Die Gartenlaube (1886)/Heft 27
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No. 27. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sankt Michael.
Der Förster Wolfram trat in das Pfarrhaus von Sankt Michael,
wo er erwartet zu werden schien, denn der Pfarrer kam ihm
schon im Hausflur entgegen.
„Nun, Wolfram, noch immer keine Nachricht?“
„Nein, Hochwürden, keine Spur von dem Buben, aber vom Schlosse kann ich Ihnen Nachricht bringen, ich komm’ eben daher.“
Valentin öffnete die Thür zu seinem Studirzimmer und winkte dem Förster, ihm zu folgen, aber die Nachrichten aus dem Schlosse lagen ihm offenbar nicht so am Herzen, wie die Frage, die er mit allen Zeichen der Unruhe wiederholte:
„Also Michael ist auch heute nicht nach Haus gekommen?“
„Nein, Hochwürden, ich sag’s ja.“
„Das ist nun der dritte Tag und keine Spur, wo man ihn suchen könnte! Wenn ihm nur kein Unglück zugestoßen ist!“
„Dem stößt nichts zu,“ sagte der Förster mit rauhem Lachen. „Der streift irgendwo herum und wagt sich nicht nach Haus, weil er sich wohl denken kann, was da auf ihn wartet, aber einmal muß er doch wiederkommen, und dann gnad’ ihm Gott!“
„Was wollt Ihr thun, Wolfram? Denkt an Euer Versprechen.“
„Das habe ich gehalten, so lange der Unheilsmensch noch zu regieren war, aber jetzt ist’s zu End’ damit! Wenn er glaubt, Alles niederschlagen und niederrennen zu können, so soll er erfahren, daß es wenigstens noch Einen giebt, der ihm gewachsen ist, und das wird er spüren, so lange ich die Arme regen kann.“
„Ihr rührt Michael nicht an, bis ich ihn selbst gesprochen habe,“ sägte der Geistliche ernst. „Ihr kommt also vom Schlosse? Wie steht es dort, hat sich der vermißte Ordensstern denn nun endlich gefunden?“
„Jawohl, noch an demselben Tage. Die kleine Gräfin Hertha hatte das funkelnde Ding als Spielzeug mitgenommen, war damit nach ihrem Zimmer gelaufen und brachte es schließlich ihrer Mutter, da klärte sich die Geschichte auf.“
„Also um der Spielerei eines Kindes willen!“ sagte Valentin mit schmerzlicher Bitterkeit. „Ein so schmachvoller, erniedrigender Verdacht, ohne Untersuchung, ohne Beweise und gerade gegen Michael, der –“
Er brach plötzlich ab, der Förster aber sagte grollend:
„Warum hat er den Mund nicht aufgethan und sich verantwortet! Ich hätte mich schon dagegen gewehrt, aber der Michel wird wohl wieder dagestanden haben wie ein Stock und hernach, als man ihm ernstlich zu Leibe ging, da war er wie ein angeschossener Bär. Auf den Herrn Grafen loszugehen! Es ist nicht zu glauben, aber ich hab’ es ja selbst gesehen, wie er dastand mit dem Leuchter in der Hand! Schließlich werde ich die Geschichte ausbaden
[462] müssen, die der verdammte Bube angerichtet hat. Der Herr war heut sehr ungnädig, kaum daß er ein paar Worte mit mir sprach, aber einen Brief hat er mir gegeben, den soll ich Ihnen überbringen, Hochwürden.“
Er zog ein Schreiben hervor und reichte es dem Priester, der es in Empfang nahm.
„Es ist gut, Wolfram. Geht jetzt, und wenn sich Michael auf der Försterei blicken läßt, schickt ihn sofort zu mir. Aber ich verbiete Euch noch einmal jede Mißhandlung, erst will ich ihn hören.“
Der Förster ging, grollend darüber, daß er das Strafgericht an dem „Unheilsbuben“ noch aufschieben sollte, aber aufgehoben sollte es deßhalb nicht sein, das gelobte er sich. Als Valentin allein war, erbrach er den Brief, der nur wenige Zeilen von der Hand des Grafen enthielt.
„Hochwürden! Der vermißte Gegenstand hat sich gefunden, und der ausgesprochene Verdacht erweist sich somit als ungerecht. Was das Benehmen Ihres Schützlings dabei betrifft, der, anstatt sich zu vertheidigen und die Sache aufzuklären, sich wie ein Rasender geberdete und sogar zu einem Angriff auf mich fortreißen ließ, so werden Sie durch Wolfram wohl darüber unterrichtet sein und es begreifen, wenn ich nunmehr jedes Eingehen auf Ihre Wünsche ablehne. Dieser rohe, beschränkte Bursche, mit seiner zügellosen Wildheit, gehört einzig in die Sphäre, die ihm von Anfang an zugewiesen wurde, und in der er allein möglich ist. Wolfram ist gerade der rechte Mann, ihn zu bändigen, er bleibt in seiner Obhut. Bei einer solchen Natur wäre jede Erziehung verschwendet, und ich bin überzeugt, daß Sie mir nach dem Vorgefallenen darin beipflichten werden.
Der Lesende ließ das Blatt sinken und blickte bekümmert vor sich hin.
„Kein einziges Wort des Bedauerns über den schmählichen Verdacht, der einen Unschuldigen getroffen hat, nur Verurtheilung und Verachtung. Und es ist doch Blut von seinem Blute!“
„Hochwürden!“ klang es mit halb unterdrückter Stimme von der Thür her. Valentin fuhr auf, und ein Athemzug der Erleichterung entrang sich seiner Brust.
„Michael! bist Du endlich da? Gott sei Dank!“
„Ich glaubte – Sie würden mich auch fortweisen,“ sagte Michael leise.
„Erst will ich Dich hören. Was stehst Du so fremd an der Thür? Komm herein!“
Der junge Mann kam langsam näher, er trug noch die Sonntagskleidung, die er an jenem verhängnißvollen Tage getragen, aber man säh es ihr an, daß sie inzwischen Sturm und Wetter ausgehalten hatte.
„Ich habe mich geängstigt um Dich,“ sagte Valentin vorwurfsvoll. „Seit zweimal vierundzwanzig Stunden keine Spur, keine Nachricht von Dir! Wo bist Du gewesen?“
„In den Wäldern.“
„Und wo hast Du die Nächte zugebracht?“
„In der leeren Sennhütte droben.“
„In Sturm und Kälte? Warum bist Du nicht nach Haus zurückgekehrt?“
„Der Vater hätte mich geschlagen, ich weiß es, aber ich lasse mich jetzt nicht mehr schlagen. Ich wollte es ihm und mir sparen, Was dann geschehen wär!“
Die Antworten klangen tonlos, aber es war nicht mehr die alte Gleichgültigkeit, es lag in dem ganzen Wesen Michael’s etwas Fremdes, etwas Starres, Finsteres, das nichts gemein hatte mit seiner früheren Art. Der Priester blickte ihn unruhig an.
„So hättest Du zu mir kommen sollen, ich wartete darauf.“
„Ich komme ja auch, Hochwürden, und was sie Ihnen von mir gesagt haben, es ist nicht wahr. Ich bin kein Dieb –“
„Das weiß ich! Ich habe nie auch nur einen Augenblick daran geglaubt, und jetzt ist der Verdacht überhaupt von Dir genommen. Das Vermißte hat sich gefunden, die kleine Gräfin Hertha hatte es als Spielzeug mitgenommen.“
Michael strich sich das durchnäßte Haar aus der Stirn, und ein eigenthümlich herber Ausdruck legte sich auf seine Züge.
„Ah, das Kind mit den rothgoldenen Locken und den schönen, schlimmen Augen, also dem danke ich das Unheil?“
„Die Kleine trägt keine Schuld, sie hat nach Art verwöhnter Kinder nach einem vermeintlichen Spielwerk gegriffen, das im Zimmer ihres Onkels lag, und es dann ihrer Mutter gebracht. Die Schuld ist Dein, hättest Du Dich ruhig und vernünftig vertheidigt, so wäre die Sache sofort aufgeklärt worden, statt dessen – Michael, ist es denn möglich, Du hast die Hand gegen den Grafen Steinrück erhoben?“
„Er nannte mich Dieb!“ stieß Michael mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wenn Sie wüßten, was er mir angethan hat! Gestehen sollte ich, das Gestohlene, die Diebesbeute sollte ich herausgeben! Er fragte gar nicht, ob ich schuldig war, er hätte mich am liebsten mit dem Fuße fortgestoßen!“
Es lag eine wilde qualvolle Bitterkeit in den Worten, und Valentin schien sie zu begreifen, er sah es ja, daß sein Zögling bis zum Wahnsinn gereizt worden war.
„Man hat Dir Unrecht gethan,“ sagte er, „schweres Unrecht, aber Du durftest Dich nicht in dieser maßlosen Weise dagegen aufbäumen, und die Folgen Deines Jähzornes werden schwer genug auf Dich zurückfallen. Der Graf ist begreiflicherweise empört über den Vorfall. Du darfst hinfort nicht mehr auf seinen Schutz rechnen, er will nichts weiter von Dir hören.“
„Nicht? Aber er soll von mir hören! Wenigstens einmal noch.“
„Was willst Du damit sagen? Du willst doch nicht –?“
„Zu ihm! Ja, Hochwürden! Jetzt weiß er, welchen ungerechten Schimpf er mir angethan hat, jetzt soll er es zurücknehmen.“
„Du willst den Grafen Steinrück zur Rede stellen?“ rief der Priester in äußerster Bestürzung. „Welch ein unsinniger Gedanke! Den wirst Du aufgeben.“
„Nein!“ sagte Michael kalt und hart.
„Michael!“
„Nein, Hochwürden, das thu’ ich nicht, auch wenn Sie es mir verbieten. Ich werde ihn fragen, warum er mich Dieb genannt hat.“
All’ seine Gedanken drehten sich nur um den einen Punkt, um den Schimpf, den man ihm angethan, und der wie ein glühendes Eisen in seiner Seele fortbrannte. Valentin stand rathlos da, er fühlte, daß er hier jede Macht verloren hatte, und die wilde Rachsucht, die aus jenem Vorhaben sprach, erfüllte ihn mit namenloser Angst. Wenn Michael es wirklich wagte, den Grafen zur Rede zu stellen, und dieser den Versuch machte, den „rohen zügellosen Burschen“ zu züchtigen – das konnte unabsehbares Unglück geben und das mußte verhindert werden um jeden Preis.
„Ich habe nie geglaubt, daß meine Stimme so machtlos bei Dir verhallen würde,“ sagte er schmerzlich. „Nun denn, so mag etwas Anderes zu Dir sprechen! Ob Dir der Graf Unrecht gethan hat oder nicht, es war ein Verbrechen, daß Du die Hand gegen ihn hobst; Du darfst ihm nie, hörst Du, niemals feindselig nahen – er steht Dir näher, als Du ahnst.“
„Mir? Der Graf Steinrück?“
„Ja. Ich wollte Dir das, was für Dich bis jetzt noch ein Geheimniß geblieben ist, erst später enthüllen, aber Dein unsinniges Vorhaben zwingt mich, jetzt schon zu sprechen. Du wärst im Stande, Dich zum zweiten Mal zu vergreifen – an Deinem Großvater!“
Michael zuckte zusammen, starr, mit weitgeöffneten Augen, blickte er den Sprechenden an.
„Mein Großvater! Er ist –?“
„Der Vater Deiner Mutter! Aber Du darfst keine Hoffnungen an jenes Band knüpfen, Deine Mutter ist enterbt, verstoßen worden, ihre Heirath riß sie auf immer los von ihrer Familie, und sie ist daran zu Grunde gegangen!“
Er schwieg und blickte auf Michael, der keinen Laut von sich gab, aber man sah es, wie die Enthüllung ihn erschüttert hatte, es arbeitete furchtbar in seinen Zügen, und seine Brust hob und senkte sich stürmisch, endlich, nach einer langen Pause sagte er dumpf:
„Und weiter – wollen Sie mir nichts sagen?“
„Nein, mein Sohn, für jetzt weiter nichts. Es ist eine unselige Geschichte, die in Elend und Jammer endigt, ein unlösliches Gewebe von Schuld und Unglück, das Deinem Verständniß noch fern liegt. Später, wenn Du älter und reifer geworden bist, sollst Du Alles erfahren, jetzt laß Dir an der Thatsache genügen, ich verbürge sie Dir. Du begreifst es nun hoffentlich, daß Dir die Person des Grafen Steinrück heilig sein muß.“
„Heilig? Vielleicht weil er mich als einen Dieb von seiner Schwelle jagte?“ brach Michael plötzlich wild aus. „Er wußte [463] es, daß er mein Großvater ist, und hat mich so behandelt! Wie einen Hund, den man mit dem Fuße fortstößt! Hochwürden, das hätten Sie mir nicht sagen sollen, das nicht! Ich habe den Grafen gehaßt, weil er hart und erbarmungslos war gegen einen Fremden, jetzt aber, jetzt möchte ich ihn –“
Er ballte die Hände mit einem so furchtbaren Ausdruck, daß Valentin entsetzt zurückwich.
„Um aller Heiligen willen, Du willst doch nicht –?“
„Ihn anrühren – nein! Ich weiß es ja nun, daß ich nicht die Hand gegen ihn heben darf, aber könnte ich auf andere Weise mit ihm abrechnen, mein Leben gäbe ich darum.“
Valentin stand sprachlos da, aber es war nicht dieser jähe Ausbruch allein, der ihn verstummen machte. Er sah jetzt auch, was seinem Bruder damals so aufgefallen war, jenes seltsame Aufflammen, das plötzlich, blitzähnlich hervorbrach, um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden. Es waren noch dieselben unschönen, unentwickelten Züge, aber das „Traumgesicht“ war es nicht mehr: als sei ein Schleier gelüftet worden, so zeigten sich auf einmal eine ganz andere Stirn und ganz andere Augen, und die Bewegung, mit der sich Michael jetzt nach der Thür wandte, hatte etwas von wilder Energie.
„Wo willst Du hin?“ fragte der Pfarrer hastig. „Nach der Försterei?“
„Nein, da habe ich nichts mehr zu suchen, jetzt vollends nicht mehr – Leben Sie wohl, Hochwürden!“
„Bleib! Wohin denn sonst?“
„Ich weiß nicht – fort – in die weite Welt!“
„Allein? Ohne Hilfsmittel, in vollster Unbekanntschaft mit der Welt und dem Leben? Was willst Du dort?“
„Zu Grunde gehen – wie meine Mutter!“ sagte Michael herb.
„Nein, beim Himmel, das sollst Du nicht!“ rief der Priester, sich mit ungewohnter Energie aufrichtend. „Wenn mir auch das Gelübde die Hände bindet, wenn ich nicht für Dich sorgen kann, so kann ich die Sorge doch in die Hände eines Anderen legen. Es war ein Wink der Vorsehung, der meinen Bruder gerade jetzt herführte, er wird mir seine Hilfe nicht versagen, darauf kenne ich ihn.“
Michael schüttelte finster abwehrend den Kopf.
„Lassen Sie mich gehen, Hochwürden, ich bin es ja gewohnt, überall mißhandelt und fortgestoßen zu werden, ich mag keinem Fremden zur Last fallen. Viel ärger kann es da draußen auch nicht zugehen, als bei meinen Eltern, ich weiß das noch von meiner Kinderzeit her. Ein gutes Wort haben wir nie von dem Vater gehört, ich und die Mutter, aber geschlagen hat er uns Beide oft genug – es war nicht viel anders, als später in der Försterei, nur daß ich da nicht mehr zu hungern brauchte.“
Valentin schauderte zusammen, er mochte an die Frau denken, die er einst im vollen Glanze der Schönheit und des Glückes gekannt hatte. Das also war das Ende gewesen? Ein grauenvoller Blick in die Tiefe menschlichen Elendes!
„Du gehst nicht, Michael,“ sagte er mild, aber mit voller Bestimmtheit. „Von Deiner Rückkehr nach der Försterei kann allerdings keine Rede mehr sein, Du bleibst einstweilen hier, bis die Antwort meines Bruders eingetroffen ist, ich weiß es freilich im Voraus, wie sie lautet, und so lange stehst Du unter meinem Schutze.“
Michael widersprach nicht mehr und machte auch keinen Versuch mehr, zu gehen. Stumm und finster kehrte er zurück, trat an das Fenster und blickte mit verschränkten Armen hinaus, aber auf seinem Gesichte lag noch dieselbe trotzige Energie, mit der er vorhin fortstürmen wollte. Ja wohl, der Nachtwandler war aufgewacht, als man ihn beim Namen rief, aber es war ein herber Ruf gewesen und ein bitteres Erwachen!
Aus dem dichten Morgennebel war ein goldig klarer Herbsttag emporgestiegen, der die Berge entschleierte und die Thäler mit hellem Sonnenschein erfüllte.
Die kleine Bergstadt, die, etwa eine Stunde von Schloß Steinrück entfernt, malerisch am Eingange des Thales lag, beherbergte augenblicklich einen berühmten Gast. Professor Hans Wehlau, dessen Ruf längst über die wissenschaftlichen Kreise hinausgedrungen und aller Welt bekannt war, befand sich zum Besuch bei seinem Schwager, dem Bürgermeister des Städtchens. Der Professor lebte seit zehn Jahren in der Hauptstadt Norddeutschlands, wo er an der Universität eine hervorragende Stellung einnahm. Seit dem Tode seiner Frau hatte er sich einigermaßen von der Gesellschaft zurückgezogen, zumal auch seine beiden Söhne durch ihre Berufspflichten fern gehalten wurden, der jüngere vollendete das Studium der Naturwissenschaften, das er unter der Leitung des Vaters begonnen hatte, auf einer andern Universität, und der ältere – eigentlich nur ein Adoptivsohn, das Kind eines früh verstorbenen Jugendfreundes – hatte die militärische Laufbahn erwählt und stand mit seinem Regimente in einer Provinzialstadt. Den Ausflug in die Berge und zu den Verwandten hatte man aber gemeinschaftlich geplant. Der Professor befand sich schon seit einigen Wochen dort, und seine Söhne waren gestern eingetroffen.
Das stattliche und geräumige Haus des Bürgermeisters lag am Marktplatze, und die oberen Räume desselben, die für gewöhnlich nicht benutzt wurden, waren den Gästen zur Verfügung gestellt worden. Die Frau Bürgermeisterin that das Möglichste, dem Gatten ihrer verstorbenen Schwester den Aufenthalt angenehm zu machen, und das war um so anerkennenswerther, als sie eigentlich mit ihm auf dem Kriegsfuße stand. Sie schwankte fortwährend zwischen dem Respekt vor seiner Berühmtheit, die ihr bei der nahen Verwandtschaft sehr schmeichelhaft war, und dem Abscheu vor der „gottlosen“ naturwissenschaftlichen Lehre, der er diese Berühmtheit verdankte, und es war ihr größter Kummer, daß ihr Neffe, den sie bei dem Mangel eigener Kinder wie einen Sohn liebte, sich auf Befehl des Vaters gleichfalls dieser Lehre hatte zuwenden müssen.
Es war in den Morgenstunden, der Professor stand am Fenster seines Zimmers und blickte hinaus auf den stillen Marktplatz. Wehlau hatte sich in dem verflossenen Jahrzehnt nur wenig verändert, es war noch dasselbe geistvolle Gesicht mit dem sarkastischen Zuge und den durchdringenden Augen, nur das Haar war grau geworden. Neben ihm stand die Frau Bürgermeisterin, eine stattliche Erscheinung, der die bösen Zungen von Tannberg allerdings nachsagten, daß sie ihrerseits den regierenden Herrn Bürgermeister regiere und unbedingt die erste Stimme in ihrem Hause habe.
