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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[325]

No. 19.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Frühlingslied

Frühling, Frühling ist es wieder!
Knospen treiben Busch und Baum.
Veilchen sprießt, es blüht der Flieder
An des flinken Bächleins Saum.

5
Frühling, Frühling ist es wieder!

Jubelt’s rings mit sel’gem Schall.
Frühling! schmettern eure Lieder,
Lerche, Fink und Nachtigall.

Frühling, Frühling ist es wieder!

10
Tönt’s lobsingend himmelwärts,

Und die Liebe schwebt hernieder
Ins beglückte Menschenherz.

 Albert Hartung.


[326]
Die Lora-Nixe.
Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Ein anderes Bild rollte sich auf dem Kurplatz auf. Derselbe war mit Reitern und Equipagen bedeckt. Die Treiber der Maulthiere trugen Fackeln, deren rothes Licht auf die in Plaids und Burnus eingehüllte Gesellschaft fiel.

„Siehst Du Heino nicht?“ fragte Frau von Blachrieth, die durch ihr Nichterscheinen am Fenster eine Demonstration nach außen zu machen suchte.

Es dauerte eine Weile, ehe Hedwig antwortete; dann gab sie mit etwas zitternder Stimme Bescheid:

„Er hob eben eine Dame von einem Schimmel. Jetzt sehe ich ihn nicht mehr. Die Gesellschaft geht aus einander.“

Die Fenster des Kurhauses erhellten sich. Balkonthüren wurden geöffnet; Schatten glitten in den erleuchteten Bogen hin und wieder. Vor dem Lora-Flugel drängten sich dunkle Gestalten.

Im nächsten Augenblick enthüllten sie sich als die Musikkapelle, die zu einer Serenade zusammen getreten war. Das Heine’sche Lied: „Du hast Diamanten und Perlen“, sendete seine schmeichelnden Vorwürfe und Bekenntnisse zu Leonorens Fenster empor.

„Da läßt gewiß Heino der schonen Paloty ein Ständchen bringen,“ sagte Hedwig.

„Ach, Heino soll auch an Allem schuld sein,“ erwiderte unmuthig die Tante. „Ich glaube, da schlägt es schon zehn Uhr. Wenn der Geheimerath, der mich um neun schon im Bett wissen will, diese Nichtbefolgung seiner Verordnung erführe! Mußte denn auch der robuste Hauptmann kommen und mich um eine Stunde Ruhe und vielleicht um den Erfolg der ganzen Kur bringen? Gute Nacht, Hedwig, Du bist gewiß auch todmüde und wirst schlafen wie ein Marmottchen.“

Frau von Blachrieth hatte wieder mit ihren Vermuthungen daneben geschossen. Hedwig war gar nicht müde. Sie stand neben dem Gueridon, auf dem Georg’s Hut gelegen hatte, und zersann sich den Kopf, warum der eben noch so heitere, kecke Mann plötzlich so verändert sich von ihr gewendet haben könnte.

Es dünkte sie, als dufte es wie frischer Wald im schwülen Zimmer. Ein grüner Zweig lag auf dem Boden; es war der Bruch, mit dem heute Morgen Georg nach einem glücklichen Schuß seinen Hut geziert hatte, wie er ihr vorhin, den weidmännischen Schmuck entschuldigend, erzählte.

Sie hob ihn auf und strich mit den kühlen Blättern über ihr heißes Gesicht. Ihre Lippen berührten ihn leise. Sie sah sich erschrocken im leeren Zimmer um und verbarg den Zweig in ihrem Spitzentuch, als sie in ihr Schlafzimmerchen hinüber schlüpfte.

Und Hedwig schlief auch nicht wie ein Marmottchen.




Es wurde in dieser Nacht, die dem St. Johannistag voraus ging, überhaupt nicht viel Ruhe im Lora-Thal.

Droben im Gebirge legten die Bäuerinnen ihren langbärtigen Ziegen neue Halsbänder um, an welchen sie dieselben in der Morgenfrühe, bevor noch ein Sonnenstrahl das Wasser getroffen hatte, in das Bad zu führen gedachten, das für das ganze Jahr vor Krankheit schützen sollte. Drunten im Lora-Grund striegelten die Knechte des Hauses Aufdermauer ihre Pferde, um sie recht schmuck in die heilkräftige Schwemme reiten zu können. Alle Frauen, die hubsch bleiben wollten, stellten Krüge bereit, das alte Heilawac damit zu schöpfen, das alle Fältchen aus dem Gesicht hinweg wusch.

In Jungbrunnen schmückten die Hausbesitzer die Pforten mit Birken, bekränzten die Schiffer ihre Kähne; und selbst der Nixe, die als Wetterfahne auf dem Schifferhaus sich drehte und mit einem Bogen zielte, wurde ein Strauß in die kampflustigen Hände gedrückt.

Längs des Flußufers arbeiteten Feuerwerker mit ihren Raketen und Leuchtkugeln; auf den Bergspitzen schichteteu Waldhüter hohe Holzstöße zu den Freudenfeuern, und auf der Wiese wurde der Platz zu einem Eselswettrennen abgesteckt. Denn der jetzige Pächter der Spielbank wollte den Festtag der Lora zu seinem alten Glanze erheben.

Die geheimnißvolle Mittsommernacht ging ihrem Ende zu. Noch strahlten die Sterne, noch lag Finsterniß in Schlucht und Wald. Aber im Osten lichtete sich schon der Himmel, und die Wellen des Flusses begannen bereits zu schimmern.

Da öffnete sich die Pforte des Gartensaales im Lora-Flügel, und eine weiße Gestalt trat heraus im lose nachwallenden Nachtgewand, das über den thaufeuchten Rasen streifte.

In den Händen trug sie einen Glaskelch und eine Wasserrose.

Barfuß, wie es der strenge Kultus der alten Heidengötter heischte, schritt sie hinab zur Lora.

Leichte Nebel webten über dem Fluß. Sie schwebten dahin gleich einer verschleierten Frauengestalt, die in stummer Klage die Arme ausstreckte. Sie zerflossen und verschwanden wieder in dem Wasser, das vorüber rauschte mit eifrigem Murmeln, als wolle eine Stimme etwas erzählen, wenn nur ein Ohr die Sprache verstünde. Unablässig folgten die Wellen einander.

Jetzt schwammen auch einzelne Blumen heran.

Der schlanke Stengel eines blaßrothen Fingerhutes glitt vorüber, den man auch Frauenhandschuh nennt. Die Spenderin desselben war wohl nicht vertraut gewesen mit der Lora-Sage. Sie hätte sonst diese Blüthen nicht gewählt. Mußten sie doch der Nixe die wehleidige Erinnerung an die längst versunkene Mittsommernacht wecken, wo sie sich unter den Tanz der Menschenkinder gemischt hatte und der Ritter von Falkeneck ihr die blaßrosa Handschuhe raubte und versteckte, ohne die sie nicht wieder in das feuchte Element zurück konnte.

Jetzt schaukelte ein kleines Brot vorbei. Hatte die Lora tückisch ein Menschenkind hinabgezogen, und sollte die Opfergabe, wie das Volk es glaubt, sie bestimmen, die todte Hülle wenigstens zurück zu geben?

Die weiße Gestalt schauderte. Wie mußte es kalt, einsam, freudlos da unten sein!

Ein Kranz folgte mit der nächsten Welle, Dunkelrothe Rosen glühten durch die dämmrige Nacht. Das war wohl ein heißes Herz gewesen, das ihn der Lora übergeben hatte. Sie sollte helfen, sie, die sich selbst nicht lösen konnte von dem ewigen ungestillten Liebessehnen.

Mehr und mehr Blumen schwammen heran. Sie drängten sich. Jede Welle trug eine duftige Gabe auf dem matt silbern schimmernden Kamm. Unzählbar waren sie wie die Wünsche im klopfenden Menschenherzen.

Vielleicht schwamm auch manche Thräne mit in den Wellen und gab ihrem Murmeln den melancholischen Klang.

Und doch war keine unter diesen Spenderinnen so qualvoll bedrückt, von so aufreibender Angst erfüllt als das junge Mädchen, das am Ufer stand mit dem kostbaren Kelch und der Wasserrose in der Hand – wie Leonore.

Was wollte die Sorge bedeuten, mit der die blutrothen Bergnelken, die eben vorüber glitten, droben im Gebirge geopfert worden waren? Sie mochten von dem nußbraunen Mädchen in dem Walddörfchen stammen, das so schöne Erdbeeren nach Jungbrunnen brachte. Mit solchem Federgras band sie auch die Sträußchen ihrer Beeren zusammen. Und die Lora sollte ihr dafür sagen, ob sie der flachshaarige Fischerbube, der sie immer in seinem Kahn mitnahm, noch in diesem Jahre freite. Die Lora wird ein Ja für sie haben; denn was könnte zwischen ihnen stehen? Er kennt das graue Holzhäuschen, in dem ihre Mutter ihr das erste Bettchen mit duftendem Waldheu gestopft hatte. Es ist so ehrenwerth wie seine Hütte im Schilf, dessen braune Wedel seine Ruhepfühle füllen. Die Glücklichen! Sie wußten nichts davon, daß einem Menschenkinde vor der einfachen Frage: „Woher kommst Du?“ bangen kann.

Und die Spenderin des Vergißmeinnichtstraußes dort, den der Flachsfaden zusammen hielt, durfte vollends leichten Herzens ihre Frage an die Nixe richten. Es war gewiß das Töchterlein des Lora-Müllers. Die blauen Blumen wuchsen am Mühlgraben, wo sie mit dem jungen Forstwart schäkerte, während Leonore ein [327] Glas Milch trank. Wenn sie heute zum Tanz ging, die Kette aus gebogenen Dukaten um den Hals, dann sahen Nachbarn und Freunden voll Achtung auf den Schmuck, der von der Urgroßmutter auf sie vererbt war. Sie lernte die Demüthigung nicht kennen, die Leonore erdulden mußte, wenn sie ihr Collier aus Sapphiren trug und in jedem Blick, der den Werth der großen Juwelen abschätzte, die versteckte Frage las:

„Woher?“

Sie vermochte nicht das stolze offene Wort zu sprechen, das alle Zweifel niederschlug. Wer würde bei ihr ausharren, wenn sie ihr Geheimniß offenbarte?

Er?

Die Lora murmelte, als wolle sie mahnen: Alles ist unbeständig. Die Liebe vergeht, die Treue wird gebrochen heute wie vor tausend Jahren.

Und wenn sie nicht einmal auf ihn rechnen durfte, der mit jedem Worte, jedem Blicke, früh und spät um ihre Liebe warb, wer blieb ihr dann?

Niemand!

Da stieg vor ihrer Seele eine dunkle hohe Gestalt auf, und eine ernste Stimme sprach:

„Wir lieben auch die irrende Schwester.“

Bruder Johannes! Ja, ihm hätte sie Alles sagen können: er würde vergeben. Und bei der Erinnerung an ihn wurde es still in ihr, wie stürmische Wogen sich im Mondenstrahl glätten.

Aber sie hatte ja keine Zeit, sich auszuruhen. Sie mußte ja doch hinüber über den Abgrund auf schwankendem Seil, die Balancirstange von Gold in der Hand. Am Ziel winkte ihr der schöne ritterliche Mann, um dessen Freiherrnkrone der Dichterlorbeer sich schlang. Sie mußte die Kraft gewinnen, die Seele des Geliebten so sich zu eigen zu machen, daß er sich über alle Vorurtheile der Welt mit ihr aufschwang und sie beide vereint im Sonnenlicht des Lebens sich freuten, zwei freie Falken. –

Ueber dem Hainberg begann der Himmel sich rosig zu färben. Die kleinen Bachstelzen waren munter geworden. Sie wippten heran, tauchten die Schnäbel in die Lora und schluckten, die zierlichen Köpfchen zurückgebogen, den kühlen Morgentrunk.

