

Es hatte angefangen zu schneien; große weiße Flocken taumelten hernieder und kühlten mein heißes Gesicht. Unter die Linde setzte ich mich, auf die Steinbank, lange Zeit; mich fror nicht, ich hörte nur das eine Wort: „Aus Rache!“ Und dabei starrte ich in das immer dichter werdende Gewimmel um mich herum, welches sich allmählich weiß und locker, eine schimmernde Decke, über den Garten breitete. Mir schwindelte vor dem tanzenden Treiben; ich konnte nicht denken und es war mir, als leuchtete durch dieses lautlose Gewimmel der purpurrothe Lichtschein aus Lotten’s Zimmer.

Dann hörte ich meinen Namen rufen; kraftvoll und laut scholl es durch die dunkle Nachtluft „Tone! Tone!“ Entsetzt fuhr ich empor; ich hätte ihm nicht mehr begegnen können heute, nur jetzt nicht, in diesem elenden Kampf mit meinem Herzen. – Und ich lief weiter auf alten wohlbekannten Wegen, tiefer, immer tiefer in den Garten hinein, und dann stand ich vor der Thür zu unserer ehemaligen Wohnung. Hastig faßte ich in meine Tasche und fand den Schlüssel; er war vom Tage vorher darin geblieben, als ich zur Mittagszeit die Fenster hier geöffnet hatte. In zitternder Eile erschloß ich die Thür und flüchtete hinauf in Großmutters Zimmer, in ihren Lehnstuhl. Dort wähnte ich mich sicher; für diesen Moment die größte Wohlthat, die mir werden konnte.

Todtenstill war es um mich, nur ein Holzwurm begann zu ticken. In dem schwachen Schneelicht konnte ich allmählich die Gegenstände unterscheiden; dort das große Himmelbett, drüben der Schreibtisch; und mit diesem Erkennen trat so furchtbar deutlich die letzte Vergangenheit vor meine Seele. Ich sah Lotte dort stehen und ihn, den zärtlichen glühenden Bräutigam. – Verschwindet Liebe so bald? Sie hatte wohl Recht, er liebte sie noch ebenso. Aber er war zu beleidigt, zu stolz, und darum nahm er sein zuckendes Herz und rettete sich hinter eine künstlich aufgebaute Schutzwehr, indem er zu dem schönen Weibe sagte, das ihn spielend wieder zu ihren Fußen zu zwingen glaubte: „Ich liebe eine Andere! Und diese Andere ist, weil ich sie gerade so bei der Hand habe, Deine Schwester!“ Das arme Närrchen, sie mußte ja hochbeglückt sein; sie hatte schon tausendmal verrathen, daß ihr Herz ihm willenlos ergeben, – da paßte es ja ganz vorzüglich!

Seinem Mannesstolz war Genüge geschehen, die schöne Braut von ehemals – gedemüthigt bis an die Erde! Was aus der „Andern“ wurde, davon konnte erst später die Rede sein – – er war gerächt!

Ich stützte die Ellenbogen auf die Seitenpolster des alten Sessels und begann zu überlegen. Hier bleiben konnte ich nicht länger. Mit Lotte gehen? – Nein! rief es in mir mit ehrlichster Entrüstung, und meine Hände ballten sich.

Nach Berlin, in irgend ein Lazareth? Ja! Morgen schon! Dann fiel mir wie ein Funken der Name „Brenken“ in die Seele.

Ja! ja! flüsterte ich, es ist ein Menschenherz, ein ehrliches! Aber gleich darauf stieg mir das Blut siedendheiß in das Gesicht vor Scham –. Niemals!