„Also unsere Buben wären nun glücklich da!“ sagte der Professor in offenbar sehr behaglicher Stimmung. „Da wird es bei Euch Lärm und Unruhe genug geben, denn der Hans stellt das Haus sicher wieder auf den Kopf, Du kennst ihn ja. Uebrigens sehen sie Beide ganz stattlich aus, Michael besonders hat schon ein echt männliches Aussehen.“
„Hans ist viel hübscher und auch viel liebenswürdiger,“ sagte die Dame in sehr bestimmtem Tone. „Michael hat überhaupt nichts von diesen beiden Eigenschaften.“
„Zugestanden, wenigstens für Euch Frauen! Dafür besitzt er aber einen Ernst und eine Tüchtigkeit, an denen sich unser Sausewind ein Beispiel nehmen könnte. Es ist keine geringe Auszeichnung für einen so jungen Officier, zur Dienstleistung beim Generalstabe kommandirt zu werden. Er überraschte mich erst bei seiner Ankunft mit der Neuigkeit, Hans dagegen wird wohl nur mit genauer Noth seinen Doktor fertig bringen.“
„Das ist nicht die Schuld des armen Buben,“ vertheidigte die Frau Bürgermeisterin. „Er ist ja von jeher nur mit halbem Herzen bei dem erzwungenen Berufe gewesen. Es hat meiner Schwester damals manche heimliche Thräne gekostet, als Du ihn so unerbittlich zwangst, sein schönes Talent zu begraben.“
„Und Dir ganze Thränenströme!“ spottete der Professor. „Ihr habt mir damals das Leben schwer genug gemacht, Ihr waret ja allesammt im Komplott mit dem Jungen, bis ich endlich ein Machtwort sprach, dem er sich wohl oder übel fügen mußte.“
„Mit Verzweiflung im Herzen! Du hast ihm mit seinem Künstlertraum auch das Ideal und die Poesie seines Lebens genommen.“
„Bleib’ mir vom Leibe mit der Poesie!“ unterbrach Wehlau sie. „Mit der Dame stehe ich auf sehr gespanntem Fuße, weil sie meistentheils nur Unheil anrichtet und den Leuten die Köpfe verdreht. Ich habe meinem Herrn Sohn den seinigen noch zeitig genug zurechtgesetzt. Von Verzweiflung habe ich übrigens nie etwas bei ihm gespürt, der hat überhaupt gar kein Talent zum Verzweifeln.“
„Guten Morgen, Papa!“ rief eine helle Stimme, und der Gegenstand des Gespräches erschien in der Thür.
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[465] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [466] Hans Wehlau, der Jüngere, war ein schlanker, bildhübscher Junge von vierundzwanzig Jahren, dessen Aeußeres allerdings noch sehr die Würde des künftigen Professors vermissen ließ. Das Strohhütchen saß keck und schief auf dem dunkelblonden Haare, und der höchst kleidsame Anzug, das Sommerjaquet mit dem umgeschlagenen Hemdkragen, hatte ein entschieden mehr geniales als gelehrtes Ansehen. In dem jugendlich frischen Gesichte blitzten ein paar lustige, lachende Augen, und die ganze Erscheinung hatte etwas so Herzgewinnendes, daß man den Vaterstolz begriff, mit dem der Professor auf seinen Sohn schaute.
„Nun, Du Sausewind, da bist Du ja!“ sagte er heiter. „Ich habe die Tante soeben darauf vorbereitet, daß es wieder Unheil in ihrem Hause geben wird, wie stets, wenn Du da bist.“
„O nein, Papa, diesmal beabsichtige ich vernünftig zu sein, ungeheuer vernünftig,“ versicherte Hans und lieferte auf der Stelle den Beweis davon, indem er die Frau Bürgermeisterin, die eben ahnungslos ihr Schlüsselkörbchen niedersetzte, plötzlich umfaßte und mit ihr durch das Zimmer walzte, trotz all ihres Sträubens.
„Du böser Bube, willst Du mich wohl in Frieden lassen!“ schalt sie athemlos, als er sie endlich losließ und ihr mit abgezogenem Hute eine tiefe Verbeugung machte.
„Verzeihung, Tante, aber das war die nothwendige Einleitung zu meiner Botschaft. Man verlangt im Küchendepartement dringend Deine Gegenwart, und ich habe die Vermittelung übernommen, da ich mich sehr gern im Hause nützlich mache.“
Die Nützlichkeitsbestrebungen ihres Neffen schienen der Frau vom Hause doch einigermaßen verdächtig zu sein, denn sie fragte in sehr gedehntem Tone:
„Was hast Du denn in der Küche bei den Mägden zu suchen?“
„Mein Gott, ich habe nur die alte Gretel begrüßt,“ erklärte Hans mit der unschuldigsten Miene.
„So? Und die junge Leni war wohl nicht dabei?“
„Die habe ich mir vorstellen lassen, da ich sie noch nicht kannte. Als Verwandter des Hauses ist das meine Pflicht. O, ich habe eine sehr häusliche Richtung!“
„Mein lieber Hans,“ sagte die Frau Bürgermeisterin resolut. „Deine häusliche Richtung kann ich hier nicht brauchen, und wenn sie Dich noch einmal in die Küche führen sollte, wird der Riegel vorgeschoben, merke Dir das.“ Damit nickte sie ihrem Schwager zu und ging in voller Majestät zur Thür hinaus.
„Nimm Dich in Acht,“ sagte der Professor strafend. „So sehr Du auch das Herzblatt der Tante bist, in dem Punkte versteht sie keinen Spaß, und mit vollem Rechte. Wenigstens wird sie nun wohl über Deine sogenannte Verzweiflung beruhigt sein, sie hält hartnäckig an der Idee fest, Du fühltest Dich unglücklich in Deinem Berufe.“
„Nein, Papa, ich bin gar nicht unglücklich!“ versicherte der junge Mann, indem er sich rittlings auf einen Stuhl setzte und sich seelenvergnügt im Zimmer umschaute.
„Das habe ich auch nie vorausgesetzt. Dergleichen thörichte Jugendideen fallen von selbst, sobald man anfängt, sich mit ernsten Dingen zu beschäftigen.“
„Jawohl, Papa!“ stimmte Hans bei, der sich angelegentlich damit beschäftigte, seinen Stuhl in eine schaukelnde Bewegung zu bringen, was ihn höchlich zu amüsiren schien.
„Und das Ernsteste ist wohl die Wissenschaft,“ fuhr Wehlau mit Nachdruck fort. „Ich habe leider in der letzten Zeit – Hans, man benutzt die Stühle nicht zum Reiten, diese Studentengewohnheit mußt Du ablegen, sie paßt nicht mehr für den angehenden Doktor – ich habe wenig Zeit gehabt, Deine Studien eingehend zu prüfen. Du weißt ja, daß mein großes eben vollendetes Werk mich gänzlich in Anspruch genommen hat. Jetzt aber bin ich frei, und nun wollen wir das Versäumte nachholen.“
„Jawohl, Papa!“ sagte Hans, der allerdings die väterliche Mahnung beherzigt und den Stuhl verlassen hatte, aber dafür saß er jetzt auf der Tischkante und schlenkerte mit den Füßen. Der Professor sah das zum Glück nicht, da er gerade etwas auf seinem Schreibtisch ordnete, und sprach ruhig weiter.
„Die Studienzeit liegt jetzt hinter Dir und hoffentlich auch ihre Ausgelassenheit. Ich rechne unbedingt auf größeren Ernst, wenn ich Dich nunmehr in die Wissenschaft einführe. Nimm Dich zusammen, Hans, Du wirst es mir einst noch danken, wenn Du als Professor auf meinem Lehrstuhle docirst.“
„Jawohl, Papa!“ sagte der gehorsame Sohn zum dritten Male, sprang aber in demselben Augenblick mit einem Satze vom Tische, denn der Vater hatte sich umgewandt und sandte ihm einen unwilligen Blick zu.
„Kannst Du Dir denn diese burschikose Art nicht abgewöhnen? Nimm Dir ein Beispiel an Michael, der würde sich nie dergleichen erlauben.“
„Nein, gewiß nicht,“ lachte Hans übermüthig. „Der Herr Lieutenant ist ja auch zu Hause das verkörperte Dienstreglement. Immer Gewehr beim Fuß, immer zugeknöpft bis an den Hals. Wer hätte das gedacht, als er damals zu uns kam! Da war er noch der scheue blöde Bube, der die Welt und die Menschen anstaunte, wie etwas Unerhörtes. Ich habe ihn im Anfange vollständig unter meine Flügel nehmen müssen.“
„Nun, ich dächte, er wäre ihnen bald genug entwachsen,“ sagte der Professor sarkastisch.
„Leider! Jetzt hat sich das Verhältniß umgekehrt, und er kommandirt mich. Aber gestehe es nur, Papa, Du verzweifeltest im Anfang auch daran, irgend etwas Menschliches aus ihm zu machen.“
„Was die äußeren Formen betraf, allerdings. Gelernt hatte er damals schon viel mehr, als ich voraussetzte, mein Bruder ist ihm ein trefflicher Lehrer gewesen, als er aber erst einmal erwacht war, hat er auch mit so eisernem Fleiße, mit so unermüdlicher Ausdauer an sich gearbeitet, daß ich oft genug die Thatkraft bewunderte, mit der er sich aus der alten Knabenträumerei emporriß.“
„Ja, Michael ist stets Dein Liebling gewesen,“ schmollte Hans. „Den hast Du auch nie gezwungen, Du warst sofort einverstanden, als er Soldat werden wollte, ich dagegen –“
„Das ist etwas ganz Anderes!“ unterbrach ihn der Vater. „Michael ist darauf angewiesen, sich seinen Lebensweg und seine Zukunft selbst zu schaffen, und wie er nun einmal ist, taugt er am besten zum Soldaten. Dies rücksichtslose Draufgehen auf das Ziel, ohne rechts oder links zu blicken, dies starre Pflichtgesetz, dies oft tyrannische Beugen jedes widerstrebenden Elementes unter eine eiserne Disciplin decken sich völlig mit seinem Charakter, deßhalb wird er auch seinen Weg machen. Du dagegen sollst meine Saat ernten und mußt deßhalb auf meinem Felde bleiben, Dir wird es bequem genug gemacht im Leben.“
Die Miene des jungen Mannes verrieth, daß er sich sehr wenig aus dieser Bequemlichkeit mache, plötzlich aber fuhr er auf und rief fröhlich:
„Da kommt Michael!“
Wohin?
Immer ist noch das Räthsel zu lösen, weßhalb der Blick auf das Meer niemals ermüdet, die schönste Landschaft aber zuletzt einen einförmigen Charakter annimmt.
Vielleicht liegt das Räthsel in dem Räthsel selbst!
Wie das Antlitz eines Menschen nur einen Theil verräth von dem, was in seinem Innern vorgeht, und immer von Neuem zum Nachdenken anzuregen vermag, so hat auch die Welle ihr verborgenes Leben, und ihre Erscheinung hat etwas Majestätisches, dem der Beschauer sich unwillkürlich unterordnet.
Freier, vornehmer ist das Antlitz des Meeres, als das der Landschaft; selbstbewußter erscheint die See, und Größeres, Gewaltigeres pulsirt in ihr schon durch das ruhelose Wesen. – Aber auch ihr Athem ist ein reinerer, reiner selbst, als der des Waldes, welcher durch seine schweigsame Würde etwas Verwandtes aufweist.
Alle Berichte aus den frühesten Zeiten der Erdentwickelung sprechen von dem großen Wasser, aus dem erst das Land sich schied.
Die Woge trennte sich von dem Lande. Einst waren sie vermählt. Nun umspült das Meer die Küsten, wie man sich einem guten Freunde liebkosend naht, und nur, wenn einmal der Zorn die Welle peitscht, stürmt sie mit gierigem Anlauf gegen die feste Erde auf und erinnert diese an die frühere Herrschaft, – an ihre immer noch bestehende Macht.
[467] Die Wasser des Nordens, die Ost- und die Nordsee, haben ein so verschiedenartiges Gepräge, daß das angrenzende Land, die dort wohnenden Menschen und selbst die Vegetation im Osten und Westen ihre besondere Physiognomie aufweisen. Und nirgend scheint mir dieser besondere Charakter schärfer und eigenartiger ausgeprägt an der Nordseeküste, als auf der Insel Sylt. So zornig rauschte seit undenklichen Zeiten die Welle gegen die Ufer, so beeinflußten die Niederschlüge das Land, daß Laubholz, wie z. B. in Westerland, nur an einer einzigen Stelle zu finden ist.
Sylt gleicht einem meerumspülten Eiland aus der Sagenzeit, während manche Gegend an der Ostsee, wie beispielsweise Heiligendamm, als ein lachender Zaubergarten erscheint.
Wie die Heide mit ihrer träumerischen Einförmigkeit uns unerklärlich anzieht, so übt auch die Insel Sylt mit ihrer an wechselnder Scenerie armen Fläche einen seltsamen Zauber aus.
Ich war im heißen Sommer dort und ließ die märchenhafte Ruhe des Landes und die imposante Bewegung der See jeden Tag auf mich einwirken. Eben lag ich noch im Sonnenschein, umgeben von Heide- und Thymianduft auf einem einsamen Fleck Erde. Ein heiliges Schweigen ward durch keinen Laut unterbrochen. Der Friese singt nicht. Niemals hörte ich das Bellen eines Hundes – und der Wind schien schlafen gegangen zu sein einen ewigen Schlaf.
Aber wenn ich mich dem Hohlweg der Dünen näherte, schlug ein dumpfer Donner an mein Ohr, der zunahm, je weiter ich schritt. Und nun plötzlich – lag das große, blaue Meer mit seinem schneesilbernen Lächeln auf jeder Welle vor mir, in Gold gebadet das unruhige, rauschende, grollende, tobende Element. Nirgend ein ähnlicher Gegensatz, eine gleiche Ueberraschung! Denn die Dünen des Insellandes sind hoch, und ihre weißsandigen Berge stehen als Wächter da, nicht nur gegen die überfluthenden Launen der See, sondern sie verzehren mit ihren riesigen Leibern auch die grollenden Töne und den Donner, die den Ruhesuchenden und still in sich Gekehrten auf dem Festlande verwirren könnten.
Durch diese eigenartigen Gegensätze ist Westerland auf Sylt vor allen Punkten an der Nordsee so überaus anziehend und kann nicht genug allen Denen empfohlen werden, die einen reinen Athem brauchen und in dem sanften Weben der Natur so gut, wie in dem erhabenen Bilde, das die See ausbreitet, dem Geiste Ruhe, Erfrischung und Stärkung, dem Körper Abhärtung und Kraft zurückgeben möchten.
Es ist ein Irrthum, zu glauben, als sei Sylt, weil es sich vor sämmtlichen anderen Nordseebädern dnrch den stärksten Wellenschlag auszeichnet, in seinen klimatischen Verhältnissen auch am rauhesten und der Aufenthalt daselbst nur kräftigen Naturen zuträglich.
Das Gegentheil ist der Fall. Die Insel hat als Vollinsel vollständiges Seeklima und besitzt durch die salzfeuchten, ozonreichen Niederschläge stets abgemilderte Temperatur, so daß man auch bei stürmischer Witterung Tag und Nacht, nur mit einem Rocke bekleidet, einherschreiten kann und dabei niemals von Erkältung heimgesucht wird.
Die übrigen gesundheitlichen Vorzüge eines Aufenthalts gerade am Meer – sei es an der Nord- oder Ostsee, mit der stehenden Unterscheidung zwischen den stärkeren und schwächeren Bädern, für deren Wahl immer der Rath eines erfahrenen Arztes eingeholt werden muß, – sind zu bekannt, um hier des Nähern erörtert zu werden.
Aber einige andere Bemerkungen über die Insel als Badeort mögen noch Platz finden. Ein wesentliches Hemmniß für den rascheren Aufschwung – Sylt begann einst mit 150 Badegästen und zählte in letzter Saison gegen 3000 – bildeten bisher die Verkehrsverhältnisse. Allein man kann jetzt beispielsweise von Berlin bequem in einem Tage Westerland erreichen und die Ueberfahrt durch das Wattenmeer von Munkmarsch bei der Route über die schleswigsche Stadt Tondern geht durch ein so ruhiges Fahrwasser, daß Seekrankheiten wohl kaum vorkommen, während unter anderen die Ueberfahrten von Hamburg oder Cuxhaven nach Helgoland bei der meist unruhigen See häufig Uebelbefinden hervorrufen.
In Westerland-Bad befinden sich jetzt acht sehr wohnlich eingerichtete Hôtels mit guten Zimmern und Betten und einer trefflichen Hamburger Küche. Ueberdies giebt es zahlreiche Bauernhäuser – alle musterhaft sauber – in denen man bequeme und sehr billige Wohnungen erhalten kann.
Wer in stiller Beschaulichkeit leben will, kann sich auf Sylt, namentlich in Wenningstadt, ganz zurückziehen und vermag stunden-, ja tagelange Spaziergänge landeinwärts oder an dem langgestreckten meilenweiten Strande zu unternehmen. Diejenigen aber, welche auch die äußeren Vorzüge eines modernen Bades genießen wollen, finden jetzt für alles Nothwendige und den heutigen Ansprüchen Angepaßte durch Koncerte, Reunions, Theatervorstellungen etc. gesorgt.
Am Strande befinden sich vier große Restaurationshallen, Wartepavillons, zahlreiche Strandzelte, Strandkörbe und Strandstühle. Ferner sind Turn-, Croquet- und Kegelspiele vorhanden und Eselfuhrwerke etc. zur Verfügung des Publikums gestellt. Zu Fuß, Pferde und Wagen werden außerordentlich lohnende Ausflüge nach zahlreichen sehenswerthen Punkten der Insel (auch unter Aufsicht der Direktion veranstaltete Pickenicks) unternommen. Bei allen Zerstreuungen wird aber eifrig dafür Sorge getragen, dem Badeleben seinen einfachen, ursprünglichen Charakter mit Vermeidung jedes Toilettenzwanges und sonstigen Luxus zu belassen.
Es empfiehlt sich, Sylt im Juni oder im September zu besuchen, da in diesen Monaten die Preise geringer, die Luft und die Bäder am kräftigsten sind.
Das Gleiche, was man von der Nordsee-Insel Sylt sagen könnte: „wer einmal diesen Fleck Erde kennen gelernt hat, wird ihn nicht wieder vergessen“ – läßt sich von Heiligendamm an der Ostsee behaupten.
Heiligendamm ist ein kleiner Zaubergarten, in dem man vergißt, daß es draußen noch eine geschäftige, athemlose, ansprucherhebende und sorgenvolle Welt giebt.
Es war im Juli des vorigen Jahres, als ich auf einem rasch dahineilenden Wagen das reizend belegene Doberan als Zwischenstation verließ und hart au dem prächtigen Walde, der die beiden Ortschaften verbindet, dem Orte meiner Bestimmung zufuhr.
Die immer das Auge gleich anmuthenden Bilder – grüne saftige Wiesen mit bunten Kühen, wogende Kornfelder und Aecker, hier und dort ein blühender Baum, über Allem ein lichter, blauer Himmel – machten mich noch empfänglicher für den Gegensatz zwischen Land und Stadt, die ich eben, arbeitsmüde und ruhebedürftig, verlassen hatte.
Nach einer halbstündigen Fahrt bog der Wagen in das waldumkränzte „Eden“ ein. Ein Portier in heller, blauer Livrée mit rothen Aufschlägen, der sich nach herkömmlichem Brauche zunächst jedem Ankommenden präsentirt, geleitete mich mitsammt meinem Koffer in meine Villa, und nun überflog mein Auge mit einem Blick den grünen Wald, das blaue Meer und – das ganze vornehme, saubere Antlitz des Bades.