Und in das Wasserrauschen und das noch vereinzelte verschlafene Vogelgezwitscher tönte fernher aus den Waldthälern ein einförmiger wehmüthiger Gesang, als sei er dem klagenden Winde, den murmelnden Wellen abgelauscht. „Lora, die Gute!“ klangen deutlich die lang aüsgehaltenen Schlußworte. Das Volk sang, vom Blumenopfer heimkehrend, das uralte Lied von der Wasserholde.

Es war die höchste Zeit, die Lora um ihre Weissagung zu fragen.

Leonore trat ohne Scheu mit den nackten Füßen in die Wellen, die am Ufer empor spülten, neigte sich nach Mitternacht, wo die Götter der heidnischen Deutschen wohnen sollten, und übergab ihre Blume der Lora.

Sie sah der Wasserrose nach. Noch einmal hob sie sich auf dem Kamm einer Welle. Dann war sie in dem Dämmerlicht verschwunden. Steuerlos trieb sie hinaus, einem unbekannten Schicksal zu – wie sie.

Sie beugte sich mit ihrem Glas und schöpfte stromabwärts.

Dann ging sie zurück.

In ihrem Zimmer stellte sie den Kelch auf den Tisch und zündete eine Kerze von gelbem, noch süß nach Honig duftenden Wachs davor an. Mit erwartungsvollem, halb furchtsamen Blicke schaute sie hinein.

Perlen stiegen leise auf und vergingen – dann sah sie nichts mehr. Doch allmählich wurden Irisfarben, zart wie ein Hauch, in einem Halbkreise sichtbar. Feine Strahlen schossen dahinter empor.

Sie wußte nicht, ob sie es sah, oder ob es ein Blendwerk der Augen war.

„Eine Glorie! Der Strahlenkranz um den berühmten Dichternamen!“ flüsterte sie mit heißen Wangen.

Da schwand es. Das Tageslicht war gekommen und ließ das Kerzenlicht verblassen.

„Das Glück wirft seinen Strahl voraus,“ jauchzte Leonore selig.

„Und das Unglück seinen Schatten,“ antwortete eine müde Stimme hinter ihr.

Sie zuckte zusammen und sah in das blasse Gesicht ihrer Mutter, die geräuschlos eingetreten war.

„Ich habe ängstliche Träume gehabt,“ sagte sie, „die mich nicht wieder einschlafen ließen. Immer sah ich den Schatten des Treffbuben vor der Thür, und als ich darauf zuging, schrumpfte er zusammen, und es blieb nichts übrig als ein kleines schwarzes Kreuz.“




Die übrigen Badegäste übten den Wasserkultus auf andere Weise. Sie gingen nicht barfuß, sondern auf hohen Hacken, zogen die Gürtel so fest als möglich zusammen, halfen der Schönheit eigenhändig durch zarte Schminke und feine Striche mit dem Tuschepinselchen nach und opferten statt Blumen das gelbe Metall. Den Hauswirthen wurde es dargebracht, die ihre in der ganzen Welt bekannte Kunst übten, aus jedem Verschlag ein Boudoir, aus jedem alten Großvaterstuhl einen Fauteuil zu machen; der Brunnenverwaltung, die es durch allerhand Schriftwerk einkassirte; und vor Allem der Spielbank.

Es wurde Tag und Nacht nicht Ruhe. An die letzten Gäste, welche die Säle des Konversationshauses verließen, schlossen sich bald wieder die Kranken an, die mit ihren Bechern fertig sein wollten, bevor der glänzende Strom die Alleen füllte, die Brunnenhalle überschwemmte.

Nur in den Mittagsstunden, in denen die Sonne in das Lora-Thal hinein stach und von den vulkanischen Felsen zurückprallte, die heißen Quellen unterirdisch den Boden zu heizen schienen und die Dämpfe, die sie aushauchten, die Lust schwer machten, wurde es still in Jungbrunnen. Dann flüchtete Alles hinter die geschlossenen Jalousien.

Diese Zeit blieb Heino für seine neue Dichtung.

Die Ausstattung seines Arbeitszimmers verrieth, daß hier ein Lieblingsdichter der Damen hauste. Er legte ihnen in jedem Jahre auf den Weihnachtstisch ein mit Goldschnitt und reichem Einband geschmücktes Büchlein, dessen Seiten winzige Gedichte mit mikroskopischen Pointen zeigten, von denen Ravensburgk stets behauptete, „sie heinelten ihn an“. Die Damen feierten ihn dafür mit Notizbüchern, auf die goldene Leiern gestickt waren, und Tintenwischern, auf denen Rokokodämchen saßen.

Eine Prinzeß hatte ihm sogar für ein Festspiel zu ihrem Geburtstag einen Briefbeschwerer mit eigner Hand modellirt, die regierende Fürstin ihm für eine Widmung das silberne Schreibzeug mit ihrem Namenszug verehrt. Seine Mutter war auch hier besorgt gewesen, daß Lorbeerbäume um den Schreibtisch aufgestellt wurden. Und Leonore hatte ihm als Vielliebchen die Marmorbüste Apollo’s geschenkt, die auf einem Sockel dahinter sich erhob.

Der Tempel war bereit, die Musen zu empfangen.

Aber sie erwiesen sich spröde in letzter Zeit.

Auch heute lag das feine weiße Papier, auf das er zu schreiben pflegte, in unangetasteter Reinheit vor ihm.

Er saß im schwarzen Sammetrock, den er als eine Art Amtstracht für die Dichter erachtete, davor und schaute verdrießlich vor sich hin.

Einzelne hübsche Momente fielen ihm wohl ein. Auch die Gestalt der Lora konnte ihm nicht mehr entgehen. Sie umschwebte ihn überall und sah ihn mit Leonorens strahlenden Augen an. Aber vergeblich zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er den Faden der Dichtung von Anfang bis zu Ende fest und unverwirrt zu führen habe. Bisher waren seine Poesien die Kinder einer augenblicklichen Stimmung gewesen. Flüchtige Gedanken hatte er eingefangen wie Schmetterlinge. Nun sträubte sich seine Natur gegen die Arbeit, ein Schema zu entwerfen. Selbstverständlich! Das Genie hatte einen Widerwillen gegen die Handwerksgriffe. Aber es half nichts. Er mußte den Pegasus in den Pflug spannen. Zum hundertsten Male faßte er diesen Entschluß.

Da schaute seine Mutter in das Zimmer.

„Arbeite nicht zu anhaltend, liebes Kind,“ mahnte sie zärtlich. „Man hat Beispiele von Gehirnerweichung bei geistiger Ueberanstrengung.“

[328]

Korsofahrt im Wiener Prater am 1. Mai.
Originalzeichnung von W. Gause.

[329] 

WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [330] Dann schloß sie leise wieder die Thür.

Heino fuhr auf. O, diese ewigen prosaischen Unterbrechungen! Sie waren schuld, daß er nicht dazu kam, seine Gedanken zu sammeln.

Er warf die goldene Schwanenfeder weg, griff nach Hut und Handschuhen und stürmte hinaus.

„Wo willst Du hin? Du wirst den Sonnenstich bekommen,“ warnte seine Mutter, aus ihrer Stube heraussehend.

„Ins Freie, in die Einsamkeit,“ stöhnte er und verschwand.

Die Einsamkeit, die er suchte, konnte gar nicht tief genug sein. Die jetzt so stillen Anlagen, welche das Kurhaus umgaben, genügten ihm noch nicht. Rasch durcheilte er sie und mäßigte erst seinen Schritt, als er den Garten betrat, der für die jeweiligen Bewohner des Lora-Flügels vorbehalten war.

Unter einer Gruppe von blühenden Oleanderbäumen stand Vera neben einem Käfig, in welchem ein grauer Papagei kletterte und kreischte.

„Ist Deine Mama hier?“ fragte Heino.

„Nein, Mama liegt auf ihrer Ottomane und raucht!“ antwortete Vera.

„Wo ist Mademoiselle?“

„Sie läßt sich von Kathinka die grauen Haare ausziehen.“

„Was thust Du hier?“

„Ich unterrichte Jacques.“

„Worin?“

„Fräulein Leonore hat ihm aufgegeben, ‚Heino‘ sagen zu lernen, und ich helfe ihm. Nun, Jacques! Sprich: Heino.“

„Paschol!“ schnarrte der Vogel.

„Sage sogleich: Heino.“

„Geh zum Teufel!“ schimpfte Jacques, indem er sich an den Beinen aufhing.

„Willst Du die Peitsche haben?“

Andate via,“ schrie der Papagei und hackte mit seinem krummen Schnabel nach Vera.

Heino hatte sich von seinem freudigen Schrecken erholt und wieder Athem zum Lachen gefunden.

„Er ist ein echter Russe; in aller Herren Ländern zu Hause, kennt er sogar das Zauberwort, welches den geplagten Reisenden in Italien von allen zudringlichen Führern und Trägern befreit, wenn er in höchsten Nöthen ist. Aber nun sage, wo ist Fräulein Paloty?“

„Sie liegt drüben im Grase und schläft,“ gab Vera zur Antwort.

„Im Grase?“ fragte Heino erstaunt.

Vera nickte.

„Sie sagt, die reichen Leute wüßten es nur nicht, wie viel besser es sich manchmal hinter einem Zaun als in einem Himmelbett schlafe. Ich habe sie gewarnt, daß ihr ein Wurm ins Ohr kriechen würde; aber sie lachte und meinte, dem entginge zuletzt Niemand. Wollen Sie sie sehen? Aber Sie müssen ganz still sein, sonst wacht sie auf.“

In ihren kleinen, aus buntem Leder zusammengesetzten Stiefelchen ging sie voraus durch die Weingänge nach dem großen Rasenplatz, der sich zu dem Lora-Ufer hinabzog. Das gemähte Gras füllte die Luft mit süßem Heuduft.

Im Schatten einer Trauerweide, die ihre Zweige in die Wellen tauchte, ruhte Leonore, das rosige Gesicht an einen Heuschober geschmiegt, und schlief so behaglich, als habe sie nie eine andere Schlummerstätte gekannt. Sie schien wie verwebt und verwachsen mit der stillen Natur um sie herum. Das Lied der Feldgrillen umschwirrte sie; Marienkäferchen krochen dreist in dem langen goldenen Haargeringel, das bis auf den Rasenteppich herab fluthete.

Zu ihren Füßen wand sich die Lora dahin. Gleich Schuppen eines gleißenden Schlangenleibes schoben sich ihre Wellen glitzernd fort. Leises Murmeln entstieg ihnen, als singe eine unterirdische Stimme ein uraltes Wiegenlied. Zuweilen rauschte eine stärkere Welle heran, reichte wie ein ausgestreckter Arm hinauf bis an den Saum des weißen Kleides, ihn leicht netzend.

Heino war ganz hingerissen von dem schönen Bilde.

„Vera,“ sagte er leise, ohne den Blick von der schönen Schläferin abzuwenden, „willst Du mir etwas zu Liebe thun?“

Das Kind richtete die hellbraunen Augen fragend auf ihn.

„Wie macht man das?“ wisperte sie.

„Willst Du hingehen und mit einer Schere eine Locke aus Fräulein Leonorens Haar für mich schneiden?“ flüsterte er in das kleine mit einem Malachitglöckchen geschmückte Ohr.

Vera sah ihn eine Weile stumm und dreist an.

„Nein,“ antwortete sie dann, „das würde Fräulein Leonore nicht gestatten. Sie ist sehr stolz auf ihre schönen Haare.“

„Sie soll es auch nicht erfahren,“ entgegnete Heino beruhigend; „ich sage ihr kein Sterbenswörtchen, und außer uns sieht es Niemand.“

Vera legte ihre Hände auf den Rücken, zum Zeichen, daß sie ihm dieselben nicht zu der Unthat leihen wolle.