In meinen Ohren sang und klang es so eigenthümlich und hell; ich hörte das Pochen meiner Schläfe gegen das Polster, und wieder kam das Gefühl des Schwindels über mich, so daß ich mit bebenden Händen nach der Lehne des Sessels griff; ich meinte zu versinken in einen bodenlosen Abgrund. Einmal war es auch, als hörte ich wie aus weiter Ferne meinen Namen rufen, und sagte: „Die Großmama!“

Dann sang und klang es weiter, und endlich schreckte ich empor und starrte nach der Thür; ich sah noch eine hohe Gestalt im schwankenden Schein einer Laterne und hörte eine Stimme: „Aber um Gotteswillen, Tone!“ – Dann nichts mehr. 0000000000000000000000

Später haben sie mir erzählt, wie sie mich fiebernd und bewußtlos gefunden, Fritz und seine Mutter: wie sie mich zu Bette gebracht und wie Lotte so todtenblaß geworden, als der Arzt gesagt, ich würde schwer krank werden. Die Spuren meiner Füße im Schnee hatten sie zu mir geleitet. Ich wußte nichts von der nächsten Zeit. Als ich zum ersten Male wieder mit Verständniß die Augen aufschlug, schien ein klarer Januartag in die Fenster und zwei alte mütterlich gute Augen schauten mich an. Nur mühsam konnte ich mich besinnen; und was ich aus der Erinnerung hervorholte, war nicht darnach angethan, die Genesung zu fördern.

„Wo ist Lotte?“ fragte ich angstvoll.

„In Dresden, Kindchen,“ antwortete die alte Dame ruhig. „Schon seit Wochen.“

„Allein?“ stammelte ich.

„Nein, nein! Die Herzogin hat gesorgt für sie, wie eine Mutter. Sie lebt bei Frau von Millern, der pensionirten Hofdame.“

Ich schwieg; ich war so müde und matt. Und wieder versank ich in halbe Bewußtlosigkeit. Ich hörte das leise Walten [254] der alten Frau und wußte, ich sei krank gewesen, lange krank und fand es so grenzenlos unnöthig, daß ich wieder gesund wurde. Und dann kam der Doktor.

„Na, das schaut ja schon mit ganz anderen Augen in die Welt,“ sagte er freundlich. „Nun hübsch etwas essen und folgsam sein und keine dummen Gedanken sich machen, da geht’s mit Riesenschritten in die Gesundheit hinein. Und das Fräulein wird sich später hüten, im December unter der Linde auf der Steinbank zu sitzen, als wäre es im Mai – nicht wahr?“ – Der kleine Mann drückte mir die Hand und ging ins Nebenzimmer.

„Du kannst reisen, Fritz,“ hörte ich ihn sagen; „es ist Alles vorzüglich.“

Gott sei Dank – er reist! Und bis er wiederkehrte, würde ich gesund sein, so gesund, um meinen Weg allein zu finden, weit – weit draußen in der Welt. Ich schlief wieder ein, schlief sehr lange und erwachte von flüsternden Stimmen; ich hatte das Gefühl, als küßte Jemand meine Hand. Im Zimmer tiefe Dämmerung, nur das Nachtlicht warf einen großen hellen Kreis an die Decke; ich wußte nicht, war es Abend oder Morgen?

„Gott behüte Dich, mein lieber Junge!“ hörte ich Frau Roden sagen; mir war es, als gleite eben seine Hünengestalt aus dem Zimmer, gefolgt von der kleinen Mutter; dann Pferdegetrappel und Wagenrollen vor den Fenstern.

Fritz Roden verließ das Haus, er hatte Abschied von mir genommen! Ich legte meine Wange auf die Hand, die er geküßt, und weinte. Nun waren wir getrennt, auf immer!

[266] Ob mir gleich nichts daran lag, die Genesung schritt vorwärts. Es kam der Tag, an dem ich zum ersten Male das Bett auf eine Stunde verließ; es kam die Stunde, wo ich schon wieder am Tische mit Frau Roden saß und alle die guten Sachen essen konnte, mit denen Rekonvalescenten gewöhnlich verzogen werden; ich durfte im Sonnenschein der Mittagsstunde im Garten promeniren, und endlich war ich gesund, ganz gesund.

Mich hielt nichts mehr zurück von meinem Entschluß, nach Berlin zu gehen, als eine thörichte Bangigkeit, eine kaum zu überwindende Angst vor dem Abschied aus diesem Hause. Und eines Abends, als wir still neben einander saßen im Wohnzimmer, begann ich schweren Herzens von meinen Plänen zu sprechen.

