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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 28.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Zehn Jahre sind eine lange Zeit im Menschenleben und sie wiegen doppelt schwer, wenn sie in die Entwickelungszeit eines Menschen fallen, hier aber grenzte die Wandlung, die sie hervorgebracht hatten, doch an das Wunderbare. Der einstige Pflegesohn des Försters Wolfram und der junge Officier, der soeben eintrat, waren zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten, die auch nicht einen Zug mit einander gemein hatten.

Hübsch war Michael Rodenberg allerdings nicht geworden, in dem Punkte stand er unbedingt hinter Hans Wehlau zurück, aber er war eine von jenen Erscheinungen, die man nirgends übersieht. Die kraftvoll markige Gestalt schien wie geschaffen für die Uniform und den Degen an der Seite, sie hatte das Ungelenke des Knaben abgestreift und dafür die straffe Haltung des Soldaten angenommen. Das blonde Kraushaar hatte, ohne von seiner Fülle und Ueppigkeit etwas einzubüßen, sich doch zur Ordnung bequemt; und der blonde Vollbart umrahmte ein Gesicht, das allerdings keinen Anspruch auf Schönheit machen konnte, aber auch dessen nicht bedurfte. Es war eben kein Jünglingsantlitz mehr, der energische, charaktervolle Kopf schien einem frühgereiften Manne anzugehören, vielleicht zu früh gereift, denn er hatte einen Zug von Ernst, ja von Härte, der sonst bei der Jugend nicht zu finden ist.

Auch die Augen verriethen nichts mehr von der einstigen Träumerei, der Blick war fest und scharf geworden, aber jugendfroh und begeistert zu blicken hatten diese Augen nicht gelernt. Es lag etwas Eisiges darin, wie überhaupt in dem ganzen Wesen des jungen Mannes, das nur vorübergehend im Gespräch von einem wärmeren Hauche belebt wurde, aber wie er so dastand, fest, energisch, hochaufgerichtet, war er das Urbild eines Soldaten, vom Scheitel bis zur Sohle.

„In Uniform?“ fragte der Professor befremdet, als Michael mit einem kurzen Morgengruß näher trat. „Hast Du hier einen officiellen Besuch zu machen?“

„Theilweise, ja, ich muß nach Elmsdorf hinüber. Mein ehemaliger Regimentschef, der Oberst von Reval, bringt, seit er den Abschied genommen hat, stets die Sommer- und Herbstmonate auf seiner dortigen Besitzung zu. Er glaubt wahrscheinlich, daß ich schon länger hier bin, denn ich fand gestern bei der Ankunft einige Zeilen von ihm vor, die mich für heute nach Elmsdorf einladen. Die Tante wird mich hoffentlich entschuldigen, der Oberst hat mir stets viel Freundlichkeit erwiesen.“

„Du warst ja immer sein besonderer Günstling,“ mischte sich Hans ein. „Als er nach Beendigung des dänischen Krieges zurückkam, hat er den Papa eigens aufgesucht, um ihm zu dem Besitz dieses ausgezeichneten Sohnes zu gratuliren. Ich war damals wüthend, denn ich bekam wochenlang nichts weiter zu hören, als Loblieder auf Dich, mit sehr bedenklichen Seitenblicken auf meine Wenigkeit, Deine Heldenthaten waren mir im höchsten Grade unbequem.“

„Zu Deinem Besitz hat mir allerdings noch Niemand gratulirt, am wenigsten während Deiner Universitätszeit,“ sagte Wehlau mit einiger Schärfe. „Uebrigens


König Otto I. und König Ludwig II. im Knabenalter.

[482] haben wir Euch schon in der vergangenen Woche erwartet. Weßhalb seid Ihr so spat gekommen?“

„Michael’s wegen, dessen Urlaub sich verzögerte, weil er erst seine Leute von den Uebungen zurückführen mußte. Als ich ihn in der Garnison abholte, oder vielmehr abholen wollte, denn ich hatte Glück dabei -“

„Wie gewöhnlich!“ schaltete der Professor ein.

„Nun ja, ich hatte mich auf volle acht Tage in der langweiligen Provinzialstadt gefaßt gemacht und höre bei meiner Ankunft, daß sich Michael drei Meilen davon in dem höchst amüsanten Badeorte befindet, in dessen Umgegend manövrirt wurde. Natürlich fuhr ich schleunigst nach und segnete diese weise Verfügung der Militärbehörde. Der Herr Lieutenant steckte freilich bis über die Ohren im Diensteifer und war taub und blind für alles Andere, sogar für eine Bekanntschaft, um die ihn das gesammte Officierkorps beneidete, und mit der er gar nichts anzufangen wußte. Es war sonst nicht möglich, Zutritt bei der Gräfin Steinrück zu erlangen, da sie recht leidend war.“

Der Professor wurde aufmerksam bei dem Namen und sandte einen forschenden Blick zu Michael hinüber.

„Gräfin Steinrück?“

„Auf Berkheim! Du kennst sie ja, Papa, denn wie die Gräfin mir mittheilte, bist Du als junger Arzt vielfach im Hause, ihrer Schwiegereltern gewesen und auf ihre Bitte sogar an das Sterbebett ihres Gatten geeilt, sie ist Dir noch heute dankbar dafür.“

„Gewiß kenne ich sie, aber wie kamst Du denn zu der Bekanntschaft, Michael?“

„Durch Zufall,“ versetzte der Gefragte lakonisch.

„Seine Schuld war es allerdings nicht,“ spottete Hans, mit einer Unbefangenheit, die deutlich verrieth, daß er die Rolle nicht kannte, die der Name Steinrück in dem Leben Michael’s spielte. „Ich muß Dir die Geschichte ausführlich erzählen, Papa, sie fängt hochromantisch an. Also, Michael sitzt im Walde – das heißt eigentlich hält er dort und kommandirt seine Leute – und läßt lustig drauf losschießen. Da kommt ein Wagen die Chaussee entlang, die in einiger Entfernung vorbeiführt. Die Pferde werden scheu bei dem Lärm der Schüsse, sie gehen durch, der Kutscher verliert die Zügel und die Gefahr ist unabwendbar, da stürmt der Ritter und Retter aus dem Waldesdunkel herbei, bändigt die Thiere, hält den Wagen auf, trägt die ohnmächtigen Damen heraus –“

„Bleib’ bei der Wahrheit, Hans!“ fiel der junge Officier unmuthig ein. „Weder die Gefahr noch die Heldenthat waren so groß, als es Dir beliebt, sie zu schildern. Ich sah allerdings, daß die Pferde scheu wurden, und sprengte heran, um ein Unglück zu verhüten, aber die Thiere standen sofort, als ich ihnen in die Zügel fiel, und die Damen blieben ruhig im Wagen. Du mußt Alles in das Poetische hinaufschrauben.“

„Und Du ziehst Alles in die Nüchternheit herab,“ gab Hans ärgerlich zurück. „Ich habe die Geschichte aus dem eigenen Munde der Gräfin, die hartnäckig darauf besteht, in Dir ihren Lebensretter zu sehen, was Du eben so hartnäckig leugnest.“

Michael zuckte die Achseln und wandte sich an den Professor.

„Die Gräfin behauptete das in der That, und da das Haus, in dem ich wohnte, dicht neben ihrer Villa lag, so ließ sich ein öfteres Zusammentreffen nicht vermeiden. Ich war aber sehr von dem Dienst in Anspruch genommen und hatte wenig Zeit übrig.“

„Ja, er hatte immer und ewig Dienst!“ rief Hans entrüstet. „Man bekam ihn schließlich gar nicht mehr zu Gesichte. Ich erreichte es nur mit Mühe, daß er mich überhaupt vorstellte, und dann ging er wieder davon, und überließ es mir, sein unverantwortliches Benehmen wieder gut zu machen. Die Damen kamen ihm mit der größten Liebenswürdigkeit entgegen, aber er blieb wie ein Eiszapfen!“

„Michael wird wohl seine Gründe gehabt haben,“ sagte Wehlau kühl. „Und wenn er die Zurückhaltung für geboten hielt, so hättest Du seinem Beispiele folgen sollen.“

„Nein, das war schlechterdings nicht möglich, dazu war die junge Gräfin zu schön. Eine Gestalt, wie aus einem unserer Feenmärchen, prachtvolles, goldblondes Haar, Augen, die wie Sterne glänzen! Sie können berücken, diese Augen.“

„Und verhöhnen!“ ergänzte Michael in einem Tone, dessen Kälte seltsam mit dem Enthusiasmus seines Freundes kontrastirte. „Hüte Dich vor ihnen, Hans, es ist ein trauriges Schicksal, erst verlockt und dann verlacht zu werden.“

„Du meinst, weil Gräfin Hertha für sehr hochmüthig gilt? Ich glaube allerdings auch, däß ein Sterblicher, der nicht mindestens sechzehn Ahnen zählt, sich einen empfindlichen Korb holen würde, wenn er die Kühnheit haben sollte, um sie zu werben. Da ich aber nicht nach dieser Ehre geize, so stört das meine Bewunderung durchaus nicht. Und wenn ich mich von diesen Augen wirklich verlocken lasse –“

„Das wirst Du bleiben lassen!“ schnitt ihm der Vater mit vollem Nachdruck das Wort ab. „Du hast Dich jetzt weder um Feenmärchen noch um Sternenaugen zu kümmern – dergleichen Unsinn verbitte ich mir überhaupt – sondern einzig und allein um Deine bevorstehende Dissertation.“

Die beiden jungen Männer wechselten einen raschen, etwas eigenthümlichen Blick mit einander, dann sagte Michael mit leichtem Spott:

„Sei ohne Sorge, Onkel. Wenn Hans auch wirklich Feuer gefangen haben sollte, dergleichen hat bei ihm keine Gefahr – es kommt zu oft vor.“

„Ja, er hat bisher nur Kindereien und Thorheiten getrieben, aber jetzt wird er die Güte haben und sich zum Ernst bequemen. Ich habe mich für heute Vormittag frei gemacht, und nun wollen wir endlich einmal eingehend über Deine Studien sprechen, Hans. Der Ueberblick, den Du mir bei den Ferienbesuchen gabst, ist doch immer nur ein flüchtiger gewesen, ich wünsche jetzt Näheres zu hören.“

Wieder wechselten die Beiden jenen Blick, der auf ein geheimes Einverständniß zu deuten schien, der Professor aber erhob sich und sagte flüchtig:

„Ich will nur noch der Leni einschärfen, daß sie die heutige Postsendung pünktlich besorgt. Ich komme sogleich zurück.“ Damit ging er hinaus.

Hans sah ihm nach, schlug die Arme über einander und sagte halblaut:

„Jetzt wird die Bombe platzen!“

„Nimm die Sache nicht so leicht,“ warnte Michael. „Du hast jedenfalls einen harten Kampf zu bestehen, der Onkel wird außer sich sein.“

„Das weiß ich, deßhalb bin ich auch gewappnet und gerüstet. Du willst doch nicht etwa fort? Das geht nicht, ich kann die Reserven nicht entbehren bei der bevorstehenden Schlacht. Wenn es gar zu heiß hergeht, ziehe ich Dich als Hilfskorps heran. Thu’ mir den Gefallen und bleibe.“

„Ich bin froh, daß die Heimlichkeit ein Ende nimmt,“ sagte der junge Officier unmuthig, indem er sich in die Fensternische zurückzog. „Ich hatte Dir mein Wort gegeben, zu schweigen, aber es ist mir schwer genug geworden, schwerer als Dir.“

„Pah, ich wußte mir nicht anders zu helfen. Bei Euch Soldaten gilt auch die Kriegslist für erlaubt. Still, da kommt der Papa zurück – jetzt zur Attacke!“

Der Professor kehrte in der That zurück und nahm behaglich in seinem Lehnstuhl Platz, während er seinen Sohn zu sich heranwinkte.

„Du bist jedenfalls in guten Händen gewesen,“ begann er. „Mein Kollege Bauer ist eine Autorität in unserem Fach und steht gänzlich auf meinem Standpunkte. Das war auch der Grund, weßhalb ich Deinen Bitten nachgab und Dich noch auf zwei Jahre nach B. schickte. Ich fürchte allerdings, daß es Dir in erster Linie um das lustige Studentenleben dort zu thun war, ich hielt es aber trotzdem für gut, wenn Du Deine Studien unters einer anderen Leitung fortsetztest, die Grundlage dazu hast Du ja doch von mir empfangen. Nun laß hören!“

Dem jungen Manne schien es doch etwas heiß zu werden bei dieser Einleitung, er drehte verlegen sein zierliches Schnurrbärtchen und stotterte ein wenig bei der Antwort:

„Ja, Professor Bauer – ich habe seine Vorlesungen besucht – sehr regelmäßig sogar.“

„Selbstverständlich! Ich hatte Dich ja hauptsächlich an ihn empfohlen.“

„Aber gelernt habe ich gar nichts bei ihm, Papa.“

Wehlau runzelte die Stirn und sagte zurechtweisend:

„Hans, es ist unpassend, einen verdienstvollen Gelehrten in dieser Weise zu kritisiren. Sein Vortrag läßt allerdings Manches zu wünschen übrig, aber seine Leistungen sind sehr bedeutend.“

[483] „Mein Gott, ich spreche ja nicht von den Leistungen des Herrn Professors, sondern von meinen eigenen, und die waren leider gar nicht bedeutend. Ich fühlte das selbst und deßhalb – habe ich mir eine kleine Aenderung im Studium erlaubt.“

„Gegen meine ausdrückliche Weisung? Ich hatte Dir Deinen Studiengang doch genau vorgeschrieben. Zu wem hast Du Dich denn eigentlich gehalten?“

Hans zögerte mit der Antwort und warf einen Blick nach der Fensternische, wo seine „Reserve“ stand, dann entgegnete er etwas gepreßt:

„Zu – dem Professor Walter.“

„Walter? Wer ist das? Ich kenne den Namen gar nicht.“

„Doch, Papa, Du hast sicher schon von Friedrich Walter gehört. Er hat ja einen weltberühmten Namen als Künstler.“

„Als was?“ fragte der Professor, der nicht recht gehört zu haben glaubte.

„Als Künstler, und das war auch der Grund, weßhalb ich nach B. wollte. Meister Walter lebt dort und würdigte mich des Vorzuges, in sein Atelier aufgenommen zu werden. Ich habe nämlich nicht die Naturwissenschaften studirt – ich bin Maler geworden!“

Jetzt war es heraus! Wehlau fuhr in die Höhe und starrte fast sprachlos seinen Sohn an.

„Junge, bist Du toll geworden?“ rief er, aber Hans, der sehr gut wußte, daß sein einziger Erfolg darin bestand, den Vater überhaupt nicht zu Worte kommen zu lassen, sprach schleunigst weiter.

„Ich bin sehr fleißig gewesen in den zwei Jahren, außerordentlich fleißig. Mein Lehrer wird es Dir bestätigen, er meint, daß ich jetzt auf eigenen Füßen stehen könne, und er sagte mir noch beim Abschiede: ‚Es wird Ihrem Herrn Papa sicher Freude machen, wenn er Ihre Leistungen sieht, berufen Sie sich nur auf mich.‘“

Er brachte das Alles mit unendlicher Geläufigkeit hervor, und die Rede floß wie Honigseim von seinen Lippen, aber das half ihm jetzt nichts mehr, der Professor hatte endlich begriffen, daß es mit der „kleinen Aenderung des Studiums“ Ernst sei, und nun brach er los.

„Und das wagst Du mir zu bieten! Du hast Dich unterstanden, heimlich, hinter meinem Rücken eine derartige Komödie zu spielen, meinem Verbote zu trotzen, meinen Willen zu verhöhnen, und bildest Dir jetzt ein, ich würde mich dieser sogenannten Thatsache beugen und Ja und Amen dazu sagen – da bist Du denn doch sehr im Irrthum.“

Hans ließ den Kopf hängen und nahm eine äußerst zerknirschte Miene an.

„Sei nicht so hart, Papa! Die Kunst ist nun einmal mein Ideal, die Poesie meines Lebens, und wenn Du wüßtest, was für Gewissensbisse ich mir schon gemacht habe wegen meines Ungehorsams!“

„Du siehst mir gerade nach Gewissensbissen aus!“ rief der Professor, der immer wüthender wurde. „Ideale – Poesie – da haben wir schon wieder die verwünschte Geschichte! Die Schlagworte, die allen Unsinn decken müssen, den die Menschen begehen. Aber bilde Dir nur nicht ein, daß Du diesen Unsinn wirklich bei mir durchsetzen kannst. Was Du auch da für Allotria getrieben haben magst, jetzt kommst Du nach Hause zurück, und jetzt nehme ich Dich in die Schule. Du wirst zunächst Dein Doktorexamen machen, hörst Du? Ich befehle es Dir!“

„Ich habe aber gar nichts gelernt,“ erklärte Hans mit einem förmlichen Triumphe. „Ich habe in den Vorlesungen nur die Herren Professoren und das Auditorium skizzirt oder karikirt, wie es gerade kam, und was Du mir von Gelehrsamkeit eintrichtertest, das habe ich längst wieder vergessen, damit bringe ich nicht drei Seiten der Dissertationsschrift zu Stande, und Du kannst mich doch nicht noch einmal auf die Universität schicken.“

„Du rühmst Dich ja förmlich Deiner Unwissenheit,“ sagte Wehlau schneidend, „und den unerhörten Betrug, den Du mir gespielt hast, rechnest Du Dir wohl auch als eine Heldenthat an?“

„Nein, aber als eine Nothwehr, zu der ich erst griff, als jedes andere Mittel versagte. Wie habe ich damals gebeten und gefleht, um Dich zur Nachgiebigkeit zu bewegen, es war Alles umsonst! Ich sollte mein Talent, meine ganze Zukunft einem Berufe opfern, für den ich nicht tauge und in dem ich nie etwas leisten würde. Du versagtest mir die Mittel zur künstlerischen Ausbildung und dachtest mich damit zu zwingen. Als ich Dir sagte: Ich will Maler werden, setztest Du mir ein unerbittliches Nein entgegen, jetzt sage ich Dir: ich bin Maler geworden! und dazu wirst Du Ja sagen müssen.“

„Das wird sich zeigen!“ brauste Wehlau von Neuem auf. „Ich will doch sehen, ob ich meinen eigenen Sohn nicht meistern kann. In meinem Hause bin ich Herr, da dulde ich keine Rebellion, und wer sich gegen meinen Willen auflehnt, der hat dies Haus fortan zu meiden.“

Der junge Mann erbleichte denn doch bei dieser Drohung, er trat dicht vor den Vater hin, und seine Stimme klang bittend, aber zugleich tief ernst.