In der That, ein entzückender Anblick! Keine Kunst könnte bilden, was die Natur hier in zärtlich besorgter Laune jür das Schöne schuf! Man denke sich einen langgestreckten, diesen Fleck Erde einrahmenden wundervollen Wald mit großen freien Wegen und hundert versteckten Plätzen, sonnig und kühl zugleich, angefüllt von Vogelgezwitscher und gehalten wie der Park eines englischen Lords. Und zwischen diesem und dem rauschenden, schwatzenden und kosenden Meere, über das die Sonne ihre Goldströme herabsendet, ein etwa halbstündiger, kiesbestreuter, zum Theil sich im Walde verlierender Weg, der mit kleinen Schlössern, Villen und Hôtels besetzt ist. Und jedes sauber, wie aus einer Nürnberger Schachtel geholt: schneeweiße Wände, ein dunkles Dach, blühende Bäume und Schlinggewächse, Veranden und Balkone! Und am Strande an der Landungsbrücke unzählige flatternde rothe, blaue, weiße, grüne und gelbe Fahnen in allen Farben, wundervoll sich abzeichnend gegen die blaue Luft und die sonstige Umgebung, als sei ein großes Fest zu feiern in den Gärten, in dem Walde und in den Häusern!
Aber es wird auch jeden Tag hier ein Festtag gefeiert: Sorgloses Genießen! Heiligendamm hat nun einmal ein immer lachendes Gesicht im vornehmsten Gewande!
Sämmtliche Logirzimmer in diesen Villen, Hôtels und kleinen Schlössern sind hell, luftig und durchweg elegant. Das Essen im Kurhause ist durchaus preiswürdig und von ausgezeichneter Güte, die Bedienung aufmerksam und bescheiden, wie ich sie – auf vielen Reisen – fast nirgend wiedergefunden habe.
Hübsch gekleidete Mädchen mit weißen Häubchen, Jacken mit kurzen Aermeln, und bunten Röcken, sauber wie Schneeflocken, bedienen in den Villen, in welchen man bereits Morgens sechs Uhr seinen Kaffee erhalten kann.
Im Kurhaus befinden sich Lesebibliothek, Apotheke mit sämmtlichen Mineralwässern und Zimmer des Arztes. Hier werden auch die warmen Bäder verabreicht – die Bäder in der offenen See liegen für die Herren am Ausgangspunkte des Villenterrains, für die Damen im großherzoglichen Viertel –, auch ein Römisches Bad ist vorhanden, und in den Geschäftszimmern der Verwaltung erhält man stets höflichen Nachweis über Alles bis auf die jetzt auch eingerichtete Massage.
Post- und Telegraphenbureau ist vorhanden. Segelboote laden zu Ausfahrten auf dem Wasser ein. Dampfschiffe vermitteln auf gemeinsames Verlangen den Besuch nahegelegener Bade-Orte, wie z. B. Warnemünde. Eisenbahn und treffliches Fuhrwerk führen uns unter Anderem nach dem interessanten Rostock und dem gleichsam in einem großen Park belegenen Stahlbad Doberan, das ein Theater besitzt, manche Sehenswürdigkeiten aufzuweisen hat und namentlich durch eine der schönsten Kirchen des Nordens berühmt ist. – Stundenlange Spaziergänge leiten in Heiligendamm durch den großen Wald. Wir gelangen an den Spiegelsee, der wie ein schwermüthiges, stillfunkelndes Frauenauge im Gehölz versteckt liegt und dessen Ufer umkränzt sind von goldgelben Blumen und nickendem Schilf.
Spiel-, Billard-, Klub- und Lesezimmer, Tanzsäle, Speisesalons, Frühstückveranden, der große table d’hôte-Raum befinden sich im Mittelbau und im Flügel des Kurhauses.
Gleich zur Linken aus dem Walde erschallt das „Alle Negen!“ von den Kegelbahnen des am Abend in bengalischer Beleuchtung blitzenden „Waldrestaurants“, das Jauchzen der Kinder zwischen den Orgeltönen vom Karrousel, von den Spielplätzen und den Schaukeln. Und – nun ertönt auch der kurze Knall von den Schießplätzen aus weiterer Ferne.
Manchmal erdröhnen auch Böllerschüsse; sie verkünden die Ankunft eines Kriegsschiffes, welches einen hohen Gast, wie im vergangenen Jahre die Prinzessin Wilhelm von Preußen, von einem Ausfluge zurückführt; ein flinker kleiner Wagen mit der rothlivréeten Dienerschaft der verwittweten Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin, der Schwester unseres Kaisers – (die verwittwete Gemahlin des früheren Großherzogs und die Genannte haben Beide dort eigene Villen) – durcheilt das Parkgehölz. Fröhlich spielende Kinder im Gehölz und am Strande! Weißbesegelte, schlanke Fahrzeuge auf der blauen See, die murmelt oder braust, ihre Schaumwellen auftauchen und verschwinden läßt und ihren wunderbaren Athem ausströmt! Ein Kranz von Kurgästen auf der großen Kurhausveranda – Jeder in dem Gewande, das ihm behagt! Ankommende und abfahrende Equipagen, eine Reiterkavalkade, die von einem Ausfluge heimkehrt, Bärenführer, durchziehende Musikanten und von Spaziergängen wieder eintreffende Badegäste. Rasches, buntes Leben hier – einsame Stille dort! Das sind die Tageseindrücke von Heiligendamm!
Auch wer Heiligendamm mit seinen übrigens neuerdings ermäßigten Preisen besuchen will, gehe im Frühjahr oder später im angehenden Herbst dorthin. Er findet dasselbe und – zahlt weniger. Wenn das harmlosere Leben, die himmlische Ruhe, die noch kräftigendere Luft ohnedies mehr einladen, dann breche man dahin auf, und man wird’s nicht bereuen. Von Berlin ist Heiligendamm jetzt in reichlich 5 Stunden zu erreichen.
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Entdecker in der Unterwelt.
Wer bei der Station Divazza auf dem Karst die Eisenbahn verläßt, geht etwa dreiviertel Stunden lang durch ein ebenes Gefilde. Von einem Gebirge oder von einer bevorstehenden hoch bedeutsamen Scenerie ist nirgends ein Anzeichen vorhanden. Nach dreiviertel Stunden gelangt der Wanderer in ein Dörflein, Mataun genannt. Hier wird ihn ein Führer, der ihn begleitet, auf ein Loch in der Mauer aufmerksam machen mit der Weisung, seinen Kopf durch dasselbe hindurch zu stecken.
Es ist nicht im Geringsten übertrieben, wenn man behauptet, daß an keiner einzigen Stelle des Alpengebietes sich des Reisenden eine derartige Ueberraschung bemächtigt wie hier. Geht man großen und wilden Scenen des Hochgebirges entgegen, so naht man sich ihnen in keiner Weise unvorbereitet.
Hier, wo wir die Wunder der Unterwelt schauen, ist es anders. Hier ist der Wanderer auf einer Ebene gegangen und die gewaltigen Schrecknisse der zerrissenen Erdkruste und ihrer donnernden Wasser enthüllen sich nicht über ihm, sondern unvermuthet zu seinen Füßen. Die Erde bricht so zu sagen plötzlich ab. Der Wanderer sieht, daß er auf einem Hohlraume gegangen ist, es bemächtigt sich seiner ein unheimliches Gefühl. Diese Empfindung wird verstärkt durch das Dröhnen eines Flusses, welches aus dem Abgrunde heraufdringt, gegen welchen er hinabschaut. Sein Blick vermag nicht bis auf die Tiefe zu dringen. Nun schleppt ihm der Führer einen schweren Stein herbei, der alsbald im Bogen dort hinabfliegt. Lange Zeit vergeht, bis der Aufschlag in der unsichtbaren Tiefe die Ankunft des Felsbrockens meldet.
Der Reisende geht verblüfft einige Schritte weiter und gelangt zu einem Kirchlein, welches dem heiligen Cantianus gewidmet ist.
Er ist nunmehr schon darauf gefaßt, die großen Erscheinungen unter sich zu sehen, und in der That klafft hier vor ihm ein kreisrunder, mächtiger Felsentrichter, der gerade 150 Meter tief ist. Auch aus seinem Schlunde donnert es herauf, und wir sehen noch dazu ein schwarzes Portal, 30 bis 40 Meter hoch, durch welches die Fluthen den Gebieten der Nacht entgegenrauschen.
Was hat es nun mit diesem Flusse für eine Bewandtniß? Darauf wird man dem Reisenden antworten, daß der Fluß hier Reka genannt wird, weiter im Osten aber, jenseit Triest, urplötzlich aus einer Felsenspalte heraus als jener heilige Timavus ins Meer tritt, welchen alle römischen Dichter verherrlicht haben, dessen Andenken bis zum Zuge der Argonauten und zur Flucht des thracischen Diomedes zurückreicht.
Kurz gesagt: Man sieht einen mächtigen Fluß durch ein großes Portal in das Reich der Nacht eingehen, und einen andern großen Fluß, 40 Kilometer östlich davon entfernt, hervorbrechen, um sich nach wenigen Schritten mit der Salzfluth zu vereinigen. Zu allen Zeiten hat die Einbildungskraft der Menschen sich mit dieser Erscheinung beschäftigt. Immer wurde die Frage aufgeworfen: „Wie ist der Lauf dieses Flusses in der Unterwelt beschaffen? Ist es wirklich die Reka, welche als Timavus zum Vorschein kommt? Wie schauen die Hohlräume, Hallen und Gänge aus, durch welche der nächtliche Strom rauscht, und ist es nicht möglich, zu Schiff in diese niemals gesehenen Gebiete vorzudringen?“
In der That hat man hier in verschiedenen Jahrhunderten den einen oder andern Versuch gemacht, dem näher zu treten, was die Nacht verhüllt. Man ist aber, bis auf wenige Ausnahmen in unserem Jahrhundert, an der Schwelle stehen geblieben. Denn der Herrscher dieser Unterwelt vertheidigt sein Gebiet wirksam. Es giebt keinen Menschen, welcher sich nicht erschüttert fühlt, wenn er zum ersten Male nahe an ein solches Gewölbe, aus dessen Hintergrund ihm die Nacht entgegenschaut, hinschreitet und den Donner des Wassers vernimmt, vor welchem alle diese finsteren Hallen zu beben scheinen. Ein Wasserfall in der Unterwelt, der vielleicht einen Meter hoch ist, bringt unter der Mitwirkung des Widerhalles ein Getöse hervor, wie droben unter der Sonne ein mächtiger Katarakt. Jeder Reisende der Unterwelt muß deßhalb zunächst diese Scheu überwinden, welche man mit dem Kanonenfieber der Soldaten vergleichen kann.
So vergingen Jahrhunderte, ohne daß auf dem nächtlichen Strome über das Portal hinaus vorgedrungen worden wäre.
Im Jahre 1681 schrieb Schönleben, gegen Ende des 18. Jahrhunderts Hacquct über diese Unterwelt. Beide haben es nicht zu einer Schifffahrt auf dem unterirdischen Flusse gebracht. Anfangs der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts befuhr der Brunnenmeister Svetina auf Veranlassung des um die Bereisung der Unterwelt hochverdienten Controlors Anton Lindner den Fluß mit zwei Booten. Er kam aber nur eine ganz geringe Strecke in dasjenige Gebiet hinein, welches bereits die Nacht bedeckt.
In den Jahren 1850 bis 1852 versuchten es der Wiener Gelehrte Dr. Adolf Schmidl (genannt „Höhlenschmidl“) und der Ingenieur Johann Rudolf, das Geheimniß aufzuhellen. Dem Letzteren kam gegen Ende des Winters 1851 ein niedriger Wasserstand zu Hilfe. Am 6. März war derselbe mit vier Bergarbeitern durch ungeheuer hohe und weite Hallen über fünf Wasserfälle hinab vorgedrungen, bei dem sechsten, der bedeutend höher als die übrigen ist, waren die muthigen Männer eben mit ihren Arbeiten beschäftigt, als dieselben eine plötzlich eintretende Hochfluth überraschte. Sie mußten ihre Boote im Stiche lassen und entrannen der Gefahr nur mit äußerster Mühe, indem sie längs der steilen Felsenufer kletternd wieder das Tageslicht erreichten.
Es vergingen 33 Jahre, bis es wieder einmal Menschen wagten, an den schwarzen Schleier zu rühren, welcher das Geheimniß der Proserpina bedeckt.
Am 20. Januar 1884 schafften Anton Hanke, Friedrich Müller und Josef Marinitsch aus Triest Balken, Taue und Strickleitern in die Schmidl-Grotte. Diese große Höhlung ist ein alter Flußlauf der Reka, nördlich von dem heutigen gelegen. Er vereinigt sich mit diesem letzteren in nicht großer Entfernung hinter dem Eintritte des Flusses in die Nacht. Wer durch die Schmidl-Grotte geht, kann also das in Finsterniß gehüllte Ufer des Flusses erreichen.
Bevor ich weiter erzähle, fordere ich den Leser auf, sich vorzustellen, mit welcher Schwierigkeit diese Pioniere zu kämpfen hatten.
Man denke sich eine Finsterniß, gegen welche die dunkelste Nacht auf der Erdoberfläche verhältnißmäßig noch hell erscheint.
In dieser Finsterniß müssen die Forscher über Steilwände der Ufer klettern, welche von früheren Hochfluthen spiegelglatt abgewaschen wurden und dazu noch fortwährend durch Tropfwasser, das von den hohen Gewölben herabsickert, überrieselt werden – oder auch über Felsen, die durch das Wasser in messerscharfe Rippen aus einander gesägt sind. Lothrecht unter ihnen, in Dunkel gehüllt, donnert der Strom. Dem Eintretenden ist es, als ob ihm eine schauerliche Ahnung entgegen wehte von alledem, was er in diesen Gebieten zu gewärtigen hat. Ein Fehltritt, er gleitet hinunter, und seine Leiche wird fortgeschwemmt in Gegenden, wohin niemals eine Ahnung des Tages gedrungen ist.
Dabei mußten die Reisenden nicht nur ihre Leuchten, Fackeln, Laternen, sondern auch die Balken, Leitern und Boote selbst an das Ufer tragen; denn kein Bauer der Umgegend hätte es gewagt, sie bei dieser Unternehmung zu begleiten. Dann zimmerten die Männer ein Floß und legten in den Felsen ein Depot für weitere Unternehmen an.
Am 30. März 1884 wurde mit diesen Fahrzeugen die erste Reise unternommen. Man gelangte in eine große Halle, welche dem früheren Reisenden zu Ehren Svetina-Dom getauft wurde, fuhr über zwei Wasserfälle hinab und landete endlich, weil ein gewaltiger Donner die Nähe eines anderen und größeren Wasserfalles ankündigte.
Dieses war jener 7 Meter hohe Katarakt, bis zu welchem 33 Jahre vorher schon Rudolf vorgedrungen war. Man stellte nunmehr sogenannte Magnesiumlampen auf, und bei dem grellen Lichte dieser Flammen, welche den Raum auf 100 Meter und darüber aufhellten, erblickten die Reisenden auf dem rechten Ufer des Wasserfalles einen hohen Felsen, der von ihnen den Namen Lorelei-Felsen erhielt.
Eine weitere Fortsetzung der Reise war damals nicht möglich. Wegen des hohen Wassers erschien eine Begehuug der Ufer [469] undurchführbar, und eine weitere Annäherung zu Schiff hätte die Forscher unabwendlich in den Katarakt hinabgerissen. Erst am 9. November 1884 konnte die Reise fortgesetzt werden.
Mittlerweile hatte man sechs Bauern durch Ueberredung zu gewinnen gewußt. An diesem Tage begaben sich Anton Hanke, Joseph Marinitsch und Friedrich Müller zu Fuß durch die Schmidl-Grotte an jene Stelle des Ufers, welche von dem Forscher „Hafen“ benannt worden war. Drei Boote wurden in das Wasser gelassen. Um neun Uhr Vormittags fuhren zwei dieser Boote ab. Hanke saß in dem ersten, Müller im zweiten. Damit sich die Insassen einander besser beistehen konnten, waren die beiden Boote durch ein Schlepptau mit einander verbunden.
Auf diese Weise geleitete Müller seinen Genossen Hanke, der noch einen Bauern, Namens Jednak, zu sich ins Boot genommen hatte, bis zu einer Stelle, von welcher aus es bei dem damaligen Wasserstande möglich war, zu Fuß bis zum Lorelei-Felsen vorzudringen. An dieser Stelle landete Hanke mit seinem Genossen, um den gedachten Felsen zu erreichen und dort das Nöthige für die Ueberwindung des Wasserfalles vorzubereiten. Später wurde auch Marinitsch an dieser Stelle ans Land gesetzt, um die Vorbereitungen zu einem Brückenschlage zu treffen, der im Svetina-Dom oberhalb des Wasserfalles ausgeführt werden sollte. Dieser Brückenschlag hatte den Zweck, zur leichteren Beischaffung des Materiales dort unten die beiden Ufer zu verbinden. – Eine Menge von schweren Gegenständen mußte zunächst auf die Höhe des Lorelei-Felsens geschafft werden. Um mit allen diesen Lasten zu demselben zu gelangen, war man genöthigt, vorerst eine Höhe zu überklettern, für deren Beschreibung ich kein anderes Bild weiß, als das einer Mondlandschaft im Kleinen.
Die Felsen waren dort so scharfkantig, von der Wirkung der Hochfluthen zerfressen, durchbohrt, abgeschliffen und zugespitzt, daß es schon für einen einzelnen Menschen ein Ding von großer Schwierigkeit war, dort hinüber zu kommen. Trotzdem gelang es der ganzen Gesellschaft, mitsammt ihrem Gepäck und ihren Lasten jene Höhe zu überschreiten. Eine besondere Schwierigkeit war es, sich davor zu verwahren, daß man in die Wassertümpel hineinglitt, welche sich auf jenem Hang überall, von scharfen Rändern umgeben, in den Felsen eingegraben haben.
Endlich war die Höhe des Lorelei-Felsen erreicht. Die Temperatur betrug hier + 8° C., während draußen, vor dem Eingang in die Unterwelt + 6,8° C. gemessen worden war. Die Temperatur des Wassers wurde zu + 5,8° C. gefunden.
Man war jetzt bereits bis zu jener Gegend der Unterwelt vorgedrungen, in welcher es der Wärme nach ebenso wenig Jahreszeiten giebt, als man die Räume, in welchen noch ein Unterschied zwischen Nacht und Tag wahrnehmbar ist, schon vor dem zweiten Wasserfall hinter sich hatte.
Die Arbeit der Gesellschaft zerfiel hier in zwei Theile. Vorerst mußte das Boot, in welchem die Fahrt unterhalb des Wasserfalls fortgesetzt werden sollte, bis zum Rande des Flusses über das steile Ufer hinabgelassen werden. Sodann mußte es unten Jemand in Empfang nehmen und so in die aufwallenden Strudel der Wasser einsetzen, daß es, wenn man es an einem Tau über den Katarakt hinabließ, unterwegs nicht umschlug. – Mittlerweile waren die Spitzen der Felsenhügel, welche jenen Schauplatz umgeben, allenthalben beleuchtet worden, und die Gesellschaft war im Stande, alle einzelnen Vorgänge gut zu überschauen. Von einer wechselseitigen Verständigung durch Zurufe konnte wegen des Brausens der Wasser keine Rede sein. Es mußte deßhalb zu den Signalwerkzeugen der Grotten-Reisenden, den Hifthörnern, gegriffen werden. Der Gesellschaft wurde hier ein Anblick, wie ihn noch nicht viele Menschen gehabt haben. Ringsum Berge, Thäler und rinnende Wasser, wie auf der Oberwelt. Die Ähnlichkeit mit der Mondlandschaft zeigte sich auch in den schwarzen Schlagschatten, von welchen jene Schlüfte ausgefüllt waren, wohin das Blinken der Magnesiumflamme, welche wie weißglühendes Eisen leuchtet, nicht drang. Die Fackeln, die man hier und dort umherirren sah, erschienen dagegen wie trübe, braunrothe Punkte. Dämonisch war der Anblick des schaumbedeckten Kataraktes und der Traufen, welche von ihm in die Kegel der Magnesiumlichter hinaufflogen. Es war ein Strom von silberweißem Feuer, wie ihn noch keine Einbildungskraft eines Dichters gesehen hat. Dazu flimmerte es in der Luft weit hinauf von leuchtenden Punkten in allen Farben. Es war dies der Wasserstaub, angeglänzt von den mannigfaltigen Lichtern der Reisenden. Zugleich nahmen sie eine Erscheinung wahr, wie sie Grottenwanderern des Karstes nicht selten wird. Die hohe Decke des Gewölbes, zu welcher nur schwächliche Streiflichter der Flammen aus der Tiefe hinaufreichten, erschien ganz und gar wie der dunkle Nachthimmel der Oberwelt, über welchen leichte Wölkchen ziehen, die von einem noch unterhalb des Gesichtskreises stehenden Vollmond leicht angeglänzt sind. Diese Täuschung wird hervorgebracht durch die schwarzgraue Färbung des Gesteines oben, an welches sich hier und da flache Krystallbildungen von Kalksinter angelegt haben. Diese letzteren [470] sind die lichten Wölkchen. Ihre vermeintliche Bewegung wird durch die Unruhe der wandernden Lichter hervorgebracht. Man nehme dazu den Klang der Hifthörner, das Aufblitzen von Fackeln auf beiden Ufern, das Donnern des Wassers und die Aufregung, welche sich der Reisenden in Bezug auf das Gelingen ihres Werkes bemächtigt hatte!