Die alte Frau lächelte. „Ich habe keine Vollmacht, Ihre Abreise zu erlauben.“

Ich war noch nervös und reizbar, und meine Antwort fiel wunderbar genug aus, indem ich erregt bemerkte: „Ich brauche Niemandes Erlaubniß für meine Schritte!“

Sie nahm es mir entschieden nicht übel; ja, sie that sogar, als habe sie nichts gehört und verstanden. Sie sagte nur bittend: „So lange Fritz noch fort bleibt, wollen Sie mich doch nicht verlassen, Tone? Es ist zwar nicht hübsch, wenn man dergleichen eingesteht, aber ich weiß, Ihnen gegenüber darf ich ehrlich sein – mich hat die Angst und die Pflege ein klein wenig angestrengt, Kindchen. Und der Fritz – Männer haben ja gar kein Verständniß für dergleichen – wollte es durchaus nicht zugehen, daß eine andere Hand Sie berührte, als die meine.“ Und dabei bog sie sich zu mir herüber; wider Willen mußten meine Augen in die ihrigen sehen.

„Bis er kommt, ja,“ stammelte ich; „aber seien Sie ehrlich, sagen Sie mir den Tag seiner Rückkehr.“

Sie that, als begreife sie noch immer nicht. „Früher überraschte er mich gern einmal. Nun überhaupt, Tonchen, was soll das eigentlich bedeuten? Fürchten Sie sich vor Fritz, was that er Ihnen?“

„Ich kann es Ihnen nicht erzählen! – Wenn er es nicht that –.“

„Ich weiß nichts! Ich wunderte mich nur über die Abreise von Charlotte. Hurr! Burr! Hast Du nicht gesehen! wurden die Koffer gepackt; es war ein Getöse in den oberen Zimmern, daß wir schleunigst hier unten das Bett für Sie rüsteten; Fritz kam, er wußte nicht wie schnell, in sein altes Zimmer. Derweil lagen Sie in der Wohnstube auf dem Sopha und schwatzten lauter wunderliches Zeug. – Es war da mit einem Male eine Menge Menschen in unserem Hause, die von Rechts wegen gar nicht hinein gehörte; bei Ihnen saß der Doktor und schüttelte den Kopf, und oben der Kammerherr, den Lotte in größter Hast rufen ließ und den Rieke noch traf, als er just in den Wagen steigen wollte. Dazu lief Anita treppauf, treppab mit Kisten und Kasten, und ich stand rathlos zwischen alle dem und hatte keine Ahnung, was denn eigentlich passirt sei. Fritz schwieg wie ein Stock, und was Sie zusammensprachen, hatte keinen Sinn.

Am anderen Morgen um neun Uhr kam Lotte herunter; sie war im schwarzen Sammetmantel mit duftigem Pelzbesatz und nahm Abschied von Ihnen. Sie schien es sehr eilig zu haben, draußen hielt schon der prinzliche Reisewagen. Fritz begleitete sie hinaus, und am Schlag stand der Kammerherr von Oerzen mit abgezogenem Hut, als wäre sie die Fürstin selbst. – ‚Schreiben Sie mir, wenn sich Tone’s Zustand verschlimmern sollte!‘ rief sie Fritz zu, der ihr eine Verbeugung machte, die tiefste, die er in seinem ganzen Leben fertig bekommen. Dann zogen die Pferde an, und weg war sie.

Als Fritz wieder in das Zimmer kam, hielt ich ihn am Rockzipfel fest. ‚Jetzt sagst Du, was es gegeben hat,‘ drängte ich. – ‚Wenn sie gesund ist, Mutter,‘ wehrte er ab, ‚laß mich jetzt, geh zu ihr.‘ – Weiter weiß ich nichts," schloß die alte Frau.

„Und Lotte, hat sie nicht geschrieben?“

„Nein, nur einige Karten mit kurzen Anfragen nach Ihrem Befinden. Just Weihnachten war es am schlimmsten; nun ist Alles überstanden, Gott sei Dank! Da draußen Sieg auf Sieg, wir haben einen Kaiser von Deutschland und unser Fritz – ich meine nicht den Kronprinzen von Preußen, Tone, sondern unseren eigenen – er hat das Eiserne Kreuz, am Weihnachtsheiligabend kam es an.“

Unser Fritz! Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Sie wußte wirklich nichts?