„Nur eine ganz kleine Locke,“ drängte er weiter. „Ich will Dir auch etwas Wunderschönes schenken.“

„Was denn?“ fragte sie neugierig.

„Willst Du Bonbons und Marzipan aus Himmelgarten?“ raunte Heino ihr zu.

Sie schüttelte den kleinen Kopf mit dem kurz geschnittenen dunklen Haar.

„Davon bekommt man schwarze Zähne.“

„Eine Puppe, die Papa und Mama sagen kann?“ bot er weiter.

„Ich spiele nicht gern mit Puppen,“ sprach sie wegwerfend.

„Nun, was möchtest Du wohl haben?“ drang er leise in sie.

Vera rückte unschlüssig ihren juchtenledernen Gürtel über der naturellfarbigen Blouse hin und her. Endlich stellte sie ihre Bedingung.

„Wenn Sie mir ein Gedicht machen wollen.“

„Wie kommst Du auf diese Idee?“ fragte Heino überrascht.

„Die Komtesse Schwuggensee wünscht sich ein Gedicht,“ vertraute ihm Vera an, „und die Fräulein von Gokel möchten es auch; und Mister Montagu wird so lange hier bleiben, bis er für sein Album von grünem Sammet ein Gedicht von Ihnen hat. Denn er sagt: Baron Blachrieth ‚is in vogue‘. Dann hätte ich etwas, was noch Niemand weiter hat.“

„Du sollst ein Gedichtchen bekommen,“ versprach Heino.

Vera sprang nach dem Salon und kam bald mit einer kleinen vergoldeten Schere wieder. Aber sie war noch nicht gänzlich ohne Bedenken.

„Warum schneiden Sie sich denn die Locke nicht selbst ab?“ fragte sie ihn mißtrauisch.

Heino erröthcte heiß.

„Weil ich keine solchen Elfenfüßchen habe, unter denen das Gras nicht knistert, und weil Du dann kein Gedicht bekommst.“

Der letzte Grund schlug durch. Leise schlich sie zu Leonoren hin, und mit ihrer kleinen ungeschickten Hand schnitt sie eine lange Locke ab, die still auf den Boden sank. Schnell hob sie dieselbe auf und brachte sie Heino, der zitternd das duftende seidenweiche Haar empfing und es eilig auf seiner Brust verbarg.

Dann versprach er, ihr recht bald den Sündenlohn zu zahlen, prägte ihr ernstlich ein, Niemand etwas von dem verübten Raub zu sagen, warf noch einen heißen Blick nach der schönen Schläferin zurück und eilte von dannen.

In seiner Aufregung hatte er die ganze Welt vergessen und fuhr erschrocken zusammen, als er plötzlich bei einer Biegung des Weges einem eleganten, ganz in Grau gekleideten Herrn gegenüber stand.

Auch der Andere war sichtlich überrascht und sah Heino durchdringend an. Doch sogleich senkten sich seine Augenlider wieder, und er schritt langsam vorüber.

Heino aber vermochte nicht, weiter zu gehen. Der Gedanke, der Fremde, in dem er den Pächter der Bank erkannte, könne zufällig an Leonorens so leichtsinnig gewählte Ruhestätte kommen, schnürte ihm die Brust zusammen. Er blieb stehen und folgte dem Grauen mit dem Blicke.

Da, wo der Weg von dem Weinlaubengang nach der Trauerweide sich abzweigte, schien der Spielpächter zu zögern und unmerklich das Gesicht nach ihm zu wenden. Dann drehte er sich rasch ab und wandelte den nach dem Kurgarten führenden Weg hinauf.

Heino athmete auf. Den goldigen Schatz an sein Herz drückend, eilte er nach Hause.

(Fortsetzung folgt.)




[331]
Die Berliner Jubiläums-Ausstellung.
Von Ludwig Pietsch.0 Mit Illustrationen von R. Warthmüller.

Die deutsche Reichshauptstadt schickt sich an, während dieser Sommermonate viele Gäste zu empfangen. Sie erwartet dieselben oder hofft auf ihr Kommen zu einem ungewöhnlichen künstlerischen Schauspiel. Die Bühne desselben liegt auf dem zum lustigen Parke umgewandelten, vom Viadukte der Stadtbahn der Länge nach getheilten weiten ehemaligen Sandfelde an der Straße nach Moabit zwischen der Garde-Ulanenkaserne im Norden und dem Justizpalaste im Westen. Es ist dasselbe Terrain, welches schon zweimal als Scene großer, bedeutungsvoller, folgenreich gewordener öffentlicher Schaustellungen im Laufe der letzten sieben Jahre gedient hat: der Berliner Gewerbe-Ausstellung im Jahre 1879 und der Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen im Jahre 1882 – von kleineren, gelegentlichen Ausstellungen zu geschweigen. Der Titel aber des für diesen Sommer dort vorbereiteten und in der nächsten Zeit beginnenden Schauspiels heißt: Die Jubiläums-Ausstellung der königlichen Akademie der Künste.

Hundert Jahre sind an diesem 20. Mai seit dem Tage verflossen, an welchem zum ersten Male in Berlin sich die Pforten einer von der Akademie der Künste ins Leben gerufenen Kunstausstellung dem Publikum der preußischen Hauptstadt aufthaten. Hundert Jahre voll gewaltiger, wechselvoller Schicksale, welche Preußen und Deutschland wiederholt im Tiefsten erschüttert, beider Gestalt, Verfassung, politische, sociale, wirthschaftliche und künstlerische Zustände völlig umgestaltet haben. Aber wie das gesammte Vaterland und wie seine Hauptstadt ist auch die Berliner Akademie der Künste in der glücklichen Lage, auf dieses schicksalsreiche Jahrhundert nicht mit Schmerz und Wehmuth über einst Besessenes und Verlorenes, wohl aber mit frohem Stolze zurück zu blicken. Haben jene Geschicke schließlich doch Preußen, Deutschland und Berlin zu einer damals nicht zu ahnenden Größe, Macht und Blüthe geführt, und sind doch diese Umwandelungen nicht ohne mächtigen, tiefgreifenden Einfluß auf die Entwickelung der vaterländischen Kunst wie auf die Stellung und Bedeutung unserer Akademie selbst geblieben.

Aus sehr bescheidenen Anfängen hat sich das Institut entwickelt. Sie liegen in jener Zeit, welche für die gesammte Gestaltung Berlins, für die Erweckung des schlummernden künstlerischen Geistes in dieser Stadt so epochemachend gewesen ist; der Zeit, in welcher die gewaltigsten Schöpfungen der monumentalen Bau- und Bildnerkunst dem Sumpf- und Sandboden des einstigen Fischerdorfs – Dank der Zauberkraft eines der größten kunstlerischen Genien aller Zeiten, Andreas Schlüter’s – erwachsen sind. Der Hofmaler jenes kunst- und prachtliebenden Kurfürsten Friedrich III., des späteren ersten Königs Friedrich I. in Preußen, der Holländer Terwesten, machte im Jahre 1694 seinem fürstlichen Herrn den Vorschlag, die in Berlin thätigen Künstler zu einer Akademie der bildenden Künste nach dem Muster der bereits zu Rom und Paris bestehenden zu vereinigen. Der allmächtige Minister Dankelmann wurde gemeinsam mit Schlüter mit der Ausarbeitung eines Organisationsplanes eines solchen Instituts beauftragt. Das von ihnen entworfene Reglement erhielt die kurfürstliche Bestätigung. Ein Fonds von jährlich tausend Thalern wurde der Akademie für ihre Bedürfnisse zugewiesen, als Lokalität für ihre Sitzungen und Lehrklassen sechs große Zimmer im Hauptgeschoß des „kurfürstlichen Marstallgebäudes auf der Dorotheenstadt“ – des heutigen Akademiegebäudes Unter den Linden. Nehring, der berühmte Baumeister des Zeughauses, richtete diese Räume für ihre neue Bestimmung ein. Am 1. Juli 1699 erfolgte in Gegenwart des ganzen Hofes die Einweihung. In der Stiftungsurkunde heißt es wörtlich: „Für die mehrere Etablirung und desto nützlichere Fortpflanzung aller Künste und Wissenschaften in den kurfürstlich brandenburgischen Staaten soll eine Kunstakademie dienen, um zur Aufnahme der Bildhauer-, Mahler- und Architekturkünste mit zu wirken.“

Nach kurzer Blüthezeit ereilte diese Schöpfung König Friedrich’s I. ein trauriges Los. Die Sparsamkeit, die Kunst- und Luxusfeindlichkeit seines Sohnes und Nachfolgers, des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I., bereitete ihr dasselbe. Er setzte die königlichen Zuschüsse auf ein Minimum herab. Ja, er verlangte sogar noch eine jährliche Miethszahlung von 50 Thalern seitens der Professoren für die Akademieräume an den Fiskus. Aber officiell aufgehoben wurde das Institut dennoch nicht. Es siechte so hin bis zur Thronbesteigung Friedrich’s II., von dem es sich die Heraufführung einer neuen glücklicheren Zeit versprechen zu können glaubte. Die Erfüllung dieser Hoffnung blieb freilich trotz der kundgegebenen wohlwollenden Absichten des neuen Herrschers noch ziemlich lange vertagt, wenn derselbe ihr auch 1745 schon in dem französischen Hofmaler Le Sueur einen neuen, von ihm hochgeschätzten Direktor gab und ihre Einkünfte einigermaßen verbesserte. Aber erst im letzten Lebensjahre des Königs, 1786, gelang es dem Etats- und Kriegsminister von Heinitz, dem obersten Vorgesetzten und eifrigen Protektor der Akademie, das Projekt zu einer völligen Neu-Organisation und eine Bewilligung von Fonds zur Erhöhung der Lehrergehalte und den sonst nothwendigen Ausgaben bei seinem Monarchen durchzusetzen. Im zwölften Paragraphen des neuen Reglements wird Paragraph 13 des alten, von 1699 datirenden Reglements, welches jeden akademischen Künstler verpflichtet, alljährlich ein Kunstwerk seines Faches der Akademie zum Eigenthum anzufertigen, aufgehoben und statt dessen das „wo möglich" alljährliche Stattfinden einer öffentlichen Ausstellung von Kunstwerken in den Räumen der königlichen Akademie angeordnet. Noch im Mai und einem Theil des Juni desselben Jahres fand, wie schon oben erwähnt, die erste dieser akademischen Ausstellungen in jenen neustädtischen Marstallgebäuden statt. Am 18. Mai ging der Eröffnung eine feierliche Sitzung der akademischen Körperschaft vorauf, in welcher Daniel Chodowiecki, der berühmte Kupferstecher, damals Direktor der Akademie, eine kurze Anrede an die neuernannten Ehrenmitglieder der Akademie hielt und die Gegenstände (drei Scenen aus der Fridericianischen Heldenzeit) mittheilte, welche als Konkurrenzaufgaben für Bildhauer zur Darstellung in Zeichnungen oder Reliefs gewählt worden seien.

Bau des „Tempels von Pergamon“ auf dem Ausstellungsplatze.

Am 19. Mai wurde die Kunstausstellung durch die Königin, den Prinzen und die Prinzessin von Preußen, die anderen Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses und eine Menge von Kavalieren und Damen des Hofes besichtigt, wobei Minister von Heinitz diese Herrschaften an der Spitze der in corpore versammelten Akademiker empfing und die gesammte studirende akademische Künstlerjugend den hohen Besuchern vorstellte. Tags darauf fand die Eröffnung für das Publikum statt. Kunstwerke von Rohde, Chodowiecki, W. Weil, Frisch, Tassaert, Meyer, Krüger, Berger, Rosenberger, Arleton, den auswärtigen Akademikern Graf Liszewsky, Vanloo, Philipp Hackert, Darbes; Bildnisse von Cunningham und Frank, Kupferstiche von Cunego und Townley; Zeichnungen von Prinzessin Luise und von den Prinzen Friedrich Wilhelm, Heinrich, Ludwig und August scheinen die größte Anziehungskraft für das Publikum gehabt zu haben.