Zunächst wurde eine Strickleiter gelegt, um demjenigen, welcher dort unten das Schiff auf das Wasser zu setzen hatte, das Absteigen zu ermöglichen. Das oberste Ende der Strickleiter wurde um einen Felszacken gelegt. Von hier aus fiel die Leiter senkrecht acht Meter lang gegen den Fluß ab. Doch lag sie an verschiedenen Stellen auf dem zerrissenen Felsgestein auf. Unten erreichte sie einen winzigen Vorsprnng, welcher gerade genug Halt für einen Fuß bot, immer aber noch über einen Meter über das Wasser erhaben war.
Auf dieser Strickleiter kletterte Hanke in die Tiefe, von allen Seiten überschüttet durch den aus dem Wasserfalle aufsteigenden Sprühregen. Alsdann wurde an drei starken Stricken das ausgerüstete Boot zu ihm hinabgelassen. Seine Stellnng unten war eine gefährliche. Mit der einen Hand mußte er sich an der Strickleiter halten, während er mit der anderen an der Lage des Schiffes zu arbeiten hatte. Dabei schwebte der eine Fuß über dem Wasser.
Die Bewegung der Wellen war hier so stark, daß es nicht gelang, das Boot anders, als halb mit Wasser angefüllt, zum Stapellauf zu bringen. Hanke’s Hifthorn verkündete denselben.
Ein Hurrah! vom Gipfel des Felsen herab, welches den Wasserfall übertönte, und nach wenigen Augenblicken tauchte das Schiff jenseit des Kataraktes aus dem Schaume auf und lag unten, sich schaukelnd, neben dem Felsen.
Die Gesellschaft kletterte nun auf der dem Boote zugewandten, überaus steilen Seite des Lorelei-Vorgebirges hinab. Es handelte sich nun um die Weiterfahrt. Man beschloß, in der Weise vorzugehen, daß zuerst Einer dieselbe unternahm, um am jenseitigen Ufer sich nach einer Landungsstelle umzuschauen, von welcher aus er vielleicht eine Strecke weit den Weg zu Fuß zurückzulegen vermöchte. Es wurde das Wasser ausgeschöpft, und Hanke trat zuerst allein die Fahrt an, um zu sehen, wie sich weiter abwärts der Lauf des Flusses gestalte.
Dieser Pionier fand es für nothwendig, seinem Schiffe an Bindfäden sogenannte „Schwimmer“ vorausgehen zu lassen, rundliche Brettchen, auf welchen ein Licht befestigt ist.
Trotz der Wucht, mit welcher das Wasser sich unterhalb des Kataraktes noch fortbewegt, sah man diese Schwimmer doch bald ihre Bewegungen verlangsamen, sich endlich im Kreise herumdrehen und fast völlig still halten. Es war sofort klar, daß der Fluß sich hier zu einem See ausweite. Bald verkündeten Signalrufe Hanke’s, daß er einen entsprechenden Landungsplatz gefunden habe. Das Schiff kehrte mit ihm zurück, und es wurde nun die ganze Gesellschaft allmählich übergesetzt.
Sie erreichte ungefähr an der Stelle, wo der Strom in den See einfließt, ein felsiges Ufer, auf dessen Grunde sich viele sogenannte „Steinmühlen“ befanden. Diesen Namen hat von den Reisenden der Unterwelt eine eigenthümliche Erscheinung erhalten. Tritt Hochwasser ein, so werden gewisse, mit Geröll angefüllte Grübchen, welche unten durch einen Spalt mit weiteren Räumen der Unterwelt in Verbindung stehen, so rasch mit Wasser angefüllt, daß die zugeführte Menge desselben nicht in der gleichen Schnelligkeit wieder ablaufen kann. Es entsteht dadurch in den kreisrunden Gruben nach unten hin eine quirlende Bewegung, von welcher die Steine mitgerissen werden. Die Reibung, welche dabei erfolgt, rundet die Steine und schleift sie ab. Dieselben erhalten dadurch ein Aussehen wie glattpolirte Spielmarken. Jeder, der ein solches Nest dieser weißen Plättchen zum ersten Male sieht, wird dieselben mit Staunen betrachten.
Hier wurde nunmehr ein Hügel bestiegen und versucht, mit Magnesiumfeuer die nächsten vorliegenden Strecken des Gebietes aufzuhellen. Als man den Gipfel des Hügels erreichte, hörte man aus jener Richtung her ein Brausen, welches den siebenten und achten Wasserfall ankündigte, die späterhin erreicht worden sind. Mehr als hundert Meter weit ragten vor dem Glanze des Magnesiums die Riesenschatten der Reisenden über die Wasser gegen die Gewölbe hinauf. Müller fand den treffendsten Vergleich. Dieses Stück Unterwelt in dem starren Glanze der Kalkspath-Krystalle glich einer von Nordlichtern überstrahlten Polar-Landschaft.
Jenseit des Sees, auf welchem trotz des tiefen Wassers wegen dessen Klarheit die Bootfahrenden sich vorkamen, als schwebten sie in der Luft, erheben sich schneeweiße Gebirge.
Zum ersten Male leuchteten die Flächen ihrer Rhomboëder im Glanze irgend eines Lichtes. Die alten Steinriesen schienen dieses Fest feiern zu wollen, denn ein Glanz wie von zahllosen Edelsteinen strahlte den ankommenden Menschen entgegen.
An jenem Tage gelangte man jenseit des Sees, welcher nach seinem Entdecker den Namen „Müller-See“ erhielt, noch an einen zehnten und elften Wasserfall. Von dort ab wendet sich, wie auch spätere Forschungen ergaben, der Fluß gegen Nordwesten. Die Gegenden, welche hier noch zu durchwandern sind, bedeckt eine Nacht, in welche nie ein Strahl drang. Es werden aber neue Reisen in diese Unterwelt geplant, und vielleicht ist der Tag nicht mehr fern, an dem der Schleier fällt, mit welchem die große Isis den Lauf dieses Stromes seit dem Anbeginn der Zeiten verhüllt hat.
Was will das werden?
Es ist der Leim und das Holz, hatte Bruder Otto gesagt, als er mich am ersten Abend über den Boden, der als Werkstatt diente, in mein Giebelstübchen führte, und hatte damit die schlechte Luft in den Räumen erklären wollen. Nun, sie erklärten mir bald noch mehr, der Leim und das Holz; erklärten mir, weßhalb es mit Otto’s „Bautischlerei“ nicht vorwärts ging und gehen konnte, denn der erstere war ausnahmslos schlecht und das letztere ein- für allemal feucht. Die Thüren, die aus seiner Werkstatt kamen, verzogen sich und wurden rissig; die Fenster wollten oft schon nach wenigen Tagen nicht mehr schließen – Pfuscharbeit, welche von den soliden Bestellern nicht einmal abgenommen und von den unsoliden hinterher nicht bezahlt wurde, in welchen beiden Fällen es dann regelmäßig zu einem Processe kam, den Otto ebenso regelmäßig verlor. Und dabei arbeite er doch von Tagesgrauen bis in die sinkende Nacht! und wenn er zugeben müsse, daß seine besser situirten Kollegen freilich mit leichter Mühe bessere Waare liefern könnten, so hätte er doch auch dafür die Preise so niedrig gestellt! Er sei eben Einer von Denen, auf die es das Unglück abgesehen; dagegen sei, wie gegen den Tod, kein Kraut gewachsen, wenigstens so lange die Socialdemokratie mit der gräulichen Wirthschaft, die in der Welt herrsche, nicht ein Ende gemacht habe – mit Schrecken seinetwegen; ein armer Teufel, wie er, könne auf keinen Fall etwas verlieren, höchstens gewinnen, es möge nun drüber oder drunter gehen.
Ich sah, daß von dieser Seite keine Hilfe zu erwarten war, und wandte mich, den Bruder vor der Hand ganz bei Seite lassend – an die Schwägerin. Sie wollte ja gern Alles thun, wovon ich glaubte, daß ihnen damit geholfen werden könne, und Gott möge geben, daß es helfe! Noth thue es; sie sei mit ihrem Rathe zu Ende und mit ihren Kräften auch.
Ich brauchte diesen Beistand wahrlich, sollte ich nicht bei meinem Rettungswerke verzagen. Konnte ich doch sicher sein, was ich an einem Tage mühsam errungen, durch Otto’s Unverstand am nächsten wieder in Frage gestellt, ja vernichtet zu sehen. Glücklicherweise schienen meine Bestrebungen von Demjenigen anerkannt zu werden, der in der ganzen Angelegenheit den Ausschlag geben konnte: von dem Holzhändler Kunze, auf dessen Grundstück die elende Baracke stand, die wir bewohnten, und der auch Otto’s Hoflieferant war: ein kleiner, untersetzter Herr, der wenig Worte machte (und dann unweigerlich in [471] unverfälschtem Berliner Dialekt), dafür aber mit seinen hinter den dicken rothen Backen fast verschwindenden Augen (von denen das eine noch dazu bedenklich schielte) sehr scharf beobachtete und jedenfalls mich, ohne daß ich es gewahr geworden wäre, sehr scharf beobachtet hatte.
Der nun hielt mich eines Tages, als ich mit höflichem Gruße an ihm vorüber wollte, auf dem Holzhofe an und sagte, daß er mit mir zu sprechen habe. Mir schlug das Herz. Ich hatte ihm freilich die seit einem halben Jahre rückständige Miethe vor ein paar Tagen bezahlt; aber es war noch ein großer Posten von ihm entnommener Bretter zu begleichen, und meine Kasse war bis auf eine kleine, bereits zur Abtragung einer andern Schuld bestimmte Summe leer. So war mir denn übel zu Muthe, während ich dem Manne in sein Komptoir folgte, das sich in einem mitten auf dem Hofe errichteten Holzhäuschen befand; ja, ich machte mich auf das Schlimmste gefaßt, als er jetzt seinen „jungen Mann“ mit irgend einem Auftrage wegschickte und, nachdem er mich gebeten, Platz zu nehmen – auf einem kleinen schwarzen Sofa, welches ganz dem in J. J.’s Komptoir, schauerlichen Andenkens, glich – in dem Hintergrunde des Gemaches mit dem Schlüsselbunde an einem Schranke zu rasseln begann, um aus demselben, wie ich nicht zweifelte, jene unbeglichene Rechnung hervorzuholen.
Da war es denn eine überaus erfreuliche Empfindung für mich, als Herr Kunze aus dem fragwürdigen Schranke anstatt der erwarteten Rechnung eine höchst unerwartete Flasche Rothwein nebst zwei Gläsern hervorholte, welche erfreulichen Dinge er auf dem kleinen Tische vor dem Sofa sorgsam aufbaute, um, nachdem er die Gläser gefüllt, mit mir angestoßen und nachdenklich das seine bis zur Hälfte geleert hatte, zu sagen, was er schon seit vierzehn Tagen auf dem Herzen habe; aber er sei ein vorsichtiger Mann und seine Maxime sei: trau, schau, wem?
Mir nun glaube er so weit trauen zu dürfen. Mein Bruder sei, mit Vergunst, ein Schwachkopf und Faselhans, den er schon längst aus dem Hause und vom Hofe gejagt, wenn ihn die Frau und die Kinder nicht gejammert hätten. Und auch so würde er binnen Kurzem dazu gezwungen gewesen sein, wäre ich nicht gekommen, und hätte er nicht gesehen, daß ich mir rechtschaffene Mühe gebe, den Karren aus dem Schmutze zu ziehen. Da wolle denn auch er seine Schulter ein bischen ans Rad legen, und über die unbezahlten Bretter solle ich mir nur keine Sorge machen; im Gegentheile! Er sei bereit, das schlechte Zeug, so viel noch davon vorhanden, zurückzunehmen und uns dafür gutes, brauchbares Holz für denselben billigen Preis zu geben. Auch habe er für uns einen namhaften Auftrag, den er uns zuwenden wolle, wenn ich mich für solide Arbeit und prompte Lieferung verbürge.
So weit war gewiß Alles gut und mehr als das. Nun aber kam ein schlimmer Punkt, welchen der dicke Herr, trotzdem ich wiederholt davon abzulenken suchte, mit unbehaglicher Hartnäckigkeit in sein schielendes Auge faßte. Ich hätte doch wohl gesehen, daß er ein Mann sei, mit dem sich reden lasse, und ich gefiele ihm so weit ganz wohl; aber ich würde ihm noch besser gefallen, wenn ich ihm gefälligst sagen wollte, mit wem er denn eigentlich die Ehre habe? So viel habe er nun schon heraus – trotzdem ich ja in der Werkstatt fleißig mitarbeite und auch vom Rechnungswesen Einiges verstehe – ein gelernter Tischler sei ich nicht, ein gelernter Kaufmann ebenso wenig, überdies eigentlich gar nicht Otto’s Bruder, wie er gelegentlich von den Hopps erfahren, die ja so große Stücke auf mich hielten. Das Alles gehe ihm sehr durch den Kopf, und wenn er auch die Neugier den Weibern überlasse, so sei doch sein erster Grundsatz immer trau, schau, wem? gewesen, und sein zweiter: den Leuten reinen Wein einzuschenken.
Herr Kunze hatte bei diesen Worten das Glas erhoben, diesmal aber nicht, um mit mir anzustoßen, sondern um mit dem gesunden Auge durch das purpurne Naß zu blicken, während er das schielende starr auf mich gerichtet hielt, als auf ein zweites Glas, in welchem er eben so „reinen Wein“ zu sehen wünsche, wie in jenem. Ich hatte mir unterdessen überlegt, daß es zweifellos das Beste sei, dem Manne seinen Willen zu thun, das heißt, ihm aus meinem Leben und von meinen Verhältnissen so viel mitzutheilen, wie nöthig war, sollte ich vor seinen Trau-schau-wem-Augen nicht als ein Hansdampf, wohl gar noch etwas Schlimmeres erscheinen.
„Wenn Sie’s man durchhalten,“ sagte Herr Kunze, nachdem ich meine aus einem gut Theil Wahrheit und einer kleinen Portion Dichtung klüglich gemischte Erzählung geläufig genug vorgetragen hatte. Ich meinte, er spiele auf meinen schwachen rechten Arm an, von dem ich allerdings einräumen mußte, daß er mir schon ein paarmal bei besonders schwerer oder andauernder Arbeit hinderlich gewesen sei.
Herr Kunze schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht,“ sagte er, „obgleich es auch ins Gewicht fällt. Aber sehen Sie, lieber Herr Lorenz, da wollte mir vorgestern Einer ein Pferd verkaufen – ein Milchmann – für ein Spottgeld – er hatte es in der Lotterie gewonnen – es wolle partout nicht vor seinem Karren gehen. Ein wunderschönes Pferd, sage ich Ihnen – für einen Gardelieutenant. Ich konnt’s nicht brauchen. Sie nehmen es mir nicht für ungut, lieber Herr Lorenz; ich habe es nicht bös gemeint. Im Gegentheil! Ich wünsche von Herzen, daß Sie’s durchhalten. Darauf lassen Sie uns das letzte Glas trinken! Und, wie gesagt: Wurst wider Wurst! das ist immer mein Grundsatz gewesen.“
Ich trank das Glas von ganzem Herzen und ohne eine Spur von Empfindlichkeit gegen den Mann der vielen Grundsätze. Sein Gleichniß mit dem Gardelieutenantspferd war ein wenig grell; aber ich hatte mir die Frage: ob ich es durchhalten werde, in der ersten Zeit jeden Tag mehr als einmal vorgelegt, und wenn ich darauf natürlich immer mit Ja geantwortet – zuversichtlich war dies Ja nicht gewesen und hatte es nicht sein können.
Ich war kein Romanheld, ich war ein Mensch, der sich eine furchtbar schwere Last aufgeladen, grausam unter derselben litt und unfehlbar in kürzester Frist zusammengebrochen wäre, hätte er nicht zu Denen gehört, die – ohne daß sie sich ein Verdienst daraus machen dürften oder wollten, sondern weil eben ihre eingeborene Natur nicht anders kann – es von Kindesbeinen an bitter ernst mit dem Leben nehmen, es handle sich um Großes oder Kleines.
Der Sommer hatte sich bereits zum Herbste gewandt, zusehends kürzer wurden die Tage; das Wetter war für die Jahreszeit ungewöhnlich rauh; selten daß die Sonne aus den Wolken hervorblickte, die sich bleiern von West nach Ost über den Himmel schoben, endlose Regengüsse herabschüttelnd, unter welchen die Lachen auf dem weiten Zimmerplatze von Tag zu Tag größer und die Luft in unserem engen, hart am mürrisch sich vorüberwälzenden Flusse gelegenen Hause dumpfer und schwerer wurde. Aber auf dem verregneten Platze, wenn mich mein Weg über denselben führte, begegneten mir nur Menschen, die mich freundlich, ja respektvoll grüßten, und aus dem feuchten Hause war die bange Trostlosigkeit gewichen, welche mich in der ersten Zeit tausendmal schwerer gedrückt hatte, als jetzt die dumpfe Luft. In der Werkstatt roch es gewiß noch nach Leim und Brettern; aber der Leim war von bester Qualität, und die Bretter, welche Herr Kunze selbst ausgesucht hatte, machten seinem Trau–schau–wem–Grundsatze alle Ehre. Wir hatten, die schleunige Arbeit zu bewältigen, einen Gesellen einstellen müssen, der mich anfangs nicht für voll nehmen wollte, bis ich ihm zu seiner Verwunderung nach wenigen Tagen die paar besonderen Handgriffe, auf die er sich mächtige Stücke einbildete, abgesehen hatte, und der mich jetzt um Rath fragte, wenn er mit seiner Kunst, was bald geschah, zu Ende war. Darüber versank denn wohl Otto mitten in der Arbeit in melancholisches Grübeln und seufzte tiefer als je – der arme Kerl! Aber diese Molluskennatur ihrer angeborenen und angewohnten Schlaffheit zu entreißen, hatte ich aufgeben müssen; ich mußte zufrieden sein, daß er mich wenigstens gewähren ließ; mir erlaubte, bis die Sonne der Socialdemokratie den Sumpf des allgemeinen Elends ausgetrocknet, ihn und die Seinen auf das Trockene zu retten.
Wußte er mir keinen Dank dafür, nun wahrlich, ich begehrte keinen, und was er mir vorenthielt, wurde mir von der Frau und den Kindern so reichlich gewährt, daß ich mich wohl für entschädigt halten durfte. Nicht daß Anna viel Worte gemacht hätte. Aber was sie nicht aussprechen wollte oder konnte – es klang aus ihrer Stimme, welche den mürrisch–weinerlichen Klang von Tage zu Tage mehr verlor; es gab sich kund in tausend Kleinigkeiten, die mich zu gleicher Zeit ergötzten und rührten.