„Papa, laß es nicht so weit kommen zwischen uns. Ich bin nun einmal anders geartet als Du, ich habe von jeher ein Grauen gehabt vor Deiner hohen, kalten Wissenschaft, die das Leben so klar macht und so – öde! Du begreifst nicht, daß es noch eine andere Welt, daß es noch eine Jugend giebt, der diese Welt so nothwendig ist, wie die Luft zum Athmen. Du zwingst der Natur unerbittlich ihre Geheimnisse ab, Alles, was darin lebt und webt, muß sich Deinen Regeln und Systemen fügen, von jedem Geschöpf kennst Du das Werden und Vergehen. Aber Deinen eigenen Buben, den kennst Du nicht, und den zwingst Du auch nicht in eines Deiner Systeme. Der hat sich das Bischen Ideal und Poesie noch glücklich gerettet und geht damit seinen eigenen Weg – und er wird Dir auch auf diesem Wege keine Schande machen!“

Damit wandte er sich um und schritt nach der Thür, der Professor aber war keineswegs gewillt, die Unterredung so zu beendigen, er rief ihm zornig nach: „Hans, Du bleibst! Du kommst auf der Stelle zurück!“

Hans fand es jedoch für gut, den Befehl zu überhören, er sah, daß sein „Hilfskorps“ jetzt heran rückte, und überließ es diesem, ihm den Rückzug zu decken, was denn auch geschah.

„Laß ihn gehen, Onkel,“ sagte Michael, der schon während der letzten Minuten hervorgetreten war und jetzt den erzürnten Mann zu beschwichtigen suchte. „Du bist jetzt zu gereizt, werde erst ruhiger.“

Die Mahnung blieb fruchtlos. Wehlau dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen, und da der ungehorsame Sohn ihm nicht mehr erreichbar war, so wandte er sich gegen dessen Fürsprecher.

„Und Du bist auch mit im Komplott gewesen! Du hast um die ganze saubere Geschichte gewußt, leugne es nur nicht. Hans verschweigt Dir ja nichts. Ihr hängt ja zusammen wie die Kletteu. Warum hast Du geschwiegen?“

„Weil ich mein Wort gegeben hatte und das nicht brechen durfte, wenn ich auch mit der Heimlichkeit nicht einverstanden war.“

„So hättest Du auf eigene Hand eingreifen und Hans zur Vernunft bringen müssen.“

„Auch das konnte ich nicht, denn er ist in seinem Rechte.“

„Was? Fängst Du auch noch an?“ schrie der Professor, indem er ihm drohend auf den Leib rückte, aber Michael hielt Stand und wiederholte fest:

„Ja, Onkel, in seinem vollen Rechte! Ich hätte mir auch keinen Beruf aufzwingen lassen, den ich nicht mag und für den ich nicht tauge. Ich hätte allerdings offener und eben deßhalb schwerer gekämpft als Hans, der dem Kampfe einfach aus dem Wege ging. Von dem Tage an, wo Du ihn zu dem Studium zwangst, und er sich scheinbar fügte, hat er auch angefangen, seine Vorstudien in der Malerei zu machen, aber er sah schließlich die Unmöglichkeit ein, seine künstlerische Ausbildung unter Deinen Augen zu vollenden, deßhalb ging er nach B. Er muß dort wohl Tüchtiges geleistet haben, denn wenn ein Mann wie Professor Walter ihm das Zeugniß künstlerischer Reife giebt, so hat er sie, daran darfst Du nicht zweifeln.“

„Schweig!“ grollte der Professor, „ich will nichts hören. Ich sage nein und nochmals nein, und – kommst Du mir auch noch mit Deinem Triumphe? Du bist wohl auch mit im Komplott gewesen?“

Die letzten Worte waren an die Frau Bürgermeisterin gerichtet, die ganz harmlos zurückkehrte, um das vergessene Schlüsselkörbchen zu holen, und sehr verwundert war ob dieses grimmigen Empfanges.

„Was hast Du denn?“ fragte sie. „Was ist vorgefallen?“

[484] „Vorgefallen? Nichts ist vorgefallen! Nur eine ganz kleine Aenderung im Studium, wie mein Herr Sohn sich auszudrücken beliebt. Aber wehe dem Jungen, wenn er mir wieder vor die Angen kommt, er soll mich kennen lernen!“

Damit ging Wehlau stürmisch in das Nebenzimmer und schlug die Thür hinter sich zu, während seine Schwägerin sich jetzt wirklich erschreckt an Michael wandte.

„Aber in des Himmels Namen, was ist denn eigentlich geschehen?“

„Eine Katastrophe! Hans hat dem Vater ein Geständniß gemacht, mit dem er nicht länger zurückhalten konnte. Er hat nicht studirt, sondern die Universitätszeit dazu benutzt, sich zum Künstler auszubilden. Aber verzeih, Tante, ich muß ihm nach, es ist wirklich nicht gut, wenn er dem Vater jetzt vor die Augen kommt.“

Damit verließ auch Michael eiligst das Zimmer, die Frau Bürgermeisterin stand einige Minuten lang starr, wie eine Salzsäule, dann aber verklärte sich ihr Gesicht förmlich und mit dem Ausdruck der tiefsten Genugthuung sagte sie:

„Da hat er dem unfehlbaren Herrn Professor eine Nase gedreht und was für eine! Der Goldbub’ der!“

(Fortsetzung folgt.)




Die bayerische Königstragödie.

II.

Das grausige Pfingstfest – so mag vielleicht einmal die bayerische Geschichte jene Junitage des Jahres 1886 bezeichnen, in welchen das Leben eines Königs ein Ende fand, wie es jammervoller und erschütternder kaum gedacht werden kann. War es doch, als ob der Weltgeist für einen Augenblick einen Abgrund aufgerissen hätte, schwarz und unermeßlich tief, um aus demselben ein riesenhaftes finsteres Gespenst emporsteigen zu lassen, das mit seinen schattenhaften Armen nach einem Herrscher griff, der umnachteten Geistes auf der Höhe seines Thrones stand. Und mit diesen schattenhaften Armen ihn umklammernd, zog es ihn hinunter in jenen Abgrund, schweigend und erbarmungslos. Aber nicht ihn allein, sondern mit ihm zugleich den treuen und edlen Wächter, den Priester hilfreicher Wissenschaft, der sein Hüter und Schirmer sein wollte. Darin liegt das furchtbar Ergreifende, daß hier nicht allein der hoffnungslose Wahnsinn, sondern mit ihm zugleich der klare Menschenverstand in die Nacht des Todes versinken mußte!

Blättern wir nur ein halbes Menschenalter zurück im Buch der Geschichte! Auf dem bayerischen Throne saß König Maximilian, ein edler und gütiger Fürst, ein Pfleger der Wissenschaften und Künste, der immer nur das Beste seines Volkes wollte. Zwei Söhne, Ludwig und Otto, hatte ihm Königin Maria geschenkt, die Prinzessin aus dem Hause Hohenzollern. Es waren blühende Knaben, die Hoffnung und der Stolz des Landes: Ludwig, der künftige König, eine ernste und träumerische Erscheinung; der jüngere Otto blond und von lebhaftem Ausdrucke. Kronprinz Ludwig ward streng und gewissenhaft erzogen, und obgleich er als Knabe schon von starkem Eigenwillen beseelt war, mußte er sich dieser Zucht fügen. Doch seine glühende Einbildungskraft fand Nahrung und Anregung genug in der prachtvollen Natur, in welcher er seine Jugendsommer zubringen durfte: in den Bergschlössern zu Berchtesgaden und Hohenschwangau. Da sah man ihn oft, wie einen Märchenprinzen, in grünem Sammetröckchen auf einem feuerigen arabischen Hengst durch die Wälder jagen, so rasch, daß ihm seine Diener kaum zu folgen vermochten.

Allgemeine Menschenscheu war schon früh ein Grundzug seines Wesens, obschon er von berückender Liebenswürdigkeit gegen jene Leute sein konnte, die seiner Laune gerade gefielen. Es ist heute sonnenklar, daß jenes Traumkönigthum, welches später des vierzigjährigen Mannes Verderben ward, in dem Knaben schon keimte und mit ihm großwuchs: Als Jüngling von 19 Jahren sollte er eine Universität beziehen, um dort Staatswissenschaften zu studiren. Der Aufenthalt in der Fremde, der Umgang mit Altersgenossen, die Lehren staatsmännischer Pflichten und Rechte hätten gewiß einen günstigen Einflnß auf sein künftiges Leben genommen; aber ein böses Geschick wollte ihm diesen Schatz an Lebenserfahrung nicht vergönnen. Denn in den Märztagen des Jahres 1864 starb König Maximilian nach kurzer Krankheit, und Ludwig bestieg den Thron von Bayern. Als er, während kein Auge ohne Thränen blieb, hinter dem Sarge seines vielbeklagten Vaters dahinschritt, eine hochgewachsene Jünglingsgestalt von apollinischer Grazie, wahrhaft königlich in Blick und Haltung: damals jauchzten ihm alle Herzen zu. Nicht seinem Lande allein, ganz Europa erschien der jugendschöne Bayernkönig als eine Idealgestalt ohne Gleichen. Alles drängte sich bewundernd in seinen Weg; in die aufrichtige Freude an seiner hoffnungweckenden Erscheinung mischte sich zudringliche Spekulation unedler Schmeichelei.

König Ludwig begann seine Regierung in einer Weise, die alle jene Hoffnungen, welche man von ihm gehegt hatte, voll zu berechtigen schien. Als er den Königseid auf die Verfassung geschworen hatte, sprach er zur Staatsrathsversammlung die schönen Worte: „Groß ist und schwer die mir gewordene Aufgabe. Ich baue auf Gott, daß er mir Licht und Kraft schicke, sie zu erfüllen. Treu dem Eide, den ich soeben geleistet, und im Geiste unserer durch fast ein halbes Jahrhundert bewährten Verfassung will ich regieren. Meines geliebten Bayernvolkes Wohlfahrt und Deutschlands Größe seien die Zielpunkte meines Strebens!“

Er ließ sich sofort jeden Tag durch die Minister persönlich Vortrag über die Regierungsgeschäfte halten und gab damit den Anfang zu einer völlig verfassungsmäßigen Regierung. Aber seine Freude an den Staatsgeschäften währte nicht lange. Nach wenigen Monaten schon zeigte sich an ihm jener Hang zur Einsamkeit, der dann im Laufe der Jahre immer mächtiger und verhängnißvoller ward. Und wohl mögen deßhalb die Irrenärzte im Rechte sein, wenn sie behaupten, daß schon vor zwanzig Jahren die ersten leisen Andeutungen seelischer Störung sich geregt hätten. Jene schreckliche Gewalt, deren Schattenarme den König in sein letztes Verhängniß hinunterzogen: kaum vernehmlich pochte sie schon an die Thüren der Münchener Residenz, noch ehe Ludwig den Thron seiner Väter bestiegen hatte.

Und als der jugendliche König noch in demselben Jahre den großen Meister Richard Wagner nach München berief und seine volle Herrschergunst ihm zuwandte; als dann die Münchener Hofbühne, auf die unmittelbarste Anregung des Königs hin, zu einer der glänzendsten Pflanzstätten hoher Kunstziele ward: da hätte ein vorahnendes Gemüth wieder und wieder jene unheimlich pochende Gespensterhand vernehmen können. Es hätte sie hören können mitten zwischen den rauschenden Klängen der Musik, im Lichtermeer des Hoftheaters wie in den einsamen Gemächern des ruhelos gewordenen Fürsten.

Es ist bekannt, daß der Aufenthalt Richard Wagner’s in München nicht lange währte. Die großen Pläne, mit welchen sich der König zu Gunsten Wagner’s trug, gingen nicht in Erfüllung. Ein neues Theater, hoch auf dem östlichen Isarufer, zu welchem eine neue Prachtstraße hinanführen sollte, war damals die Lieblingsidee des Königs. Semper, der geniale Architekt, sollte diese Bauten ausführen. Aber einem großen Theile der öffentlichen Meinung in München verursachte die lebhafte Neigung des Königs für Richard Wagner Besorgniß, wohl auch Neid. Es mißfiel, daß der König seine Gunst so ausschließlich dem einen Manne und seinen Zielen zuwandte, daß er ihm so fürstliche Mittel spendete; schließlich verbreitete sich sogar die Beschuldigung, daß Wagner sich in Staatsangelegenheiten mische. Der König gab dem Drucke der öffentlichen Meinung nach und entließ den Tonkünstler aus München, ohne ihm jedoch sein Wohlwollen zu entziehen. Nach Briefen, die aus jener Zeit vom König geschrieben wurden, war es ihm unsäglich schmerzlich, den Mann entlassen zu müssen, den er so hoch verehrte und der seinerseits eines so begeisterten Fürsten so dringend bedurfte, um seine künstlerischen Pläne zu verwirklichen.

Seit dem Abgang Wagner’s von München ward Ludwig’s Menschenscheu immer deutlicher bemerkbar. Zunächst zwar blieb noch Schloß Berg am Starnberger See sein Lieblingsaufenthalt. Es ward ihm nicht schwer, von hier aus tiefer in die Einsamkeit zu flüchten. Er war ein vorzüglicher und leidenschaftlicher Reiter,

[485]

König Ludwig II. von Bayern.
Originalzeichnung von R. E. Kepler.

[486] unglaublichen Anstrengungen gewachsen. In wenigen Stunden jagte er seine Rosse von den Ufern des Starnberger Sees hinauf in die entlegensten Hochthäler des Gebirgs. Aber wenn er so durch die Bergthäler dahinritt, verfolgte ihn, zwischen den dunklen Fichten ihm nacheilend, deutlicher und immer deutlicher der Schatten seines schrecklichen Geschicks – schneller, als der schnellste Hengst des Königs. Und wenn er im kleinen Boote, im Schlepptau seines Dampfers, sich durch die heiteren Wasser des Starnberger Sees ziehen ließ, dann pochte wieder jene schreckhafte unsichtbare Hand von unten her an die Planken des Schiffchens; sie pochte an die Bahnzüge, die den jungen Monarchen aus einer Einsamkeit in die andere führten, und an die vom Nachtsturme gerüttelten Wände seiner weltentlegenen Einsiedeleien.

So kam das Jahr 1866 und der deutsche Bruderkrieg. Ueber die politische Gesinnung des Königs während jenes Krieges ist wenig bekannt geworden. Ob mit oder ohne seine innere Zustimmung – jedenfalls folgte er damals der öffentlichen Meinung seines Landes und den Rathschlägen seines Ministeriums.

Als nach jenem Kriege der Friede geschlossen war, da schien es noch einmal, als ob die Pflichten des Staatslebens und die Liebe seines Volkes den König auf eine lichte, freie, glückliche Bahn herausführen könnten aus seiner Verschlossenheit. Denn geradezu in Entzücken versetzte er sein Volk, als er eine Reise durch sein Land antrat und in den bayerischen Städten durch seine Schönheit und durch eine unvergleichliche Liebenswürdigkeit alle Herzen eroberte. Es waren Wochen voll ungetrübten Glanzes, Wochen jubelnder Begeisterung.

Sie kehrten nicht wieder.

In der Münchener Hofburg saß unsichtbar jener schreckhafte Schatten und harrte der Wiederkehr seines Opfers.

Und abermals machte der König unbewußt einen Versuch, jenem Schatten zu entrinnen. Er verlobte sich im Jahre 1867 mit Prinzessin Sophie, einer Tochter des Herzogs Max in Bayern. In weiteren Kreisen erregte diese Verlobung Freude, weil man hoffte, die Ehe würde den König mit dem Volke, mit seiner Residenz, mit seinem Hofe in nähere Berührung bringen. Mancher aber mochte schon damals zweifeln, daß der König diesen Schritt mit jener Erfahrung und in jener glücklichen Seelenstimmung gethan habe, die zum Gedeihen dieses Verhältnisses nöthig war.

Die Zweifler hatten Recht. Mochten die beiden fürstlichen Verlobten, oder nur eins von ihnen zu der Erkenntniß gekommen sein, daß sie nicht für einander paßten; oder mochte irgend ein romanhaftes Ereigniß zwischen sie getreten sein: gewiß ist, daß die Verlobung noch in demselben Jahre gelöst wurde, in welchem sie geschlossen worden war. Die ehemalige Verlobte des Königs ist heute Herzogin von Alençon. Für den König aber war die Liebe seit jener Zeit ein verschlossenes Buch, ein verschlossenes Glück.

Und immer deutlicher und deutlicher vernimmt nunmehr die Umgebung des Königs das Pochen jenes unsichtbaren Grausens am Leben des Monarchen. Anfangs klingt es bloß wie ein etwas befremdender Ton, wie ein flüchtiges Räthsel; mit den Jahren immer vernehmbarer und schreckhafter.

Noch erschienen die Seltsamkeiten des Königs als bloße Liebhabereien. Mit vollem staatsmännischen Bewußtsein noch vertauschte er das Ministerium von der Pfordten gegen das Ministerium Hohenlohe, welches den durch die Schöpfung des norddeutschen Bundes geänderten deutschen Verhältnissen gerecht ward. So sehr er schon damals die Einsamkeit liebte, fanden doch ab und zu hervorragende Männer Audienz bei ihm. Dann vernahm man aus seinem Munde Aussprüche, welche vom edelsten Gedankenfluge, von politischem Scharfblick und patriotischen Zielen Zeugniß gaben. Als im Jahre 1870 die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit auftauchte, stellte sich der König mit Entschiedenheit auf die Seite seines gelehrten Freundes Döllinger. Und nach der Kriegserklärung Frankreichs an Preußen stand Ludwig rückhaltlos mit seinen Bundesgenossen für die Ehre Deutschlands und Bayerns ein.

Damals war’s, wo zum letzten Mal die Volksstimme mit begeisterter Mahnung an das Ohr des Monarchen drang. Es war am 17. Juli Nachmittags. Der König war von Berg nach München gekommen. Als es bekannt geworden war, daß er sich für die Theilnahme am Kriege entschieden hatte, beschloß man in München, ihm die freudige Zustimmung der Bevölkerung kundzugeben. Tausende und aber Tausende sammelten sich Nachmittags unter den Fenstern der Residenz an. Als der König am Fenster erschien, trat ein Mann aus der Menge vor auf die Terrasse der Feldherrnhalle und brachte ein Hoch auf den König aus. Und brausender, tausendstimmiger Jubel drang aus der dichtgescharten Masse wie ein Sturmgebet zum König empor.

Es war sein größter Tag.

Denn als nach Monden gewaltigen blutigen Ringens der fränkische Feind darniedergezwungen war und König Ludwig seinem ehrwürdigen Bundesgenossen die Kaiserkrone antrug, geschah diese deutsche That schon nicht mehr in freier Begeisterung. Hinter dem Könige stand das unsichtbare Schreckgespenst seines Lebens und ließ ihn jene That verzögern, die ihm für ewige Zeiten einen ruhmvollen Platz in der deutschen Geschichte gesichert hätte. Und als der Friede geschlossen war und das siegreiche bayerische Heer in die Mauern seiner Hauptstadt einzog mit seinen zerscharteten Waffen, da scholl wohl noch stürmischer und jauchzender die Volksstimme durch die Gassen. Aber der beste Theil ihres Jubels galt den treuen Soldaten und ihrem heldenmüthigen Feldherrn, nicht mehr dem Könige, der verdüstert an der Spitze der Armee ritt.

Seit jenem Tage ward er ein Irrender für sein Volk. Es begann jenes Traumkönigthum, welches durch fünfzehn lange Jahre einen Kreis von Sagen um das Haupt des unsichtbar gewordenen Herrschers spann. Fünfzehn Jahre lang kannte das bayerische Volk seinen Fürsten fast nur aus dem Munde des Gerüchtes.