Das Jahr der ersten akademischen Kunstausstellung zu Berlin war bekanntlich auch das des Todes des großen Königs. Sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., bewies dem Institute, das sich nach dem neuen Reglement vom 26. Januar 1790 „Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften“ nannte, eine viel lebhaftere Gunst. Von Neuem wurde es darin wiederholt, daß „von Zeit zu Zeit, womöglich alle Jahre“ öffentliche Ausstellungen von Kunstwerken der [332] einheimischen und fremden Künstler durch die Akademie in ihren Räumen veranstaltet werden sollten. Die Eröffnungstermine und die für diese Ausstellungen gewählten Jahreszeiten haben wiederholt gewechselt. Bis 1793, mit einziger Ausnahme des Jahres 1788, war es der Mai und Juni, dann wieder, mit einziger Ausnahme der von 1808, der September und Oktober. In dem Jahr des furchtbaren Zusammenbruchs der preußischen Macht fand die Eröffnung der durch alle Kriegsunruhen nicht verhinderten akademischen Kunstausstellung 14 Tage vor der Schlacht bei Jena statt. In der Vorrede des Katalogs spricht die Akademie noch das stolze Vertrauen aus, daß die unbesieglichen Waffen des vaterländischen Heeres unter seinen Feldherren und dem besten der Könige den Preußen bedrohenden Feind bald und rasch zerschmettern und der Welt den für die Künste doppelt zu ersehnenden Frieden geben würden! 1808, während der französischen Occupation, mußte der Ausstellungskatalog neben dem deutschen Text auch einen französischen bringen. Seit 1800 waren wieder die zweijährigen Zwischenpausen zur Regel geworden. Nur in den Jahren 1838 bis 1840 wich die Akademie davon ab, um dann wieder zu dem gewohnten Modus der zweijährige Perioden zurückzukehren. 1850 wird einmal wieder der Versuch einer im Mai eröffneten Frühlingsausstellung gemacht. Aber von 1852 ab erhielt die Herbstzeit von Neuem den Vorzug.

Nach der 1875 vollzogenen gründlichen Reorganisation der Berliner Akademie wurde die fernere Benutzung der Räume des Gebäudes für die Kunstausstellungen unmöglich. Zum Ersatz wurde das Fachwerkgebäude, die sogenannte „Kunstbaracke“ am Kantianplatz hinter dem Museum und den Packhofgebäuden auf der Westseite der Spreeinsel aufgeführt und die nächste Herbstausstellung dorthin verlegt. Dort wiederholten sich die Ausstellungen wieder alljährlich. 1882 unterblieb die Veranstaltung aus der durch den Brand des Wiener Ringtheaters erweckten Sorge um die Feuergefährlichkeit jenes Nothbaues. Im folgenden Jahre bestimmte das Ministerium, im Einvernehmen mit der Akademie, die noch unbenutzten Räume im neuen riesenhaften Gebäude des Polytechnikums an der Charlottenburger Allee zu einer in den Mai und Juni verlegten Kunstausstellung. Der Versuch mißglückte vollständig. Noch einmal kehrte man zu dem Fachwerkhause am Kantianplatz zurück und ließ die Ausstellung des Jahres 1884 dort, und zwar im September und Oktober, stattfinden. Im vorigen Jahre aber fiel sie gänzlich aus.

Inzwischen war jener Glas- und Eisenpalast auf dem erwähnten fiskalischen Terrain für die Hygiene-Ausstellung erbaut, von der Regierung erworben und zum dauernden „Landes-Ausstellungsgebäude“ erhoben worden. In ihm schien das rechte Haus für die Jubiläums-Kunstausstellung gegeben zu sein. Allerdings mußte es zu diesem Zweck manchen inneren Umwandlungen unterzogen und durch Anbauten bedeutend erweitert werden. Letztere bestehen besonders in einer der nordöstlichen Schmalseite des langen Gebäudes angefügten Halle von 56 Meter Länge bei 55 Meter resp. 46 Meter Breite. Von der mittelsten Eingangsthür in der Südwestseite zum Vestibül, unter der mächtigen Glas- und Eisenkuppel des Palastes, blickt man nun in der Achsenrichtung durch einen Gesammtraum von 190 Meter Länge; eine Perspektive, welche durch die dort an der Schlußwand des Anbaus aufgestellte Statue Friedrich’s des Großen vom alten Gottfried Schadow, zwischen den Statuen Zieten’s und des Dessauers von demselben Meister, ihren effektvollen Abschluß erhält. Jener Kuppelraum hat durch die Architekten Kayser und von Großheim im Verein mit einigen ausgezeichneten Malern und Bildhauern eine prächtige architektonische, malerische und plastische Innendekoration erhalten und ist so zum würdigen Schauplatz des feierlichen Eröffnungsaktes gestaltet worden. Der mittlere Raum des Palastes, welcher auf dies Vestibül folgt (im Lichten 57 Meter breit), ist in verschiedene, theils quadratische, theils achteckige Oberlichtsäle gegliedert. Er wird in seiner ganzen Länge von 2 je 17 Meter breiten Seitenschiffen flankirt, welche durch schräg gegen die Seitenfenster gerichtete Schirmwände in zahlreiche, ziemlich gut beleuchtete Kabinets für kleinere Bilder getheilt werden. Ein halbkreisförmiger Korridor, der den Palast ursprünglich gegen Norden hin abschloß, ist besonders zur Aufnahme architektonischer Entwürfe und Modelle bestimmt. Hier führt unter Anderem Baurath Otzen eine vollständige gothische Kapelle auf.

Gleichzeitig mit dieser akademischen Kunstausstellung werden auf anderen Stellen des weiten Terrains noch andere hochinteressante künstlerische Schaustellungen stattfinden. In jener westlichen Parkecke, welche seit der Hygiene-Ausstellung der damals dort so zahlreichen Kneipen wegen den Namen des „nassen Dreiecks“ führt, werden im Auftrage einer Aktiengesellschaft durch die Architektenfirma Kyllmann und Heyden ein paar sehr originelle Gebäude errichtet. Die Gestalt des einen (vergl. Anfangsvignette) erinnert an einen ägyptischen Tempel. Es beherbergt in seinem Innern Dioramenbilder aus der Geschichte der neuesten Afrikareisen und der deutschen Kolonialerwerbungen. Das andere enthält ein Halbpanorama des antiken Pergamon zur Blüthezeit der Attalidenherrschaft. Als Façade ist diesem Gebäude eine Kopie der östlichen Säulenvorhalle des Zeustempels zu Olympia in den wirklichen Größenmaßen des Originals mit dem Giebel vorgesetzt. Das Ganze aber steigt auf der Plattform eines Unterbaues auf, dessen Frontseite mit der in seinen Körper einschneidenden breiten Stiege und mit seinem Hochrelieffriese des Gigantenkampfes unterhalb des Simses eine Kopie der betreffenden Seite des (rekonstruirten) Sockels des Zeusaltars am Burgberge von Pergamon ist.

Die rühmlich bekannten Maler G. Koch und Kips in Berlin haben ihre Naturstudien der pergamenischen Landschaft an Ort und Stelle aufgenommen und führten mit deren Hilfe das große Halbrundgemälde aus, welches die Erscheinung dieser Höhen und Ebenen im zweiten Jahrhundert vor Christo mit ihren Tempeln, Palästen, Altären, Theatern, Häusern und Mauern veranschaulicht.

Es lag ursprünglich in der Absicht der Akademie, der Jubiläums-Ausstellung officiell den Charakter einer internationalen zu geben. Die Abneigung der Reichsregierung gegen die zur Veranstaltung einer „Weltkunstausstellung“ erforderlichen Schritte bei den anderen Mächten, gegen die all diese zu richtende Einladungen etc., ließ den Senat diesen Plan aufgeben. Aber man hat dafür die Künstler der einzelnen Länder gleichsam privatim durch einen dazu ausgesendeten Vertrauensmann, den Kunsthändler Herrn Fritz Gurlitt, zur Betheiligung, wenn auch innerhalb peinlich eng gezogener Schranken, einladen lassen. Von Seiten der französischen Künstler ist diese Einladung abgelehnt worden. Die englischen, belgischen, holländischen, skandinavischen, russischen, spanischen, italienischen und österreichisch-ungarischen habe ihr bereitwillig entsprochen. Die einheimischen, besonders die Berliner, Künstler sind unzufrieden, daß ihnen nur für 300 Gemälde mittleren Umfangs der erforderliche Platz im Palast angewiesen werden konnte. Das Ausstellungsgebäude müßte eben die doppelte Ausdehnung haben, wenn es allen Raumansprüchen genügen sollte. Ein nicht geringer Theil des darin vorhandenen Platzes wird übrigens auch noch von der retrospektiven Ausstellung von deutschen Kunstwerken aus den letzten hundert Jahren okkupirt und bleibt somit denen aus der Gegenwart entzogen. Außer der Malerei, der Bildhauerei, der Architektur und den reproduktiven Künsten ist hier diesmal auch den dekorativen die gebührende Berücksichtigung geworden. So dürfen wir mit Bestimmtheit erwarten, daß das Bild des moderne Kunstschaffens im Vaterlande, welches die Ausstellung gewährt, ein allseitig Umfassendes sein wird. Wir haben noch keinen Grund zum Zweifel daran, daß dies Gesammtbild uns die erfreuende Gewißheit geben werde: auch die deutsche Kunst hat sich in diesen hundert Jahren wacker vorwärts gearbeitet und kann heut mit vollauf berechtigtem Selbstgefühl in den Wettkampf mit der jedes anderen modernen Kulturvolkes eintreten.


Was will das werden?

Roman von Friedrich Spielhagen
(Fortsetzung.)

Der Fremde war in so geringer Entfernung von mir, daß ich seine Gestalt noch immer deutlich unterscheiden konnte, stehen geblieben, vermuthlich unsicher über den Weg, der gerade an dem Punkte sich kreuzte. Links lief die Fahrstraße nach dem Schlosse, das, in weiterer Entfernung, von der Stelle unsichtbar, hinter den Bäumen lag; rechts führte eine Abzweigung der Fahrstraße eben nur noch bis zur Villa, und die konnte man von da aus sehen, zumal jetzt, wo ihre weiße Fronte der Mond bescheinen mußte und zum Ueberfluß die Lampe in Adele’s Salon brannte. Der Fremde wandte sich nach rechts.

Mein Herz, das, ich wußte selbst nicht warum, heftig geschlagen hatte, stand plötzlich still vor einem Gedanken, der mich durchzuckte wie ein Blitz, der vom nächtlichen Himmel fährt und für einen Moment Tagesklarheit über die dunkle Welt streut. Nur für einen Moment, gerade lange genug, um, was bare Tollheit schien, für mich zu einer schauerliche Möglichkeit, zur grausamen Gewißheit zu machen. Sie war so seltsam aufgeregt gewesen; hatte mich, trotz meiner flehentlichen Bitte, nur noch eine Viertelstunde, nur noch fünf Minuten bleiben zu dürfen, ganz gegen ihre Gewohnheit und so unbarmherzig weggeschickt – vor [333] mir war sie sicher und ebenso vor dem Herzog, der morgen früh verreiste und sie nach der Scene am Vormittage heute Abend gewiß nicht mehr besuchen würde. Da mochte sie in aller Heimlichkeit Den empfangen, um derentwillen sie sich scheiden lassen wollte. Und dem ihre Thränen geflossen waren, die sie dann so schnell wieder getrocknet hatte, weil sie wußte, daß er auf dem Wege zu ihr war; sie ihn trotz alledem binnen einer Stunde in ihren Armen halten würde: den Russen, den Herrn von Pahlen!