Auch die Kinder waren mit Freuden in die neue Ordnung getreten, die „Onkel Lothar“ so viel Freude zu machen schien. [472] Sie hatten bald herausgefunden, daß er ihnen gern bei ihren kleinen Aufgaben half; des Abends, wenn ihm auch manchmal vor Müdigkeit fast die Augen zufielen, wunderschöne Geschichten erzählen und des Sonntags mit ihnen spielen konnte – gleichviel ob draußen auf dem Hof oder im Zimmer bei schlechtem Wetter – wunderschöne Spiele, von denen sich ihre kleine verkümmerte Phantasie nichts hätte träumen lassen. Und das war ein Lachen und Jauchzen, wie die öden Räume es noch nie vernommen! und dabei war der Glücklichste von der lärmenden Gesellschaft vielleicht Onkel Lothar selbst! Er hatte endlich einmal wieder Wesen, an die er sein Herz hängen konnte, ja, er hatte sie so zum ersten Male in seinem Leben: kleine, bedürftige Geschöpfe, die nach ihm um Liebe und Hilfe blickten, ihm vertraulich auf die Kniee kletterten und hinter ihm hergelaufen kamen, wenn er einen Ausgang zu machen hatte, ihn noch ein Streckchen zu begleiten, und, die kleine schmutzige Hand in seine legend, eifrig plaudernd neben ihm hertrippelten. Sie waren nicht schön, die Kinder – Lieschen hatte eine hohe linke Schulter, Karlchen einen Ansatz zu einer Hasenscharte, Rudolphchen watschelte auf Säbelbeinen, bei Hänschen war es nicht ganz richtig im Kopf. Auch die drei erstgenannten zeichneten sich nicht durch geistige Begabung aus – Kinder, Alles in Allem, eher unter als über dem Durchschnittsniveau – aber ich liebte sie doch und, ich glaube, besser, als wenn sie die schönsten und geistreichsten Prinzchen und Prinzessinchen gewesen wären. Ich las jetzt, nachdem sich mein Körper an die ungewohnte Arbeit mehr gewöhnt und meinem Geist die alte Freiheit zum Theil zurückgegeben hatte, gar viel in der Bibel, und wenn ich an den Spruch kam: „die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“, dachte ich zuerst an die kleine hochschultrige, hasenschartige, krummbeinige, dümmliche Schar, die da unter mir, immer zu zwei, in ihren engen Bettchen schlief, und an die sorgenvolle, arbeitgequälte Frau, in deren matten Augen ich einen schwachen Strahl vorher nicht gekannter Lebensfreudigkeit entzündet, und an den passiven Bruder, der dem moralischen Hausarzt nicht beistehen, die Schulter nicht – wie doch der gar nicht betheiligte Herr Kunze – an den festgefahrenen Familienwagen stemmen wollte, und vor dessen trauriger Leibes– und Seelenbeschaffenheit meine Kunst zu Schanden wurde.
Meine Kunst! Du lieber Himmel, wenn es hoch kam und ich „es durchhielt“, wie Herr Kunze sagte, und das Glück (an das Otto nicht glaubte) mich weiter so begünstigte – ich durfte ja hoffen, daß sie ausreichen mochte, diesen „Tropfen am Eimer“ zu trocknen!
Aber der Eimer, der übervolle, nach allen Seiten überquellende menschlichen Leids und Elends, wie ich es da vor mir sah in dieser Riesenstadt – das bescheiden–schöne Dichterbild erdrückend, verschlingend und an Stelle desselben einen unermeßlichen schwarzen Schlund öffnend, aus dem es ohne Unterlaß seine Schlammmassen wälzte – was bedeutete da das bischen individuelle Liebe, der Gran gesunden Menschenverstandes und opferfreudigen Muthes eines einzelnen, in seiner Vereinzelung hilflosen Menschen!
Das waren keine schwarzen Phantasien eines pessimistischen weltentfremdeten Poeten. Ich hatte den Rath des wackeren Professors von Hunnius befolgt und jetzt, da der Lärm des Lebenskampfes mich zu wild umtoste, meine Leier an die Wand gehängt; aber in dieser Welt, welche sich da durch die abendlichen Straßen wälzte, war ich längst kein Fremdling mehr. Und ich kannte sie nicht bloß vom Vorübergehen auf der Gasse. In wie vielen dieser dunklen Häuserkasernen war ich, der Handwerker zu Handwerkern, Bestellungen machend, Forderungen eintreibend, oder ausrichtend, was sonst das Geschäft erheischte, die steilen Treppen hinauf in die Mansarden, hinab in die dumpfigen Keller gestiegen und hatte in den engen Räumen so viel Hunger und Kummer, physische Gebrechlichkeit und moralische Häßlichkeit gesehen und beobachtet, daß man, wäre es räumlich meßbar gewesen, eben so viele weiteste fürstliche Säle damit hätte füllen können!
So war denn das gemeinsame Mühen der vielen wackeren und uneigennützigen Männer, Väter, Berather, Lenker und Helfer der Gemeinde, waren alle jene großartigen Einrichtungen und Veranstaltungen doch auch nur wieder ein Schöpfen in das Danaidenfaß des über die Menschheit verhängten Elends?
Von wem verhängt?
„Von dem brutalen Egoismus der Wenigen, welche sich durch jedes Mittel in den Besitz der Macht zu setzen wußten, um ohne Scham und Reue diese Macht gegen die Vielen auszubeuten,“ sagten die Socialdemokraten. „Von der Dummheit und außerdem von dem vielen Trinken,“ sagte Karl Brinkmann.
„Denn sehen Sie, lieber Herr Lorenz,“ sagte Karl Brinkmann; „wie das ist, ist es gewesen und wird es bleiben, so lange die Welt steht; einmal ein bischen besser, das andere Mal ein bischen schlimmer, was denn just keinen großen Unterschied macht. Gute und schlechte Menschen hat es immer gegeben und wird’s immer geben. Und, wenn man’s bei Licht besieht, sind der schlechten gar nicht so viele, und die meisten sind auch gar nicht so sehr schlecht. Aber die Dummen, lieber Herr Lorenz, die werden nicht alle, sagen sie hier in Berlin, wo sie es wissen müssen, denn sie haben sie hier gleich scheffelweise. Und sehen Sie, lieber Herr Lorenz, das ist das wahre Unglück, gegen das kein Kraut gewachsen ist, wie Ihr Bruder Otto zu sagen pflegt. Was so ein richtig dummer Mensch ist, aus dem wird sein Lebtag kein kluger, Sie mögen mit ihm anstellen, was Sie wollen. Ich weiß das von den Pferden; da ist es just so. Und wenn die Pferde sich aufs Trinken legen könnten, wie die Menschen, wär’ es noch juster so. Das können die Gott sei Dank nicht; die saufen ihr Lebtag nur Wasser. Aber die Menschen, die können es, Gott sei’s geklagt. Und nun trinkt so ein dummer Mensch sich sein bischen Verstand und Gesundheit vollends weg, und dann wundert er sich, wie er ins Unglück gekommen ist. Darum, lieber Herr Lorenz, sehen Sie, ist es auch mit der Socialdemokratie nichts: denn das werden sie nie zu Stande bringen, daß von zehn Menschen, die geboren werden, nicht mindestens die Hälfte dumm ist; es mögen auch wohl zwei Drittel sein – nach meiner Taxe. Und dann wird die kluge Hälfte oder das kluge Drittel immer die dumme Hälfte oder die dummen zwei Drittel im Sack haben, und ich wüßte auch nicht, was dagegen zu sagen wäre. Denn regieren können sich die Dummen gerad so wenig wie die Kinder, die auch aufmucken, weil sie natürlich Alles besser wissen, und wenn sie dann in der Patsche sitzen, sind sie doch froh, wenn ein Erwachsener kommt und sie herausholt. Und was die Socialdemokraten immer sagen, daß es die paar Klugen so viel besser hätten wie die Dummen – das heißt, sie sprechen ja nie von Klugen und von Dummen, und von Fleißigen und Faulen auch nicht, sondern immer nur von Reichen und Armen, als ob der Reichthum den Leuten vom Himmel gefallen wäre und dumme Reiche lange reich blieben – so wäre dagegen auch nicht viel zu sagen. Denn die guten Pferde sind den Hafer werth, und ich habe Rackers genug vor dem Wagen gehabt, für die Häcksel noch viel zu gut war. Aber es ist nicht einmal an dem. Denn, was so ein kluger Mensch ist, der muß gleich immer für zehn und zwanzig und auch wohl für noch mehr arbeiten und sorgen und sich abrackern, just so, wie ein fleißiges Pferd, wenn der Kutscher nicht aufpaßt, den Wagen ganz allein zieht, und das faule troddelt nebenbei. Und, steckt der Karren fest, schindet sich das fleißige ab und reißt ihn ’raus, und das faule thut nur so, wenn’s auch noch so viele Schläge kriegt. Glauben Sie mir, lieber Herr Lorenz, das Elend kommt von der Dummheit und würde davon kommen, wenn auch das verdammte Trinken nicht wäre. Mit dem zusammen kommt’s aber erst recht davon.“
Der brave Karl Brinkmann hatte sich sein System, wie andere Philosophen auch, aus den Erfahrungen gezogen, die er im Leben gemacht, den Beobachtungen, die sich ihm früher oder später aufgedrängt. Ich konnte das am besten beurtheilen, der ich ihn von Kindesbeinen an kannte und wußte, welcher Art seine Erfahrungen gewesen waren bis auf den heutigen Tag, und die Richtigkeit seiner Beobachtungen leider vollauf bestätigen mußte. Ich hatte den Hopps die Gutthaten nicht vergessen, die sie einst an dem armen Tischlerjungen gethan, und das Herz schnürte sich mir zusammen, mußte ich denken, in welchen breiten behaglichen Verhältnissen diese Menschen einst gelebt hatten – und nun sah, was aus all der Herrlichkeit geworden war: noch das bare Elend nicht, aber etwas, das unheimlich nahe daran grenzte und dazu werden mußte, wenn H. H. seiner unseligen Leidenschaft nicht Herr wurde. Und das wagte ich nicht zu hoffen von Einem, der sich niemals hatte beherrschen können, dem das Unglück den geringen moralischen Halt vollends gebrochen und der, wie er
[473][474] früher getrunken hatte, um die Lust zu erhöhen, jetzt trank, die Unlust und das heimlich nagende Gefühl seiner Ohnmacht zu ersäufen.
Die arme gute Frau Hopp! Sie liebte den Trunkenbold noch immer; nahm alle Schuld auf sich, die nicht besser zu wirthschaften verstanden, durch ihre schlechte Wirthschaft ihren braven Mann um sein Vermögen und dadurch zur Verzweiflung gebracht habe! Und wenn Christine über ihren alten guten Vater die Nase rümpfe, weil er manchmal in seinem Kummer ein Glas zu viel trinke, solle sie sich doch erst einmal fragen, ob sie ihm keinen Kummer bereite! Und wenn Karl Brinkmann in der Stadt herumgehe und seinen alten Herrn schlecht mache, selbst vor alten Freunden, wie ich doch einer sei – keinen Fuß sollte der Duckmäuser wieder über ihre Schwelle setzen! Sein Lamentiren und seine Begräbnißmienen habe sie schon lange satt. Und wenn er denke, er könne in ihrem Hause den Meister spielen, weil er seine paar Groschen in dem Geschäft angelegt habe, morgen solle er kommen und sie sich wieder holen, und sollten ihre letzten sieben Sachen dafür aufs Leihhaus wandern müssen!
Der arme Karl Brinkmann! Das war der Lohn für die Treue, mit der er aus freien Stücken der Familie seines Herrn in die Verbannung gefolgt war, dem hereingebrochenen Ruin mit Aufbieten aller seiner Kräfte, mit Hingabe seiner ganzen mühseligen Ersparnisse sich entgegenstemmte und in der Familie einzig und allein noch zwischen einem zur Noth erträglichen Dasein und der völlig unerträglichen verschlingenden Noth stand!
Wie oft war ich schon auf meinen Gängen durch die Stadt dem guten Kerl begegnet, während er in gleichmäßigem Trabe an mir vorüberkutschirte – Kutscher, Wagen und Pferd ein Bild der Tüchtigkeit und Sauberkeit – und er hatte mir dann, wenn er meiner gewahr wurde, zugenickt – auf dem jetzt von einem ergrauenden Bart beschatteten Gesicht ein Lächeln, das mir immer wie ein Gruß war aus der seligen Jugendzeit. Oder ein glücklicher Zufall hatte es auch gemacht, daß ich ihn auf dem „Stande“ traf und mir von ihm die neuesten Nachrichten aus dem H. H.’schen Quartier erzählen lassen durfte, in welches ich, nachdem es kürzlich von Moabit in das weitentfernte Innere der Stadt verlegt worden war, jetzt nur noch sehr selten kam.
So hatte ich ihn auch heute Abend getroffen. Ich hatte bis nach Feierabend in dem Kunze’schen Neubau, für welchen wir die Tischlerarbeit übernommen, zu thun gehabt und war auf dem Wege zu einer socialdemokratischen Versammlung, die in eben diesem inneren Stadttheile, aber erst zu einer späteren Stunde, stattfinden sollte. Brinkmann’s Wagen war der letzte in einer langen Reihe; er hatte eben eine „Zeitfuhre“ von zwei Stunden gehabt, und ich traf ihn, als er dem müden Gaul die Decke überbreitete (es war noch eine von den alten Decken mit dem H. H. in der Ecke – genau so eine, wie die, welche über des Vaters Lager gebreitet gewesen in seinem Kämmerlein hinter der Werkstatt). Wir standen, Brinkmann am Kopf seines Pferdes, noch auf dem Pflaster, ich am Rande des Trottoirs, im Scheine einer nahen Laterne; ich hatte dem alten Freunde gesagt, wohin ich wollte, und daß es das erste Mal sei, daß ich eine derartige Versammlung besuche – auf Zureden meines Mitgesellen, der für die neue Lehre schwärmte. So waren wir in ein social– politisches Gespräch gerathen, und Brinkmann hatte als seiner Weisheit letzten Schluß sein System von dem Ursprung alles Elends auf Erden entwickelt. Ich konnte dem braven Menschen nicht ganz Unrecht geben, freilich auch bei weitem nicht ganz Recht; mochte ihn aber durch Widerspruch nicht kränken, um so weniger, als er heute Abend noch ganz besonders schwermüthig unter seinem harten glänzenden Hut aus den guten blauen Augen schaute. Ich fragte ihn, ob (ich brauchte nicht zu sagen: wo?) etwas besonders Unangenehmes vorgefallen sei?
„Besonderes? Daß ich nicht wüßte,“ erwiderte der Alte, seinem Pferd die Kinnkette aushebend und das Gebiß aus dem Maule nehmend; „es geht so weit Alles seinen Gang; bloß Karling und Liesing werden wohl die Masern kriegen; aber sie sollen ja dies Jahr besonders gutartig sein, und, wenn Eines zu Hause krank ist, nimmt sich der Herr immer noch ein bischen zusammen, denn seine Kinder hat er doch lieb – das ist wahr, und deßhalb –“
Brinkmann hing dem Gaul die „Futterkiepe“ um.
„Und deßhalb?“ fragte ich.
„Es ist wegen der Christine,“ erwiderte er, sich den Hut ab– und aus demselben ein rothes Taschentuch nehmend, mit welchem er sich nachdenklich die Stirn wischte.
„Was ist mit ihr?“ rief ich.
„Wer das wüßte,“ antwortete er, den Hut, bevor er ihn wieder aufsetzte, von allen Seiten betrachtend; „aber es ist nicht, wie es sein sollte. Ich glaube, es ist die alte Geschichte.“
„Das glaube ich nicht,“ sagte ich eifrig. „Ich kenne Schlagododro besser, wie Ihr. Mag er sich noch so sehr verändert haben in den vier oder fünf Jahren – einer Schlechtigkeit wird er niemals fähig sein.“
„Schlechtigkeit?“ sagte der Alte, dem Pferde leise, langsame Schläge auf den Hals gebend; „nein, schlecht ist es just nicht, wenn zwei junge Leute, noch dazu ein paar so schöne und stattliche, wie die Beiden, sich lieb haben. Aber wenn sie ein armes Mädchen ist, welches sich durch die Welt drücken muß, und er ein vornehmer Herr, dem die ganze Welt sperrangelweit offen steht, wie ein Scheunthor, dann sage ich, es ist dumm von ihr, wenn sie denkt, daß er sie jemals heirathen wird. Und posito den Fall, er heirathete sie, so wäre das wieder dumm von ihm, denn Art läßt nicht von Art, und es gäbe ein Unglück so oder so, wofür dann der liebe Gott verantwortlich gemacht wird, als ob er den Menschen den Verstand gegeben hätte, um damit recht handfeste Dummheiten auszuhecken.“
„Ich denke, er hat sich nicht wieder bei Hopp’s sehen lassen,“ erwiderte ich.
„Es ist schwer, sich in Berlin zurecht zu finden,“ sagte Brinkmann; „aber Zwei, die sich finden wollen, die finden sich schon.“
„Und ich sage: das sieht ihm nicht ähnlich,“ rief ich.
„Sie sieht sich auch kaum noch ähnlich,“ brummte der Alte; „so blaß und abgegrämt – arme Dirn!“
Er hatte dem Pferde das Futtergeschirr abgenommen, um in demselben aus dem nahen Brunnen Wasser zu holen. Ich stand regungslos in tiefer Betrübniß über so schlechte Kunde. Der Alte pflegte sich nicht zu täuschen; seine stillen blauen Augen sahen so scharf.
„Na,“ sagte er, „adjies für heute. Und was ich noch sagen wollte: ich habe einen Brief von meinem Fritz aus London; er kann aber wieder keinen Urlaub kriegen, weil sein Schiff gleich wieder Ladung nach Valparaiso nimmt. So werde ich wohl noch ein Jahr warten müssen. Aber Ihren Bruder August werden Sie wohl schon früher zu sehen bekommen. Fritz hat ihn in London getroffen und August hat ihm gesagt, daß er nach Deutschland zurückwolle.“
„O weh!“ rief ich unwillkürlich.
„Haben Recht,“ sagte der Alte; „er hat sein Lebtag nichts als Dummheiten gemacht, und von der Sorte Menschen haben wir schon gerade genug im Lande. Sie nehmen’s mir nicht übel, Herr Lorenz. Denn sehen Sie, Sie gehören ja doch nicht dazu, trotzdem Sie ’mal wieder angezogen sind, daß ich Sie nicht aus den Anderen rausfinden würde, wenn ich Sie nicht von Kindesbeinen kennte und wüßte, daß Sie ein feiner junger Herr sind und so viel gelernt haben und eigentlich Doktor oder Assessor oder so was sein müßten, und da in die Versammlung gehen wollen, wo sie nichts als Dummheiten reden und machen – aber nicht wahr, Sie nehmen es mir nicht für ungut?“
„Ihnen nichts!“ rief ich, die dargebotene grobe Hand herzlich drückend.
„Na, dann adjies!“ sagte der Alte, das Geschirr aus der Linken in die Rechte nehmend und hinter den anderen Droschken nach dem Brunnen gehend, während ich meinen Weg auf dem Trottoir fortsetzte.
In schweren Gedanken. Wenn Schlagododro doch den schönen Adel seiner Seele eingebüßt hätte, so unritterlich geworden wäre, ein armes Mädchen seiner Leidenschaft opfern zu können! Wäre er doch nie über meine Schwelle gekommen da oben in dem alten Hause der Hafengasse! Aber, wie hätte ich denken können, daß seine Neckereien mit dem hübschen, lustigen Nachbarskinde jemals diese Wendung nehmen würden! Freilich, sie war längst schon kein Kind gewesen, die fünfzehnjährige großäugige Kokette, und er – nun, er hatte sicher schon damals seine Erfahrungen gehabt, war nicht umsonst durch seine adligen Kreise gelaufen! Dann war seine heroische Liebe zu Maria gekommen, und ich wußte jetzt, weßhalb Christine sich so eifrig nach den Geschehnissen in Nonnendorf erkundigt hatte und auf Maria, trotzdem sie [475] dieselbe nur ein paarmal flüchtig gesehen, immer so schlecht zu sprechen gewesen war. Dann mußte es das Unglück wollen, daß, kurz nachdem Hopps vor zwei Jahren nach Berlin gezogen waren, Schlagododro die Familie, die sich anfangs noch wohl zeigen konnte, in einem Vergnügungslokale getroffen und die alte Freundschaft erneuert hatte. Das war ein Fest für H. H. gewesen! Seinen lieben Herrn von Vogtriz wieder zu haben, mit dem es sich so prächtig spaßen, so gründlich über Pferde und was damit zusammenhing, plaudern und so gemüthlich trinken ließ! Bis dann eines Abends dem braven H. H. – ich hatte nicht erfahren, bei welcher Gelegenheit – die trunkenen Augen aufgingen über die eigentliche Veranlassung von des jungen Herrn Besuchen in seinem Hause und es zu einer Auseinandersetzung kam, die diesen Besuch zu einem letzten machte.