In der Hauptstadt sah man ihn zuletzt nur noch während weniger Wochen im Winter. Und da nur im Vorüberfliegen. Wohl sammelten sich in der Abenddämmerung die Leute vor dem Thore der Residenz, das gegen fünf Uhr sich aufthat, um ein Viergespann zu entsenden, welches in hastigem Laufe den vereinsamten Fürsten in die Baumgänge des englischen Gartens hinunterführte. Aber von jener begeisterten Liebe, die einst dem jugendlichen Monarchen zugejauchzt hatte, war wenig mehr vorhanden. Ungern sah man das Heer von Gendarmen, welches den Park während der Spazierfahrt des Königs besetzt hielt; das gutmüthige Volk von München fühlte sich gekränkt durch dieses übertriebene Mißtrauen. Dafür schwirrten, anfangs bloß geflüstert, dann lauter und immer lauter, unglaubliche Gerüchte von Mund zu Mund. Zuerst erzählte man sich bloß von überreichen Geschenken, mit welchen der König seine Günstlinge überhäufte; dann von seltsamen und immer seltsameren Launen, die ihn beherrschten. Man vernahm von Freundschaftsbündnissen, die er schloß und wieder auflöste, von seinen geheimnißvollen Theatervorstellungen, seinen einsamen Maskeraden, seinen Inkognitoreisen; und endlich wurden alle die anderen Gerüchte überwältigt von den Berichten über die märchenhaften Bauwerke des Königs.

Das Größte aber, das Schrecklichste, was man vernehmen konnte, vernahm nur er selbst und seine nächste Umgebung: das Herannahen des Wahnsinns, der immer dräuender an die Königsschlösser pochte.

Je tiefer der Geist des Monarchen umnachtet ward, um so mehr rückte er sein Leben aus dem Tage in die Nacht hinüber. Die Stuude, in welcher er zur Ruhe ging, wanderte allmählich von Mitternacht immer weiter vor bis zum hellen Morgen. Es war, als könne er das Licht der Sonne nicht mehr ertragen. Und je unnatürlicher diese Lebensweise sich gestaltete, um so kleiner ward der Kreis von achtbaren Männern, mit welchen er noch in Berührung kam. Die letzten Rathgeber, welche noch die Wahrheit anzudeuten wagten, stieß er auch von sich; Lakaien und Stallknechte wurden seine zitternden Gespielen; aller Verkehr mit der Regierung geschah nur mehr schriftlich.

Mit wahrhaft bewunderungswürdiger Pünktlichkeit und Ruhe that während dieser langen Jahre die Staatsmaschine ihren Dienst. Wenn jemals die konstitutionelle Monarchie eine Feuerprobe zu bestehen hatte, so war es in Bayern während der letzten Regierungsjahre Lndwig’s II. der Fall. Pflichttreu und unerschüttert arbeitete der Beamtenorganismus vom Premierminister bis hinunter znm letzten Gerichtsboten. Der Staatshaushalt blieb fest und geordnet; wichtige Gesetze wurden geschaffen; das Verhältniß Bayerns zum Reiche gestaltete sich in bester Weise, und selbst heftige innere Parteikämpfe erschütterten nichts an den Grundfesten des Staatswesens. Und – was diesem Staatswesen wohl am meisten Ehre macht – so nahe die Versuchung gelegen wäre, daß Schmeichler und gewissenlose Streber in die Nähe des Königs und in sein [487] Vertrauen sich geschlichen hätten, um sich einen ungebührlichen Einfluß auf das Staatswesen zu verschaffen: es geschah nichts von dem. Als der König endlich selbst anfing, untergeordnete Personen mit wichtigen Aufträgen zu betrauen, verhallten diese Aufträge wirkungslos, sobald sie den regelmäßigen Gang des Staatswesens zu stören drohten.

Was den unglücklichen König noch am längsten mit der Welt, mit dem Geiste seiner Zeit im Zusammenhange hielt, war seine Liebe zur Kunst. Noch im letzten Jahre seiner Regierung führten ihn seine nächtlichen Theatervorstellungen nach München; die Pläne zu seinen Bauten brachten ihn mit künstlerischen Fragen immer wieder in belebende Berührung. Diese Saite seines Geistes blieb hell und schwungvoll bis zu seinem Untergange. War auch in seinen Prachtschlössern Vieles nur Ausgeburt wechselnder Laune, vieles Andere bloß provisorisch, auf die Wirkung des Augenblicks berechnet: ein fein geschulter Geschmack zeigt sich unzweifelhaft in diesen Schöpfungen. Aber wieviel von ihnen wird erhalten bleiben? Einige dieser Schlösser sind allen Wetterstürmen des Hochgebirges ausgesetzt, wie der Linderhof und der Märchenbau auf dem Schachen. Das fluchbeladene Schloß zu Herrenchiemsee, das so viele Millionen verschlang, ist unvollendet und wird es wohl bleiben. Nur die romanische Königsburg Neuschwanstein scheint gewaltig genug, um die Stürme der Zeit überdauern zu können; aber auch an ihrem Felsenfundamente nagen schon unterirdische Naturkräfte.

Und während der König an diesen Schlössern baut, von welchen zwei für großes glänzendes Hofleben berechnet sind, faßt ihn selbst sein schauerliches Geschick immer mächtiger an. Der Verkehr mit Menschen wird ihm nach und nach geradezu schrecklich; fürchterliche Wahnvorstellungen und Gesichte quälen ihn. Die aberwitzigsten Pläne schießen durch sein krankes Gehirn. Er faßt Selbstmordgedanken; er äußert die Absicht, sein Land zu verkaufen und ein neues mit absolutem Regiment zu gründen; er wünscht, seine Residenz und sein Volk zerstören zu können. Ueberschwängliche Liebe und glühender Haß gegen einzelne Personen wechseln stürmisch in dem schwer erkrankten Gemüth. Die Minister bezeichnet er mit gräßlichen Schimpfworten; die Diener werden aufs Schwerste wegen geringfügiger Fehler mißhandelt, ein Kammerlakai darf ein Jahr lang nur mit schwarzer Gesichtsmaske vor dem König erscheinen. Aufträge, Geld zu beschaffen, ergehen überallhin, während die Verlegenheiten der Kabinetskasse immer größere werden. Und zuletzt erläßt der verzweifelnde Monarch Todesurtheile nach allen Seiten; er verurtheilt seine Minister, seine Lakaien, die ihn bedienenden Soldaten zum Tode. Er selbst wird geradezu ein Phantom, unsichtbar und unfaßbar. Die dringendsten Vorstellungen der Minister läßt er unbeantwortet; er eilt, wie von Furien gepeitscht, von einem seiner Bergschlösser zum anderen und trägt sich dabei doch immer wieder mit Entwürfen zu neuen Prachtbauten. Und während seine Todes- und Verbannungsurtheile unvollstreckt bleiben, streut er immer noch Geld und Geschenke mit vollen Händen aus.

So waren die Zustände unhaltbar geworden. Es mußte Aenderung geschaffen werden. Mit schwerem Herzen entschloß sich der Oheim des Königs, Prinz Luitpold, zur entscheidenden That. Man sandte eine Staatskommission nach Hohenschwangau zum Könige; und Tags darauf, am 10. Juni 1886, erließ Prinz Luitpold eine Proklamation, in welcher er dem bayerischen Volke bekannt gab, daß er die Regentschaft für den schwer erkrankten König übernehme. Tief bewegt, aber nicht unvorbereitet, und überzeugt von der unerbittlichen Nothwendigkeit dieses Schrittes nahm man in München die Proklamation auf. Anders gestalteten sich die Dinge in Hohenschwangau. Ihr Verlauf ist allgemein bekannt. Der Widerstand des kranken Königs wurde gebrochen und seine Uebersiedelnng nach dem Schlosse Berg bewirkt.

Und nun folgen die Ereignisse in schauerlicher Schnelligkeit. Stunde um Stunde verrinnt, während das schnaubende Viergespann den König hinausführt ins Flachland, zu den vergitterten Gemächern, die man auf Schloß Berg für den entthronten Monarchen bereit hält. Gegen Mittag empfängt ihn der grüne Park am Starnberger See. Der Tag vergeht ruhig; ebenso die Nacht. Am Pfingstsonntag Vormittags macht der König mit dem Irrenarzte Direktor v. Gudden einen Spaziergang im Park und führt denselben zu einer laubumschatteten Bank unweit des Ufers. Wärter halten sich in ehrerbietiger Entfernung. Dann speist der König allein zu Mittag; mit abgestumpften Messern, da ihm alle schneidigen Werkzeuge aus dem Wege geräumt sind.

Der Arzt ist höchlich zufrieden. Er telegraphirt nach München: „Hier geht Alles wunderbar gut!“ Umsonst warnt ihn die Umgebung des Königs, der scheinbaren Ruhe desselben nicht zu trauen. Vergebens bittet ihn der Assistenzarzt um Vorsicht. Wie am Abend der König den Spaziergang zu wiederholen wünscht, begleitet ihn v. Gudden abermals. Wärter werden den Beiden vom Assistenzarzt nachgeschickt; aber der Direktor, vertrauend auf seine Körperkraft und auf die geistige Macht, die er seit dreißig Jahren Geisteskranken gegenüber ausgeübt hat, winkt den Wärtern, sich zu entfernen. So kann das Entsetzliche geschehen, ohne daß ein Auge zusieht. Ein Schleier, schwarz wie die tiefste Nacht, liegt auf dem, was folgt. Die Spuren beider Männer führen in den See; sie lassen auf einen Kampf zwischen dem König und seinem Arzte schließen, in welchem der Erstere siegreich blieb. Und danach findet man in später Nacht, nach dreistündigem Suchen Beide todt, wenige Schritte von einander entfernt, im See, an einer bloß vier Fuß tiefen Stelle. Ob der König in den See geeilt war, um den Tod zu suchen, oder um als guter Schwimmer durch das Wasser zu entfliehen, wird wohl ewig unenträthselt bleiben. Sicher ist nur und unzweifelhaft, daß der Arzt ihm nacheilte und ein Opfer seiner Berufstreue ward, aber auch ein Opfer jener edlen Humanität, die es ihm zum Grundsatz gemacht hatte, seine Kranken so wenig wie möglich zu belästigen und ihrer Freiheit zu berauben.

Während man im Park noch sucht und sucht, sinkt die Nacht über die Landschaft herein. Eine schauerliche Nacht! Regenschweres schwarzes Gewölk wälzt sich über die finstre Seefläche; am Ufer ächzen die hohen Bäume, und unruhig plätschern die Wellen an den fahlen Strand. Lichter irren gespenstig durch das nachtdunkle Buschwerk und werfen verlornen Schimmer in den See hinaus. Da draußen aber, zwischen dem Gewölk und der Wasserfläche ist es, als entfernte sich langsam ein breiter grausiger Schatten. Das Unnennbare, das den König zwanzig Jahre lang verfolgt hatte im einsamen Bergwald wie in den glanzdurchleuchteten Sälen seiner Residenz, das ihn Nachts aus dem Schlafe gepocht, das ihm mit seinem schreckhaften Blicke den Gedanken verwirrt, mit seinem Abgrundhauche die Seele vergiftet hatte: es hat endlich sein Werk vollbracht!

Ein Wehruf drang durch ein ganzes Volk. Und ganz Europa sandte seine Kränze an den Sarg des Herrschers, der einst in so strahlender Schönheit und Jugend seine Laufbahn begonnen und nun still und stumm im königlichen Schlosse aufgebahrt lag. Am Sonnabend den 19. Juni zog das endlose Trauergeleit durch die Straßen Münchens. Vereine, Korporationen und Schulen eröffneten den Zug, ihnen folgte der Klerus; dann fünfundzwanzig Gugelmänner[1] in der historischen schwarzen Tracht mit weißen brennenden Kerzen. Hinter dem Wagen, der die Königsleiche in die düstere Gruft der Michaelskirche brachte, schritt durch das lautlos starrende Volk der Oheim des todten Königs, der jetzige Reichsverweser von Bayern. Und hinter diesem folgten der Kronprinz des Deutschen Reiches an der Seite des Kronprinzen von Oesterreich und andere Vertreter fürstlicher Häuser. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit der Kronprinz des Deutschen Reiches durch die jauchzenden Straßen von München dem Könige sein siegreiches Heer zugeführt hat – jetzt geleitete er den Todten zum Heere der Todten.

Wie aber die Gruft den einstigen König aufgenommen hat und Wagen auf Wagen das Trauergeleit wieder von dannen führt, sieht das immer noch stumm die Kirche umstehende Volk eine schwarze Gewitterwolke über dem hohen Kirchendach. Und kaum sind die Trauergesänge verstummt, so öffnet sich die Wetterwolke; eine ganze Feuergarbe von Blitzen zuckt über Kirche und Stadt hin, und ein einziger grausiger Krach erschüttert die lautlose Menge. – Damit ist das Verhängniß eines Königs zu Ende.


  1. Nach einer alten Verordnung gehen beim Begräbnisse eines Mitgliedes des bayerischen Königshauses 24 Männer in der Gugel mit dem königl. Wappen und doppelt brennenden weißen Kerzen, ein fünfundzwanzigster aber mit dem Bildnisse des h. Georg vor dem Sarge. Die Gugel bedeutet eine Kapuzentracht, welche nur Oeffnungen für die Augen und die Lichter enthält. Anfangs wurde sie von Mönchen getragen, zuletzt war sie bei Processionen, Bitt- und Bußgängen in Gebrauch.




[488]

Aufbahrung der Leiche König Ludwig’s II. in der alten Hofkapelle zu München.
Originalzeichnung von H. Albrecht.

[489]
Was will das werden?
(Fortsetzung.)
3.

wir hatten ein paar Dutzend Schritte schweigend neben einander zurückgelegt, als Christine meinen Arm wieder loslies;: dies sei das Haus, in welchem sie den Hut abzugeben habe, ob ich ein paar Minuten warten wolle? Sie verschwand in dem Hause, kam nach kurzer Zeit zurück und nahm wieder meinen Arm. Ich machte die Bemerkung, die scherzhaft sein sollte (trotzdem mir nichts weniger als scherzhaft zu Muthe war), daß eine so elegante Dame mit mir keinen Staat machen könnte. Sie erwiderte darauf nichts, sondern sagte nach einer kurzen Weile:

„Eben erst habe ich mit ihm über Sie gesprochen.“

Wir hatten uns, seitdem wir uns in Berlin wieder begegnet, immer Du genannt wie in unseren Jugendjahren. Daß sie das Du plötzlich in ein Sie verwandelte, war mir nur ein Zeichen, wie schwer ihr Gemüth belastet war. Mit wem sie über mich gesprochen, brauchte ich nicht zu fragen; offenbar nahm sie an, daß ich sie vorhin mit ihm gesehen habe.

„Und weiß er, was ich treibe? wo ich wohne?“ fragte ich.

„Ja,“ sagte sie; „ich habe es ihm gesagt – heute – eben erst.“

„Aber Du weißt, daß es mein dringender Wunsch war, hier in Berlin von meinen früheren Freunden und Bekannten unbehelligt leben zu können,“ sagte ich mit leisem Vorwurf.

Ich – ich hatte das vergessen. Ich habe Sie ja seit ein paar Wochen nicht gesehen – auch ihn nicht er ist verreist gewesen und muß morgen wieder fort. Er will sich an einer Universität – ich weiß nicht, wie es heißt -“

„Habilitiren?“

„Ja, so was. Er ist eigens um meinetwillen nur für heute hier; ich hatte ihn so dringend gebeten.“

Sie sagte das Alles in einer hastig nervösen Weise, die es mir bei dem Lärmen in der Straße schwer machte, sie zu verstehen. Dabei zitterte die Hand, die sie auf meinen Arm gelegt hatte. Das arme Mädchen, dem ich immer gut gewesen war, that mir von Herzen leid. Wir befanden uns in der Nähe ihrer elterlichen Wohnung; ich fragte, ob ich sie nicht dahin geleiten solle? Sie erwiderte: „Das hat noch Zeit; es ist ein so großes Glück, daß ich Sie getroffen habe.“

Sie wollte in Weinen ausbrechen, beherrschte sich aber doch und sagte: „Nicht wahr, Sie sind so grausam nicht gegen mich, wie die Anderen? Sie sind ja auch ein ganz anderer Mensch.“

„Jedenfalls Einer, der es von Herzen gut mit Dir meint,“ erwiderte ich; „aber weßhalb nennst Du es ein Glück, daß Du mich getroffen? Kann ich etwas für Dich thun? und was ist es?“

Wir waren in eine stillere Querstraße gebogen, auch hatte der Regen fast aufgehört; man konnte ohne größere Anstrengung sprechen und hören. Da sie auf meine letzte Frage nicht antwortete, wiederholte ich dieselbe. Sie müsse einsehen, daß, wenn sie, wie es doch scheine, Hilfe von mir erwarte, die erste Bedingung sei, daß sie mir einen klaren Einblick in die Verhältnisse gewähre.

„Also noch einmal,“ schloß ich, „was kann ich thun?“

„Reden Sie mit ihm!“ sagte sie schnell.

Ich hatte es erwartet, weil ich wußte, daß ich mich gerade dazu am allerschwersten würde entschließen können. Und weil ich fühlte, daß ich würde Ja sagen müssen, und es doch nicht sagen mochte, sagte ich statt dessen: „Warum nennst Du mich heute Sie? Da muß ich ja auch wohl Sie sagen?“

„Das ist etwas Anderes,“ murmelte sie, „ich und – wollen Sie – willst Du mit ihm reden?“

„Was versprichst Du Dir davon?“ fragte ich zurück.

„Er hält so große Stücke auf Sie,“ erwiderte sie hastig; „er hat von Anfang an und immer wieder von Ihnen gesprochen, und daß Sie – ach, verzeih’ mir, ich kann wirklich nicht mehr Du sagen – der einzige Freund seien, den er in seinem Leben gehabt habe. Und als ich ihm jetzt – ich schwöre es, es war das erste Mal -– aber ich mußte es ja, wenn ich wollte, daß Sie mit ihn: über mich sprächen – als ich ihm sagte, daß Sie schon seit ein Paar Monaten hier in Berlin seien, war er ganz außer sich und schalt mich fürchterlich, weil ich es ihm nicht schon früher gesagt. Und dann hat er gefragt, wo Sie wohnten und was Sie trieben; und ich habe es ihm gesagt – wie konnte ich anders ? Und da hat er so gelacht! – die Leute blieben ordentlich stehen – er konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Und dann hat er gesagt –“

„Nun?“

„Ich glaube, ich sollte es Ihnen nicht wieder sagen,“ fuhr sie zögernd fort. „Aber jetzt ist ja Alles eins, und wenn es wirklich der Fall ist, wird er ja um so eher auf Sie hören.“

„Wenn was wirklich der Fall ist?“

„Daß Sie ein vornehmer Herr sind, viel vornehmer, als er selbst, und daß Sie nur zum Spaß Tischler sind – wie auf einem Maskenball.“

„Ein sonderbarer Maskenball!“ rief ich lachend, meine unbehandschuhte, arbeitsschwielige, in diesem Augenblicke noch dazu mit Oelfarbe betupfte Hand vorstreckend.