Als hätte das Alles nicht in meinem dunklen Herzen, sondern mit Flammenschrift vor mir auf der schwarzen Waldwand gestanden, war es der eifersüchtigen Seele aufgegangen tausendmal schneller, als Worte es auszusprechen vermögen. Aber ob ich das war, der da hinter dem Fremden her unter den breiten Kronen der Bäume am Rande des Weges hinhuschte, ob ein Gespenst meiner selbst – ich hätte es nicht zu sagen gewußt, so ganz waren alle meine Sinne nur bei der schwarzen Gestalt, die da, jetzt im Schatten, daß sie fast verschwand, jetzt deutlich im Licht des Mondes, vor mir auf dem Wege hinglitt – immer vor mir her – nun an der Mauer, die das Villawäldchen von der Fahrstraße schied; nun an dem höheren eisernen Gitter längs der Bosketts; nun an dem niedrigeren des Vorgartens und, an der Gitterthür angelangt, sich nicht weiter bewegte. Jetzt der Ton der Klingel, sehr vorsichtig, sehr leise – einmal, zweimal. Die Thür sprang auf (sie wurde vom Hause aus geöffnet); – die Gestalt glitt durch die Thür; durch den Vorgarten, in welchem sie aber erst wenige Schritte auf die Verandatreppe zu gemacht hatte, als das Licht im Salon plötzlich sich bewegte – in den nach dem Hintergarten gelegenen zweiten Salon; ich hatte ganz deutlich die Verbindungsthür auf- und zugehen sehen. Inzwischen war die Gestalt durch den Vorgarten bis zur Verandatreppe gelangt. Hier verlor ich sie hinter dem Geflecht des wilden Weines, mit dem die Treppe überrankt war; erblickte sie aber sofort wieder, als sie zwischen den Verandasäulen hinglitt und durch die offene Thür in den jetzt dunklen Salon trat. In demselben Momente hatte ich mich über das Gitter in den Garten geschwungen, mich nach rechts schlagend, wo mir die Bosketts Schutz gewährten. Hier hielt ich still, nicht aus Scham – ich empfand keine, auch nicht die leiseste Regung – nur um das hämmernde Herz ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen und zu überlegen, wie ich bis zu den Fenstern des hinteren Salons gelangen könne, in den Adele geflüchtet war, dort in größerer Sicherheit den Liebsten zu empfangen. Die Entfernung war nur gering; aber die Blumenbeete boten keine Deckung, und den Zugang zu der Thür bildete ein fast aufsteigender Rasenplatz, durch welchen ein mit Blattpflanzen in Vasen besetzter Kiespfad bis zur Thürschwelle führte. Die Thür, hier von Holz, war zu, und das war ein Vortheil für den Heranschleichenden, der nun die Wahl hatte zwischen den beiden Fenstern, je einem zu Seiten der Thür, die freilich, da der Rasenplatz nach rechts und links schärfer abfiel, bereits in ziemlicher Höhe über dem Erdboden lagen. Ich würde, den Fuß auf die schmale Mauerplinthe setzend, mich an dem Fenstersims emporziehen müssen.

Aber das letzte Schamlose wurde mir Gott sei Dank erspart. Die Thür in beiden Flugeln wurde von innen aufgestoßen und sie traten auf die Schwelle. Es mochte sie nicht geduldet haben in dem verschlossenen Raume, die Glütklichen; sie mochten die keusche Nacht und die reinen Sterne haben anrufen wollen zu Zeugen ihres Glückes.

Und so standen sie – die beiden Gestalten scharf abgezeichnet auf dem helleren Hintergrunde des Zimmers – in die Nacht hinein, zu den Sternen aufblickend; sie den Kopf an seine Schulter lehnend, wie vorhin auf die meine; er den Arm um ihren Leib schmiegend, wie ich es vorhin gethan. Und nun hob sie das Antlitz, in welchem ich ihre Augen glänzen zu sehen meinte, zu ihm empor; er senkte das seine, sie ganz umschlingend, wie sie ihn.

Die Thür war geschlossen, und nur der Lampe Licht dämmerte durch die Fenster, als der Unglückliche in dem Schatten der Bosketts wieder die brennenden Augen aufzuheben wagte. Und dann schleppte er sich aus dem Garten unter der Doppellast seiner Verrätherschuld, die er jetzt in schauerlichster Klarheit ermessen konnte, und seines Leides, dessen grauenhafte Tiefe ihm unermeßlich schien.


7.

Ich weiß nicht, wie ich in das Schloß und auf mein Zimmer zurückgekommen bin, wo Holzbock ängstlich meiner harrte. Der Herzog hatte bereits zweimal anfragen lassen, ob ich noch immer nicht zu Hause sei; er wünsche mich heute Abend auf eine Stunde zu sprechem

Holzhock war davongeeilt, die Nachricht von meiner Rückkunft hinüber gelangen zu lassen. Ich machte mich in aller Eile ein wenig zurecht. Es war durchaus nichts Seltenes, daß der Herzog mich so auf meinem Zimmer besuchte, besonders des Abends, wenn er drüben fürstliche oder andere besonders vornehme Gesellschaft bei sich gesehen hatte, zu der ich niemals gezogen wurde. Ich hatte manchmal das wunderliche Gefühl gehabt, als wolle er mich dann für eine Entbehrung, die freilich nur in seinen Augen eine sein mochte, in den meinen nur eine Wohlthat war, durch eine besondere Gunst entschädigen. Jedenfalls war er niemals munterer und liebenswürdiger, als in solchen Stunden, in denen es mir wahrlich oft schwer fiel, mich daran zu erinnern, daß der Mann da vor mir auf dem Sofa, der so endlos Cigarren rauchte, die ihm im Eifer der Rede immer wieder ausgingen, und dazu Wasser mit Kognak nippte (nur um sich die Zunge zu erfrischen, denn er war im Essen und Trinken die Mäßigkeit selbst) – daß dieser Mann, der über Gott und die Welt seine Gedanken mit dem höchsten Freimuthe eines Künstlers oder Gelehrten aussprach, ein Herzog und gebietender Herr sei.

So waren mir diese Besuche immer ein kleines Fest gewesen; heute sah ich seinem Kommen schaudernd entgegen. Er pflegte unter zwei Stunden nicht zu gehen, und ich fühlte mich zum Tode erschöpft, wollte ich auch an meinen Seelenzustand gar nicht denken. Es würde eine fürchterliche Qual werden, besonders wenn er, was ich zuletzt am „Thomas Münzer“ unter seiner Einwirkung fast nach seiner Angabe geschrieben, zu hören verlangte. Ich wußte, daß ich nicht die Kraft dazu haben würde. Sollte ich nicht versuchen, mich mit Unwohlsein zu entschuldigen? Es wäre keine Lüge gewesen; aber bei Hofe durfte man ja nicht unwohl sein, sobald der Dienst es anders verlangte. Und da kam auch schon Holzbock athemlos zurück: Hoheit folge ihm auf dem Fuße.

Es währte in der That nur noch wenige Minuten, als ich bereits seinen schweren und etwas unregelmäßigen raschen Schritt hörte. Einen Blick auf mein geisterhaft blasses Gesicht im Spiegel, einen zweiten nach dem Tische vor dem Sofa, wo die Kognak- und Sodawasserkaraffen mit dem Glase auf dem silbernen Präsentirteller und daneben die Cigarrenkiste mit dem Aschbecher zwischen den beiden dreiarmigen Leuchtern regelrecht standen, und er trat herein, während Holzbock, der ihm die Thür geöffnet, und der Kammerdiener, der ihn hierher begleitet, auf dem Korridor blieben: er liebte es, die kleinen Dienste, die etwa im Laufe eines solchen Abends nöthig wurden, sich von mir leisten zu lassen. So mischte ich ihm denn als er in seiner Sofa-Ecke Platz genommen und sich das Kissen unter den Arm geschoben hatte (die Lehne war ihm etwas zu niedrig) sein Glas, bot ihm die Cigarre, deren Spitze bereits abgeschnitten sein mußte, und setzte mich auf seinen Wink ihm gegenüber, im Kampfe mit einer halben Ohnmacht, die mich für den Rest des Abends das Schlimmste befürchten ließ.

O dieser Abend! Wie oft habe ich später seiner denken müssen mit Schaudern des Entsetzens, in Erinnerung der Qualen, die ich während desselben erduldet, und tiefster Wehmuth, eingedenk, daß es der letzte war, welchen ich mit ihm verleben durfte, der, wie er von sich zu sagen pflegte, etwas Besseres verdient hätte, denn als Fürst geboren zu sein, und dessen Andenken mir ewig theuer bleiben wird – trotz alledem!

Ich erinnere mich nicht genau, worüber er im Anfang sprach: ich sollte meinen, es waren Theaterangelegenheiten, die ihm gerade jetzt viel Aerger bereiteten. Einige tüchtigere Kräfte hatte man verloren, weil der Etat mit den immer sich steigernden Gage-Anforderungen nicht Schritt halten konnte; ein paar neue Engagements waren nur als Nothbehelfe zu betrachten; die trostloseste Saison stand in Aussicht, wenn man sich nicht Knall und Fall entschloß, die so schon ein kümmerliches Dasein fristende Oper ganz und gar aufzugeben, was wieder des Publikums wegen sein Bedenkliches hatte. Es war ein Glück für mich, daß diese Dinge seit Wochen das ständige Thema der Kavaliertafel gewesen waren; so [334] mochte ich denn meine zerstreuten Ja und Nein so ziemlich an den richtigen Stellen angebracht haben. Dabei hatte ich doch den Eindruck, daß der Herzog selbst zerstreut war und weniger bündig und zur Sache sprach, als sonst seine Weise, während er mit noch besonderer Hast rauchte, und ich ihm, ebenfalls gegen die Gewohnheit, schon nach den ersten Minuten sein Glas zum zweiten Male hatte füllen müssen.

Machen Sie sich auch eines zurecht,“ sagte er plötzlich; „Sie sehen erbärmlich aus. Ist ihnen nicht wohl?“

„Doch, doch!“ stammelte ich, indem ich, meine Verlegenheit zu verbergen, hastig seinem Befehle nachkam und gierig ein paar Schlucke trank.

„Wo sind Sie heute gewesen?“

Ich setzte zitternd das Glas nieder. Der Ton der Frage war so anders, als in welchem er bisher gesprochen. Hatte er jetzt das Thema berührt, zu dem die Theatermisere nur das Präludium gewesen?

„Nun?“

„Bei Frau von Trümmnau,“ brachte ich noch eben heraus.

„Sie sagen das so zögernd und mit solcher verzweifelten Miene. Was hat’s denn da gegeben?“

Was es da gegeben? War mir der Kognak zu Kopf gestiegen? Was es da gegeben? Es fehlte nur ein Kleines, und ich hätte laut aufgelacht. Wunderliche Dinge hatte es da gegeben, fürwahr! Und die auch ihn sehr interessiren würden, wenn ich sie ihm nur sagen dürfte!

Es schien ihn nicht zu überraschen, daß ich mit der Antwort zögerte, wenigstens mischte sich, wie mir schien, eine gewisse Verlegenheit in den Blick, den er gespannt auf mich gerichtet hielt.

„Ich will es wissen," sagte er dann kurz und scharf.

Und als selbst jetzt meine Antwort nicht kam:

„Mein Gott, wozu diese Heimlichthuerei, wo es nichts zu verheimlichen giebt. Sie hat sich über mich beklagt; sie hat mich einen Barbaren, einen Tyrannen und so weiter gescholten. Und Sie haben ihr darin sekundirt. Als ob ich das Alles nicht wüßte!“

Nun, wenn er das Alles wußte, hatte es freilich keinen Sinn, mit der Wahrheit zurückzuhalten, so weit dieselbe überhaupt mittheilbar war.