Ich blieb. Aengstlich forschte ich nach Eintreffen eines jeden Briefes, der aus Wiesbaden kam: Wann kehrt er heim? Es war noch immer nicht abzusehen.

Leise nahte der Vorfrühling, und als die ersten Schneeglöckchen im Garten blühten, da läuteten sie lieblich den Frieden ein, im Feldlager ruhten die Waffen, unser Kaiser hatte Versailles verlassen und ging nach Berlin. Niemals ist wohl über Deutschland ein Lenz herrlicher aufgegangen! War das ein Jubeln, ein Freuen. „Wenn er wiederkommt!“ Das war ein Wort, tausendmal konnte man es hören in jenen Tagen. „Wenn er wiederkommt!“

Es war am siebenten März, da hörte ich es auch, das Wort, als ich durch die Küche ging. Rieke sprach es aus: „Wenn er wiederkommt, gehen wir zusammen zu den Eltern und im Sommer wird geheirathet! Mädchens, ihr kommt sammt und sonders auf die Hochzeit!“

Ich wandte mich und blickte in das freudig strahlende rothe Mädchengesicht; sie sahen Alle heute so übervergnügt aus da in der Küche.

Im Begriff, das Wohnzimmer zu betreten, erblickte ich Frau Roden, die aus der Stube ihres Sohnes kam mit einem Staubtuch. „Ja, wenn man nicht immer einmal aufräumt, Kind,“ sprach sie, „so wächst einem der Staub über den Kopf.“ Und sie trat in die Hausthür und schlug energisch das Tuch aus.

Da draußen fluthete goldener Sonnenschein über die Dächer und die krausen Bäume. Ein Frühlingstag, so ahnungsvoll und glückverheißend, der das Menschenherz weit macht und an alles Gute, Herrliche glauben läßt. „Möchten Sie nicht einen Gang durch den Garten machen, Tonchen? Es sollte mich wundern, wenn noch keine Veilchen heraus wären,“ sagte sie, als ich neben ihr stand und über den Hof schaute.

„Wo will der Wagen hin?“ fragte ich, als eben der Kutscher die Pferde vor den Landauer spannte.

„Zum Wagenbauer,“ entgegnete Frau Roden; „das rechte – nein, das linke Vorderrad ist beschädigt.“

„Und dazu zieht er Livree an?“

„Aber Kind, er soll wohl in der Stalljacke auf dem Kutscherbock sitzen? Da kennen Sie den Jürgen schlecht.“

Ich blickte sie forschend an, aber sie sah unbefangen in den lichtblauen Himmel empor, an dem einige zartweiße Wölkchen standen.

„Ach, ist das ein Tag!“ sagte sie entzückt. Und nach einer Weile: „Ich muß an alle Die denken, die sich des Frühlings nicht freuen können, weil er nicht wiederkommt. Tone, wenn wir hier so ständen und sähen über den Hof und wüßten ganz genau, niemals käme er wieder da drüben gegangen, niemals wieder hörte ich seine Stimme – ich glaube, ich könnte den blauen Himmel und den Sonnenschein nicht mehr ertragen.“

Mir war es bei dieser Vorstellung, als erbleiche wirklich die Sonne, als werde das Blau dort oben ein einförmiges trauriges Grau. „Es müßte entsetzlich sein!“ flüsterten meine Lippen, aber inwendig murrte es bitter und häßlich: Was geht es Dich an!

Dann fiel mir ein, daß ich schon seit gestern einen Brief von Lotte in der Tasche trug, den zu lesen ich mich noch nicht entschließen konnte. Ich ging rasch in meine Stube und erbrach ihn. „Liebe Tone,“ schrieb sie, „von Tag zu Tag warte ich auf Deine Verlobungsanzeige; wo bleibt sie? Ich irre mich doch nicht, ich meine, Fritz hat mir einmal gesagt, daß er Dich liebt, und ich bin neugierig, zu erfahren, ob er den Muth gehabt hat, Dich zu fragen – –“

Ich ballte das Papier zusammen, ich konnte nicht weiter lesen. Wäre ich doch fort von hier! Ich war so seltsam unruhig [267] heute; es kam mir vor, als sei ein ungewöhnliches Leben im Hause. Und ich lief durch alle Zimmer und spähte nach einer Bestätigung meines Argwohns – aber nichts zu sehen.