Aber mir war keineswegs lächerlich zu Muthe. Wie um Alles in der Welt kam Schlagododro zu einer Kunde, welche geheim zu halten doch gewiß im Interesse aller Betheiligten lag?

„Das beweist nichts,“ sagte sie eifrig; „Sie werden nie Handwerkerhände bekommen, und Wenn Sie hundert Jahre arbeiten. Ich habe es immer gedacht, daß Sie etwas Anderes sein müßten, als wir. Und ganz dasselbe sagt Ul – Herr von Vogtriz; und da stand es bei mir fest, daß Sie und nur Sie allein mir helfen können.“

„Aber was wolltest Du gerade jetzt von ihm?“ fragte ich ausweichend.

„Sie dringen Alle so in mich,“ sagte sie, die Augen niederschlagend; „es ist Ihr Wirth, Herr Kunze. Er hat mich ein paarmal gesehen, wenn ich Ihre Verwandten – aber es sind ja gar nicht Ihre Verwandten – besuchte; ich habe auch wohl ein paar Worte mit ihm gesprochen – im Vorübergehen. Und vorgestern ist er gekommen und hat um mich angehalten. Ich war glücklicherweise auf Arbeit; aber sie haben natürlich gleich Ja gesagt. Er will Vater so viel Kapital geben, daß er die große Posthalterei hier, die zu Neujahr frei wird, übernehmen kann. Dann soll auch gleich die Hochzeit sein.“

„Und Du?“ fragte ich zögernd.

„Ich gehe lieber ins Wasser,“ rief sie, in Schluchzen ausbrechend.

„Und was sagt –“

Ich brach jäh ab; ich konnte mir ja denken, was „er“ gesagt hatte.

Sie weinte jetzt still leidenschaftlich vor sich hin, um dann in Tönen, die mir durchs Herz schnitten, zu rufen: „Wie kann er mir das zumuthen, wenn er mich doch liebt! Er hat es mir ja eben noch gesagt!“

„Ich glaube gern, daß er es thut,“ erwiderte ich; „Du bist ein schönes und liebenswürdiges Mädchen, warum sollte er Dich nicht lieben? Aber, gutes Kind, ich würde Dir einen üblen Dienst erweisen, wenn ich Dich in Hoffnungen bestärken wollte, die nie in Erfüllung gehen: Herr von Vogtriz wird Dich nicht heirathen, auch nicht auf mein Bitten und Drängen, was also in diesem Falle ganz nutzlos sein würde. Du mußt mit ihm brechen, selbst wenn Du den Antrag des Herrn Kunze zurückwiesest?’

„Und Sie, Sie rathen mir, wie die Andern, daß ich ihn heirathe?“ rief sie. „Ach, thun Sie es doch nicht, wenn auch Herr Kunze sagt, ich solle Sie nur fragen: Sie würden mir gewiß zureden!“

Mir ging plötzlich ein häßliches Licht auf über das Wohlwollen, welches mir der Holzhändler in, wie ich glaubte, uneigennützigster Weise neuerdings zugewandt. Aber das gehörte vorläufig nicht hierher. So sagte ich denn:

„Ich rathe Dir nur, Dir völlig klar zu machen, daß Du nun und nimmer – es mag geschehen, was da will – Frau von Vogtriz wirst. Vielleicht kommst Du dann doch zu einem anderen Entschluß.“

„Nie!“ rief sie. „Dann werde ich Schauspielerin.“

„Um Himmelswillen!“

„Ganz sicher. Ich habe mir Alles überlegt.“ [490] Sie hatte sich wieder in meinen Arm gehängt, den sie vorhin entrüstet hatte fahren lassen, und nun kam der Plan, den sie sich überlegt haben wollte. Sie habe immer geglaubt, daß sie Talent für die Bühne habe – ich habe ihr das früher auch gesagt, wenn wir zusammen gespielt und Märchen und Charaden aufgeführt und dargestellt hätten. Sie sei jetzt oft im Theater gewesen mit Herrn von Vogtriz; er habe ebenfalls gemeint: was die da auf der Bühne könnten, das könnte sie zehnmal. Und ich müsse ihr dabei helfen: ich habe gewiß noch gute Freunde und Freundinnen unter den Schauspielern. Und dann wolle sie eine große Künstlerin werden, wie die Wolter, die sie neulich erst gesehen. Und einen Grafen oder Prinzen heirathen, wie so viele Künstlerinnen schon gethan hätten – nicht Herrn von Vogtriz – nein, einen Andern – ihm zur Strafe, um sich an ihm zu rächen. Er würde außer sich sein; denn, wenn er auch heute noch so schlecht gegen sie gewesen sei, sie wisse ja doch, daß er sie liebe.

Das arme Kind! Der tolle Plan war also nur der Umweg zu dem einzig ersehnten Ziele, und das sie doch für ein erreichbares hielt – trotz alledem. Ich durfte sie nicht ermuthigen, aber ebenso wenig die Arme, Tiefgekränkte, Verzweifelnde der letzten Hoffnung berauben. So sagte ich denn, im Falle sie wirklich auf ihrem Vorhaben bestände, meinen Beistand zu, dessen Möglichkeit davon abhänge, daß ich meinen früheren Kollegen, einen Herrn Lamarque, der jetzt, so viel ich wisse, am X-Theater spiele, für sie interessire. Sie war bei der Nennung des Namens wie elektrisirt. Wenn Herr Lamarque mein Freund sei, gebe es keine Schwierigkeit mehr. Sie habe ihn oft gesehen; sie sei entzückt von ihm, wie alle Welt. Jedermann halte ihn für einen der besten Schauspieler der Gegenwart, für den das X-Theater viel zu klein sei; ob ich denn gar keine Zeitungen lese?

Ich entschuldigte mich: ich läse jetzt grundsätzlich keine Theaterberichte. Gleichviel: sie dürfe auf mich zählen unter der Bedingung, daß sie die Zwischenzeit benutze, um über Alles, wovon wir heute Abend gesprochen, reiflicher, leidenschaftsloser, als sie bis jetzt im Stande gewesen, nachzudenken und mir in einer ruhigeren Stunde, zu der ich mich für sie frei zu machen versuchen würde, den Beweis davon zu liefern.

Wir hatten uns zuletzt immer in unmittelbarer Nähe ihrer elterlichen Wohnung bewegt, an deren Thür ich jetzt von ihr Abschied nahm. Sie verschwand, nachdem sie mich auf dem Flur noch schnell in die Arme geschlossen und mir einen heißen Kuß auf die Lippen gedrückt, im Dunkel der nach oben führenden steilen Treppe; ich trat wieder auf die Gasse, meinen Weg nach der socialdemokratischen Versammlung fortzusetzen, aus dem mich die wunderliche Begegnung nicht eigentlich gebracht hatte.

4.

Nicht aus dem Wege und wahrlich auch nicht aus der Stimmung, die man wohl zu solchen Versammlungen mitbringen muß. War dies, was ich da eben durchlebt, nicht auch wieder ein Stück des socialen Jammers, von dem die Welt, wie sie ging und stand, erfüllt war? Ein von Haus aus edelgesinnter, großherziger Mensch, wie Ulrich Vogtriz, der ein Mädchen, das er – ich zweifelte nicht daran – liebte, dennoch zu heirathen rundweg verweigerte, weil er es mit seinen Begriffen von Standesehre nicht vereinigen konnte. Ein Mädchen wiederum, so schön, so begehrenswerth und auch, trotz ihrer – wollen sie denn nicht Alle gefallen? – ein gutes Mädchen, das dem Moloch dieser Standesehre geopfert wird. Um der Noth ihrer Familie weiter geopfert, zur Ehe gezwungen zu werden mit einem, wie ich jetzt fürchten mußte, sehr wenig achtbaren und ganz gewiß gründlich unliebenswürdigen Manne. Oder, daran verzweifelnd, sich ehrbar durchs Leben zu bringen, in eine Laufbahn gedrängt wurde, in der ihrer, die ein wirkliches Talent nicht einzusetzen hatte, im Ausnahmefalle ein glänzendes und in dem sehr wahrscheinlichen das bare nackte Elend harrte. Elend also, was der schaudernde Blick sah, sobald man von dieser Welt der scheinbaren Ordnung und Sitte ein Stückchen nur der Oberfläche abstreifte, auf welcher das Auge der Zufriedenen, Satten haften bleibt, die nicht weiter sehen wollen oder können. Nein, guter Brinkmann, so einfach, wie du meinst, steht es mit der Rechnung des Lebens denn doch nicht. Oder aber, wenn die Dummheit alles Uebels Wurzel ist, so wäre erst zu untersuchen, wie tief man am Baume der Menschheit bis zu dieser faulen Wurzel hinabdringen kann; ob sie am Ende nicht doch noch verbesserungs– und heilungsfähig ist, auf daß der Baum reichere, labendere Früchte bringe, nicht so viel solche wie die, von denen ich mein junges Leben hindurch schon so manche gekostet – und jetzt eben wieder – Früchte, aschetrocken und todesbitter.

Aschetrocken und todesbitter – sie hatten Alle den Geschmack auf der Zunge, die Hunderte, von denen ich das große Lokal, in welches ich mich mit noch ein paar anderen Nachzüglern mühsam gedrängt, bis auf den letzten, möglicherweise benutzbaren Platz erfüllt fand. Sie standen auf Stühlen und Tischen; dennoch gelang es mir, einige Schritte weit vorzudringen, wo ich denn freilich in fürchterlicher Enge bleiben mußte und es nur meiner Länge verdankte, wenn ich über die Köpfe der Anderen von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Rednerbühne am andern Ende des Saales hatte, welche selbstverständlich abermals ein Tisch war.

Mein Nachbar theilte mir flüsternd mit, daß bereits zwei Redner, die er mir nannte, zur Tagesordnung: „Die Ursachen der heutigen Geschäftskrise“ gesprochen – ausgezeichnet! An dem, der jetzt das Wort habe, „scheine nicht viel zu sein“. Die Meinung mochte von der Mehrzahl der Anwesenden getheilt werden; es war eine Unruhe in der Versammlung, welche von Minute zu Minute wuchs und die ohnehin nicht starke Stimme des Redners oft völlig übertönte. Was ich dann zwischendurch verstand, wollte mir freilich so uneben nicht erscheinen. Der Mann suchte klar zu stellen, daß der Gründungsschwindel mit seinen Folgen allerdings die erste und vorzüglichste Veranlassung der momentanen Handelskalamität und der verhängnißvollen Stockungen auf dem Arbeitsmarkte sei; daß aber die Arbeiter selbst durch die unaufhörlichen Strikes, für welche sie den Moment schlecht wählten und welche sie in Folge dessen mit dem nöthigen Nachdruck nicht durchführen könnten, das Uebel nur vergrößerten. Die Strikes seien eine furchtbare Waffe in den Händen des Arbeiters, aber man müsse sie auch zu handhaben wissen; sonst kehre sich die Schneide gegen Den, der sie führe, und erleichtere dem schon überstarken Gegner den Sieg.

Der Redner, ein schon älterer Mann, dem es offenbar heiliger Ernst um die Sache war, für die er eintrat, und der sich durch die Zwischenrufe der Gegner und die im Saale wachsende Unruhe nicht aus der Fassung bringen ließ, wollte seine Sätze durch das Beispiel einer Strikebewegung erhärten, welche gerade jetzt in Brünn eingeleitet war und in unseren Kreisen viel von sich reden machte. Aber schon vermochte man nur noch Einzelnes, bald gar nichts mehr zu verstehen vor dem ohrenbetäubenden Lärme, der durch den Saal toste. Man stampfte mit den Füßen, man gestikulirte mit den geballten Fäusten; man pfiff, johlte, schrie, brüllte aus Leibeskräften. Vergebens daß der Vorsitzende eine Glocke schwang, die keinen Klöpfel zu haben schien; vergebens auch, daß der anwesende Polizeilieutenant neben den Vorsitzenden trat und vermuthlich die Versammlung mit Auflösung bedrohte, falls sie fortfahre, sich auf diese Weise selbst zwecklos zu machen.

Ich hatte das widerliche Schauspiel längst satt und war im Begriffe mich zu entfernen, als ganz plötzlich der ungeheure Lärm einer tiefen Stille wich, der alsbald ein donnerndes, nicht enden wollendes Bravo folgte.

Und dann wieder tiefe Stille über all den Hunderten, welche, die Hälse reckend, sich auf den Fußspitzen hoben, die Gesichter, aus denen die Augen glühten, nach der Rednerbühne gewandt.

Und nun eine Stimme, deren Heller, metallener Klang den weiten Raum bis in die fernste Ecke füllte und mir das Herz erbeben machte.

Konnte er es sein? Adalbert?

Als ob dies nicht der Ort, wo ich ihn wiederfinden mußte, ihn hätte suchen müssen, wenn ich ihn wiederfinden wollte! Er war, wie er jetzt zur Einleitung mit wenigen knappen Worten mittheilte, mehrere Wochen auf Reisen gewesen – im Interesse selbstverständlich der Sache, für die zu leben es sich überhaupt des Lebens verlohne und für die er auch heute zu zeugen gekommen sei.

Einige Enthusiasten schrieen hier Bravo, wurden aber sofort von allen Seiten zur Ruhe gezischt; man wollte sich kein Wort des Mannes entgehen lassen.

Nun trat er in sein Thema ein: den Nachweis, daß es thöricht sei, irgend eine besondere Erscheinung unseres socialen [491] Lebens, und läge die Schädlichkeit derselben noch so klar vor Augen und könne noch so deutlich nachgewiesen werden, im Sinne des Vorredners zur Ursache oder auch nur einer der Ursachen der augenblicklichen Kalamität zu machen; ja, daß man von einer solchen im eigentlichen Verstande gar nicht sprechen könne, nicht, weil ihre Existenz fraglich, sondern deßhalb, weil sie keine augenblickliche, vorübergehende, vielmehr eine bleibende sei, die genau so lange dauern werde wie die Gesammtheit der Zustände, aus denen sie mit der Nothwendigkeit der Folge zur Ursache hervorgehe. Sich an die besondere Erscheinungsform des AllgemeinÜbels, wie Überproduktion, Strikes oder dergleichen halten und vermeinen, durch die Abmilderung derselben etwas gewonnen zu haben, heiße den ärztlichen Pfuschern gleichen, welche der Krankheit beikommen zu können wähnen, wenn sie den Symptomen nur kräftig zu Leibe gehen. So verhalte es sich zum Beispiele mit dem modernen Militarismus.

Hier erhob sich der beaufsichtigende Beamte und verlangte, daß dem Redner das Wort entzogen werde, der nicht zur Sache spreche. Er werde keine Abweichung von der Tagesordnung dulden, am wenigsten Angriffe auf die Armee. Wenn Redner in der angefangenen Weise fortfahre, werde er die Versammlung auflösen.

Durch die Menge ging ein Brausen, wie von einem heranziehenden Sturme, das aber sofort wieder tiefer Stille wich beim ersten Tone der hellen stählernen Stimme von dem Rednertische.

„Wie?“ rief die Stimme, „habe ich denn gesagt, daß ich mit der bestehenden Staatsform nicht einverstanden bin? Will man mich hindern, die Großthaten unserer Armee zu feiern durch Aufzählen der Opfer, welche die nothwendige Bedingung und Voraussetzung jener Großthaten sind? Entferne ich mich von der Tagesordnung, wenn ich nachzuweisen suche und nachweisen werde, daß man die Ursachen unserer heutigen Geschäftskrise freilich zum Theil in jenen nothwendigen Opfern zu suchen hat, eben darum aber auch diese Geschäftskrise ein Nothwendiges ist, das man wie andere Nothwendigkeiten ertragen muß, so lange man den modernen Staat will, den nicht zu wollen ich noch mit keiner einzigen Silbe erklärt habe?“

Es war der grausamste Hohn – jedes Wort, das da ohne den leisesten Anflug von Ironie in dem ruhigsten, sachgemäßsten Tone gesprochen wurde. Der Beamte wußte das zweifellos so gut wie die Versammlung, durch die ein Rauschen des Einverständnisses ging; aber es mochte ihm die Geistesgegenwart und die Gewandtheit fehlen, um die geschickte Parade des Gegners auf der Stelle zu durchkreuzen, oder er wartete auf eine ihm passendere Gelegenheit, die schwerlich ausbleiben konnte – jedenfalls setzte er sich wieder, dem Redner die Freiheit lassend, bis auf Weiteres seine Gedanken zu entwickeln.

Und nun eine Verherrlichung der Thaten der Armee im Kriege, ihres wohlthätigen Wirkens im Frieden, indem sie das Reich, welches nur durch sie zu einem einigen geworden sei, durch ihr bloßes Dasein nach außen schütze, ihm die Möglichkeit gewähre, sich innerlich zu entfalten, zu kräftigen – eine Verherrlichung, so schwunghaft, so scheinbar jeden Widerspruch von vorn herein entkräftend, so ganz aus dem Pathos eines echten Soldatenherzens heraus, daß die Versammlung denn doch in ihrer Mehrzahl offenbar stutzig wurde und es der ganzen Autorität: Derer, welche ihren Mann kannten, bedurfte, das wachsende Mißvergnügen der Kurzsichtigen nicht zum lärmenden Ausbruche kommen zu lassen.

Und nun im Handumdrehen die andere Seite der Medaille.

Zuerst in einzelnen Blitzen, wie von einem Metallschild, der hin– und herbewegt wird: die paar Dutzend Opfer, welche die Uebungs – und Manövermärsche gerade diesen Sommer erfordert hätten! – ob man denn glaube, daß man eine leistungsfähige Truppe sich von dem Tanzboden holen könne? – die berüchtigten Säbelaffairen zwischen harmlosen, unbewaffneten Civilisten und ebenso harmlosen, allerdings bewaffneten Soldaten! – ob man denn die Stirn habe, dem Soldaten zuzumuthen, daß er seine Waffe, seinen Stolz und seine Zier, zu Hause lasse, wenn er zu Biere gehe? – Und so vom Kleinen zum Großen, bis aus dem Metallspiegel Zug um Zug ein entsetzliches, schlangenumringeltes Gorgohaupt herauswuchs zum Entzücken der Hörer, durch deren athemlose Massen nur von Zeit zu Zeit frenetischer Beifall fieberhaft zuckte, zur Verzweiflung des Beamten, der gegen eine – scheinbar streng sachgemäße, in jedem Punkte sich auf officielle Zahlen und Daten stützende Darstellung keinen begründeten Widerspruch fand, bis er endlich bei einer Wendung, die harmloser war, als hundert vorhergegangene, zu der längst beschlossenen Auflösung schritt.