Und nun sollte Schlagododro, wenn Brinkmann richtig gesehen, das leidige Verhältniß doch fortgesetzt oder wieder aufgenommen haben. Was konnte für das arme Mädchen daraus kommen als das Elend, das mich, der ich so, düsteren Sinnes, eilig dahinschritt, nur allzu oft vorüberstreifend aus frechen Augen anstarrte, von geschminkten Lippen entgegengrinste!
Ein heftiger Regenguß, der sich plötzlich entlud, hatte mich mit einer Schar Anderer in dem zugigen Nebendurchgang eines Hauses Schutz suchen lassen. Es kamen noch Mehrere, die uns zuerst Untergetretene weiter nach hinten drängten. Plötzlich gewahrte ich über die Köpfe der Leute weg im Vordergrunde, wohin noch der Flackerschein der nahen Straßenlaterne fiel, Jemand, der den schwarzen Haufen ebenfalls um Kopfeslänge überragte und in welchem ich, als er, nach dem Wetter aufblickend, für einen Moment den Kopf hob, Schlagododro zu erkennen glaubte. Ohne zu überlegen, daß ich ihn ja nicht ansprechen durfte, wollte ich mein Inkognito, an dem mir so viel lag, bewahren, drängte ich, der Schelt– und Drohworte der Leute nicht achtend, gewaltsam durch den Knäuel – vergebens: als ich den Ausgang erreichte, war die Stelle, wo der Herr gestanden, leer. Auf dem schmalen Trottoir der Straße schoben sich dicht neben den vorüberrasselnden Droschken und Lastfuhrwerken die Regenschirme durch einander. War er nach rechts, war er nach links gegangen? Ein hoffnungsloser Fall. Und vielleicht hatte ich mich geirrt: der Kopf mit dem modisch kurz geschnittenen Haar, das Gesicht mit dem starken blonden Schnurrbarte und (wenn ich recht gesehen) der breiten rothen Narbe quer über die linke Wange – sie mochten der Himmel weiß wem gehören; es waren nur der hohe Wuchs, die breiten Schultern und die Weise gewesen, mit welcher der Herr den Kopf in den Nacken schleuderte, was mich an den Freund erinnerte. Und es war gut so. Die alte Zeit lag hinter mir – ein Ruinenfeld, auf dem ich nichts mehr zu schaffen, nichts mehr zu suchen hatte – vorbei, vorbei!
Da – zwanzig Schritte vor mir – taucht sie wieder auf, die breitschulterige Gestalt, jetzt aber mit einer Dame am Arme, die auch vorhin schon bei ihm gewesen sein mag, nur daß ich die so viel Kleinere nicht bemerken konnte. Er hält den Regenschirm sorgsam über sie, während er eifrig zu ihr hinabspricht. Jetzt stehen sie an der Kreuzung der Straßen still; er drückt ihr den Regenschirm in die Hand, winkt einer leer vorüberfahrenden Droschke, welche sich alsbald mit ihm in Bewegung setzt. Die nun Einsame an der Straßenecke blickt dem sich rasch entfernenden Wagen noch ein paar Momente nach und geht dann, ein kleines Bündel, das sie zusammen mit dem Schirme in der Rechten gehalten, in die Linke nehmend, weiter die Straße hinauf. Mit ein paar raschen Schritten bin ich an ihrer Seite.
„Christine!“
„Ach, Sie sind’s!“
„Wohin willst Du?“
„Ich habe diesen Hut hier in der Nachbarschaft abzugeben.“
„Darf ich Dich begleiten?“
Sie zögert mit der Antwort. Ein paar junge Männer, die an uns vorüberstreifen, stoßen einander an und fangen an zu lachen. Sie schaudert zusammen und ergreift hastig meinen Arm:
„Kommen Sie!“
König Ludwig von Bayern an Josef Kainz.
Die folgenden Briefe des Königs Ludwig, welche vor Jahresfrist durch einen besonderen Anlaß von dem Empfänger derselben in meine Hände gelegt wurden, erregten mein größtes Interesse; zuerst weil sie in eigener Handschrift des Königs abgefaßt waren, dann auch weil die großen kräftigen Striche, welche die Schrift des Königs charakterisiren, verbunden mit der fast hilflosen Schrägheit der auswärtslaufenden Zeilen, zu der Einfachheit und Klarheit des königlichen Stils im hellen Widerspruch standen.
Die Briefe lagen lange Zeit hindurch unberührt in meinem Pulte. Die traurige Nachricht von dem jähen Tode des Monarchen ließ mich von Neuem dieselben durchsehen. Während ich die einzelnen Stellen der von wärmster Empfindung und von echtester Kunstbegeisterung durchglühten Briefe las, fühlte ich, daß ich nicht das Recht hatte, sie denen vorzuenthalten, die mit mir ein Interesse für die Herzensworte haben, welche in den nachfolgenden Schriften wiedergegeben sind.
Ich gebe den Inhalt möglichst wörtlich, nachdem ich mir dazu die Erlaubniß des jungen Künstlers, an den sie gerichtet sind, eingeholt und diejenigen Stellen, die allzu sehr auf seine Person lenken, zu kürzen versprochen. Wenn demungeachtet Vieles an persönlichem Lob für den Künstler stehen geblieben, so bitte ich den Adressaten deßwegen um Verzeihung!
Die Briefe sind geführt in der Orthographie des Königs in getreuer Wiedergabe aller seiner Eigenthümlichkeiten. Ein Theil der Schriften, der erste, der zweite und der dritte Brief, spricht für sich. Andere benöthigen der Erklärung, die ich, vom Empfänger aufs Genauste unterrichtet, an den geeigneten Stellen anfüge.
Wiederholt enthalten die Briefe Erwähnung der Namen „Saverny“ und „Didier“. Beide Benennungen wurden vom König und Kainz als Inkognito auf der später genannten Schweizerreise benutzt. Die Namen führen zurück auf die Bekanntschaft und spätere Freundschaft des jungen Künstlers mit dem König. Es war im Jahre 1881. In einer der Separatvorstellungen wurde „Marion de Lorme“ von Victor Hugo gegeben. Josef Kainz spielte den „jungen, heimathlosen Didier“, Herr Rohde den älteren Freund, „Marquis von Saverny“. Der König folgte dem Spiel mit regstem Interesse und übersandte, als die Vorstellung zu Ende war, dem überraschten Darsteller des „Didier“ einen überaus kostbaren, mit Sapphiren und Diamanten gefaßten Ring. Am folgenden Tage wurde das Stück „Marion de Lorme“ noch einmal befohlen.
Auch zum Schluß dieser Vorstellung erhielt Josef Kainz vom König ein werthvolles Andenken übersandt, begleitet von den Grüßen des Königs und dem Ausdruck seiner hohen Anerkennung.
Die Briefe, welche der jugendliche Künstler hierauf voll heißen Dankes an den König absandte, trugen ihm reiche Ernte. Von dem Ministerialrath von Bürkel erfuhr Josef Kainz, daß der König von dem stürmischen Wortlaut seines Schreibens aufs Angenehmste berührt worden war.
Es vergingen einige Tage, in denen zum Beschluß der Separatvorstellungen Vorbereitungen zu der Wagner’schen Oper „Meistersinger“ getroffen wurden. Am Tage der Vorstellung kam vom König der eben so überraschende als unbequeme Befehl, die Oper abzusetzen und an ihrer Stelle „Marion de Lorme“ zu bringen.
Der König folgte dem Spiel zum dritten Male von Anfang bis zu Ende und übersandte am Schluß des Abends dem jungen Didier-Kainz nachfolgende Botschaft: Er lasse ihn herzlichst grüßen, er danke ihm für den Genuß, den ihm sein Spiel bereitet, er hoffe, ihn dauernd an München zu fesseln.
Da diese Worte abermals begleitet waren von einem Werthgeschenk des Königs – ging selbstredend am kommenden Morgen ein glühender Dankesbrief von dem Künstler in das königliche Kabinet, und dieser Brief war es, der ihm das erste Schreiben aus der eigenen Feder des Königs eintrug. Dasselbe lautet:
(Erster Brief.)
„Lieber Herr Kainz! Noch ganz unter dem mächtigen Eindrucke Ihres ergreifenden, unvergleichlichen Spieles und des heute [476] von Ihnen erhaltenen, mich innig erfreuenden Briefes, folge ich dem Drange meines Herzens, um Ihnen es auszusprechen, wie tief ich fühle, daß ich es bin, der Ihnen Dank schuldig ist. – Dem Ihrigen haben Sie in so ergreifender, zu Herzen dringender Weise Ausdruck verliehen, so daß ich nicht anders kann, als in diesen Zeilen eigenhändig und persönlich aus tiefster Seele Ihnen meinen Dank und meine Freude zu erkennen zu geben.
Die Abende des 30. April, des 4. und 10. Mai sind mit goldenen Lettern meinem Gedächtniß eingeprägt. – Fahren Sie so fort in Ihrem so schweren, aber schönen und ehrenvollen Beruf, wie Sie herrlich begonnen haben, und seien Sie meiner aufrichtigen herzlichen Wünsche für Ihr stetes Wohlergehen versichert. – Ich sende Ihnen, lieber Herr Kainz, meine besten Grüße und bin mit freundschaftlichen Gesinnungen Ihr
wohlgewogener Ludwig.
Berg, den 11. Mai (12. früh) 1881.“
Der erste Brief des Königs spricht in seiner eigenen einfachen Art für sich selbst. Aus dem schlichten Herzenston, den er athmet, giebt sich die volle hinreißende Liebenswürdigkeit des Königs zu erkennen, die auch später in seinem Verkehr mit dem jungen Künstler Stand hielt.
In dem zweiten Schreiben König Ludwig’s läßt derselbe einen Funken von jenem Mißtrauen aufblitzen, das er, wohl zu Folge seines einsiedlerischen Lebens, seiner Abgeschlossenheit von jedem Verkehr, in seinem Innern genährt haben mochte. Dieses Mißtrauen äußerte sich besonders stark gegen die Mitglieder des Theaters. In der Antwort auf dieses Schreiben des Königs hat sich der Schauspieler Kainz mit warmen Worten seiner Kollegen angenommen, und zwar wie sich dies in späteren Briefen ergiebt, auch mit Erfolg.
Nach dem Empfang des zweiten königlichen Schreibens wurde Josef Kainz an einem Morgen, während der Generalprobe von „Richard der Zweite“, von einem Kabinetsdiener aufgesucht, der ihn im Auftrage Seiner Majestät noch an demselben Tag nach Schloß Linderhof befahl.[1] Die Uhr war elf. Um zwölf ging der Zug von München aus nach Murnau ab, und Kainz hatte nur noch Zeit, eilig die allernothdürftigsten Reiseutensilien einzupacken und an die Bahn zu eilen. Er kam an, um den Zug abfahren zu sehen.
Ein späterer Zug nahm Kainz an demselben Abend noch auf, und er gelangte kurz vor Tagesanbruch nach dem Linderhof, wo ihn der König in der blau beleuchteten Grotte des Schlosses aufs Herzlichste empfing. Zwei volle Wochen verlebte Kainz an der Seite des Königs auf Linderhof. Dortselbst reifte bei dem König der Plan einer Reise nach Spanien aus, auf der ihn Kainz begleiten sollte. Es schien diese projektirte Reise, von welcher der König noch in späteren Briefen spricht, eine langersehnte gewesen zu sein. Nach Granada sollte es zuerst gehen, um die Alhambra zu sehen, für die sich der König besonders interessirte.
Der zweite Brief lautet:
„Lieber Herr Kainz! Noch einmal drängt es mich einen Brief an Sie zu richten. Da ich sehr bald Berg zu verlassen gedenke, um mich in die Berge zu begeben, und jene Gegend zu besuchen, in welcher ich im vorigen Jahre jenes schöne und interessante Drama von V. Hugo gelesen habe, welches durch Sie mir verklärt ward, so daß es zu meinen theuersten Erinnerungen zählt, so will ich nicht von hier fort, ohne Ihnen meine herzlichsten Abschiedsgrüße zu senden. Acht volle Tage wurden es heute, seit ich durch Ihr hinreißendes Spiel begeistert ward, seit der zu Herzen dringende Klang Ihrer Stimme mich ergriffen hat! Und nicht will der tiefe und mächtige Eindruck aus meiner Seele schwinden! –
Herrlich ist V. Hugo’s Drama ,Hernani‘, welches dargestellt zu sehen mir unendliche Freude bereiten würde, natürlich nur dann, wenn Sie die Hauptrolle übernehmen. Ich sende Ihnen die Übersetzung des Stückes, nicht wissend, ob es Ihnen im Originale bekannt ist; was zu erfahren mich sehr interessiren würde. –
Es ist mir bekannt, wie boshaft, ränkevoll und mißgünstig die meisten Mitglieder des Künstler-Personales am Theater sind; falls Sie Feinde haben, die Ihnen zu schaden suchen, so will ich sie kennen, um Sie zu schützen und Ihnen die Bahn zu ebnen; denn Kummer und Sorgen jeglicher Art müssen Ihnen, so viel als nur irgend thunlich, erspart werden.
Sie wissen, wie sehr mich Ihre Stimme ergriff, und werden mich daher nicht mißverstehen, wenn ich Folgendes schreibe. In den ersten Acten kam es mir vor, als ob Ihr Organ mit Anstrengungen zu kämpfen gehabt und Sie sich früher wohl durch Uebereifer im Spiel innerlich geschadet hätten.
Wäre dem wirklich so, würde mich dies sehr betrüben! ich ersuche Sie mir hierüber zu schreiben. Leben Sie wohl und gedenken Sie freundlich mein, darum bitte ich Sie. Ihnen, lieber Herr Kainz, meine herzlichsten Grüße sendend, bin ich mit der Versicherung meines besonderen Wohlwollens und Vertrauens
Ihr Ihnen freundschaftlich gesinnter
Ludwig.
Berg, 17. Mai, Nachts. 1881.“
Dritter Brief:
„Lieber Herr Kainz! Diese Nacht wieder hier eingetroffen, will ich mich nicht zur Ruhe begeben, ohne Ihnen zuvor recht herzlich für Ihren lieben, mich sehr erfreuenden Brief zu danken, den ich, kurz bevor ich die Halbammer verließ, erhalten habe.
Es freut mich sehr, daß Sie gern an Ihren Aufenthalt im Linderhofe zurückdenken. Auch mir erscheinen die unvergeßlich schönen, dort mit Ihnen verlebten, so rasch dahin geschwundenen Tage wie ein Traum. Recht, recht schade ist es, daß die klimatischen Verhältnisse die Reise nach Spanien gegenwärtig nicht räthlich erscheinen lassen. Eine Stunde nach Ihnen verließ auch ich am 11. den Linderhof, außer der Halbammer konnte ich wegen des heftigen Schneefalles keine meiner anderen Berghäuser besuchen. Heute erhielt ich das von Ihnen mir am Plansee empfohlene Drama von Grabbe, mit dessen Lektüre ich bald zu beginnen gedenke. Hätte ein gütiges Geschick die so schön in Gedanken ausgemalte Reise Uns früher oder wenigstens in diesen Tagen antreten lassen, so wäre dieß recht gut für Uns beide gewesen, da die Gefahr des sich Ueberwerfens (das Gottlob bis jetzt nicht eintrat) wohl durch die Reise-Eindrücke ferne gerückt worden wäre. O möge der theure Didier seinen Freund Saverny nicht vergessen, der ihm aus ganzer Seele Alles nur Erdenkliche Gute wünscht, den Kummer und Krankheit für immer fliehen sollen! –
Große Freude würde mir ein Exemplar jenes in Wien zur Zeit Ihres Gastspieles erschienenen Blattes bereiten, welches Ihr Bild und Ihre Biographie enthielt!
Ist es Ihnen angenehm noch vor den Ferien so viel durch Studiren neuer Rollen in Anspruch genommen zu werden? wo nicht, wird es am besten sein, sich an Bürkel zu wenden.
Mögen Sie hier freundlich an Ihr mir gegebenes Versprechen gemahnt werden, Ihr wundervolles Organ stets recht zu schonen! Die Vögel beginnen zu singen, es dämmert stark, ich muß nun schließen, mein Bedauern über die schlechte Schrift aussprechend, denn ich hatte schauderhafte Federn. Indem ich Ihnen, lieber Herr Kainz, tausend herzliche Grüße sende, reiche ich Ihnen in Gedanken die brüderliche Hand und bin Ihr Sie bewundernder, Sie sehr hoch schätzender, freundschaftlich gesinnter
Ludwig.
Berg, den 16. Juni 1881 (Morgens).“
Das Organ des Künstlers Kainz wird in den Briefen so häufig betont, daß dieser Umstand einige Erklärung verdient. Wie es scheint, übte die eigenartige Stimme des Schauspielers von der Bühne herab einen besonderen Zauber auf den König aus. Als nun Kainz, in Schloß Linderhof angelangt, vor dem Könige stand und in minder kräftigem Ton, als dies die Bühne forderte, mit ihm sprach – zog es wie leichte Enttäuschung über des Königs Antlitz. Erst nach längerem Beisammensein äußerte er sich offenherzig darüber. „Sie sprechen so leise“, beklagte er sich, und dann verfiel er auf den Gedanken, während ihres Besuches in dem maurischen Kiosk den Springbrunnen plätschern zu lassen, um so den jungen Freund zu lauterem Sprechen zu veranlassen. So sehr entzückte ihn alsdann die Stimme, daß er sich mit geschlossenen Augen weit von ihm ab aufstellte, um so dem Klänge derselben zu lauschen. In dem innigen Verkehr, in dem sie zu einander standen, fiel es Keinem von ihnen ein, die Eigenthümlichkeiten, die wohl bei Jedem von ihnen bemerkenswerth sein mochten, rühmend oder tadelnd zu beleuchten. So bemerkte es der Künstler zur Zeit nicht, wie sehr sein Organ Gegenstand der Studie wurde, wie sehr der König bestrebt war, sich unter allen Umständen mit dem erhöhten Stimmklang zu umgeben. So war [477] es z. B. zur raffinirten Gewohnheit des Königs geworden, sich im Wohngemach weit von dem Freunde zu entfernen und ihn häufig mit einem hingeworfenen „Wie?“ „Was?“ zur lauten Wiederholung seiner Sätze zu veranlassen.
Vierter Brief:
„Lieber Herr Kainz! Es drängt mich, Ihnen für Ihren lieben Brief sowie für die mich ungemein erfreuende Zusendung Ihres Portraites, und die Biographie meinen allerinnigsten Dank von ganzem Herzen auszusprechen. Der Ton in welchem der Artikel gehalten ist, berührte mich wohlthuend.
Das heilige Feuer der hehren Liebe zur Kunst, welches in Ihnen flammt und diejenigen unwiderstehlich mit sich fortreißt, welche wirklich Sie zu hören und zu sehen verdienen, wird, wie könnte man daran zweifeln! triumphirend sich Bahn brechen, und an dieser heiligen Gewalt müssen die Ränke Ihrer Feinde zu schanden werden.
Das Feuer Ihres Geistes möge sie zu Asche brennen Ihre Neider und Widersacher, die ich hasse, als wären es die meinigen.