Es ist besser, ich rüste mich bei Zeiten, dachte ich und stieg die Treppen hinauf, wo ich auf einer Bodenkammer meinen Koffer wußte; ich wollte nachsehen, ob er in Ordnung, und ich fand ihn nicht. Sollte Lotte ihn mitgenommen haben? – Ach ja, Lotte! Und wieder griff ich nach dem Brief in der Tasche und, mich gewaltsam überwindend, setzte ich mich auf eine uralte Truhe mit bunten Blumen bemalt und las:

„Mir geht es außerordentlich gut; ich lebe wieder auf in den Genüssen der Großstadt; begreife mich selbst nicht, daß ich einen Moment daran dachte, in dem philisterhaften Rotenberg zu bleiben. Mein ci-devant Gemahl hat mir eine weit anständigere Rente ausgewirkt, als die sparsame Mama es beabsichtigte; Herr von Oerzen brachte mir diese Nachricht. Leider kann ich Dich nicht auffordern, mich zu besuchen, da ich gewissermaßen selbst Gast bin in dem Hause der Frau von Millern, wenn auch zahlender. Du würdest Dir nebenbei doch nichts aus dem Leben machen, wie wir es hier führen; Dein stiller Ackerhof und zwei gewisse blaue Augen ersetzen Dir wohl die Welt völlig –“

Ich las nicht weiter. Am liebsten hätte ich geweint vor Zorn, aber keine Thräne kam in meine Augen. Todtenstill war es unter dem uralten Hausrath; ein schräger Sonnenstrahl fiel durch das Dachfenster und Millionen Sonnenstäubchen tanzten darin; drüben saß eine Spinne unbeweglich im Netz, das sie zwischen zwei alten Schränken ausgebreitet hatte, und lauerte auf Beute. Ich sehe das Alles noch so deutlich vor mir, und ich höre noch so deutlich das dumpfe Rollen unten auf der Straße, den fröhlichen Peitschenknall und die Männerstimme, die mir das Herz stillstehen ließ vor Schreck und Scham. – Er war gekommen!

Gedämpft scholl Rufen und Sprechen zu mir herauf, Thürenschlagen und Schritte auf der unteren Treppe und im Vorsaal, und endlich sein Ruf: „Tone! Tone!“

Ich rührte mich nicht; wie ein Blitz schoß es mir durch den Kopf: hier sucht dich Niemand, und heute Abend kannst du unbemerkt fort. – Wie? und wohin? Daran dachte ich nicht, nur daß ich ihm nicht gegenüber zu stehen brauche, das arme Närrchen, „Die Andere!“

Ich hörte sie suchen und suchen; es that mir wohl, so ruhig hier zu sitzen, und doch schlug mir das Herz wunderlich bang –. Nun schollen die Stimmen vom Hof und Garten herein, ängstlich, aufgeregt, und plötzlich stand ich auf den Füßen. Dort unten war sein überlauter Ruf erklungen:

„Jürgen, die Braunen vor den Jagdwagen, sofort!“

Ich stand noch immer und schämte mich. War es nicht ein Kinderstreich, mich zu verbergen? Durfte ich ihm zeigen, daß ich ein Wiedersehen fürchtete? Wo war mein Stolz geblieben! Und ich ging die Treppen hinunter, als hätte ich Blei in den Füßen, und mit dem Gefühl einer grenzenlosen Schwäche.