Und nun die herkömmlichen wüsten Scenen, das Schreien und Toben, das Drängen und Schieben, Gedrängt– und Geschobenwerden einer hundertköpfigen, fanatisirten Menge, die widerwillig ein Lokal verläßt; dazu schließlich von den aufs Aeußerste gereizten Beamten mit Gewalt gezwungen wird – wüste Scenen drinnen, denen andere noch wüstere auf der Gasse folgen, wo sich beim Flackerschein der Laternen Weiber und Buben in den Haufen der Tumultuanten mischen, Schutzleute ihre Rosse in die dunklen Massen spornen, irgend Einen herauszugreifen, der vielleicht nicht der schlimmste, vielleicht nur widerwillig in die Masse gerathen ist, bis ihn, der sich aus dem Chaos gerettet hat, in den vom Schauplatz entfernteren Straßen wieder das hergebrachte allabendliche Treiben der Großstadt empfängt.

5.

Ich aber eilte durch diese Straßen in einer Aufregung, die Wohl erklärlich ist, wenn man bedenkt, in welcher Weltabgeschiedenheit, meiner selbst vergessend, einzig der nächsten Aufgabe lebend, ich alle diese Wochen verbracht hatte, um mich auf einmal in die große Arena geschleudert zu sehen, in welcher die Massenkämpfe der Menschheit ausgefochten werden. Denn dies war es, was sich mir zuerst unabweisbar aufdrängte: daß ich, jedem sonstigen Wunsch meines Herzens, jeder noch so tief gewurzelten Neigung meines Geistes, jedem liebsten Spiel meiner Phantasie schroff entsagend, hierher gekommen war, mich, wie Professor von Hunnius es gewollt, als Soldat in diesen Kampf zu stürzen, und – die große Sache doch wieder klein aufgefaßt hatte, als Privatmensch, der, mag der Donner der nahen Schlacht noch so laut grollen, Zeit und Muße findet, seines Gärtchens zu warten. Was war ich neben Adalbert! Ich hatte ihm ja das Uebergewicht des kräftigeren, umfassenderen Geistes, der glänzenderen Begabung von jeher neidlos zugestanden. Diese Vorzüge fielen ja zweifellos bei seiner Leistung heute Abend schwer ins Gewicht; aber sie erklärten doch keineswegs völlig die gewaltige Wirkung seiner Rede; vor Allem nicht den treuherzigen Glauben, den seine Zuhörer ihm entgegenbrachten und der sie selbst dann nicht völlig verließ, wenn sie ihn, wie es heute mehr als einmal der Fall gewesen, ganz offenbar nicht verstanden. Sie glaubten eben an ihn und durften, mußten an ihn glauben, weil er an sich – nein! nicht an sich, weil er an seine Sache, an die Möglichkeit glaubte der endlichen Befreiung des Menschengeschlechtes aus den Banden knechtischer Gesinnung, in die – es sich selber schlägt.

Das war das Zeichen, unter dem er stritt und siegte. Das war die Quelle, aus der er die Hammerkraft schöpfte, mit der jedes seiner Worte diese Bande traf, und von denen mir noch so viele im Ohre klangen. Großer Gott, was war ich neben Diesem!

Ein Knabe neben einem Manne! Einer, der nie den Muth haben würde, auf seine Ziele loszuschreiten, ohne nach rechts oder links zu blicken; der immer ängstlich erwägen würde, ob die Mittel zum Zweck auch zweifellos loyal seien, nicht das eine oder das andere irgend eine zarte Seele beleidigen dürfte! Himmel, mit welchen Trugschlüssen, mit welchen Sophismen hatte der Mann heute operirt, wenn er sah – und sein Falkenauge irrte sich nie – daß er so schneller und sicherer seine Hörer dahin bringen könnte, wohin er sie haben wollte!

Ein geborner Heerführer, zu dessen Fahne sie in hellen Haufen strömen, und der es versteht, aus Gesindel Soldaten zu machen. Er brauchte die Kunst! Was für Menschen waren es gewesen, die meisten seiner Zuhörer! Ich wollte sie nicht schelten; ich wußte, daß sie nicht anders sein konnten, aufgewachsen, wie sie es waren, in materiellem Elend, ohne geistige und sittliche Pflege, von früher Jugend an keuchend unter dem Joch einer unerbittlichen seelenlosen, seelenmörderischen Arbeit – aber würden sie jemals anders werden? er und seines Gleichen je das Joch brechen, die Sklaven der Arbeit zu freien Menschen machen?

Oder sah die Einfalt des braven Droschkenkutschers doch weiter als die Genialität des kühnen Demagogen? Würde je für ihn

[492]

Leichenzug König Ludwig’s II. am Karlsthor in München.
Originalzeichnung von Fritz Bergen, Zinkographie von C. Angerer u. Göschl in Wien.

[493] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [494] die fürchterliche Stunde kommen, wo er sich mit dem Weisen von Ferney sagen müßte: es ist Alles vergebens, und du verläßt die Welt so dumm und so schlecht, wie du sie gefunden? Wahrlich, wie ich ihn kenne, diese Stunde, sollte sie ihm kommen, es würde seine letzte sein, denn er würde sie zu seiner letzten machen.

Und wie unn so meine Gedanken bei ihm weilten, dem ich die höchsten Weihestunden meiner Jünglingsjahre verdankte, erfaßte mich jählings eine unendliche Sehnsucht nach ihm. Ich konnte nicht begreifen, wie ich es über mich gebracht hatte, seinen Namen hundertmal im Adreßbuche zu lesen und ihn nicht einmal aufzusuchen; wie ich vorhin mich begnügt hatte, seine geistvollen Züge mir aus der Ferne durch den Dämmer der schwülen tabaksraucherfüllten Luft des weiten Raumes mühsam zusammen zu suchen, nicht seiner am Ausgang des Saales geharrt hatte, ihm die Hand zu drücken. Die schlanke kühle Hand! Er mochte sie sich ja nie drücken lassen, auch nicht von mir, den er doch in seiner Weise geliebt hatte! Nein, es war besser so. Folgen konnte ich ihm auf seinem steilen Pfade doch nicht; so mochten unsere Wege getrennt bleiben, wie ich wünschte und hoffte, daß sich der meine und der Schlagododro’s nie kreuzen möchten. War ich kein kühner Steiger, wie der eine meiner alten Freunde – ich wollte gern des adligen Muthes entbehren, mit dem sich der andere in die Tiefe stürzte. Ich wollte meinen ebenen Weg, wie ich ihn mir vorgezeichnet, so weiter gehen, ohne Tausende vielleicht glücklich, aber auch ohne eine Menschenseele so unglücklich zu machen, wie ich die arme Christine vor ein paar Stunden gesehen hatte.

Vor ein paar Stunden? Ja, war denn das Alles im kurzen Laufe eines einzigen Abends vor sich gegangen? hatten ein Paar Stunden genügt, die Vergangenheit, welche ich für immer begraben wähnte, zur Gegenwart zu machen, die mit gieriger Hand in mein Leben greifen wollte? Dem Dienst, den Christine von mir heischte, durfte ich mich ja keinesfalls entziehen; mit einem dritten der sorgsam gemiedenen Freunde, mit Lamarque, mußte ich also sicher wieder anknüpfen, wenn sie sich nicht zu der Heirath mit dem alten Holzhändler entschloß. Und wer konnte wissen, wohin dieser eine erste Schritt aus dem engen Kreis meines kleinbürgerlichen Lebens mich führen würde?

Ich stand vor diesem Gedanken, der für mich etwas seltsam Erschreckendes hatte, jäh still – zum ersten Male in dem Laufschritt, mit welchem ich aus dem Versammlungslokal fürbaß geeilt war – um auch sofort die tiefste seelische und physische Erschöpfung zu empfinden. Seit einem frühen Mittag hatte ich keinen Bissen gegessen, keinen Trunk gethan – und es ging stark auf elf. Die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich befand mich freilich bereits in der Nähe unserer Wohnung; aber dort würde Alles längst zu Bett sein, und ich hatte gesagt, daß man mir das Abendbrot nicht aufzuheben brauche. Dicht vor mir hing eine rothe Laterne über einem jener Keller, in welchen „der gemeine Mann“ zu verkehren pflegt. Ich stieg die paar Stufen hinab und fand in einem zweiten stilleren Raum hinter dem noch sehr belebten „Billardzimmer“ in einer Ecke ein Plätzchen, wohin mir der verschlafene Kellnerjunge Butterbrot und ein Glas Bier brachte.

Ich setzte das zur Hälfte geleerte mit einem tiefen Athemzuge hin.

„Wohl bekomm’s!“ sagte eine Stimme hinter mir.

Ich wandte mich, nur um mich zu überzeugen, daß mich meine überreizten Nerven geäfft hatten, und fuhr von meinem Sitze auf.

„Sie irren sich nicht,“ sagte der Mann; „ich bin es wirklich.

Glaub’s gern, daß Sie den Weißfisch, wie er da vor Ihnen steht, schwer erkennen. Habe ich doch selbst Mühe gehabt, meinen gnädigen Herrn aus dem Kostüme herauszuschälen.“

Er lächelte; aber in seinen hellen Augen flackerte es unruhig. Er war offenbar in Zweifel, wie ich diese Begegnung nehmen würde, und wirklich war meine erste Regung, ihn anzuherrschen, daß er sich seines Weges trollen möge. Dann hatte eine zweite Regung die erste verdrängt: der Mann da vor mir, dessen früher sorgsam glatt rasirtes oder mit einem Künstlerschnurrbart kokett ausgestattetes Gesicht ein struppiger Vollbart bis fast in die Augen umstarrte; dessen langer, sonst so wohlgepflegter, wohlgelleideter Leib in einem bis zur Schäbigkeit dürftigen Anzuge stak – er war zweifellos arm, vielleicht in Noth – ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihn von mir zu jagen.

Die hellen Augen hatten mir das Alles längst vom Gesichte abgelesen.

„Darf ich?“ sagte er, die Lehne eines zweiten Stuhles, der an dem Tischchen stand, berührend.

Ich nickte; er nahm Platz. Die Augen waren jetzt auf mein Butterbrot gerichtet, und mit einem Blick, den ich früher vielleicht nicht verstanden hätte.

„Nehmen Sie!“ sagte ich.

Er griff hastig zu und murmelte, wie zur Entschuldigung seiner Gier: „Ich habe heute noch nichts gegessen.“

„Geniren Sie sich nicht,“ sagte ich; „ich lasse mehr kommen.“

Der Kellnerjunge brachte das Bestellte. Er aß und trank, ohne aufzublicken, ohne, ein Wort zu sprechen, und mit jedem Bissen, den er hinunterschlang, jedem Schluck, den er that, schwand etwas von der Feindseligkeit, die ich anfangs gegen ihn empfunden.

Beruht doch die Heiligkeit der Gastfreundschaft zum guten Theil auf dem Lustgefühl des Wohlthuns, das selbst die grimme Kraft des Hasses wenigstens zur Zeit bändigt. Und dann, hatte ich auch volle Ursache, den Mann zu hassen, der schon meiner Mutter und später mir so viel des Leides bereitet – wäre mir ohne ihn so manche Stunde geworden, an die ich doch nur mit schmerzlichem Sehnen zurückdenken konnte?

Er hatte seinen Hunger gestillt, that noch einen kurzen Zug aus dem Glase, das ich ihm bereits zum zweiten Male hatte füllen lassen, und sagte, das lange Schweigen brechend: „Ich will es nur gestehen: ich stand da“ –er wies mit dem Daumen über die Schulter nach der Stadt zurück „während der ganzen Zeit in Ihrer Nähe und hätte Sie wohl ansprechen können; aber ich wagte es nicht. Bin Ihnen auch schon auf dem langen Wege gefolgt, bis ich Sie hier hineingehen sah und mir den Muth faßte. Verzeihen Sie meine Dreistigkeit! Aber wenn man Jemand, den man so –“

Er fuhr sich über die Augen und murmelte: „Gleichviel! Sie würden es mir ja doch nicht glauben.

Ich wollte auch nur sagen: wenn man Jemand, den man sich in Amerika verschollen, vielleicht todt dachte, nun leibhaftig vor sich sieht – noch dazu so – und es hätte Alles so anders, so ganz anders kommen können!“

„Lassen wir das,“ sagte ich mit Nachdruck. „Es hat im Gegentheil so kommen müssen, und ich bin zufrieden, daß es so gekommen ist – für mich. Daß ich Sie freilich dabei um Ihre Hoffnungen und Aussichten und, wie ich annehmen muß, ins Elend gebracht habe, thut mir leid. Ich meinte, ein Mann von solchen Gaben würde sich immer zu helfeu wissen.“

„Ja wohl,“ erwiderte er, „da helfe sich Einer, der sich zwischen zwei Stühle setzt! Mit dem Kammerherrn hatte ich es gründlich verschüttet; er hat mich nicht einmal angenommen, als ich es wagte, mich wieder bei ihm zu melden, nachdem der Mohr bei dem – nun, Sie wissen ja, bei wem – seinen Dienst gethan hatte und zum Teufel gehen konnte. Als ob es meine Schuld gewesen Wäre, daß er nicht die Kunst verstanden hatte, Sie zu halten; meine Schuld, daß Sie sich auf und davon machten; meine Schuld, daß all meine Mühe, meine – ich darf wohl sagen verzweifelten Anstrengungen, Ihrer wieder habhaft zu werden, Sie zurück zu bringen – lebend oder todt, lautete der Auftrag – vergeblich waren!“

„Zum Beispiel in Hamburg,“ schaltete ich, wider Willen lächelnd, ein.

„Ah!“ sagte er gedehnt. „Sie haben mich gesehen! Nun verstehe ich, weßhalb Sie nicht wieder in den Gasthof zurückgekehrt sind und lieber Ihre Sachen im Stich gelassen haben, um gleich an Bord gehen zu können. Das erfuhr ich freilich erst am folgenden Abend. Da war es zu spät, und die Jagd war aus.

Das Schiff – ,Cebe’ hieß es – war längst auf offener See, und bis nach Chile reichte selbst seine Macht nicht.“

„Und doch hätten Sie mich noch vier, ja acht Wochen später in Hamburg finden können,“ sagte ich. „Ueberhaupt bin ich gar nicht fortgekommen, weder damals, noch später.“

Er blickte mich mißtrauisch an und sagte: „Sie spielen mit mir und haben es doch gar nicht nöthig.

Lieber wollte ich mir diese Hand und den Kopf abhacken lassen, [495] ehe ich Sie an ihn verrathe – ich meine: irgend wie gegen Sie für ihn Partei nehme. Einmal und nie wieder!’

„Ich wüßte auch nicht, welchen Vortheil Sie sich dabei versprechen könnten,“ erwiderte ich trocken. „Sein Dank dürfte so gering sein, als der meine.“

„Der Ihre!“ rief er; „ich muß es glauben. Aber der seine! Ach, gnädiger Herr, Sie wissen, Sie ahnen ja nicht, wie lieb er Sie gehabt hat! Als Sie fortgelaufen waren – verzeihen Sie! – da hat er geschäumt wie ein angeschossener Eber und geweint wie ein Kind. Ja, bei Gott, geweint und geschluchzt vor diesen meinen Augen; ich hätt’ es nie für möglich gehalten. Und als ich zurückkam ohne Sie, da fehlte nicht viel, er hätte mir eine Kngel vor den Kopf geschossen. Und ,aus meinen Augen, Sie Lump, Sie' – nun, Sie kennen ihn ja. Ich hab’ ihm den Lump und die anderen Ehrentitel nicht vergessen. Und als vor einem Jahre Frau von Trümmnau es gemacht hatte wie Sie und dann in London sein sollte, und er sich nun doch des Mannes erinnerte, den er mit Schimpf und Schande fort und ins Elend gejagt, da habe ich ihm geantwortet: ,Ein Lump, Hoheit, eignet sich nicht zu einer so delikaten Mission. Da müssen Hoheit schon selber gehn' – Ja, und wenn die gnädige Frau hier in Berlin wäre und ich wüßte Straße und Nummer – ich bin nicht viel mehr als ein Bettler; aber eine Million könnte er mir bieten, auf die Folter könnte er mich legen, er kriegte keine Silbe aus mir heraus, der – verzeihen Sie: er hat mich zu schlecht behandelt!“

Der Mann saß da, an den Lippen nagend, mit nervösen Fingern auf die Tischplatte trommelnd, während die Augen auf mich stierten, als gelte der Haß, den sie sprühten, mir und nicht dem Anderen. Und wäre dieser Haß denn unberechtigt gewesen?

Mochte er auch aus völlig selbstischen Gründen jene ganze Intrigue damals eingefädelt und fortgeführt haben – er hatte immer seine ganze Existenz dafür aufs Spiel gesetzt und – das Spiel verloren.

Andere, hätte er für sie dasselbe gethan, wie für mich, würden es ihm hoch gedankt und reich gelohnt haben. Ich durfte den Undank nicht so weit treiben, ihm, nachdem er indirekt durch mich ruiuirt war, jede Theilnahme zu versagen. Und dann: es war mir zum ersten Male unwiderleglich zu Gemüthe geführt, was ich bis dahin hartnäckig von mir gewiesen: daß ich dem Herzog, als ich mich von ihm losriß, einen schweren Seelenschmerz bereitet; ich, der ich Niemand geflissentlich weh thun konnte, dessen größte Lust es war, Schmerzen zu lindern! Und dann, wie ich nun so da saß, den Kopf aufgestemmt, vor mir die Reste des kärglichen Abendbrotes auf dem unsauberen Tische, wollte die Erinnerung wiederkommen jener halkyonischen Tage, in denen ich von goldenen Tafeln gespeist hatte, auf Wolken dahingetragen wurde, wie die seligen Götter – „Mußte es denn sein?“

Ich zuckte zusammen und starrte dem Manne, der das aus meiner Seele herausgesprochen hatte, erschrocken in das bärtige Gesicht. Er fuhr, mich mit den hellen Augen fixirend, bedächtig fort:

„Und wenn es sein mußte – ich meine, wenn Sie in jenem Momente nicht anders handeln konnten – muß es denn so bleiben? Ich spreche, glauben Sie es mir, nicht für ihn, den ich hasse und dem ich jede Kränkung gönne; nur für Sie, an den ich mein Herz gehängt habe von der ersten Stunde, als ich Sie in Nonnendorf sah und auch gleich beschloß, daß Sie fortan mein Herr sein sollten, dem ich zu allen Ehren und allem Reichthum und aller Lust der Welt verhelfen wollte und um ein Haar verholfen hätte, ja, schon verholfen hatte, und den ich nun da vor mir sehe – ja, ich weiß nicht, was Sie jetzt sind; das aber weiß ich, so wah rich lebe: es kostet Sie nur ein einziges Wort, und Sie sind wieder, was Sie damals waren: Ein Herzogssohn und mein gütiger, gnädiger Herr.“

Er hatte meine Hände, die ich auf den Tisch hatte sinken lassen, ergriffen und wollte sie an seine Lippen ziehen. Ich stieß den Versucher mit einer Heftigkeit zurück, der ich mich im nächsten Augenblick schämte. Wenn ich meiner selbst sicher war, was brauchte ich heftig zu werden?

„Sie fragen, was ich jetzt bin,“ erwiderte ich; „Sie sollen es morgen erfahren, wenn Sie mich besuchen wollen, worum ich Sie bitte. Jetzt aber sagen Sie mir erst, wovon, wie Sie leben, damit ich eher weiß und bis morgen überlege, wie ich Ihnen helfen kann.“

Der Mann blickte grollend vor sich nieder.