„Ja, Hoheit,“ sagte ich, „ungefähr so ist es gewesen, und ich leugne nicht, daß ich Frau von Trümmuau Recht geben mußte.“

„So!“ rief er eifrig, sich emporrichtend und die ausgegangene Cigarre an dem Licht der Kerze von Neuem entzündend – „Recht geben mußte! Das ist denn freilich sehr bequem, wenn man die Medaille nur von der einen Seite sieht. Oder hätte sie Ihnen auch die andere gezeigt? Hätte sie Ihnen wirklich gesagt, welches der eigentliche Grund ist, weßhalb sie geschieden sein will? Heirathen will sie von Neuem – das ist das Lange und Kurze von der Sache."

„Das wußte ich freilich nicht,“ sagte ich mit einem bösen Lächeln, das der Eifrige glücklicher Weise nicht sah.

„Aber so ist es,“ rief er, „und wen? Einen Russen, einen Grafen Pahlen – Sie werden durch Renten von ihm gehört haben. Ich danke unterthänigst! Soll ich sie vielleicht nach Rußland ziehen lassen? Der Mann ist Officier – ein ganz verdienstvoller, gebe ich zu, muß ich zugeben, und ein besonderer Günstling des Kaisers, der nicht daran denkt, ihm den Abschied zu bewilligen, an den er selbst übrigens eben so wenig denken kann, da er arm ist wie eine Kirchenmaus. Nun, und Frau von Trümmnau’s Vermögen geht in der Scheidung bei Heller und Pfennig an Herrn von Trümmnau. Das ist sicher. Und die Herrschaften sitzen da vis-à-vis de rien. Soll ich die Herrschaften etwa noch ausstatten zum Lohn dafür, daß sie wider meinen Willen heirathen?“

„Es wird Hoheit kaum etwas Anderes übrig bleiben,“ sagte ich.

Er blickte mich an, sprachlos über meine Kühnheit. Ich aber war entschlossen, für Adele einzustehen, mochte daraus kommen, was wollte.

„Ich meine nur,“ fuhr ich fort, „daß Hoheit doch gewiß Frau von Trümmnau nicht unglücklich machen wollen. Und wie kann sie anders als unglücklich werden und sein, wenn sie gezwungen ist, Frau von Trümmnau zu bleiben, während sie jenen andern Herrn liebt und dieser sie?“

„Ach was, Liebe!“ rief er. „Das redet man sich ein und redet man sich auch wieder aus. Zu dem Ersteren haben sie genau zwei Wochen Zeit gehabt, zu dem Letzteren schon zwei Jahre.“

„Die denn doch noch nicht eben viel geholfen zu haben scheinen,“ warf ich ein.

„So geben wir noch ein paar Jahre zu. Die werden wohl Hilfe bringen, vorausgesetzt, daß sie sich unterdessen nicht wieder sehen. Ich wüßte nicht, wie sie das anstellen sollten. Frau von Trümmnau wird nicht wagen, etwas gegen meinen ausgesprochenen Willen zu unternehmen, und ich werde schon dafür sorgen, daß der Herr keinen Urlaub und keinen Paß ins Ausland bekommt.“

Ich mußte abermals sehr an mich halten, um gegenüber dieser pompösen Sicherheit, in Erinnerung der zärtlichen Scene, die ich vor einer Stunde mit meinen Augen gesehen, nicht in ein tolles Gelächter auszubrechen. Was da eben in der verschwiegenen Villa vor sich ging – er und ich, wir hatten ja Beide die Kosten zu zahlen. Nur, daß ich sie schon mit brennenden Thränen der Scham, mit wüthender Verzweiflung bezahlt hatte und weiter würde bezahlen müssen, und, es zu thun und zu entsagen und Großmuth zu üben entschlossen war und sie bereits übte, indem ich für die Glücklichen bei dem Tyrannen sprach, der die eigene Tochter in Sklavenketten hielt, wie seine ganze Umgebung – mich eingeschlossen! Oder hätte ich sonst da still gesessen, meinen Zorn in mich hineinwürgend, anstatt ihm ins Gesicht zu sagen, wie ich dachte?

„Was fehlt ihr hier?" fuhr er nach einer Pause fort, in welcher er heftig vor sich hin geraucht hatte; „sie hat Alles, was sie nur wünschen mag und tausendmal mehr Annehmlichkeiten des Lebens, als sie je in Petersburg haben würde, oder gar in irgend einem Raubnest da hinten am Kaukasus, wohin den Herrn jeden Tag der Dienst rufen kann. Aber es ist immer die alte Geschichte. Verständige Leute, welche die Welt kennen, wollen euch jungen Leuten, die ihr die Welt nicht kennt, das Leben schicklich einrichten, und ihr schreit über Tyrannei, steift euch gegen das Joch, und wäre es noch so sanft, noch so sehr zu eurem Heil; werft es womöglich ab und lauft in die Welt hinein, wo ihr das Glück zu finden hofft und nichts als Unheil findet, respektive anrichtet. – Da ist mir noch in diesen Tagen eine seltsame Affaire zu Ohren gekommen, die so recht eine Illustration eines solchen jugendlichen Frevels ist und Sie auch interessiren wird. Sie kennen ja die Familie Vogtriz? Natürlich. Wir sprachen gelegentlich einmal über den Major von Vogtriz; der Weißfisch hat mir so Manches über die Herrschaften berichtet, bei denen Sie ja im vorigen Sommer zum Besuch waren zugleich mit dem Kammerhern, der sich übrigens bitter bei mir beklagt, daß ich ihm den Weißfisch entführt habe, wie er sich auszudrücken beliebt. A propos: sehen Sie den Mann jetzt noch öfter – den weißfisch?"

Weißfisch – die Familie Vogtriz – der Kammerherr – wo kam das Alles auf einmal her? Ich blickte verwundert auf; aber ich konnte seine Mienen nicht deutlich sehen – er hatte sich eben in eine gar zu dichte Tabakswolke gehüllt.

„Nein,“ antwortete ich auf die letzte Frage; „Hoheit schienen es nicht zu wünschen.“

„Ich wünsche es auch in der That nicht,“ erwiderte er. „Auf seinem Theatersekretärposten, den ich ihm auf seinen Wunsch gegeben habe, richtet er nur Dummheiten an, und ich habe gegründete Ursache, anzunehmen, daß er mich bei einer früheren wichtigen Gelegenheit arg düpirt hat. Nein, nein! es ist ganz gut, daß Sie sich den Schelm fern halten, den ich übrigens wegzuschicken entschlossen bin. Aber um auf die Affaire, auf die ich hindeutete, zurückzukommen. Ist ihnen damals in Nonnendorf – so heißt es ja wohl? – von einem Vogtriz gesprochen, einem jüngeren Bruder des Vaters der jetzt lebenden Brüder Vogtriz: des Majors, des Herrn auf Nonnendorf und, ich glaube, ein dritter existirt als Präsident oder deßgleichen in Berlin? Jener Onkel also, ein übrigens noch blutjunger Mann, der hier in Europa nicht gut that, war nach Amerika gegangen, vermuthlich dahin geschickt worden, wie so viele adlige Thunichtguts; hatte aber dort wider alles Erwarten seine Fortüne gemacht durch eine Heirath mit der einzigen Tochter eines der reichsten New-Yorker Banquiers. Scheint indessen der rechte Hans im Glücke gewesen zu sein, da er nichts Eiligeres zu thun hatte, als ein halbes Jahr [335] nach der Hochzeit zu sterben. Die junge Frau folgte ihm, wiederum ein halbes Jahr später, nachdem sie einem Kinde das Leben gegeben, dessen Geburt ihr eben selbst das Leben kostete. Hatten Sie von diesen Dingen in der Familie wirklich nichts gehört?“

„Nur im Allgemeinen,“ erwiderte ich, „nicht in diesen Details.“

„Die ich eben auch nur aus den amerikanischen Zeitungen kenne,“ fuhr er fort. „Sie wissen, daß ich diese, sowie die englischen, stets mit Interesse verfolge; sie sind jetzt voll von der Sache, besonders natürlich die amerikanischen. Ein Fall, in welchem es sich um viele Millionen handelt, ist eine nationale Angelegenheit, Uebrigens hätten Sie die Geschichte nur bis zu diesem Punkte, von den Vogtriz hören können, die, wie aus dem weiteren Verlauf hervorgeht, zu der amerikanischen Familie, in welche ihr Verwandter geheirathet, wohl von Anfang an kaum in nähere Beziehung traten und jedenfalls später mit derselben außer allem Konnex gekommen sind. Aber wo war ich stehen geblieben?“

„Bei der Geburt des Kindes,“ erwiderte ich, dessen düstere Zerstreutheit nun doch der Theilnahme an dem Geschicke dieser Menschen gewichen war, von denen ich zuerst in den guten Schlagododro-Tagen gehört hatte: von dem Freunde in dem Ahnensaale der Vogtriz vor dem Bilde jenes seines Großonkels. Ich hatte demselben ja ähnlich sein sollen, obgleich ich es nicht finden konnte und eine Aehnlichkeit höchstens darin sah, daß der junge Mann, wie ich, weder Glück noch Stern gehabt.

„Richtig,“ sagte der Herzog, „bei der Geburt des Kindes, der Heldin dieser nach den Zeitungen wahrhaftigen Geschichte. Sie wuchs aber in dem Hause der Großeltern auf, die außer jener Tochter eben keine Kinder hatten und deren Abgott sie natürlich war und blieb, trotzdem sie schon früh eine Neigung zu Extravaganzen an den Tag gelegt zu haben scheint. Mit sechs Jahren – immer den wahrhaftigen Zeitungen folgend – war sie bereits ihren Großeltern entlaufen, um mit einer braunen Zigeunerin, die es ihr angethan – es treibt sich in New-York viel dergleichen Gesindels umher, das an den Straßenecken singt oder sonstige brotlose Künste ausführt – ich habe oft, als ich drüben war, meinen Spaß daran gehabt – kurz mit einem solchen Weibe war die Kleine davongelaufen, für die Hexe, die sie ,so gejammert‘, mit dem Teller zu sammeln und, wenn die Person, was oft geschah, zu betrunken war, die Zotenlieder derselben mit ihrer hellen unschuldigen Kinderstimme zu singen. Die Polizei hatte ihre liebe Noth, die kleine Vagabundin wiedereinzufangen. Als sie knapp zwölf Jahre, kam statt der Ziegeunerin irgend eine verrückte religiöse Sekte an die Reihe, die es ihr wiederum ,angethan‘, und diesmal war der Fall insofern ernster, als sie mit der ehrenwerthen Gesellschaft von New-York fortgezogen und verschwunden war, bis sie, ich weiß nicht wo, endlich entdeckt und zu ihren Großeltern zurückgebracht wurde, die natürlich abermals ein Freudenkalb schlachteten. Dann scheinen sie Ruhe vor den Emancipationsgelüsten der jungen Miß gehabt zu haben; aber mittlerweile war sie achtzehn Jahre alt geworden und besann sich darauf, daß sie nach der extravaganten Seite etwas Entscheidendes thun müsse. Dies bestand denn darin, daß sie sich in einen Schauspieler verliebte – einen strolling actor – dessen unrühmliche Bekanntschaft sie in einem Seebade gemacht hatte, und den sie heirathen zu müssen erklärte, ob mit ob ohne Einwilligung der Großeltern. Die dann zu einem sehr mißlichen Vertheidigungsmittel griffen. Sie schickten nämlich den jungen Herrn in den fernsten Westen mit einer Entschädigungssumme, die ganz anständig gewesen sein wird, aber nur ein paar wilde Nächte in den Spielhöllen von San Francisko – dem San Francisko von damals! – vorhielt, worauf denn der arme Teufel ohne einen Pfennig in der Tasche, dafür aber mit einer Revolverkugel im Leibe an einem schönen Morgen von dem Straßenpflaster oder aus dem Straßenschmutz aufgehoben und in ein Hospital oder dergleichen gebracht wurde. Leider hatte er noch Leben genug, an die Miß in New-York einen Brief zu diktiren, den diese kaum empfangen hatte, als sie auch schon auf dem Wege nach San Francisko war mit einer nicht unbedeutenden Summe – der Erbschaft irgend einer reichen Tante – die sie stets selbst verwaltet und längst für alle Eventualitäten bereit gehalten hatte. Sie gelangte unangefochten bis an das Ziel ihrer Reise, die freilich insofern resultatlos ausfiel, als sie den jungen Mann bereits als Leiche fand. Von dem pompösen Begräbnisse, das sie ihm bereiten ließ, verschwand sie in der zusammengelaufenen Menge in dem Augenblicke, als der bekümmerte Großvater, der ihr nachgeeilt war, auf dem Plane erschien. Verschwand und blieb verschwunden. Wie das möglich gewesen trotz der angestellten Recherchen, die bei den Mitteln des alten New-Yorker Banquiers sicherlich mit großem Nachdruck betrieben wurden, darüber wissen selbst die sonst allwissenden Zeitungen keine Auskunft zu geben. Die Vermuthung ist, daß sie sich längere oder kürzere Zeit in einem der selbst für die Polizei unzugänglichen ,camps‘ der Goldgräber verborgen gehalten und sich dann auf einem ostindischen Dampfer heimlich – trotz aller Ueberwachung der Häfen – eingeschifft hat.“