Im Hausflur war es jetzt still, aber vom Hofe scholl das Trappeln der Pferde, die vor den Wagen gelegt wurden. Mit zitternden Händen öffnete ich Frau Roden’s Stube und trat ein. Nebenan im Wohnzimmer hastig auf und abgehende Tritte und die beschwichtigende Stimme der alten Dame:

„Fritz, sei doch ruhig; Du wirst sie ja auf der Station noch finden.“

„Das gebe Gott!“ sagte er bitter; „ich weiß nicht, was werden soll, wenn sie nicht wiederkehrt.“

„Aber Fritz –“

„Mutter,“ klang es da in höchster Bewegung, „ich kann mir das Haus nicht mehr vorstellen ohne das Mädchen, ich kann nicht leben ohne sie! Du hast mich sicher gemacht, Du hast gesagt, sie liebte mich, und hast nicht einmal verstanden, sie fest zu halten! Warum bin ich fort gegangen ohne ihr Wort – ich – –!“

Die alte Frau blieb still nach ihrer gewohnten klugen Weise; sie kam leise herüber geschritten und öffnete die Thür, und nun stand sie vor mir, überrascht, vorwurfsvoll, aber ohne einen Laut. Dann nahm sie meine schlaff herabhängende Hand, drückte sie und flüsterte:

„Ich will ihn her schicken.“

Sie wandte sich, aber da fiel ich ihr in erstickender Angst um den Hals:

„Nein, nein! Ich ertrüge es nicht, wenn ich mich täuschte, er doch nur, um sich zu rächen –“

Nebenan schlug jetzt die Thür, er war hinaus gegangen.

Die alte Frau löste eilig meine beiden Hände von ihrem Hals.

„Eben fährt er fort, in Angst und Verzweiflung,“ sagte sie ernst und deutete hinaus; „meinen Sie, daß Berechnung oder Rache so aussieht? Gehen Sie ans Fenster, Tone, lassen Sie ihn nicht fahren! Und wenn er nachher vor Ihnen steht und Sie sehen seine verweinten Augen, dann bitten Sie ab, daß Sie den ehrlichsten Menschen für einen Heuchler gehalten haben!“

Sie öffnete die Thür, und willenlos folgte ich an das Fenster der Wohnstube, das nach dem Hofe hinaus schaut. Eben nahm er die Zügel dem Kutscher ab, da klopfte energisch ihr Finger an die Scheiben. Ich sah ihn nicht vom Bocke herunter springen, denn ich hatte nicht das Herz, die Augen aufzuschlagen, ich hörte nur seinen jubelnden Ausruf; ich weiß nur noch, daß er durch den Hausflur stürmte, daß die Thür aufflog und ich im nächsten Augenblick an seiner Brust lag. Wo waren Zweifel, Sorge, Noth? Wie Eis und Schnee vergangen, und über mir der Frühling, der Sonnenschein meines Lebens, zwei ernste blaue Augen in Thränen schimmernd.

„Tone, Du liebes freundliches Geschöpf, sage Ja!“ sprach er.

„Du hast mich lieb, mich, die Andere?“

„Nein! nicht die ‚Andere‘ – die Eine, die Echte und Rechte! Du mußtest es wissen, Tone; längst, längst!“

„Ach, ich dachte, Du könntest Lotte nicht vergessen.“

„Lotte? Tone, würde ich sie gebeten haben in meinem Hause zu bleiben, wenn ich nicht völlig gefeit war gegen ihre Macht durch die Neigung zu Dir? Wie gern hätte ich es Dir schon gestanden, daß Du mir theuer bist, aber ich fürchtete, ich ertrüge ein ‚Nein‘ nicht in jenen Krankheitstagen. Und da wollte ich es Dir heimlich kundthun und strich eine kleine Stelle im „Ekkehard“ an, weil ich gar wohl merkte, Ihr hattet Angst um mich wegen der schönen Frau da oben. Aber Du wolltest es nicht verstehen; wie kannst Du stolz sein, Tone!“

„Wie heißt die Stelle?“ fragte ich.

„Selig der Mann, der überwunden hat,“ sprach er. „Ich aber sage heute: ‚Und dreimal selig der Mann, der gefunden hat!‘“

Und da erzählte ich ihm von den Worten, die Lotte gesagt, und die ich zufällig gehort: „Aus Rache!“ –

Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Hättest Du ein wenig länger gelauscht, so wäre Dir und mir Vieles erspart geblieben, denn dann hättest Du meine Antwort gehört.“

„Und?“ flüsterte ich.