„Wie ich lebe?“ sagte er dumpf, „nun, wie ein Hund. Wovon ich lebe? nun, wovon die Hunde leben, die man auf die Straße gejagt hat, bevor sie der Schinder abfängt. Ich habe es auf alle Weise versucht, mich ehrlich durch die Welt zu bringen; es will mir nichts gelingen. Sie wissen ja: was Rechtes habe ich nicht gelernt und verstehe ich nicht. Als Kammerdiener nimmt mich keiner ohne Empfehlungen, die ich nicht habe; man läßt mich auch in dem Anzug schon gar nicht mehr vor. Hab’s auch mit Komödienspiel versucht – aber sobald ich auf den Brettern stehe, stolpere ich über meine eigenen Beine und die Leute pfeifen mich aus. So lebe ich denn von der Hand in den Mund, heute von Abschreiben, morgen von Teppichklopfen – was weiß ich! Und das Schlimmste ist, daß ich in all dem Elend dick und stark bleibe, als fräße ich mich aus der fettesten Herrenküche täglich dreimal dudelsatt. So mache ich sogar als Bettler Fiasko!“

„Sie sollen nicht betteln gehen,“ sagte ich, „so lange ich ein Stück Brot mit Ihnen zu theilen habe. Aber freilich, Sie müssen auch arbeiten wollen als ein ehrlicher Mann. Von dem Allen morgen. Für heute Abend –“

Und ich gab ihm das wenige Geld, das ich bei mir hatte.

Er wollte es anfangs nicht nehmen, that es dann aber doch. Ich nannte ihm meine Wohnung und schärfte ihm noch einmal ein, daß er mich morgen zu einer bestimmten Stunde aufsuchen solle.

Wir waren die Letzten im Lokal gewesen; der brummige Wirth, der bereits alle Gasflammen gelöscht hatte, außer der, unter welcher wir gesessen, geleitete uns hinaus. Wir standen auf der dunkeln menschenleeren Gasse. Ich reichte Weißfisch die Hand; er wandte sich der Stadt zu; ich schlug den Weg nach meiner Wohnung ein, körperlich tief ermüdet, in dem aufgeregten Geist all die sonderbaren Ereignisse wälzend, die mir dieser Tag gebracht hatte, der erste, an welchem ich das stille arbeitsfrohe Heim, das ich mir gegründet, verlassen, um sofort von dem Strudel des Lebens erfaßt zu werden. Aber ich tröstete mich der Hoffnung, daß mich der Strudel nicht fortreißen, das Leben nicht mehr von mir haben solle, als ich ihm gewähren könne, ohne mich selbst preiszugeben. Und entwarf schon meinen Plan, wie ich mich zu dem Zweck zu verhalten habe, uneingedenk des mahnenden Dichterwortes:

„Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe,
Die der Mensch, der flüchtige Sohn der Stunde,
Aufbaut auf dem betrüglichen Grunde?“

Dem betrüglichen Grunde fürwahr! Aber das ist ja der Fluch und zugleich der Stolz der Ehrlichkeit, daß sie dem Betrug gegenüber immer wieder dumm ist, und den Betrüger nicht erkennt trotz der Plumpheit der Maske, hinter der er sein Gräuelantlitz birgt.

(Fortsetzung folgt.)




Eine Razzia auf Flußpiraten.

Scene aus dem New-Yorker Leben bei Nacht. Von Hermann Haardt.

Es mögen wohl zwölf Jahre her sein, als ich auf meiner Rückreise von Kalifornien nach Europa nach New-York gelangte, wo ich einen alten Freund hatte, den ich besuchen wollte. Durch Mr. Stevens veranlaßt, bewarb ich mich um die Stelle eines Reporters bei der großen Zeitung „New-York Herald“, dessen Begründer, der alte James Gordon Bennett, damals noch lebte. Auf meine Bitte wnrde mir die Stelle eines Reporters für den Hafen übertragen, und somit gab ich meine Idee, nach Europa zurückzukehren, vorläufig auf.

Als Hafenreporter hatte ich auch das Kommando der „Emma“, einer Dampfjacht des „Herald“, welche oft zwei- bis dreihundert Seemeilen hinaus auf den Ocean fuhr, mir um die letzten europäischen Nachrichten um wenige Stunden früher zur Stadt bringen zu können, als es den Oceandampfern möglich war.

Der Hafenreporter hatte in dem großartigen Organismus des Weltblattes eigentlich das dankbarste Amt, wurde auch am besten von allen Reportern honorirt, denn während bei den übrigen Reportern das Honorar [496] für eine gedruckte Spalte zehn Dollars betrug, erhielt der Hafenreporter für denselben Raum nicht nur das Doppelte, sondern es wurden ihm auch Meilengelder für die mit der „Emma“ zurückgelegten Strecken bezahlt. Allerdings durfte ihn auch kein Wetter abschrecken – er mußte, mit einem Worte, ein guter Seemann sein.

Ich bekleidete diese Stelle schon einige Monate, als ich eines Tages zu Herrn Bennett beschieden wurde. Da ich meine Aufträge sonst immer vom City Editor oder Lokalredakteur Mr. Stevens erhielt, so war ich nicht wenig erstaunt, vor unseren obersten Chef, dessen Zeit immer beschränkt war, gerufen zu werden.

Als ich in das Arbeitszimmer des Matadors der amerikanischen Journalistik trat, hatte Mr. Bennett gerade einen Brief geöffnet, den ich an Umschlag, Siegel und verschiedenen Aeußerlichkeiten als von einer Behörde kommend erkannte. Ohne weitere Vorrede kam er denn auch auf den Gegenstand zu sprechen, weßhalb er mich hatte rufen lassen.

„Lesen Sie diesen Brief, Mr. H.“

Ich las den mir gereichten Brief, der vom Superintendenten der Detektivpolizei, Kapitän Kelso, war. Kapitän Kelso theilte dem Herrn Bennett mit, daß die Diebereien auf den im East River liegenden Schiffen seit einiger Zeit sehr überhand genommen hätten und daß die Polizei beschlossen habe, eine scharfe Streifung vorzunehmen. Wenn sich Herr Bennett dafür interessire und einen detaillirten Artikel über die Razzia in seinem Blatte erscheinen lassen wolle, so möge er einen Reporter zu Kapitän Kelso senden.

Als ich meinem Chef dieses Schreiben zurückgab, fragte er: „Wo liegt die ,Emma’?“

„Am Pier Nr. 9 im North River, Sir.“

All right! Suchen Sie die Jacht heute noch in das Dock auf Governor’s Island zu bringen, und stellen Sie sich und Ihre Mannschaft nebst dem Boote dem Kapitän Kelso für die nächste Nacht zur Verfügung. Hier diese Visitenkarte wird Sie bei der Polizei legitimiren. Sagen Sie Mr. Stevens, dem Lokalredakteur, er solle für Ihren Bericht zwei Spalten des morgigen Blattes reserviren. Sobald als möglich, spätestens bis drei Uhr Morgens, liefern Sie Ihren Bericht ab. Guten Morgen.“

Mit Mr. Bennett’s Visitenkarte versehen, auf welcher zwei Zeilen geschrieben waren, begab ich mich in das Hauptquartier der Polizei nach Mulberry Street und wurde sofort zu Kapitän Kelso geführt, der mir mit den Worten die Hand reichte: „Ich habe Sie erwartet. Wenn es Ihnen recht ist, so gehen wir sofort an Bord der ,Emma’.“

Eine Droschke brachte uns bald dorthin. Erst als wir Beide in der geräumigen Reporterkajütte Platz genommen und ich den wachthabenden der Schreiber, deren immer vier oder fünf zum Dienst auf der Jacht bestimmt waren, unter irgend einem Vorwande entfernt hatte, enthüllte Kapitän Kelso seinen Plan: „Sie nehmen die Jacht hinüber nach Governor’s Island, wie Ihnen Herr Bennett gesagt hat. Bleiben Sie dort bis um neun Uhr Abends, dann dampfen Sie den East River hinauf, bis Sie gegenüber von Roosevelt Street sind. Hier verlöschen Sie alle Lichter an Bord und bleiben in der Nähe des dort ankernden französischen Dreimasters. Wenn Sie in der Nähe Signale hören, die in drei rasch auf einander folgenden Pfiffen bestehen werden, so lassen Sie die elektrische Batterie spielen, damit Ihr an der Flaggenstange befindliches elektrisches Licht die ganze Gegend erleuchtet. Ich komme dann selbst zu Ihnen an Bord und werde das Weitere veranlassen.“

„Haben Sie Nachrichten,“ fragte ich, „ob es diese Nacht dem Franzosen gelten soll? Der Kapitän des Schiffes ist ein alter Schulkamerad von mir und hat seine junge Frau an Bord. Wenn es möglich wäre, der kleinen Frau einen Schrecken zu ersparen, so möchte ich –“

„Alles verrathen,“ unterbrach mich der Polizeibeamte scharf. „Das geht nicht, Sie dürfen heute nicht auf das Schiff gehen, denn Sie können überzeugt sein, daß dasselbe von den Werft-Ratten[1] scharf beobachtet wird. Wenn Sie Ihrem Freunde oder dessen Frau einige Unruhe ersparen wollen, so suchen Sie ihn am Lande zu sprechen. Sein Makler ist Mr. N. in Bowling Green.“

Kurze Zeit darauf verließ der Chef der Sicherheitspolizei die „Emma“; ich blieb zurück, um noch einige Anordnungen für die Nacht zu treffen, und eilte dann so schnell wie möglich zu dem mir bezeichneten Makler in der Hoffnung, Achille Deschamps daselbst anzutreffen. Da er jedoch den ganzen Vormittag noch nicht da gewesen war, so veranlaßte ich einen jungen Mann, der im Komptoir des Maklers arbeitete, an Bord der „Vigilante“ zu fahren und meinen Freund mit aller Beschleunigung in das Komptoir zu bescheiden.

In dem Privatzimmer des Maklers erklärte ich meinem Freunde Alles und veranlaßte ihn, Abends mit seiner Frau das Theater zu besuchen und über Nacht in einem Hotel zu bleiben. Dann kehrte er an Bord zurück, kleidete sich sorgfältig an und verließ zur Theaterzeit das Schiff in Begleituug seiner Frau in einem von vier Matrosen geruderten Boote. Das Boot legte am Fuße der Roosevelt Street an, wo ein Droschkenstandplatz war. Während er seiner Frau aus dem Boote half, sagte er zu seinen Leuten so laut, daß es etwa umherlungernde „Werft-Ratten“ hören konnten:

„Ich bleibe diese Nacht am Lande. Sollte sich während meiner Abwesenheit an Bord etwas ereignen, so mag der Obersteuermann mir morgen früh im Belvedere-Hotel Bericht erstatten. Hier sind seine Instruktionen.“

Damit reichte er dem einen Matrosen einen verschlossenen Brief, stieg dann in eine mittlerweile herbeigekommene Droschke und brachte seine Frau ins Belvedere-Hotel, dessen Besitzer zu unseren Freunden zählte. Dann kam er zurück, schiffte sich bei der Battery – gegenüber von Governor’s Island – auf einer kleinen Jolle ein und war bald an Bord der „Emma“.

Da es sich für die Polizei darum handelte, die Flußpiraten auf frischer That zu ertappen, so hatte Achille seinem Stellvertreter an Bord den Befehl gegeben, gegen zehn Uhr Abends – um welche Stunde man den Besuch der Diebe erwarten zu können glaubte – nur einen Mann als Wache auf Deck zu lassen, selbst aber mit fünf oder sechs ausgesuchten Leuten dicht beim Schiffe in einem Boote zu warten und sich ganz zur Verfügung von Kapitän Kelso zu halten.

Nachdem auf diese Weise Alles sorgfältig vorbereitet war, wartete ich den Abend ruhig ab und ließ mich gegen halb neun Uhr nach Governor’s Island hinübersetzen. Ich fand Achille im Pilotenhäuschen und den Maschinisten, der sich und die Jacht als „klar zum Dienste“ meldete, auf Deck. Leise verließen wir das schützende Dock und fuhren stromaufwärts, gerade als wenn wir von der See gekommen wären.

Da ich jedes Mißverständnis vermeiden wollte, so verfügte ich mich in das Pilotenhäuschen, welches, wie bei allen amerikanischen Dampfern, hoch über dem Verdeck angebracht war, und in welchem sich die Leitungsdrähte für unser elektrisches Licht befanden. Meine vier Matrosen hatten leichte Enterhaken an lange, dünne Taue gespleißt, und die dienstfreien Feuermänner, Heizer und Maschinisten lungerten auf Deck umher und hielten scharfe Ausschau. So vorbereitet, dampften wir an der „Vigilante“ vorbei, kehrten dann etwa 500 Meter weiter oben im Kielwasser eines stromabfahrenden Dampfers um und löschten alle Lichter aus. Dann blieben wir unter schwachem Dampfe etwa fünfzig Schritte oberhalb der „Vigilante“ liegen und warteten der Dinge, die da kommen sollten, mit unseren vorzüglichen Nachtgläsern die ganze Breite des East River beobachtend.

Die im Strome liegenden Schiffe schlugen vier Glasen (10 Uhr), als ein Boot von Brooklyn aus das Ufer verließ und sich der „Vigilante“ näherte. Zu gleicher Zeit bemerkte der Pilot, der neben mir stand und sich auf die Handhaben des jetzt in Ruhe befindlichen Steuerrades stützte, daß eine schwarze Masse zwischen zwei Piers der New-Yorker Seite hervorkam. Diese schwarze Masse konnte nur das Polizeiboot sein, welches am Morgen desselben Tages noch unten beim Eingänge in den Hafen, zwischen den beiden Forts Lafayette und Hamilton gelegen hatte und durch Kapitän Kelso heraufbeordert worden war. Da die Fluth stromauf ging, so genügte wenig Dampf, um die „Emma“ auf ihrem Posten festzuhalten, und wir übersahen genau Alles, was vorging.

Das Ruderboot, welches von Brooklyn aus gekommen war, legte geräuschlos an der Steuerbordseite der „Vigilante“ an, und im nächsten Moment hörten wir die Stimme des auf dem Verdeck der Letzteren befindlichen Matrosen: „Wer da?“

Darauf erfolgte das Geräusch, als wenn Männer mit schweren Stiefeln auf Holz sprängen, und ich wollte gerade dem Maschinisten den Befehl hinabtelegraphircn: „Full Steam ahead!“ (Mit vollem Dampf vorwärts!) als aus einem kleinen Boote, welches sich uns genähert hatte und angerufen worden war, der Zuruf ertönte:

„Ahoi, ,Emma’, seid Ihr fertig?“

Aye,aye, Sir!“ war meine Antwort.

Darauf sprang eine kräftige Gestalt auf Deck, kletterte rasch die Stufen zum Pilotenhäuschen hinauf und drehte den Zeiger des Maschinentelegraphen auf:

Full Steam ahead!“

Erst dann reichte mir die Gestalt die Hand, und ich erkannte Kapitän Kelso.

In weniger Zeit, als ich brauche, um es niederzuschreiben, lag die „Emma“ an der Backbordseite der „Vigilante“, während die eben erwähnte schwarze Masse um den Stern des Schiffes herumgefahren war und sich auf die Steuerbordseite legte. Als wir das Deck der „Vigilante“ auf einer Seite betraten, sprangen acht oder zehn Mann in Uniform, Jeder mit einer Blendlaterne versehen, von der anderen Seite herbei, und sieben oder acht Männer, die auf Deck angetroffen wurden, wurden sofort gebunden, während zwei andere über Bord sprangen.

In diesem Momente brachte der Pilot die elektrische Batterie ins Spiel, und augenblicklich war die ganze Umgebung der „Vigilante“ mit einem intensiven weißen Lichte überfluthet. Wir sahen das Boot mit dem Obersteuermann der „Vigilante“ auf einen Gegenstand, der im Wasser schwamm, Jagd machen und entdeckten gleich darauf noch einen zweiten Gegenstand. Es waren die beiden über Bord gesprungenen Flußdiebe, die bald in sicheren Händen waren.

Der auf Deck zurückgebliebene französische Matrose hatte einen Hieb über den Kopf bekommen und war bewußtlos niedergefallen, als wir das Schiff erreichten. Einige Tropfen Branntwein brachten ihn bald wieder zu sich, und er war ganz erstaunt, als er die „geschlossene Gesellschaft“ auf Deck liegend fand. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß Kapitän Deschamps ihm ein reichliches Schmerzensgeld gab.

Die neun Uebelthäter wurden auf die oft erwähnte schwarze Masse gebracht, die sich als der Polizeidampfer zu erkennen gab, und der Polizeirichter verwies die ganze gefangene Gesellschaft vor die Assisen, wo sie zu längeren Freiheitsstrafen in dem großen Staatsgefängniß zu Sing-Sing am Hudsonflusse verurtheilt wurden.

Mr. Stevens hatte schon gegen zwei Uhr Morgens seinen Bericht, der in der Frühe in 33 000 Exemplaren in die Hände des Publikums gelangte, Kapitän Kelso hatte eine der gefährlichsten Banden von „Werft-Ratten“ unschädlich gemacht, ich hatte 50 Dollars Honorar verdient, und der Frau meines Freundes war alle Unruhe erspart worden, da ihr Achille von der beabsichtigten Razzia kein Wort gesagt hatte.

  1. Wharf Rats nennt man in New-York die Flußdiebe von Profession, weil sie den ganzen Tag auf den Wharfs (Piers oder Quais) herumlungern, um irgend eine günstige Gelegenheit zu einem Raube auszuspähen.
    D. Verf.

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Ein Veteran der „Gartenlaube“.

Es war an einem Spätabend im Sommer des Jahres 1834, als ein junger Mann mit dem Ränzlein auf dem Rücken die Residenzstadt Koburg verließ und den Weg nach Jena einschlug. Der braunlockige Bursche mit hellen blauen Augen und offenen Gesichtszügen zählte kaum 21 Jahre und hatte schon eine kleine Vergangenheit hinter sich, obwohl er jetzt erst studiren wollte.

Die sonnige Zeit der Kinder- und Knabenjahre, wo noch das treue Mutterauge über dem Liebling wachte und der Vater von den Kriegsabenteuern, die er als Feldtrompeter in den Feldzügen 1814 und 1815 erlebt, dem lauschenden Sohne erzählte, war längst dahin. Die Theuren ruhten im Grabe; schon seit mehreren Jahren hatte der junge

Friedrich Hofmann.

Wanderer für sein Fortkommen und seine Bildung selbst sorgen müssen, und auch der heutige Gang mochte ihm Sorge bereiten, denn seine Barschaft betrug nicht mehr als neun Kreuzer. Aber die Armuth, welche den Einen verzagt macht, macht den Andern trotzig, und von der letzten Art war der junge Mann, welcher unverdrossen und wohlgemuth vorwärts in die Nacht hinein mit neun Kreuzern in der Tasche auf die Universität ging. –

Dieser junge Mann war Friedrich Hofmann, der heute auf eine thaten- und ehrenreiche Vergangenheit zurückblickt und mit dem wir am 1. Juli 1886 das Jubiläum seiner fünfundzwanzigjährigen Thätigkeit in der Redaktion der „Gartenlaube“ feiern durften. Schon zu jener Zeit, wo wir ihm auf dem Wege nach Jena begegneten, war er Dichter und Schriftsteller. Dichter aus innerem Beruf und Schriftsteller aus Noth.