Darf ich die Zeitschrift behalten? – Seien Sie zum Schlusse, mein Bruder, herzlichst gegrüßt von Ihrem treuen Anhänger und freundschaftlich gesinnten Ludwig.
Berg, den 17. Juni 1881 (Morgens).“
Fünfter Brief:
„Lieber Herr Kainz! Volle 8 Tage sind heute dahingeschwunden, seit Sie und ich den Linderhof verlassen haben. Ungemein würde ich mich freuen, zu erfahren wie es Ihnen geht, ob Sie heiter und zufrieden sind und ob Ihre Collegen fortfahren, in dieser ausgesuchten Liebenswürdigkeit Ihnen gegenüber. Ist das bei Gelegenheit des Regimentsjubiläums zur Aufführung gelangende Stück schön und interessant? Welche Rolle haben Sie in demselben? Diesen Abend besuchte ich die Kaiserin[2] in Possenhofen, welche außerordentlich liebenswürdig war, fast 11/2 Stunde ging ich mit ihr im Parke spazieren, auch die kleine Erzherzogin Valerie bekam ich zu sehen und erhielt Jasmin-Blüthen von ihr überreicht.
Vielleicht wird die Reise nach Spanien im Oktober eher aus zu führen sein! Heute will ich die letzten 2 Ackte des neuesten Stückes von Heigel noch lesen und ,Der Traum ein Leben‘ wieder durchnehmen und bei den herrlichen Versen des Rustan, mehr denn je Ihrer gedenken und im Geiste den Zauber Ihrer Stimme mir zurückrufen. Nun Gott befohlen, theurer Bruder, vergessen Sie Ihren Saverny nicht, dessen Gedanken so oft bei seinem Freunde Didier weilen. Herzliche Grüße entsendetLudwig.
Berg, den 18. Juni 1881.
P. S. Sehr gespannt bin ich auf die Nachrichten über die Aufführung des ,Clavigo‘.“
Sechster Brief:
„Lieber Herr Kainz! Das Vorhaben, welches ich Ihnen zu schildern im Begriffe stehe, hat für mich nur dann Werth und Sinn, wird nur dann mich freuen, im Fall es Ihnen Freude gewährt. – Ich möchte nämlich in ein paar Tagen, wahrscheinlich Montag, den 27. d. M. eine kleine Reise in die klassischen, wunderschönen Urkantone der Schweiz, an die Ufer des herrlichen Vierwaldstädtersees unternehmen; aber nur dann, wenn Sie Lust hätten mitzureisen. – Wäre dieß der Fall, so würden Sie Ihre Reise nach Klosterneuburg etwa um 14 Tage später antreten ohne aber den Aufenthalt dortselbst abzukürzen.
Dieser kleine Aufschub wäre der einzige Unterschied. Diese Reise, von der ich glaube, daß Sie dieselbe in Zukunft kaum bereuen würden, wäre ein kleines Praeambulum zu Unserer Reise nach Spanien, welche aufzugeben ich mich noch nicht entschließen konnte. Falls Sie morgen (den 23.) wegen der Vorstellung (was sehr begreiflich ist,) keine Muße zum Schreiben haben, sind Sie vielleicht so gut, am 24. mir die Antwort zukommen zu lassen und morgen mir mündlich durch Hesselschwerdt Ihren Willen erkennen zu geben. Heute hatte die Kaiserin die
große Güte, mich hier zu besuchen, was mich hoch erfreute. Nun zum Schlusse, theurer Bruder, herzlichen Gruß vonLudwig.
Berg, den 22. Juni, Nachts. 1881.“
Im nachfolgenden siebenten Briefe spricht der König von einer Jubiläumsfeier. Es war dies das am 23. Juni 1881 zu feiernde zweihundertjährige Jubiläum des ersten Bayerischen Infanterie-Regiments „König“.
Siebenter Brief:
„Lieber Herr Kainz! Hier sende ich Ihnen das für Sie bestellte Werk über ,Spanien‘, sowie eines über die ,Schweiz‘ und würde sehr glücklich sein, wenn dieselben Ihnen Vergnügen bereiten. – Nun über jene Jubiläums-Vorstellung vom 23. d. M. Würde ich derselben anwohnen, so wäre dieß für mich eine kalte, steife das Gegentheil von Genuß bietende Repräsentations-Angelegenheit; wenn Ihr Spiel, woran ich nicht zweifle, noch so ausgezeichnet, das Stück noch so interessant sein wird. Der mächtige Eindruck, den das Drama ,Marion Delorme‘ und vor Allem Ihre hinreißende Darstellung als ,Didier‘ auf mich ausgeübt haben, würde natürlich nicht ausgelöscht werden, wohl aber Würde ein dichter, störender Schleier sich für mich darüber lagern; und nicht darf jener gewaltige, poesiedurchwehte Zauber (der mir wenn unentweiht wie bisher, den ganzen Sommer und Herbst verklären wird), zerstört und entheiligt werden. Nachdem ich Ihnen, theurer Didier dieß, wie ich es mußte, geschildert habe, glaube ich, werden Sie Selbst wohl schwerlich mehr den Wunsch hegen, daß ich mich gewissermaßen als Ovationsopfer an jenem Abende preisgebe; der herrliche, poetische Eindruck von damals würde zu sehr dadurch zerrissen werden. Wie freue ich mich um Ihretwillen, daß die Theaterferien bald beginnen werden. Ruhe wird Ihnen wohlthun. Ich fürchte immer, daß Sie Sich bei den Meiningern vor Allem, aber auch wohl vor sowie nach dieser Zeit all zu sehr angestrengt haben und dieses Zuviel würde, wenn Sie nicht rechtzeitig sich schonen, unfehlbar Ihre Nerven überreizen; Sie würden Sich für die Dauer dadurch schaden. Dieß würde mich, da Sie mir so theuer sind und Ihr Wohl und Wehe mir so sehr am Herzen liegt, furchtbar schmerzen. Herzlich freute es mich, aus Ihrem letzten lieben Briefe zu ersehen, daß Sie wohlauf sind und Sie über Ihre Collegen nicht zu klagen haben.
Die Lektüre von Grillparzer’s ,Der Traum ein Leben’ war mir ein hoher Genuß. Dieses tiefpoetische, duftige Stück wünschte ich in die Zahl der nächsten Separatauführuugen eingereiht zu sehen. Ueber Lewinsky’s Auftreten in München Näheres zu hören, würde mich sehr interessiren. Ich kann mir nicht denken, daß N. den ‚Ferdinand‘ befriedigend spielen wird. Tausend herzliche Grüße sendet Ihnen, theurer BruderLudwig.
Berg, den 22. Juni, Morgens. 1881.“
Josef Kainz war von allen Seiten bestürmt worden, seinen Einfluß beim König geltend zu machen, ihn zu überreden, bei der Festvorstellung erscheinen zu wollen, was der König jedoch ablehnte, um, wie er schreibt, nicht „Ovationsopfer“ zu sein. Den Namen Lewinsky’s nennt der König zum Schluß. Das Gastspiel Lewinsky’s fand zur Zeit in München statt, und der König interessirte sich um so mehr, davon zu hören, als ihm Kainz in begeisterten Ausdrücken von Lewinsky, Krastel und dem Burgtheater im Ganzen vorgeschwärmt hatte.
Der hier folgende Brief enthält Verschiedenes über die Inkognito-Reise des Königs in die Schweiz, die er Ende Juni, von Kainz begleitet, unternahm.
Achter Brief:
„Lieber Herr Kainz! Recht große Freude bereitete mir Ihr letzter lieber Brief, aus welchem ich ersah, wie sehr Sie Sich auf Unsere Schweizerreise freuen. Dieß erhöht noch um ein Bedeutendes meine eigene Freude auf die in jenem herrlichen Lande mit Ihnen zu genießenden Tage. Je näher der Reisetermin rückt, um so mehr Aengsten scheint der gute Bürkel bekommen zu haben. Mit den sonderbarsten Meldungen und Vorschlägen wurde ich heute von ihm bombardirt. Durchaus wollte er mir heute die Mitnahme noch eines adeligen Cavaliers aufschwatzen. Ginge [478] es ohne einen solchen nicht, was aber unmöglich der Fall sein kann, würde ich eher auf die ganze Reise verzichten. Der taktlosen Zudringlichkeit der dortigen Beamten und Fremden auszuweichen ist sehr nöthig. Hoffentlich ist für Uns ein wohnliches Privathaus an den Ufern des klassischen See’s zu bekommen!
Bürkel schrieb unter Anderem, es habe Aufsehen erregt, daß Sie Ihre projektirte Reise nach Kloster Neuburg plötzlich aufgegeben haben, da Ihr Vorhaben in weiten Kreisen bekannt gewesen sei. Ein kleiner, unauffälliger Vorwand hätte sich übrigens leicht finden lassen. Ich habe noch Manches zu ordnen und muß daher zum Schlusse eilen. Tausend herzliche Grüße, geliebter Bruder, theuerer Didier vonfreundschaftlich gesinnten
Ludwig (Saverny).
Berg, 25. Juni Nachts 1881.
Die beste Stunde der Abreise wird 10 Uhr Abends am Montag den 27. sein von Mühlthal aus.“
Was den „adeligen Kavalier“ betrifft, gegen dessen Begleitung sich der König so energisch auflehnte, so that der „gute Bürkel“ nur seine Pflicht, indem er dem König den adeligen Begleiter „aufzuschwatzen“ versuchte. Seiner Meinung nach war es ebenso gewagt als auch peinlich, den König ohne Adjutanten, ohne persönliche Vertretung aus dem Lande gehen zu lassen, da es doch anzunehmen war, daß das Inkognito nicht aufrechterhalten bleiben konnte.
Was nun die projektirte Reise Kainz’ nach Kloster Neuburg anbelangt, so war es stadtbekannt gewesen, daß er seine Ferienzeit dort verleben würde; es war denn auch begreiflich, daß sein plötzlich geänderter Beschluß Aufsehen machte und zu der Annahme führte, daß Kainz mit dem Könige zu reisen sich vorbereitete, was sich ja auch in Wahrheit so verhielt.
Die Schweizerreise wurde am 27. Juni 1881 begonnen und endete den 14. Juli. Kainz spricht von dieser Reise als einer im ethischen Sinne hoch genußreichen. Er leugnet nicht, daß sich manches Herbe einschlich, was in dem so intimen Verkehr, besonders aber in dem vertraulichen „Du“, das zufolge des königlichen Wunsches zwischen ihnen bestand, fast unausbleiblich war. Die Vertraulichkeit ihres Verkehrs, das völlige Aufeinanderangewiesensein, dazu die hinreißende Zuvorkommenheit, welche den König stets auszeichnete, ließ die Scheidewand, die in der Stellung des Künstlers zum Monarchen lag, völlig sinken, und so geschah es, daß sich im Laufe der Tage nicht mehr Künstler und König, sondern Mensch und Mensch gegenüberstand. Der Künstler mußte, da die Schranken immer mehr fielen, da er in dem König nur seinen Kamerad und Bruder sehen sollte, da sie als Didier und Saverny in den Hôtellisten eingetragen wurden, allmählich seine Scheu vor der Majestät verlieren, und bei der Ursprünglichkeit seines jugendlichen Herzens mochte er wohl des Oeftern zu weit über die Kluft der Stellungen hinweggesprungen sein, sich zu oft als bevorzugten Freund gefühlt haben, als berechtigt zu sprechen wie er mochte, und zu denken wie die Gedanken gerade kamen; es ereigneten sich gelegentlich kleine Scenen, die Mißstimmungen wecken mußten, und die beim König länger andauerten, als sie dem Gehalt der Sache nach anzudauern verdienten, und tiefer gingen, als es für den Augenblick den Anschein hatte.
Kainz sollte dies sehr bald erfahren. Er hatte auf Wunsch des Königs in Begleitung Hesselschwerdt’s eine Wanderung durch den beschneiten Surenenpaß gemacht. Des Königs Begeisterung für Schiller’s „Wilhelm Tell“ ließ ihn alle Stellen aufsuchen, die in dem Schiller’schen Drama namhaft gemacht sind, und es trieb ihn, dem Freunde jene Orte zugänglich zu machen, die ihm aus Schiller’s Versen ein so hohes Interesse entlockten.
Die Wanderung über den Surenenpaß währte drei Tage. Sie wirkte abspannend und ermüdend, und da sich dieser Wanderung noch ein Ausflug in das vom König über alle Maßen angeschwärmte Melchthal anschloß, geschah es, daß der Künstler, des Gehens ungewohnt und von der Anstrengung der viertägigen Reise angegriffen, im höchsten Maße ruhebedürftig war, als auf der Heimfahrt nach Villa Guttenberg in Brunnen ihm die Meldung gemacht wurde, daß der König ihn mit Spannung erwarte, um noch in derselben Nacht auf das Rütli zu steigen. Diese Aussicht wirkte auf Kainz niederschmetternd. Er begegnete dem König, der ihm lebhaften Auges und mit gespannter Miene entgegenkam, mit wenig herzlichem Gruß und antwortete auf die begeisterte triumphirende Frage des Königs: „Nun, wie war’s?“ mit einem halb mürrischen, halb trotzigen „Scheußlich!“
Es war Nacht, als sie das Rütli bestiegen – eine wunderbare leuchtende Nacht. Von dem Zauber der Umgebung hingerissen, wandte sich der König an den Freund und bat ihn, ihm die Melchthal-Scene vorzusprechen.
Uebermüdet, wie er war, vor Mattigkeit fast tonlos, lehnte Kainz ab.
Der König ließ nicht nach. Er gemahnte ihn an ein ihm gegebenes Versprechen, die Scene einst an richtiger Stelle vor ihm sprechen zu wollen.
Kainz weigerte sich. Mit der Müdigkeit verband sich noch bei ihm ein Gefühl von Unbehagen, in die stille Nacht hinein laute Sätze reden zu sollen. Der König bat zuerst, forderte dann und befahl zuletzt. Hier erwachte in dem Künstler der Trotz. Er blieb bei seiner Weigerung, und der Lönig wandte ihm ohne Weiteres den Rücken und ging davon.
Diese kleine Scene war’s, die dem Freundschaftsbund den ersten ernsten Riß gab. Kainz blieb, nachdem der König ihn verlassen hatte, noch auf dem Rütli. Gegen Morgen erst ließ er sich vom Förster über den See bringen. In den Zimmern des Königs brannte, da Kainz in der Villa eintraf, noch Licht. Er überwand den Wunsch, sich bei dem Könige noch melden zu lassen, und ging auf seine Zimmer. Als er spät am anderen Tage erwachte, sah er von seinem Fenster aus, wie der König das Schiff bestieg und in der Richtung nach Luzern fuhr.
Es war das erste Mal, daß König Ludwig ohne den Freund eine Partie machte, und Kainz fühlte sehr wohl, daß das Verhalten des Königs ein Zeichen seiner Ungnade war. Da es zwei Uhr Nachts wurde, ohne daß der König zurückkehrte, miethete sich Kainz, dessen Unruhe über das Vorgefallene von Stunde zu Stunde sich gesteigert hatte, einen Kahn und fuhr dem Schiffe des Königs nach. Sein Suchen blieb erfolglos. Um 10 Uhr Vormittags kehrte er in die Villa zurück. Der König war nicht zurückgekehrt. Für Kainz aber lag nachfolgendes kurzes Schreiben da:
„Euer Wohlgeboren!
Auf Allerhöchsten Befehl sollen Sie heute Abend mit dem Extrazug in Ebikon eintreffen. In aller Achtung ergebenster
Ebikon, d. 14. Juli 1881. K. Hesselschwerdt.“
Der Ton des Schreibens, der darin enthaltene Befehl, der den Künstler von der Heimfahrt an der Seite des Königs ausschloß, war das erste Zeichen von Ungnade, in die Josef Kainz am Hofe Ludwig’s verfiel. Die Aussicht auf das Fortbestehen dieser Ungnade schreckte Kainz zu energischem Handeln auf. Den Extrazug zu benutzen, der Dienerschaft und Gepäck trug, fiel ihm nicht einen Augenblick bei. Mit dem Separatdampfer des Königs, der in Brunnen lag; fuhr er nach Luzern und von dort nach Ebikon.
Hier erwies sich’s zum andern Mal, wie tief die Neigung zum Freund bei dem König Wurzel gefaßt hatte. Mit einer Herzlichkeit ohne gleichen empfing er den Künstler und überschüttete ihn mit Liebenswürdigkeit.
Zusammen fuhren sie nach Luzern zurück. Ohne Rücksicht auf sein Inkognito fuhr der König durch die Stadt.
Auf die leise Mahnung des Freundes, doch auf das Inkognito zu achten, warf der König den Kopf zurück und antwortete: „Ah – bah – après nous nous le déluge!“
Die Reise nach München legten sie bis zur Grenze gemeinsam zurück. Es war spät Nachts, als sie sich trennten – Kainz um in seinen Adjutantenwagen zu treten, der König, um sich zur Ruhe zu begeben. – (Kainz hatte am Abend vorgelesen und zwar zum zweiten und letzten Male in seinem Leben.) Beim Abschied umarmte ihn der König und sah ihn lange an. Es war das letzte Mal, daß Kainz seinen König sah.
Einige Tage darauf erhielt Kainz vom König folgende Zuschrift:
Neunter Brief:
„Lieber Herr Kainz! Doppelt theuer ist mir jetzt mein hiesiger Aufenthaltsort, da er mich durch den Namen an Sie erinnert (Kainzen-Hütte), obwohl ich dieser Mahnung nicht bedürfte, [479] da ich ohnehin sehr viel Ihrer gedenke. Wie ein Traum liegt Unser Aufenthalt in der Schweiz hinter mir; Traum, gewoben aus freudigen und den gegentheiligen Eindrücken. Wie freue ich mich darüber, daß wir am 14. noch so lange beisammen waren, denn an jenem Tage wurden die peinlichen Eindrücke jener Tage, welche gegen Ende Unseres Aufenthaltes in Brunnen und Umgegend durch Sie meist verdorben wurden, so viel als noch möglich war für mich gemildert. –
Demnächst hoffe ich Ihnen Didier’s und Saverny’s Photographien, sowie Champagner aus Reims senden zu können. Glühend wünsche ich, Ihr Aufenthalt in Klosterneuburg möge ein freudebringender, genußreicher für Sie werden, sehr beglückt mich das Bewußtsein, daß Sie, theurer Freund und Bruder, wie Sie sagten und sagen ließen, Sich freudig meiner erinnern wollen.
Uebermorgen gedenke ich, mich nach Hohenschwangau zu begeben und in der nächsten Zeit recht viel der Lektüre mich zu widmen. Ich sende Ihnen, lieber Freund, meine herzinnigsten Grüße und binLudwig.
Den 18. Juli, Nachts. 1881.“
Der zehnte und letzte Brief des Königs schließt das Kapitel der Beziehungen Kainz’ zum König in dem Jahre 1881 ab und zeigt durch seinen Ton die große Herzensgüte Ludwig’s und die Treue seiner einmal gefaßten Zuneigung deutlicher als alle Worte.
„Lieber Herr Kainz! Da mit heute der schöne Monat Juli zu Ende geht, in welchem Wir in der herrlichen Schweiz doch so manche genußreiche Stunden gemeinsam verlebten, so drängt es mich, in Hinblick darauf, noch einmal Ihnen zu schreiben und den Monat Ihrer gedenkend zu beschließen. Vor Allem danke ich Ihnen für Ihre guten Wünsche für meinen Aufenthalt in Hohenschwangau wo ich seit meiner Kindheit mit besonderer Vorliebe weilte. Es freut mich zu hören daß das übersandte Buch Sie interessirt. 15 Flaschen Champagner waren bestellt, doch kamen nur 12. Die zurückbehaltene wurde auf Ihr Wohl geleert.
Wie freute ich mich endlich Unsere Bilder zu erhalten! Gewiß haben Sie Ihre Zeit recht zum Versenken in interessante Bücher benützt. Heute habe ich die so fesselnde Lektüre von ,Aspasia’ beendet.