„‚Aus Rache? Nein, Frau Gräfin. Rache ist der Ausbruch eines todtwunden Herzens, und meines ist gesund schon lange, lange! Und das Heilmittel waren ein Paar stille sanfte Augen und ein liebes, liebes Mädchenantlitz.‘ – – Willst Du noch fort?“ fragte er und ließ mich los, indem er mich übermüthig ansah wie Einer, der seiner Sache gewiß ist.

„Ach Fritz, ich wäre ja mein Lebtag unglücklich gewesen!“ flüsterte ich.

Da nahm er mich bei der Hand und führte mich zu seiner Mutter.

„Meine lieben Kinder!“ sprach sie fröhlich.




Horch, es läutet! Jubelnd schwingen sich die Klänge hinaus über das blühende Frühlingsland, und allerwärts tönt ihnen gleiche Freudenkunde entgegen, selbst das kleinste Dorfkirchlein erhebt seine Stimme. Zu einem großen Lobgesang schwillt der Chorus an, über Berg und Thal hallt es. Friede! Friede unserem Deutschland, dem einigen! Gott segne unseren Kaiser, der heute einzieht in Berlin. Wie die Fahnen flattern im lauen Sommerwinde, wie die Menschen alle so fröhlich aussehen, wie selbst das Häuschen der Armuth im Schmuck grüner Kränze prangt!

Am 10. Mai war der Friede zu Frankfurt geschlossen und heute, am Abend des 16. Juni gab Rotenberg seinen siegreich heimgekehrten Söhnen ein Bankett auf dem Rathhaussaal. Fritz konnte nicht mit Theil nehmen, der hatte mich am Nachmittage in die Kirche vor den Altar geführt, und der alte Superintendent hatte gesprochen: das sei der rechte Hochzeitstag, das Friedensfest; und Friede möge in unserem Hause wohnen immerdar, Friede von heut’ an zwischen uns, bis der Tod uns scheidet!

[268] Nur wenige Gäste saßen an der hochzeitlichen Tafel, aber welch echte Fröhlichkeit herrschte! Beim Nachtisch, als schon die Dämmerung herniedersank, brachte Frau Roden mir das gewichtige Schlüsselbund des Hauses, ein wunderfeines Häubchen und eine zierliche funkelnagelneue Geldtasche mit dem Purpurherz darauf. Wie stolz und doch zaghaft nahm ich die Zeichen meiner neuen Würde, wie innig habe ich die Mutter geküßt! Die Frau Oberförsterin aber rief, Fritz müsse mir nun die Haube aufsetzen; und als sie statt des Kranzes mein Haar schmückte, band ich mir scherzend die Tasche um und hakte das Schlüsselbund hinein.

Die Fenster standen offen, Musik schallte herüber und in jeglichem Hause flammten Lichter auf, ein Jubelzeichen deutscher Kraft und Einigkeit. Wir ließen die fröhliche Gesellschaft und gingen durch den wonnigen Sommerabend in den dunklen Garten, Hand in Hand; bei jedem Schritt schlugen leise klirrend die Schlüssel zusammen und läuteten meinen ersten Weg als junge Hausfrau ein. Dann saßen wir unter der Linde und sprachen von allen den Geschehnissen der letzten Jahre und wie es sich nun so wunderbar gewendet.

„Komm, Tone,“ sagte er, „ich weiß hier einen kleinen Eichensprößling, den wollen wir heute pflanzen; sieh, dort drüben, mitten auf dem Rasenplatz soll er stehen, ein Denkzeichen des heutigen Tages.“

Er holte Spaten und Schaufel und grub im Gebüsch das junge Bäumchen aus; er im Bräutigamsfrack und ich im weißen bräutlichen Gewande haben im Abendthau die kleine Eiche gepflanzt. Glückselig uns umfassend standen wir davor. „Möge es wachsen und gedeihen,“ sagte er, „möge Gott den Frieden erhalten unserem Vaterlande und unserem Hause, – denn von allen Lauten, von allen wonnigen Dir wohlvertrauten, kannst Du ein sanfter Wort als Frieden sagen?!“


Aus dem kleinen Schößling ist heute ein stattliches Bäumchen geworden. Es ist mit einem Eisengitter umfriedet und auf einer Tafel das Datum jenes Tages zu lesen, an welchem es gepflanzt wurde. Alljährlich wird dieser Tag gefeiert, in diesem letzten Jahre hat unser Aeltester sogar eine kleine Rede bei der Erdbeerbowle gehalten, die mein Mann unter der Linde auf dem steinernen Tische bereitet hatte.