Als Johann Friedrich Hofmann – er wurde am 18. April 1813 in Koburg geboren – 17 Jahre alt war, starb sein Vater, und er sah sich auf sich selbst angewiesen. Er blieb zwar auf dem Gymnasium, das er seit dem Jahre 1827 besuchte, mußte aber dabei allerlei Nebenbeschäftigungen betreiben, um sich das Nöthigste zum oft sehr kärglichen Leben zu erwerben. Er gab Privatstunden im Schönschreiben und Französischen, er war Advokatenschreiber und wirkte auch als „Präfekt“ des Sängerchores, das in den Straßen, in der Kirche und bei Begräbnissen zu singen hatte. Vor Allem aber versorgte er auch den Accessistendienst im Justizamt, um daselbst später eine Subalternstelle zu erhalten, die ihm als die Endstufe seiner sonderbaren Gymnasiastenlaufbahn erschien.

Glücklicherweise machte seine Dichternatur einen argen Strich durch diese bescheidene Lebensrechnung. Es war nämlich inzwischen die Julirevolution von 1830 mit ihren Fortsetzungen in Deutschland und Polen ausgebrochen, und der allgemeine Freiheitsdrang war auch in den jungen Dichter gefahren und hatte sich in einer Reihe von Freiheitsliedern geäußert, welche zum nicht geringen Stolze des jugendlichen Dichters in dem damaligen „Vaterlandsverein“ vorgetragen wurden. Aber der allgemeinen Begeisterung folgte die Reaktion auf der Spur. Der Bundestag setzte, wie an andern Orten, so auch in Koburg eine Immediat-Untersuchungskommission gegen demagogische Umtriebe ein, und auch der Gymnasiast Johann Friedrich Hofmann wurde vor dieses Gericht gezogen.

Die Strafe, die man über den jugendlichen Freiheitssänger verhängte, war für seine damalige Lage die härteste: er wurde von jedem Staatsdienst ausgeschlossen. Amtskopist konnte er nun nimmer werden. Jetzt mußte sein Talent ihn retten. So war es das Schicksal, das ihn vorwärts trieb.

Ein Glück war es, daß Hofmann auch fernerhin wenigstens das Gymnasium besuchen durfte. Er gab nun nach wie vor Privatstunden, sang als Chorpräsekt für die Lebendigen und die Todten, glaubte aber nunmehr, daß er die Feder zu höheren Zwecken führen könnte, als zum Abschreiben von Gerichtsakten, und setzte sich frischweg mit dem Chef des Bibliographischen Instituts in Hildburghausen, Joseph Meyer, in Verbindung. Dieser hatte schon damals den Plan zu seinem großen Konversationslexikon gefaßt und beschäftigte Hofmann dafür mit Übersetzungen aus französischen Zeitungen und Broschüren. In welchem Geiste er dies that, verräth das Begleitschreiben zu seiner ersten Geldsendung: „Freuen Sie sich, lieber Hofmann, wie ich mich gefreut habe, als ich den ersten Honorarthaler in die Tasche steckte.“

So kam das Jahr 1834 und seine zu Anfang dieser Zeilen geschilderte Uebersiedelung nach Jena heran.

Schon am zweiten Abend nach seinem Abmarsch von Koburg langte Hofmann in der Musenstadt an, von den überraschten Freunden jubelnd begrüßt. In einer Universitätsstadt läßt man ein Talent, das auf sich selbst vertraut, nicht sinken. Das sollte auch Hofmann unerwartet schnell erfahren. Schon am nächsten Morgen sicherte ihm Professor O. L. B. Wolff die Mitarbeiterschaft an dem von ihm redigirten Konversationslexikon, und da auch Meyer’s Honorare den Weg nach Jena fanden, so war die Sorge für die nächste Zukunft gehoben.

Der Jenenser Student wagte sich jetzt an größere litterarische Arbeiten: er lieferte die deutsche Bearbeitung einer französischen Oper für die herzogliche Hofbühne in Koburg und ließ im Jahre 1838 sein erstes Buch, das Schauspiel „Die Schlacht bei Focksan“, drucken.

Dem öffentlichen Studententreiben blieb Hofmann anfangs fremd. Erst als die Mehrzahl seiner Koburger Altersgenossen Jena verlassen hatte, trat er, und zwar in Folge eines Duells mit Einem, der später sein Herzensfreund geworden, in die Burschenschaft. Die Nachwehen des „Frankfurter Attentats“ (3. April 1833) drückten noch schwer auf diese Verbindung, die sich öffentlich als solche nicht verrathen durfte. Und doch beherbergte damals der „Burgkeller“ (vergl. „Gartenlaube“ 1865, S. 520) einen Kreis junger Geister, welche, als ihre Zeit kam, für die Ideen der Burschenschaft gestritten und gelitten haben. Dazu gehörten: Adolf von Trützschler, ein Volksmärtyrer von 1849; Ludwig Häusser, der Geschichtschreiber; Heinrich Schmidt, der als Rechtsprofessor in Hermannstadt in der Verzweiflung über das Unglück seines Sachsenlands den Tod suchte; Oskar von Wydenbrugk, der achtundvierziger Minister von Weimar; Lorenz Stein (jetzt L. von Stein), der berühmte Nationalökonom in Wien; Heinrich Jäde, der Dichter der reizendsten Kinderbücher, den, als man ihn 1873 begrub, über tausend Kinder Weimars freiwillig zu Grabe begleiteten; Strackerjan, der Pädagog von Oldenburg, und noch mancher andere Nennenswerthe; ihnen schloß Hofmann sich an. Sie gründeten zur Neubelebung des akademischen Humors eine „Unsinnia“, und in welcher Weise sie den ersten Schritt in die [498] Oeffentlichkeit wagten, ist in dem Artikel „Es war doch schön auf Hochschulen“, „Gartenlaube“ 1865, S. 425 ff. ergötzlich geschildert und zu lesen.

Wolff machte damals die Bemerkung: „Unser Hofmann lebt jetzt poetischer, als er schreibt.“ Trotzdem war ihm die Poesie nicht ausgegangen, denn er hatte in jener Zeit sein „Rundgemälde von Koburg“, eine größere Dichtung in vier Gesängen, begonnen, die er, als im Sommer 1840 seine akademische Laufbahn schloß, in Eisenberg vollendete und in Jena drucken ließ.

Einer Einladung folgend ging er nun nach Zerbst. Dort, im Kreise geistesfrischer Gesinnungsgenossen und in der regen Zeit, als Arnold Ruge und Ludwig Feuerbach alle Strebefreudigen um sich scharten, schrieb Hofmann eine dramatische Zeitsatire: „Die Nacht im Walfisch“, in welcher die damaligen morgenländischen Zustände benutzt waren, um die abendländischen zu geißeln. Die Arbeit schien gelungen und ein zeitgemäßes Unternehmen zu sein, denn ein angesehener Buchhändler in Leipzig bot ein Honorar dafür, welches Hofmann mit der beglückenden Hoffnung erfüllte, sofort nach Leipzig übersiedeln und sich eine freie Schriftstellerexistenz begründen zu können. Die Freunde halfen fleißig die schönsten, goldensten Luftschlösser bauen. Da kam die Hiobspost: der sächsische Censor hatte alles Wirksame aus dem Stücke gestrichen und ein preußischer, bei dem der Leipziger Buchhändler sein Glück versuchte, noch mehr darin verwüstet. Arbeit und Hoffnung waren vergeblich gewesen. Hofmann mußte sich nun wieder dem ersten Werke zuwenden, das ihn auf die Schriftstellerlaufbahn gelenkt hatte, dem Meyer’schen Konversationslexikon. Er ging nach Hildburghausen, wo er zu Anfang des Januar 1841 eintraf.

Der Uebergang vom freiesten Poetenleben zur strengsten alphabetisch gebietenden Prosa der Lexikonarbeit war ein zu schroffer; der Zwiespalt des äußeren Pflichtzwangs und der inneren Sehnsucht nach poetischem Schaffen hat oft störend auf Hofmann eingewirkt. Aber der Gedanke Meyer’s, das Volk durch Bildung zur Freiheit reif zu machen, dem er, wie mit seinem „Universum“, auch mit seinem Konversationslexikon diente, fesselte Hofmann an diese Arbeit; und als die Revolution von 1848, die sie mit allem Eifer selbst mit herbeigeführt und mit Jubel begrüßt hatten, Meyer’s größte Unternehmungen erschütterte und auch das Konversationslexikon gefährdete, hielt Hofmann nun erst recht treu bis zum Ende aus.

Einen freundlichen Ausgleich für jenen inneren Zwiespalt hatte er doch gefunden. Da Hildburghausen es war, von wo aus er aus der traurigsten Lage als Verurtheilter und Verlassener erlöst worden war, so drängte es ihn, armen Kindern daselbst und in seiner Vaterstadt eine Freude zu bereiten, und zwar durch eine Christbescherung. Er bat Meyer, einige Bogen seiner Gedichte drucken zu lassen und zu gestatten, daß der ganze Erlös dafür zu diesem Zweck verwendet werde. Dies geschah, und die außerordentliche Theilnahme, welche die Ausführung dieses Gedankens in beiden Städten fand, bestimmte Meyer und Hofmann, das gute Werk jährlich fortzusetzen und immer weiter zu verbreiten. So entstand der „Weihnachtsbaum für arme Kinder. Gaben deutscher Dichter, eingesammelt von Friedrich Hofmann. Hildburghausen, Christgeschenk des Bibliographischen Instituts. 1842 bis 1866.“

Der „Weihnachtsbaum“ hatte sich in den 25 Jahren seines Gedeihens über mehr als hundert Städte und Ortschaften Deutschlands ausgebreitet und über 100 000 arme Kinder mit Christbescherungen erfreut. Die Stadt Koburg bedachte dafür Hofmann mit ihrem Ehrenbürgerrecht.

Vierzehn Jahre hindurch arbeitete Hofmann an dem großen Konversationslexikon, welches 52 Bände umfaßt, und beendete im Jahre 1854 den schwierigen Registerband desselben. Seine Leistungen fanden auch in wissenschaftlichen Kreisen volle Anerkennung, denn am 5. Oktober 1854 beehrte ihn die philosophische Fakultät in Jena mit dem Doktordiplom.

Trotz alledem war Hofmann diese Art des geistigen Schaffens überdrüssig geworden, und er sehnte sich nach einer anderen Thätigkeit. Die Sehnsucht trieb ihn hinaus, fort, in die Ferne. Am liebsten wäre er nach Amerika gezogen – dort, in Missouri, hatte ein Freund, dem er das Nachkommen versprochen, 13 Acres Urwald auf Hofmann’s Namen eintragen lassen. Hofmann erhielt diese Nachricht während seines letzten Winters in Jena, wo ihm eben schon Tage lang das Holz ausgegangen war, ihm, dem Urwaldsbesitzer! – Zur Auswanderung fehlten leider die Mittel, aber der Reisewunsch wurde doch, wenn auch in anderer Art, erfüllt. Ein Verwandter des herzoglichen Hauses Koburg, Graf Mensdorff-Pouilly, in La Mira bei Venedig wohnend, suchte für zwei schon herangewachsene Knaben als Lehrer und Führer womöglich einen Koburger. Hofmann erhielt diese Stelle und wurde am 1. Mai 1855 in Venedig erwartet.

Der Aufenthalt in Italien und später in dem gräflichen Schlosse Einöd bei Eilly in Steiermark bildet eine der schönsten Episoden im Leben Hofmann’s. Das Dienstverhältniß zum Grafen Arthur von Mensdorff verwandelte sich bald in eine innige Freundschaft, die bis heute fortdauert.

Aber schon im Herbst 1856 rief ein Todesfall Hofmann nach Hildburghausen zurück. Joseph Meyer war am 27. Juni gestorben und sein „Universum“ verwaist. Diese Monatsschrift mit Stahlstich-Illustrationen behauptete in den dreißiger und vierziger Jahren einen bedeutenden Rang in den vorwärts strebenden Volkskreisen und war ihres Schöpfers ganze Sorge und größter Stolz. Krankheit und Arbeitsüberlast, in Folge seiner großen montanistischen Unternehmungen, hatten Meyer schon früher gezwungen, sich nach Hilfe umzusehen, und da war es Hofmann gewesen, dem allein er solche Mitarbeiterschaft anvertraut hatte. Seinem Publikum hatte er diese Hilfe beim Abdruck des ersten Artikels Hofmann’s (Bd. XII, S. 37) mit der Notiz: „Geschrieben von wackerer Freundeshand. Mr.“ angedeutet. Als nach seinem Tode Hermann Meyer Erbe der Sorgen und Arbeiten des Vaters wurde, übertrug er Hofmann die Fortsetzung dieses Ehrenwerks des Bibliographischen Instituts.

In diese Zeit fällt auch die Entstehung der „Kinderfeste“ Hofmann’s und Julius Otto’s in Dresden. Hofmann hatte im „Weihnachtsbaum“ alljährlich so viel die kleinen Herzen der Kinderwelt Ansprechendes mitgetheilt, daß er, aufgefordert, gern zu dem Versuch die Hand reichte, die bei den Männergesangvereinen so beliebt gewordenen Singwerke mit Deklamationsverbindung auch für Schulkinder möglich zu machen. Der Erfolg war ein außerordentlicher, und zwar ohne alle aufdringliche Preßreklame. Das „Schulfest“ (1857) und das „Weihnachtsfest“ (1858) hatten, noch ehe ihnen das „Pfingstfest“ und das „Vaterlandsfest“ nachfolgen konnten, schon die tausendste Aufführung erlebt; diese rasche Verbreitung geschah dadurch, daß von dem sangesfrohen Thüringen aus von Stadt zu Stadt, ja von Dorf zu Dorf jedes Stück sich selbst empfahl und keine andere Reklame bedurfte und fand, als die Dank-Inserate erfreuter Zuhörer in den Lokalblättern. –

Während Hofmann durch das „Weihnachtsfest“ und den „Weihnachtsbaum“ für neue Kinderfreuden sorgte, drückte ihn selbst das Gefühl der Vereinsamung nieder und erweckte in ihm den Wunsch, endlich sich nach der Stadt zu wenden, die ihm vor achtzehn Jahren der Drache der Censur versperrt hatte. Er siedelte im Herbst 1858 nach Leipzig über, wo er im Sommer 1861 von Ernst Keil den Antrag erhielt, als ständiger Mitarbeiter in die Redaktion der „Gartenlaube“ einzutreten.

Diesem Schritte war ein für sein Leben gleichwichtiger vorhergegangen. Hofmann hatte sich im Frühling 1860 vom Thüringerwalde die treue Gattin heimgeholt. Wurde auch dieses Glück durch den Tod des ersten Kindes, des Knaben Arthur, getrübt, so sollte es doch Beiden vergönnt sein, im hoffnungsfrohen Kreise von vier Kindern das Fest der silbernen Hochzeit zu feiern.

Wer einen Blick auf die Zeit von 1861 bis heute wirft, auf diese Jahre der größten Ereignisses die das deutsche Volk je erlebt, wird ermessen, wie dieselben einen für ein Weltblatt, wie die „Gartenlaube“ es damals schon war, ausschließlich thätigen Geist erfüllen und erheben mußten. Wie hoch Hofmann seine Aufgabe auffaßte, verräth uns ein „Geständniß“, mit dem er einen Artikel schließt, in welchem er einem im Leben verkannten und mißachteten Manne die wohlverdiente Würdigung zu retten sucht. „So oft mir“, sagt er dort (Jahrgang 1867, S. 812), „die Ehre zu Theil wird, einen Artikel für die ,Gartenlaube’ zu schreiben, greife ich mit dem Bewußtsein zur Feder, daß dies für Millionen Leser geschieht. Dieser Gedanke ist, wie kein anderer, geeignet, bei der Wahl des Stoffes wie der Form an Ernst und Gewissenhaftigkeit zu mahnen: die weite, fast unabsehbare Wirkungssphäre verpflichtet dazu. Und keinen Augenblick darf man vergessen, daß die ,Gartenlaube’ sich immer von Neuem als das zu bewähren hat, was sie schon so vielen vom Unrecht Unterdrückten und Verfolgten gewesen ist: eine Herberge der Gerechtigkeit.“

[499] Namentlich die Ausübung dieser letzteren Gartenlaubenpflicht, sowie die Möglichkeit, dem warmen Gefühl für menschliches Drangsal, mit dem sein eigenes Jugendschicksal ihn erfüllt hatte, durch die „Gartenlaube“ zu großen Erfolgen verhelfen zu können, und das offenbare Ziel des Blattes, nationale Einheit und politische Freiheit des deutschen Volkes vor Allem durch gesunde Volksbildung zu erstreben, dies Alles machte Hofmann’s äußere Stellung zu einer auch mit seinem inneren Drang harmonirenden, und Ernst Keil, der diesen Herzenszug sofort erkannte, gewährte Hofmann gern jede Gelegenheit, demselben frohen Lauf zu lassen.

Von großem Erfolg in dieser Beziehung war Hofmann’s Eintreten für Wilhelm Bauer (von 1860 bis zu dessen Tod 1875). Dasselbe brachte ihn in persönliche Berührung mit Herzog Ernst von Koburg (vergl. „Gartenlaube“ 1863, S. 159), welcher in Anerkennung der poetisch vielfach bethätigten Heimatliebe des Dichters und wohl die auf Bundestagsanordnung einst geschehene Verurtheilung Hofmann’s nunmehr belächelnd, ihm das Ritterkreuz seines Hausordens verlieh.

Die Redaktionsthätigkeit Hofmann’s entfaltete sich am schönsten in den großen Sturm- und Kriegsjahren 1870 und 1871.

Sein bester Gedanke war der eines großen Christfestes für die armen Kinder und Waisen des Krieges, mit dem zugleich eine Christbescherung für die armen Kinder in Elsaß und Lothringen verbunden sein sollte. Hofmann’s Aufruf: „Eine große Bitte an alle deutschen Kinder“ erschien Mitte November in der „Gartenlaube“ (S. 792), und schon nach wenigen Wochen erwies der Erfolg sich als ein überraschend großartiger. Hofmann hatte das rechte Wort für Jung und Alt gefunden; rührend herrlich zeigte es sich, daß der Geist der großen Zeit auch in die Herzen der deutschen Kinder gefahren war; ihnen gefiel offenbar der Wunsch am besten, daß ihre deutsche Liebe den französischen Haß in Elsaß-Lothringen besiegen solle. Und so massenhaft kamen von überall her, wo Deutsche wohnen (später selbst noch Nachsendungen aus anderen Erdtheilen), auf den Ruf der „Gartenlaube“ die Gaben, von der centnerschweren Kiste bis zum Packetchen, das Kindeshand selbst zur Post gebracht hatte, daß Hofmann’s Arbeitszimmer und E. Keil’s Gartensalon sich in vollständige Niederlagen von Weihnachtswaaren aller Art verwandelt hatten. Die größten Sympathien nahm die wiedergewonnene „wunderschöne Stadt“ des Volksliedes in Anspruch: nach Straßburg konnten und mußten, nach den Wünschen der Kinder und vieler Alten, die meisten Gaben gerichtet werden. Ebenso kamen Sendungen im Verhältniß zu der Einwohnerzahl und dem Kriegsschicksal nach Fröschweiler, Schlettstadt, Lützelstein, Weißenburg, Pfalzburg, Zabern, Marfal, Diedenhofen etc., und sogar an die kleinen Franzosen in Metz. Der Briefwechsel über diese Sammlungen und Bescherungen, namentlich die Kinderbriefe mit ihren vielen patriotischen Verschen, sind ein schöner Erinnerungsschatz an diese große Zeit.