Montag las ich V. Hugo’s Drama ,Cromwell‘. Ein ungeheures Werk; für die Bühne zu colossal, leider nur ein Lese-Drama. – Hoffentlich gedenkt Didier zuweilen freundlich seines Saverny! Seien Sie herzlich gegrüßt und gesegnet von allen Geistern des Guten! Dieß wünscht von ganzem HerzenLudwig.
Schweizerhaus bei Hohenschw., 31. Juli 1881 (Nachts).“
Der Scene auf dem Rütli erwähnte der König mit keinem Worte mehr.
In dem letzten Schreiben spricht der König über den Empfang von Photographien. Es sind das Bilder, die sie in Luzern anfertigen ließen. Sie zeigen den König und Kainz in ganzer Figur. Das Negativ befahl der König nach Abnahme der Bilder zu zerstören, um den Verkauf zu verhindern.
Der letzte Brief spricht für die unverändert gebliebene Zuneigung des Königs zu seinem „Didier“, wenn auch seine Haltung die Reservirtheit beibehält, die sich später als Zeichen der „erklärten Ungnade“ herausstellte. In einem späteren Briefe an den Ministerialrath von Bürkel lehnt sich der König aber gegen diese Auslegung der Sache auf und betont sein fortdauerndes wohlwollendes Interesse für den Künstler. Der Brief vom 31. Juli unterstützt diese Erklärung, wenngleich persönliche Begegnungen vom König nicht mehr befohlen wurden. Ueber die vielverbreitete „Ungnade“ sind im Laufe der Jahre die verschiedensten Deutungen laut geworden. Vielleicht geben diese Zeilen die ersten genauen wahrhaften Notizen darüber. Die Entfremdung zwischen König Ludwig und Josef Kainz (denn eine Entfremdung war es, mehr denn eine Ungnade) war durch nichts weiter als durch eine Aneinanderreihung von kleinen Mißliebigkeiten, Verdrießlichkeiten und Meinungsverschiedenheiten entstanden, die bei den leidenschaftlichen eigenartigen Naturen Beider im Wesen des Ganzen begründet lag.
Berlin, Juni 1886. Sara Hutzler.
Das Jubelfest der Schlacht bei Sempach.
Jedes Schweizers Herz schlägt höher, wie bei dem Namen „Teil“, so auch bei dem Namen „Winkelried“, den der Held trug, welchem die Ueberlieferung seit alter Zeit die Entscheidung in der Schlacht bei Sempach am 9. Juli 1386 zuschreibt. Der Ruhm dieses Helden ist sogar weit über die Grenzen seines Vaterlandes gedrungen, und sein Ruf, mit dem er sich in die Speere der Feinde gestürzt haben soll: „Der Freiheit eine Gasse!“ hat in schweren Entscheidungskämpfen oft eine zündende Wirkung geäußert. In letzter Zeit hat die wissenschaftliche Forschung das wirkliche Dasein dieser Heldengestalt bezweifelt, aber ihren Einwürfen können die Thatsachen entgegengehalten werden: daß ein Lied über die Schlacht bei Sempach vorhanden ist, welches der That dieses Helden gedenkt und in dem Theile, in welchem dies geschieht, sehr alt zu sein scheint; daß die Existenz eines Erni (Arnold) Winkelried in Unterwalden zur Zeit der Schlacht bei Sempach urkundlich verbürgt ist; daß sein Name als der erste unter den bei Sempach Gefallenen in den „Jahrzeitbüchern“, das heißt Verzeichnissen der Todten, zu deren Ehren kirchliche Erinnerungsfeiern gehalten wurden, des Ländchens Nidwalden steht, welche zwar nicht mehr im Original vorhanden sind, von denen aber Abschriften vorliegen, und daß weder das frühere Vorkommen ähnlicher Thaten, noch das Schweigen der Zeitgenossen Beweise gegen die geschichtliche Wahrheit einer überlieferten That darbieten.
Was nun die Schlacht selbst und unser Bild betrifft, so mögen darüber wenige Worte Aufschluß geben. Die früher österreichische Stadt Luzern hatte, nach Freiheit strebend, die demselben Hause untergebene Umgegend in ihr Bürgerrecht aufgenommen und war hierdurch mit dem Herzog Leopold in Streit gerathen. Nachdem alle Versuche, sie zur Herausgabe ihrer Erwerbungen zu bewegen, gescheitert waren, kam es im Jahre 1386 zum Kriege. Der Herzog rückte mit stattlichem Ritterheere und zahlreichem Fußvolk aus Schwaben und Aargau gegen Luzern, das er leicht nehmen zu können hoffte. Aber die Luzerner, von den Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden unterstützt, stellten sich ihm bei Sempach entgegen, wo es am 9. Juli zur Schlacht kam. Die Ritter waren von den Rossen gestiegen, um, wie sie meinten, dem Fußvolke besser begegnen zu können, und an ihren mauergleich vorgestreckten Spießen scheiterte erst der keilförmige Angriff der Eidgenossen. Aber den Sieg entschied nach der österreichischen Darstellung die Hitze, unter der die Ritter in ihren schweren Helmen und Panzern litten, nach der schweizerischen Ueberlieferung dagegen die That Arnold Winkelried’s, welcher, den Landsleuten zurufend, er wolle ihnen eine Gasse machen, eine Anzahl Speere ergriff und, von ihnen durchbohrt, es den Seinigen möglich machte, daß sie in die Lücke eindringen, den Feinden eine furchtbare Niederlage bereiten, den Herzog selbst und eine Menge Adeliger erschlagen und viele Banner erbeuten konnten. Der Sieg bei Sempach befreite endgültig eins der ältesten Gebiete der Eidgenossenschaft von der österreichischen Herrschaft.
Wohl darf daher das Schweizervolk mit frohem Muthe die halbtausendjährige Erinnerung an einen Sieg feiern, der ihm die Freiheit bleibend gesichert hat. Diese Feier wird auf dem Schlachtfelde selbst, bei der Schlachtkapelle oberhalb Sempach stattfinden. Im Angesichte der den herrlichen Vierwaldstättersee umgebenden Eisgebirge ist eine Bühne für 500 Sänger und 40 Musiker errichtet. Ein Gottesdienst eröffnet das Fest, Reden folgen, und dann beginnt eine dramatische Darstellung, der Hauptanziehungspunkt des Tages. Ein Zug von Schnittern und Schnitterinnen kehrt von der Arbeit heim, empfangen von den Dorfbewohnern; ein Jäger warnt sie vor dem Heranzuge Herzog Leopold’s. Aber die Eidgenossen nahen zur Hilfe heran und werden mit Jubel begrüßt. Das Volk der Gegend bewaffnet sich und schließt sich ihnen an. Der Chor singt ein Schlachtlied. Bald werden aus der entbrannten Schlacht Verwundete herbeigetragen, unter ihnen der Schultheiß von Luzern, Peter von Gundoldingen. Man sieht österreichische Ritter und Knappen fliehen, verfolgt von den Eidgenossen. Krieger erzählen dem Volke Winkelried’s That. Nun rücken die Sieger mit den erbeuteten Waffen und Fahnen heran. Ein Siegeslied erschüttert die Luft, ein Danklied an Gott und ein Trauerlied auf die Gefallenen folgen, während Winkelried’s Leiche auf der Bühne niedergelegt wird, dessen Ruhm zu feiern alles Volk zusammentritt. Dann begiebt sich der Festzug in das Städtchen, wo ein Denkmal eingeweiht wird, das die Feier verewigt, und das unausweichliche Festessen auch die Gemüthlichkeit nach dem Ernste in ihre Rechte einsetzt.
Möge dieses Jubelfest zur Versöhnung der wissenschaftlichen Forschung und der geheiligten Volksüberlieferung beitragen und ein Zeugniß sein, wie ein freies Volk an den Großthaten seiner Ahnen hängt, die ihm seine Freiheit erkämpft haben! Dr. O. Henne-am-Rhyn.
[480]
Blätter und Blüthen.
Francesca da Rimini. (Mit Illustration S. 473.) Dante, der größte italienische Dichter des Mittelalters, schildert uns in seinem berühmten Liede die Hölle mit ihren Qualen, ihrem furchtbaren Sehnen, Leiden und dem trostlosen Trauern um die auf Erden begangene Schuld. Dabei erzählt er in den einzelnen Gesängen die Schicksale der großen Geschlechter seiner Zeit. Eines der rührendsten ist die Geschichte der Franziska von Rimini, einer edlen Frau aus fürstlichem Geschlechte. An dem flachen Gestade des adriatischen Meeres liegt das altberühmte Ravenna, wo die spätrömischen Kaiser, die Könige der Gothen, wo Bischöfe residirt haben, deren Macht in den ersten Jahrhunderten der Christenheit derjenigen der römischen Päpste fast gleichkam. Herr und Gebieter von Ravenna war später Guido Polenta, der mit seinem Nachbarn, dem Gebieter von Rimini, Johann Malatesta, in ständiger Fehde lebte. Um diese beizulegen, ward unter den beiden Geschlechtern verabredet, daß des Guido Polenta holdselige, schöne und tugendsame Tochter Franziska einem Sohne des Malatesta von Rimini die Hand zur Ehe reichen solle.
Malatesta besaß zwei Söhne, den wilden, garstigen, aber tapferen Johann, den sanften, schönen, reinen Paul. Der alte Guido zog den energischeren Schwiegersohn als den besseren Verbündeten vor, fürchtete jedoch, daß die zartsinnige Franziska den wilden Freier abweisen werde. Da ward der zweite Bruder, der edelherzige, sanfte Paul, an den Hof von Ravenna gesendet, um die Braut zu werben. Vom Söller ihres Schlosses aus sieht Franziska den strahlend schönen Ritter über den Hof schreiten, eine der Frauen verräth ihr, daß dies der junge Malatesta von Rimini sei, ihr Herz wird von glühender Liebe erfaßt, sie preist sich glücklich, daß aus der Verbindung, welche Staatsklugheit und Interesse geschlossen, ein Bund zweier liebender Herzen erblühen solle. Paul wird von gleicher Leidenschaft für die holde Franziska erfaßt, er wurde nach der im Mittelalter an Höfen herrschenden Sitte der Erwählten seines Bruders angetraut; die beiden Glücklichen ließ man zunächst in der Meinung, daß die Ehe zwischen ihnen geschlossen sei.
Schrecklich war das Erwachen aus dem schönen Traum, als Franziska in Rimini ihrem eigentlichen Gatten, dem älteren Bruder des schönen, heißgeliebten Paul, dem wildtrotzigen Johann, zugeführt ward. Wohl blieb sie dessen rechtmäßige Gemahlin, aber das blutende Herz blieb dem Geliebten in aller Keuschheit treu. Ein holdes, reines Minneleben verband die Beiden am Hofe von Rimini, ein inniger Verkehr der Herzen ohne jede Schuld. Doch dem rauhen, bösgearteten Bruder ward die Liebe der Beiden verrathen. Von Eifersucht entbrannt, verfolgte der Wütherich Malatesta den Bruder, er schleuderte das Schwert nach ihm, und da Franziska sich zwischen den Geliebten und die Waffe warf, durchbohrte das Schwert sie Beide.
In den Schauern des Höllentrichters zwischen schwerem Gewölk, kalter Regenfluth, grausigem Winde erblickt Dante, wie er in seiner Schilderung der Hölle erzählt, diese Beiden, die, ohne Sühne und Buße gestorben, nun hier umherzuirren verdammt sind. Auch der Tod hat die Liebenden nicht zu trennen vermocht, das scharfe Schwert, das sie durchbohrt, steckt noch in ihren Körpern, die, innig an einander geschmiegt, von dem Winde, der den Höllenschlund durchbraust, leicht emporgetragen werden. „Wie Tauben stracks die Luft mit offnen Schwingen durchfliegen, von dem eignen Trieb getragen, so kamen aus der Schar … auf uns heran sie durch die argen Lüfte.“ Liebe, Liebe bis über den Tod hinaus ist ihr Verschulden, ist ihr Glück, ihre seligste Erinnerung. Alle die anderen Schatten haften am Boden, bewegen sich in düsterem Gewölle, trauern einsam. Franziska von Rimini aber, umschlungen von dem Geliebten, schwebt hinauf, getragen von der Luft zu dem Bereich seliger Liebe, in dem selbst Marter und Seelenleiden ihre Macht verlieren. Das Lied des großen Dichters hat das Schicksal Beider unsterblich gemacht, des Paul Malatesta und der Franziska von Rimini. F. W.
Der Fuchsthurm bei Jena. (Mit Illustration S. 461.) In der Nähe der Musenstadt Jena erhebt sich auf dem Hausberge der Fuchsthurm, eine der zahlreichen Burgruinen, welche, wie das Lied singt, stolz und kühn an der Saale hellem Strande stehen und als Zeugen früherer Zeiten in das bunte Leben und Treiben der Gegenwart hineinragen. Viele dieser Burgen sind noch zu jener Zeit entstanden, als an den damaligen Marken Deutschlands der Kampf zwischen Deutschen und Slawen wüthete, und auch die Gründung der Burg Kirchberg, deren letzten Ueberrest der Fuchsthurm bildet, verliert sich in dem Dunkel jener Jahrhunderte; sie soll gerade vor tausend Jahren erfolgt sein. Damals krönten drei Burgen: Greifberg, Kirchberg und Windberg, den langgestreckten Rücken des Hausberges. Nur der Bergfried der Veste Kirchberg trotzte der Zerstörungsmacht der Zeit und wurde in unsern Tagen zu einem beliebten Ausflugspunkte der lebensfreudigen Einwohner von Jena. Noch heute besitzt die drei Meter dicke Mauer des runden Thurmes die Höhe von 23 Metern und trägt auf seiner Plattform, an Stelle der ehemaligen konischen Steinspitze, ein nach allen Richtungen hin mit Fenstern versehenes Aussichtshäuschen, von dem sich ein herrlicher Rundblick auf die gesegneten Fluren des Thüringer Landes bietet.
Der Bau des Aussichtshäuschens erfolgte im Jahre 1836 auf Kosten der Gemeinde Ziegenhain. Bald darauf bildete sich in Jena, auf Anregung des Majors von Knebel, eine Gesellschaft, „die Knappschaft“, die es sich zur Aufgabe machte, die Nordseite des Hausberges bequem zugänglich zu machen. An ihre Stelle trat im Jahre 1861 „die Fuchsthurm-Gesellschaft“, welche jetzt das 25jährige Jubiläum ihres Bestehens feiert, sich um den Thurm in hervorragender Weise Verdienste erworben hat und in Folge ihrer Zusammensetzung und des durch sie geschaffenen Verkehrs für Jena und Jenaer Leben geradezu typisch genannt werden muß.
In den Tagen vom 3. bis 5. Juli wird nun am Fuße des Thurmes ein dreifaches Erinnerungsfest gefeiert werden: das Jubiläum der vor tausend Jahren erfolgten Gründung der Burg, die Erinnerung an den Bau des Aussichtshäuschens und das Stiftungsfest der Fuchsthurm-Gesellschaft – ein eigenartiges Fest, welches zu kulturgeschichtlichen Betrachtungen herausfordert, bei welchem die tausendjährigen inneren Kämpfe unseres Volkes vor dem geistigen Auge des Theilnehmers vorüberziehen und in ihm Freude erwecken an der Gegenwart, welche kein Faustrecht kennt und die Bürger unter dem Schutze eines gleichen Rechts für Alle frei schalten und walten läßt. G. Kl.
Ein neues Geräth für Turnzwecke ist der Arm- und Bruststärker, welcher nach Angabe des Seminardirektors Largiadèr in Straßburg von Engler und Weber in Stuttgart hergestellt wird. Er bildet eine Ergänzung zu den Hanteln, indem er der Bewegung durch Zug und Schwere einen zwiefachen Widerstand entgegensetzt, welcher durch aktiven Gegenzug seitens der Turnenden überwunden werden muß.
An zwei hohlen hölzernen Handgriffen sind zwei Seile derart befestigt, daß jedes durch die Höhlung des anderen Handgriffs hindurch geht und an seinem Ende Scheibengewichte trägt. Zieht man die so verbundenen Handgriffe aus einander, indem man sie z. B. wagerecht vor sich hin hält, so steigen die Gewichte desto höher, je mehr man die Handgriffe von einander entfernt. Es versteht sich von selbst, daß sie durch ihre Schwerkraft zu sinken und durch Zug die Handgriffe wieder einander zu nähern streben. Diesem Zuge muß der Turnende durch seine Muskulatur einen gewissen Widerstand entgegensetzen, indem er die Vereinigung der Handgriffe verhindert. In der Ueberwindung des Zuges, in der Abmessung der Muskelwirkung liegt hier das Werthvolle.
Es liegt auf der Hand, daß, da sich die Länge der Seile und die Zahl der Gewichtsscheiben beliebig verändern läßt, der Apparat jedem Lebensalter, jeder Körpergröße angepaßt und zugleich in einem und demselben Hause von Alt und Jung, von Kindern verschiedener Lebensalter benutzt werden kann. Da er in Folge seiner Einfachheit und seines dauerhaften Materials nicht aus der Ordnung kommen kann, eignet er sich so recht zu einem Zimmer-Turnapparat für die Familie. Die mit demselben anzustellenden Uebungen bestehen hauptsächlich im Heben der Arme, im Spreizen derselben, verbunden mit Streck- und Beuge-Uebungen des Rumpfes und der Beine. Vor allem sind es Uebungen im Zurückbringen der Schultern, welche sich mit dem Apparat anstellen lassen und welche zur Erweiterung des Brustkorbes wesentlich beitragen. Sehr bald macht sich nach denselben eine höhere Thätigkeit der Athmungsmuskulatur, ergiebigeres Athmen der oberen Lungenpartien bemerkbar. Ueberhaupt darf man für solche Fälle, in denen es sich um Kräftigung der Arm-, Schulter- und Respirationsmuskeln, um Streckung der Wirbelsäule nach längerem Gebücktsitzen, um kräftigere Lungenspitzen-Athmung handelt, den Largiadèr’schen Apparat als eine nützliche Bereicherung des Turngeräthwesens, besonders in häuslicher Gesundheitspflege, ansehen. Hier wird er sich, zumal in den Familien, wo sich heranwachsende Knaben und Mädchen befinden, wohl leicht einbürgern. Dr. Fürst (Leipzig).
Kleiner Briefkasten.
Herrn Alb. Reinshagen in Schleiden a. d. Eifel. Die uns für das deutsche Forstwaisenhaus in Groß-Schönebeck von Ihnen übermittelte Summe von Mark 25,50 haben wir unter Beifügung der Sammelliste an die Centralsammelstelle zu Händen des Herrn Geh. Rechnungsrathes Nitschke in Berlin, Leipzigerplatz 7, abgesandt.
E. M. in Dow City. Wenden Sie sich gefl. an einen Rechtsanwalt.
Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung.) S. 461. – Wohin? Eindrücke vom Ost- und Nordseestrand. Von Hermann Heiberg. S. 466. – Entdecker in der Unterwelt. Von Heinrich Noë. S. 468. Mit Illustration S. 469. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 470. – König Ludwig von Bayern an Josef Kainz. Von Sara Hutzler. S. 475. – Das Jubelfest der Schlacht bei Sempach. Von Dr. O. Henne-am Rhyn. S. 479. Mit Illustration S. 464 und 465. – Blätter und Blüthen: Francesca da Rimini. S. 480. Mit Illustration S. 473. – Der Fuchsthurm bei Jena. S. 480. Mit Illustration S. 461. – Ein neues Geräth für Turnzwecke. Von Dr. Fürst (Leipzig. Mit Abbildungen. S. 480. – Kleiner Briefkasten. S. 480.
- ↑ Vergl. die Biographie von J. Kainz auf S. 183 dieses Jahrgangs.
- ↑ Hiermit ist die Kaiserin von Oesterreich gemeint, für die der König eine schwärmerische Verehrung hatte. Auch die „kleine Valerie“ war ihm besonders werth und ihr anmuthiger Verkehr ihm erfrischend und wohlthuend.