Der Herzog schwieg und zündete sich eine neue Cigarre an. Ich mischte ihm ein drittes Glas und sagte:

„Die Geschichte kann doch nicht zu Ende sein, Hoheit.“

„Weßhalb nicht?“

„Weil ich sonst nicht wüßte, weßhalb sich die Zeitungen mit derselben beschäftigen sollten, gerade jetzt, nachdem doch eine, wie mir däucht, geraume Zeit darüber verflossen ist. Oder ist der Banquier etwa jetzt erst gestorben, und man weiß nicht, wohin mit den Millionen?“

Ein flüchtiges Lächeln zog über das Gesicht des Herzogs.

„Sieh, sieh!“ sagte er. „Nun, die Vermuthung macht Ihrem Scharfsinn alle Ehre. Sie ist nämlich richtig. Der alte Banquier Gilmore – oder hatte ich den Namen schon genannt?“ –

„Nein, Hoheit.“

„Also, der alte Banquier Gilmore ist gestorben, nachdem ihm seine Gattin schon ein paar Jahre vorausgegangen, und man hat in der That, kurze Zeit wenigstens, nicht gewußt, wohin mit den Millionen, oder doch mit dem größten Theil derselben. Der alte Herr hatte nämlich ein Testament hinterlassen des Inhalts, daß, im Falle seine geliebte Enkelin, Miß Katharina Vogtriz – denn das war ihr legitimer Name, – noch lebe und sich bis zu einer bestimmten Frist melden würde, ihr zwei Drittel der Hinterlassenschaft auszuliefern seien, wenn sie unvermählt geblieben, dagegen das Ganze, wenn sie sich vermählt und Nachkommenschaft habe. Wiederum dieser Nachkommenschaft ein Drittel, wenn sie selbst inzwischen gestorben wäre. Der Rest im ersten Falle sollte für bestimmte wohlthätige Stiftungen verwandt werden, und das Ganze, falls keiner jener Fälle eintrete; also, wenn weder sie – sei es nun mit, sei es ohne Nachkommenschaft – noch betreffende Nachkommen ohne sie als Erben bis zu jener Frist ihre Ansprüche geltend machten. Dieses seltsame Testament war nach dem Willen des Testators in allen Hauptzeitungen der Erde, wenigstens der Hauptsache nach, veröffentlicht worden, und es währte denn in der That auch nur wenige Wochen, als bereits – nun rathen Sie einmal!“

„Sich die Erbin meldete?“ sagte ich auf gut Glück.

„Bravo! aber nun: mit oder ohne Nachkommen?“

„Im Interesse meiner Nonnendorfer Freunde hoffe ich das Letztere,“ erwiderte ich. „So bleibt für sie doch die Aussicht, wenn nicht auf einen reichen Onkel, so doch auf eine reiche Tante aus Amerika.“

„Nun, die haben sie freilich,“ sagte der Herzog. „Es hat allerdings vorher noch einen scharfen Rechtshandel gegeben, da man die Reklamantin natürlich nicht ohne Weiteres als legitimirt gelten lassen wollte. Aber sie muß doch ihre Identität überzeugend nachgewiesen, oder, was auf dasselbe herauskommt, sehr gute Rechtsbeistände gehabt haben – jedenfalls haben ihr die zuständigen zwei Drittel, die nebenbei noch immer die erfreuliche Summe von fünf oder sechs Millionen Dollars betragen, ausgeliefert werden müssen. Nun, was sagen Sie?“

„Daß Hoheit die Geschichte, wie alle, die ich von Hoheit noch zu hören bekommen, meisterhaft erzählt haben.“

„Danke unterthänigst. Aber ist das Alles?“

Der Herzog blickte mich so gespannt an – mit Augen, die wieder einmal den starren gläsernen Glanz hatten.

„Was können Hoheit sonst noch meinen?“ fragte ich verwundert.

„Ist Ihnen denn bei der Geschichte wirklich nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, daß die Heldin derselben – Ihre Mutter sein könnte?“

„Hoheit belieben zu scherzen.“

„Ganz und gar nicht. Sie haben mir mitgetheilt, was Ihnen Ihr Adoptiv-Vater gelegentlich von dem Vorleben Ihrer [336] Mutter erzählt hat. Das stimmt ja nun freilich in keiner Weise mit den Erlebnissen der Heldin meiner Geschichte. Aber kann Ihnen Ihr Adoptivvater nicht aus immerhin ehrenwerthen Gründen die Wahrheit verschwiegen und anstatt derselben ein Märchen aufgetischt haben?“

„Das ist unmöglich, Hoheit,“ erwiderte ich. „Dazu war der Vater nicht der Mann. Aus seinem Munde ist nie ein unwahres Wort gegangen.“

„So mag es für ihn Wahrheit und doch ein Märchen gewesen sein – dann von der Erfindung Ihrer Frau Mutter selbstverständlich. Ich bemerke dazu, daß in den Zeitungen über die Erlebnisse der Miß Vogtriz in den Jahren, welche zwischen ihrem Verschwinden vom amerikanischen Schauplatze und ihrem Wiedererscheinen auf demselben liegen, nichts verlautet, wir also Freiheit haben, diese lange Intervalle nach Belieben – ich meine so auszufüllen, wie wir müssen, wollen wir sie – Ihre Mutter – ins Spiel bringen.“

„Aber weßhalb wollen Hoheit das?" rief ich.

„Nun mein Gott,“ erwiderte er lebhaft, „das ist doch am Ende leicht begreiflich. Ich glaube Ihnen ausreichende Beweise gegeben zu haben, daß ich mich für Sie interessire; daß ich Ihr Bestes will; Ihnen eine Position im Leben zu verschaffen wünsche, die den Aspirationen, zu welchen Sie Ihre schönen Talente berechtigen, entspricht. Leider wird die bloße Berechtigung des Talentes heut zu Tage selten anerkannt, jedenfalls leichter anerkannt, und das Talent selbst kann sich ganz anders frei und fröhlich entfalten, wenn es die irdische Basis eines soliden Vermögens hat. Das kann ich Ihnen beim besten willen nicht gewähren, denn ich bin selbst ein armer Mann. Und da reizt mich – ich gestehe es gern – der Gedanke, es Ihnen auf diese Weise zu verschaffen. Ich gebe ja zu, die Kombinationen, welche ich da in Ihrem Interesse gemacht, beruhen nur auf Möglichkeiten – Unwahrscheinlichkeiten, wenn Sie wollen; aber es wäre wahrhaftig nicht das erste Mal, daß die anfangs unwahrscheinlichsten Möglichkeiten sich nachträglich in die erfreulichsten Wirklichkeiten verwandelten.“

Ich hatte, während der Herzog so sprach, meinen Sitz ihm gegenüber verlassen und war gegen alle Etikette in peinlichster Erregung im Zimmer auf- und abgeschritten. Bei seinen letzten Worten wandte ich mich wieder zu ihm und rief:

„Wenn nun aber diese Wirklichkeit für mich keine erfreuliche; wenn ich trotz aller Zweifel, die mir in bösen Stunden kommen wollten, mich immer wieder daran festgeklammert habe, wie an einen letzten Rettungsanker, daß meine Mutter, was sie auch an mir gefehlt haben mag, doch ihrem Gatten, meinem Vater, ein treues und liebendes Weib gewesen ist; wenn die Vorstellung der bloßen Möglichkeit, jene amerikanische Abenteurerin könnte meine Mutter sein, und ich müßte mir meinen Vater der Himmel mag wissen wo suchen, mich mit schauderndem Abscheu erfüllt; ja, wenn ich diesen Vater, er sei auch wer er sei, der dann meine Mutter so tief unglücklich gemacht hätte, daß sie mich, ihr Kind, hassen konnte – wenn ich den Mann im Voraus hassen müßte als meinen ärgsten Feind, und das Schicksal bitten müßte, es möchte mich vor dem Gräßlichen bewahren, ihm im Leben jemals zu begegnen –“

„Genug!“ unterbrach mich der Herzog mit rauher gebieterischer Stimme, indem er sich in den Hüften aufreckte und mir einen schnellen drohenden Blick zuwarf; – „setzen Sie sich!“

Ich that, wie er geheißen, voll bittersten Grolles, daß ich gehorchen mußte, während es in meiner Seele nach Freiheit schrie aus dieser goldenen Sklaverei, deren hohnvollen Gegensatz zu dem Schwur, den ich am Sarge des Vaters gethan, ich nie annähernd so tief empfunden, als in diesem Augenblicke.

Er rauchte ein paar Sekunden still vor sich hin, dann sagte er in dem ruhig vornehmen Tone, welcher ihm in jedem Moment zu Gebote stand:

„Sie sind über Gebühr aufgeregt. Ich wiederhole, was ich da gesagt und angedeutet, das sind Kombinationen, wie sie ein Kopf, der nicht ohne alle Phantasie ist, zusammenzuwirken liebt, und die Sie, der Poet, welcher mit dergleichen ex officio hantirt und noch viel krausere Dinge alle Tage ausheckt, Unsereinem – noch dazu, wenn die Absicht die beste von der Welt ist – doch nicht gleich gar so sehr verübeln sollten. Uebrigens kann ich Ihnen zu Ihrer Beruhigung sagen, daß ich, wenn ich mich aufs Phantasiren lege, mir die europäische Episode im Leben der schönen Amerikanerin noch ganz anders auszufüllen vermag, und ich muß mich wundern, daß der Herr Poet nicht von selbst darauf verfallen ist. Oder hätten Ihnen Renten und die anderen Herren wirklich niemals von der hübschen Miß erzählt, die vor einer Reihe von Jahren hier an meinem Theater sang und spielte und mit ihrem Kinde den Tod im Wasser suchte?“

Wieder blickte er mich mit starr gläsern forschenden Augen an; ich schlug die meinen nicht nieder. Ich war empört. Wie konnte er, er es wagen, auf diese gräßliche Geschichte auch nur anzuspielen?