Es war aber auch ein besonders festlicher Tag! – Zwischen der Mutter und mir saß eine blasse wunderschöne Frau, in reicher Toilette. Und als nun die Gläser zusammenklangen, da wollte jeder meiner blonden Buben zuerst mit der schönen Tante Lotte anstoßen. Sie war gekommen, eine Pathenstelle bei meinem jüngsten und einzigen Töchterchen zu übernehmen, das heute Abend getauft werden sollte –. Wir hatten uns nicht wiedergesehen, und lange hatte ich bitten müssen, ehe sie kam.

Sie war schon seit zehn Jahren zum zweiten Male verheirathet mit einem österreichischen Baron L. und hatte mit ihrem Gatten, der bei der Botschaft in Italien eingestellt war, lange Zeit in Rom gelebt. Kinder besaß sie nicht. Sie war entschieden beunruhigt, als die meinigen sie mit Zärtlichkeiten überschütteten. „Wenn man Kinder nicht gewöhnt ist –“ entschuldigte sie sich.

Am späten Abend, als die Gäste sich entfernt hatten, standen wir in dem Zimmer, in welchem Lotte damals gewohnt, und das auch heute wieder für sie zugerichtet war. Sie sah sich lange um. „Es ist nicht die Spur verändert in Eurem alten Neste, Tone, unten nicht und oben nicht, jedes Möbel steht noch auf dem alten Fleck.“

„Nur daß ich unten wohne und die Mutter oben, Lotte; – früher war es umgekehrt.“

Sie trat zum Fenster und blickte nach dem Schlosse hinüber, dessen weiße Mauern durch die jungen Kastanienblätter leuchteten; und in dem hellen Mondenlicht sah ich, wie mit einem Male ein müder trauriger Zug über ihr schönes Gesicht flog. Ich schlang den Arm um sie. „Ach Lotte, wenn ich nur Eines wüßte – ob Du glücklich bist?“

„Glücklich?“ sagte sie und sah an mir vorüber; „was heißt ‚Glück‘, Tone? Ich habe Alles, was man dazu zu rechnen pflegt, einen Mann, der mich anbetet, soweit der Rennsport ihm Zeit läßt, die ausgesuchteste Eleganz um mich her, die sogenannte Gesellschaft, Theater, Toilette, Equipage, Reisen – ob das Glück ist? Ich bin, glaube ich, nicht fähig Glück zu empfinden –. Aber Du, Tone?“

„Ach Gott im Himmel, Lotte, namenlos glücklich!“

„Man sieht es Dir an,“ flüsterte sie, – „und ihm auch.“

Als sie fortreiste, küßte sie das kleine Lottchen. „Bei Euch ist Frieden,“ sagte sie leise zu mir. Fritz aber stand am Wagenschlage, und mein Jüngster neben ihm mit einem frischen Strauß, darin prangten die schönsten Rosen aus unserem Garten.

„Den schenkt Dir der Vater, Tante Lotte,“ sagte der kleine treuherzige Kerl und reichte ihr die Blumen.

Sie nahm den Strauß und stieg mit abgewandtem Gesicht in den Wagen, und dort ließ sie den Schleier über ihre thränenden Augen fallen.

„Lebe wohl, Lotte!“ riefen wir.

Arm in Arm standen Fritz und ich und winkten ihr nach, die hinausfuhr in das bunte bewegte Leben mit seinem trügerischen Glanz und Schimmer.

Bei uns aber steht die Friedenseiche im Garten, und unsere Kinder spielen in ihrem Schatten; in unserem altmodischen Hause wohnt das Glück.