Nachdem Hofmann die Arbeiten für die Kriegskinder-Bescherungen abgemacht, ging er selbst ins Kriegsland. Am 12. Januar 1871 fuhr er mit einem preußischen Sanitätszug vom Bayerischen Bahnhofe in Leipzig ab, eigentlich um Einrichtung und Benutzung solcher „fahrenden Lazarethe“ zum Behufe einer Beschreibung in der „Gartenlaube“ möglichst genau kennen zu lernen. Der betreffende Zug, welcher in Epernay transportfähige Verwundete abholen und in fünf Tagen nach Leipzig zurückkehren sollte, gerieth im Elsaß in die endlosen Militärzüge, welche nach Süden eilten, wo vom 15. bis 17. Januar der furchtbare Kampf vor Belfort wüthete. Erst am 20. konnte er nach Nanzig und Weiler gelangen, erhielt aber auf der Fahrt nach Chalons die Weisung, von dort die Richtung nach Orleans einzuschlagen. Dies dehnte die Reise von fünf Tagen auf fünf Wochen aus, während welcher Hofmann von Brumath am 16. Januar einen Abstecher nach Straßburg und von Orleans aus am 7. Februar nach Paris machte. Die „Gartenlaube“ brachte über diese Erlebnisse außer einem kurzen Brief aus Paris (S. 156) die Artikel: „Ein fahrendes Lazareth“ (S. 167 und 246) und „Vierundzwanzig Stunden im Paris der bittern Noth“ (S. 204), dem Hofmann im Jahrgang 1883, S. 97 und 116 in dem Artikel „Vor zwölf Jahren in Paris“ eine ausführlichere Schilderung dieses kühnen, aber gelungenen Eindringens in die feindselige Stadt folgen ließ. Nach der Anmerkung auf S. 204 (1871) scheint es sehr wahrscheinlich, daß Hofmann der erste Deutsche war, welcher sich schutzlos und am hellen Tage in das Paris des Waffenstillstandes gewagt hatte. Mit Bezugnahme auf dieses kühne Wagniß schrieb ihm damals sein Freund Generalmajor Graf Arthur Mensdorff-Pouilly: „Wo Teufel nahmen Sie den Muth her? Denn da gehört wahrhaftig mehr dazu, als hinter guten Schanzen heraus mit weittragenden Kanonen zu schießen!“

Am Ende des Krieges verfaßte Hofmann für das Leipziger Internationale Hilfskomité „Leipzigs Gruß den heimkehrenden Siegern“, ein Gedicht, welches in 180 000 Exemplaren gedruckt und an alle durchziehenden Krieger als Erinnerungsblatt vertheilt wurde. In Nr. 27 begann Hofmann in der „Gartenlaube“ mit der Rubrik der „Vermißten“; zunächst wurden in derselben „Vermißte Soldaten unseres Krieges“ aufgerufen, später „Vermißte Deutsche“ überhaupt, nachdem früher einzelne Nachforschungen nach Verschollenen mit gutem Erfolg belohnt worden waren.

Dieses glorreichste Jahr der deutschen Nation sollte für die Familie Keil mit dem schwersten Unglück enden. Ernst Keil’s einziger Sohn, Alfred, ein blühender und edelstrebender junger Mann von noch nicht 27 Jahren, war auf einer Orientreise am 28. December 1871 in Kairo gestorben. Ergreifend war der Kultus, welchen Ernst Keil mit der Pflege der Erinnerung an seinen Sohn verband. Mancherlei Anerkennungen, Wohlthaten und Stiftungen ließ er von ihm ausgehen und zwar in Briefen, die mit dem Namen Alfred unterschrieben sind. Auch Hofmann empfing einen solchen, in welchem Alfred ihn bat, seinem Vater und der „Gartenlaube“ treu zu bleiben; damit war eine Erhöhung des Gehaltes verbunden, und dem Schreiben lag Alfred’s Bildniß bei.

Ein ernstes Ziel führte Ernst Keil und Hofmann gemeinsam am 2. Oktober 1872 nach Dresden. Dort war einer der ältesten Freunde Keil’s, Ferdinand Stolle, am 29. September gestorben. Im Friedhofe der Neustadt sprach an seinem Grabe Hofmann einen Nachruf mit dem letzten Gruße der „Gartenlaube“ an den Todten, der ihr Jahre lang treu gewesen.

Hofmann ist ein geborener Volksdichter; sein improvisatorisches Talent gestattete ihm zugleich, in Goethe’s Sinn „Gelegenheitsdichter“, d. h. allezeit freudig bereit zu sein, die Feste der Familie, geselliger Vereine und Verbindungen, des Theaters und der Nation mit Liedern und Prologen zu verschönen. Wahre Perlen solcher Dichtungen findet man in Hofmann’s ausgewählten Gedichten, welche unter dem Titel „Nach fünfundfünfzig Jahren“ im vorigen Herbste (Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger) erschienen sind. Außerdem that sich Hofmann auch als Dialektdichter hervor, schrieb mehrere Festspiele und Operntexte, die allgemeinen Beifall fanden, und erfreute die Kinderwelt durch reizende Märchensammlungen, wie „Der Kinder Wundergarten“ etc.

Inzwischen kam das Jahr 1878 heran, das Jubeljahr der „Gartenlaube“, deren fünfundzwanzigsten Jahrgang Friedrich Hofmann mit einem „Jubelgruß“ eröffnete.

Von dem Feste sichtlich gehoben gingen Redaktion und Mitarbeiterschaft an das Fortwirken für das Jubelblatt. Vor Allem machte E. Keil den Eindruck eines Mannes, der mit neuerblühter Schaffenslust das Lieblingswerk seines Lebens weiterzuführen bereit steht. Das Aufblühen war Täuschung, es war „das Blühen eines Sternes“, sein letztes Aufleuchten vor dem Untergang. Ernst Keil starb nach einem kurzen Krankenlager am 23. März 1878, und Ernst Ziel übernahm die Redaktion des Blattes. Auch jetzt blieb Hofmann seiner alten Pflicht als ständiger Mitarbeiter treu, bis im Jahre 1883 eine neue Ordnung der Dinge ihn nöthigte, die verantwortliche Redaktion zu führen, welche er auch beibehielt, als mit dem Jahre 1884 der jetzige Herausgeber die geschäftliche Leitung des Blattes übernahm. Inzwischen hat der treue Kämpe sein dreiundsiebzigstes Lebensjahr überschritten, und wer möchte es ihm verdenken, daß er jetzt endlich Sehnsucht nach größerer Ruhe empfand und den Wunsch äußerte, von dem seine Kräfte allzu sehr anstrengenden redaktionellen Geschäftszwang befreit zu werden und künftig nur noch als ständiger Berather und gelegentlicher Mitarbeiter an der „Gartenlaube“ sich zu betheiligen. Dieser Wunsch ist dem trefflichen verdienten Veteranen gern bewilligt worden. Derselbe scheidet also nicht aus unserer Mitte. Als „Ehrenmitglied der Redaktion“ wird er auch in der Folge für seine geliebte „Gartenlaube“ zu wirken suchen, und nach wie vor stehen ihm die Spalten derselben jederzeit offen, besonders aber dann, wenn er, dem alten Herzenszuge folgend, für Arme und Bedrängte Liebesgaben sammeln oder eintreten wollte für Wahrheit und Recht!

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Blätter und Blüthen

Obermedicinalrath Dr. Bernhard von Gudden †. Am 7. Juni feierte Dr. von Gudden, der verdiente Direktor der großen oberbayerischen Kreisirrenanstalt in München, im Kreise seiner Familie seinen zweiundsechzigsten Geburtstag, wenige Tage darauf sahen ihn dann die Seinen zur Lösung einer verantwortungsvollen Aufgabe von sich scheiden – auf kurze Zeit, wie Gudden annahm und wie es die Familie hoffte, in der That jedoch für immer. Mit dem unglücklichen König Ludwig II. fand am 13. Juni auch Gudden in den Wellen des Starnberger Sees seinen Tod, nachdem er es vergeblich versucht hatte, den geisteskranken König zu retten.

Dr. Bernhard von Gudden.

Gudden wurde in den schönen Rheinlanden zu Cleve am 7. Juni 1824 geboren. Als der dritte von sieben Brüdern besuchte er die Schulen seiner Vaterstadt und ging nach vollendeten Gymnasialstudien auf die Universitäten Bonn, Halle und Berlin. Er hatte sich das schwierige Gebiet der Psychiatrie zum Specialstudium gewählt und begann seine praktische Thätigkeit an der Irrenheilanstalt zu Siegburg. Später wirkte er vier Jahre zu Illenau in Baden und nahm dann 1855 einen Ruf an die unterfränkische Kreisirrenanstalt Werneck an, mit deren Leitung er betraut wurde. Das Jahr 1869 führte ihn nach Zürich an die Universität und die neu erbaute Kantonalirrenanstalt.

Inzwischen hatte sich aber der Ruhm des bewährten Irrenarztes bereits so weit verbreitet, daß König Ludwig II. von Bayern ihn an die Hochschule nach München berief, und als nach dem Tode des Direktors Dr. Solbrig 1873 eine neue geeignete Persönlichkeit mit der Oberleitung der oberbayerischen Kreisirrenanstalt betraut werden mußte, da fiel die Wahl der königlichen Regierung auf Gudden. In dieser letzteren Stellung befand er sich auch noch, als die schwierige Aufgabe an ihn herantrat, deren Lösung durch den tragischen Lebensabschluß des königlichen Kranken wie des ihn behandelnden Arztes unmöglich gemacht wurde.

Die medicinische Wissenschaft und insbesondere die Irrenheilkunde verlor in Gudden einen ihrer hervorragendsten Vertreter; seine näheren Angehörigen aber, die Untergebenen, die seiner treuen Obhut anvertrauten Kranken betrauern in ihm einen Mann von den seltensten Fähigkeiten, dessen Energie und Gerechtigkeit ihm Achtung und Vertrauen, dessen wohlwollendes freundliches Lächeln ihm im Leben die Herzen seiner Kranken und eines Jeden gewann, der mit ihm verkehrte. D. Th.     

Aus der Jugendzeit zweier Könige. (Mit Portraits S. 481.) Vor etwa 24 Jahren stand in der Münchner Maximiliansstraße mancher Spaziergänger betrachtend still vor der Photographie-Auslage mit dem Bildchen, welches wir im Holzschnitt unseren Lesern vorführen. Ein liebenswürdiger, erfreulicher Anblick, selbst wenn man nicht wüßte, daß die beiden sehr jugendlichen Träger der Infanterielieutenantsuniform mit der Schützenauszeichnnng auf der Brust die königlichen Prinzen Ludwig und Otto waren, damals der Stolz und die Freude ihrer erlauchten Eltern, die im Hinblick auf die beiden frisch aufblühenden Knaben die Erbfolge ihres Hauses für fest gegründet hielten. Stramm aufgerichtet steht der dreizehnjährige Otto, sein rundes Kindergesichtchen zeigt die auffallendste Aehnlichkeit mit der Mutter, während die Züge des bildschönen siebzehnjährigen Ludwig an beide Eltern erinnern. Fremd aber sehen die wunderbaren, träumerischen Augen auch hier schon aus dem Bilde heraus, und zu dem idealen Gesichtsausdruck würde ein Don Carlos-Kostüm besser passen, als die Uniform des Leibregiments.

Wer damals die beiden jungen Prinzen sah und sprach, freute sich an der Schönheit des älteren und der kindlichen Munterkeit des kleinen, der im Gegensatz zu seinem poetischen Bruder der geborene Realist und eine im Uebrigen durch und durch gesunde Natur schien. Und nun, welches schreckliche Verhängniß für Beide!

Es werden jetzt in der Presse so viel falsche Nachrichten über die verfehlte Erziehung der beiden Prinzen verbreitet, daß ich es für gerathen hielt, für die folgenden Zeilen mir die Auskunft eines hochgestellten Mannes zu erbitten, der seiner Zeit als täglicher Beobachter das Leben der Königsfamilie mit ansah und als klassischer Zeuge dafür gelten muß. Nach seiner Versicherung ist es gänzlich unwahr, daß die Prinzen grundsatzgemäß kein Spielzeug erhielten und auffallend strenge gehalten wurden. Sie hatten ganz im Gegentheil eine Menge sehr schöner Spielsachen, darunter sogar, was vom ärztlichen Standpunkte aus vielleicht zu beanstanden gewesen wäre, ein Karrousel, auf dem sie nach Belieben fahren durften. In den Freistunden natürlich. Denn das Lernen war allerdings von König Max, dessen Jugenderziehung unter dem genialen Vater nicht zum Besten besorgt worden, als Hauptsache im Tageslauf seiner Söhne erklärt.

Den ersten deutschen Unterricht gab den Prinzen der sehr tüchtige Volksschullehrer Klaß, der seines Amtes an einer der vorzüglichen Münchener Schulen enthoben und vom König in sorgenfreie Lage versetzt wurde, um sich ganz seinen Zöglingen widmen zu können. Neben ihm stand für die körperliche Pflege eine freundliche und verständige Gouvernante, Fräulein Meilhaus, an der die Knaben mit Zuneigung hingen; den Gymnasialunterricht ertheilte ihnen der ausgezeichnete Philologe Steininger, und Abt Haneberg war der Religionslehrer. Man sieht also, der Unterricht dieser Prinzen war nach damaligen Begriffen sehr gut bestellt, und König Max hat die damals allgemein übliche Isolirung der Prinzen nicht zu verantworten. Der Kronprinz entschädigte sich dafür früh in einer idealen Traum- und Phantasiewelt, er war begabt und lernte leicht, nur nicht Rechnen, welches ihm niemals einging. Aber Gedichte las er leidenschaftlich, konnte seinen Schiller auswendig und begann mit sechzehn Jahren schon einen neuen „Wilhelm Teil“, später einen neuen „Faust“, ließ aber aus leicht begreiflichen Gründen Beides unvollendet.

Scheu war und blieb der junge Ludwig, nicht nur gegen den König, sondern gegen Alle am Hofe, er schickte immer gern den Kleinen voran, wenn er unbekannte Personen bei den Eltern wußte; es kostete auch stets Mühe, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, dann aber, wie mein Gewährsmann versichert, habe er stets in Fragen und Antworten einen lebhaften Geist gezeigt. Mein Gewährsmann theilte mir eine kleine Geschichte mit, die ihm einst König Ludwig selbst erzählte und welche mir sehr charakteristisch für dessen späteren Charakter scheint.

„Sehen Sie, was für ein komisches Kind ich doch war“, fing Ludwig an und erzählte dann, wie er und der kleine Otto einstmals, von Fräulein Meilhaus begleitet, von Hohenschwangau nach Füssen herunter auf den Jahrmarkt gingen. Zwischen den Ständen mit allerlei ländlichen Herrlichkeiten herumschlendernd, fühlte sich der achtjährige Kronprinz sehr angezogen durch einen himmelblauen, perlengestickten Beutel mit glänzender Tombackschließe. Er nahm also ganz einfach den Gegenstand seiner Wünsche vom Verkaufstisch weg und steckte ihn in die Tasche. Die Gouvernante, welche das mit angesehen, bezahlte den Verkäufer, ohne davon gegen den Prinzen Erwähnung zu thun. Erst in Hohenschwangau zeigte er ihr triumphirend den Beutel.

„Haben Sie ihn denn auch bezahlt, Kronprinz?“ fragte Fräulein Meilhaus. Ludwig erwiderte hocherstaunt: „Ja, muß man denn das bezahlen? Warum nicht gar! Die Leute freuen sich ja, wenn mir etwas von ihren Sachen gefällt!“ Hierauf hielt ihm die treffliche Gouvernante einen längeren Vortrag über Eigenthumsverhältnisse, und mitten darin sprang Ludwig ans Fenster, öffnete und warf den Beutel hinunter in den Park. „So“, rief er aus, „jetzt habe ich ihn nicht mehr, jetzt können ihn die Leute wieder holen!“ Hiermit war für seinen Begriff Alles abgemacht, und es fiel ihm nicht ein, sich um diese Sache noch weiter zu kümmern.

In den Aeußerungen des Kindes spiegelt sich oft schon der künftige Mensch. Ob König Ludwig ein Anderer geworden wäre, wenn er unter normalen Verhältnissen, in der Wärme eines herzlichen Familienlebens hätte aufwachsen dürfen? Niemand kann das sagen, aber mit Wehmuth blickt man heute nach seinem tragischen Ende auf die jugendschönen Züge, die ein so reiches Leben zu verheißen schienen! R. Artaria.     

Die Aufbahrung und der Leichenzug König Ludwig’s II. Unser Bild auf Seite 488 zeigt die Leiche König Ludwig’s in der Großmeistertracht des Hausordens vom heiligen Hubertus auf hohem, lichterumstrahltem Katafalk, und zu beiden Seiten der von den treuen Bewohnern der Berge mit Alpenrosen geschmückten Bahre halten Hartschiere in Gala-Uniform die Todtenwacht. Auf der Brust des Königs ruht der von der Kaiserin von Oesterreich gewidmete Strauß von Jasminblüthen. Vor dem Katafalke sieht man die Gruppen der Leidtragenden vorüberschreiten, welche in Scharen gekommen sind, den todten König ein letztes Mal zu sehen. – Das Doppelbild auf Seite 492 und 493 giebt den Augenblick wieder, in welchem sich der Trauerzug seinem Endziele, der Michaelskirche, durch das Karlsthor nähert. Einen kurzen Hinweis auf den Zug enthält der Artikel „Die bayerische Königstragödie“ II, in vorliegender Nummer der „Gartenlaube“.


Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 481. – Die bayerische Königstragödie. II. S. 484. Mit Illustrationen S. 485, 488, 492 und 493. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 489. – Eine Razzia auf Flußpiraten. Scene aus dem New-Yorker Leben bei Nacht. Von Hermann Haardt. S. 495. – Ein Veteran der „Gartenlaube“. Mit Portrait S. 497 – Blätter und Blüthen: Obermedicinalrath Dr. Bernhard von Gudden †. Mit Portrait S. 500. – Aus der Jugendzeit zweier Könige. Von R. Artaria. S. 500. Mit Portraits S. 481. – Die Aufbahrung und der Leichenzug König Ludwig’s II. S. 500.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.