„Ich habe davon gehört,“ erwiderte ich, „lange zuvor: schon von dem Kammerherrn.“

„Ah!“ sagte der Herzog mit einem Lächeln, das mir seltsam gezwungen schien, „der Kammerherr! Da kann ich mir freilich denken, wie er sie erzählt hat. Nun, das mag er mit seinem Gewissen ausmachen. Und da ich keine Ursache habe, ihm das zu erleichtern, habe ich ihn bis heute in dem Glauben erhalten – und gedenke es auch ferner zu thun – daß die Geschichte jenen tragischen Ausgang nahm, mit dem er sie Ihnen erzählte.“

„Hatte sie denn einen anderen?" fragte ich verwundert.

„Freilich,“ erwiderte der Herzog; „denn, sehen Sie nicht, mein höchst scharfsinniger Herr Poet, daß, wenn das nicht der Fall gewesen wäre, ich doch nicht eine Affaire, die hier ein so jähes Ende fand, weiter spinnen und mit der famosen amerikanischen Geschichte kombiniren könnte? Nun, so will ich Ihnen denn sagen, was außer mir und einem Zweiten bis jetzt kein Mensch weiß. Dieser Zweite aber ist der Müller, zehn Minuten von meinem Bellevue, welcher die Unglückliche sammt ihrem Kinde aus dem Wasser gezogen hat und ihr, nachdem er sie noch zwei Tage in seiner Mühle vor aller Welt verborgen gehalten, zur Flucht behilflich gewesen ist. Das Letztere wiederum vor aller Welt geheim, außer vor mir, der ich meine Gründe hatte, der Aermsten die Verborgenheit zu gönnen, nach der sie ein unwiderstehliches und mir sehr begreifliches Verlangen trug. Auch ich hätte mich täuschen lassen wie Jedermann und an das Märchen von der Unauffindbarkeit der Leichen geglaubt, nur daß man einem alten Jäger, Vogelsteller und Fischfänger wie mir nicht so leicht ein Märchen aufbindet, und ich dem Müller auf den Kopf zusagte, wie sich die Sache verhielt. Er ist ein alter zäher Mensch und war der Dame sehr ergeben; aber seinem Herzog gegenüber wagte er denn doch nicht, mit der Wahrheit zurückzuhalten, was ihm nebenbei auch nichts geholfen haben würde. Nun aber paßt Alles – was, wie ich Ihnen herzlich gern zugebe, auf Ihre Mutter gar nicht paßt – à merveille auf meine kleine Sängerin, und ich konnte Ihnen mit den Theilen, die ich in der Hand habe, eine Geschichte konstruiren, die, wenn sie nicht wahr ist – was ich nicht behaupte – doch auf gute Erfindung und logische Konstruktion einigen Anspruch machen dürfte. indessen, Sie sind nun heute Abend einmal für meine poetischen Leistungen nicht empfänglich, und Sie haben mir dadurch völlig den Muth genommen zu einer anderen kleinen Ueberraschung, die ich für Sie vorhatte und die ich nun in petto behalte. Also sprechen wir von etwas Anderem. Wie steht es mit dem ,Münzer‘?“

Ich blickte erschrocken auf. Er war heute wirklich fürchterlich. Was wollte er nun wieder von meinem ,Münzer‘ in dem Augenblick, wo ich mit ganzer Seele bei der letzten Geschichte war, die mich ganz anders interessirte, als der beleidigende Unsinn, in welchen er vorhin den Namen meiner Mutter gemischt hatte. Der ,Münzer‘ war ein Thema, wie er es für die Stimmung, in der ich mich befand, übler nicht hätte wählen können.

„Schlecht steht es," sagte ich nach einer unschicklich langen Pause. „ich kann, je weiter ich komme, mich um so weniger mit der Auffassung Eurer Hoheit befreunden. Behielten die Fürsten nicht nur Recht, wie sie es ja leider in Wirklichkeit gethan haben, sondern hatten auch Recht, wie Hoheit meinen – während sie nach meiner Ansicht nur deßhalb obsiegten, weil sie im Besitz der Macht und Gewalt waren und hier, wie auch sonst, Macht vor Recht ging – dann habe ich, offen gestanden, auch keine Freude mehr an dem Werke, das sich mir unter den Händen zu einem Lobgesang für die Fürsten verwandelt aus einem Mene Tekel der von den Fürsten gemordeten Freiheit.“

„Das thut mir aufrichtig leid,“ erwiderte der Herzog, jetzt wieder ganz in seinem alten freundlich gütigen Tone; „ich hatte geglaubt, daß meine Ansicht, als die historisch richtige, auch in

[337]

Mit Onkel auf Reisen.
Nach dem Oelgemälde von Albert Conrad.

[338] dem Drama, soll es anders ein wirklich historisches und nicht ein bloßes Phantasma sein, zur Geltung kommen müsse. Ich gebe auch die Hoffnung nicht auf. Denn nach dem, was Sie mir eben gesagt, muß ich schließen, daß Sie mich keineswegs völlig verstanden haben, und so möchte ich mir erlauben, von dem schlecht unterrichteten Poeten an den besser zu unterrichtenden zu appelliren. Dazu ist freilich heute nicht mehr die Zeit.“

Er warf über die Breite des Zimmers einen Blick nach der Stutzuhr auf dem Kamin, von der trotz der Entfernung und der mangelhaften Beleuchtung seine falkenscharfen Augen Stunde und Minute abzulesen vermochten.

„Der Tausend! schon so spät!“ rief er. „Also nun – Ende gut, Alles gut: ein paar hübsche Gedichte!“

(Fortsetzung folgt.)

Noch heute „das geheimnißvolle Grab“.

Neue Studien und alte Erinnerungen von Friedrich Hofmann.
(Schluß.)

Der Graf starb am 8. April Mittags 12¼ Uhr und ward am 11. früh 9 Uhr mit großer Feierlichkeit und Theilnahme beerdigt. Die ganze Gemeinde von Eishausen und die Zöglinge des Waisenhauses von Hildburghausen, dem er ebenfalls viel Wohlthaten erwiesen, geleiteten den Trauerzug zum Friedhof des Dorfs, wo der Vollendete neben dem Grabdenkmal des Pfarrers Kühner endlich seine letzte und wirkliche Ruhestätte fand. Der Pfarrer Pfitz, ein auch dichterisch hochbegabter Mann, mit dem der Graf in den 17 Jahren ihres Zusammenlebens im Dorfe nie eine Annäherung suchte, hielt die Grabrede, welche Human (Theil I, S. 84) abgedruckt hat.

Dem Gericht machte diesmal der Arzt Dr. Knopf die Anzeige noch am 8. April Nachmittags 3 Uhr, und am folgenden Tag erschien die Gerichtskommission zur Aufnahme und Versiegelung der Verlassenschaft.

Was in den Zimmern des Grafen, der Gräfin und den übrigen Schloßräumen sich vorfand an barem Gelde, Kostbarkeiten, Möbeln und sonstigem Schmuck und Hausrath aller Art, hat Human ebenfalls (I, S. 24) mitgetheilt. Wichtiger für die Charakteristik des Grafen war seine Bibliothek, reich an klassischen, historischen, politischen, juristischen und medicinischen Werken und Broschüren; ebenso eine reichhaltige Familienkorrespondenz, welche Human zum Theil zugänglich gemacht wurde, während eine Sammlung von Briefen fürstlicher Personen, wie Human beklagt, verschwunden ist und neben Briefen von Gelehrten, Kaufleuten, Agenten etc. auch manche andere Zuschrift erhalten war, die ein rücksichtsvoller Mann wohl vernichtet hätte. Das Wichtigste aber wurde, wie ich oben bereits verrieth, in einem verschlossenen Kutschenkasten entdeckt. Diese Papiere, welche über Geburt und Jugendleben eines Leonardus Cornelius van der Valk Aufschluß geben, haben wir ebenfalls bereits erwähnt. In demselben Kasten lagen aber noch neben zwei seidenen Beutelchen voll Goldstücken und Brabanter Thalern dreizehn Briefe einer Dame, Angès Berthélémy née Daniels aus Le Mans, aus den Jahren 1798 und 1799. Wenn auch in diesen Briefen der Name des Grafen nicht vorkommt, so rechtfertigt doch der Umstand, daß sie in seiner geheimsten Verwahrung gefunden worden sind, die Annahme, daß sie an ihn gerichtet gewesen, und daß aus ihnen Auskunft zu schöpfen sei über Herkunft und Vergangenheit der geheimnißvollen Dame. Und wenn das Gericht in seinen Ediktalien keinen Anstand nahm, auch den aufgefundenen zweiten Namen zur Auffindung der Erben mit zu benutzen, so konnte man eben so gut die 13 Briefe für die Gräfin sprechen lassen. Dies führte zur Aufstellung der schon mehrerwähnten – schauerlichen Hypothese.

Diese Bezeichnung trug eine Schrift, welche dem Verfasser der ersten Veröffentlichung über „Die Geheimnißvollen in Eishausen“, Dr. Karl Kühner (weiland Direktor der Musterschule in Frankfurt a. M.), von befreundeter Hand übergeben und von ihm als Anhang zu der seinigen mitgetheilt wurde. Sie stellt mit Benutzung jener 13 Briefe Folgendes auf.

Aus der Jugendgeschichte des Leonardus Cornelius van der Valk ist bekannt, daß er mit seiner Familie zerfiel, weil dieselbe seine Verehelichung mit einer Deutschen vom Niederrhein (A. Daniels aus Köln) nicht gestattete. Diese wurde die Gemahlin eines französischen Officiers, Berthélémy, und lebte 1798 in den dürftigsten Umständen mit ihrer Tochter in Le Mans, schon seit vier Jahren von ihrem Gemahl getrennt, weil dieser sie im Verdacht hatte, daß ihr Herz einem Andern gehöre, mit dem sie heimlich korrespondire und von dem sie reiche Geschenke annehme. Dieser Andere war unser „Graf“, welcher von Paris aus die geheime Korrespondenz unterhielt. Berthelémy drang auf Ehescheidung; Angès widerstrebt jedoch derselben, weil sie auf Aussöhnung mit ihrem Gemahl hoffte. Van der Valk scheint dagegen auf diese Trennung hingewirkt und sie zur Flucht mit ihm nach Deutschland aufgefordert zu haben. Aus den Briefen geht ferner hervor, daß van der Valk aus Schwermuth entschlossen war, sich in die Einsamkeit zurück zu ziehen; sie beschwört ihn, eine glänzende Verbindung, die sich ihm dargeboten zu haben scheint, einzugehen. Als aber Berthélémy ihre Scheidungsbedingung, ihrer Tochter eine Pension auszusetzen, abschlug, schreibt sie im Herbst 1799, daß sie sich nunmehr gezwungen sehe, sich nach Deutschland, zu ihren Brüdern zu begeben, mit welchen der Graf ebenfalls in Briefverkehr stand. So weit gehen die Briefe, und nun wird weiter gefolgert. In Deutschland scheinen die so lange Getrennten sich wieder gefunden und die Dame, ohne gesetzliche Scheidung von Berthélémy, ihr Los mit dem ihres Wohlthäters für immer verbunden zu haben. Da aber in Ingelfingen und Hildburghausen nur eine jugendliche Dame von 15 bis höchstens 18 Jahre unter der Verhüllung erscheint, so hat die Mutter offenbar ihre Tochter dem Schutz des Grafen anvertraut, und sie ist’s, die man in Ingelfingen oft so bitterlich weinen hörte, die früher ihre Mutter oft mit Fragen bestürmte, wer ihr Wohlthäter sei, und der ihr leicht möglich als ein Bourbone bezeichnet wurde, welcher um ihretwillen die glänzende Welt verlassen habe. Daher wohl der Brief an den lieben Ludwig und die große Dankbarkeit für den „Herrn“. Nachdem endlich in Eishausen eine sichere Stätte gefunden war, kann auch die Mutter Angès sich eingestellt haben, und dann hatten der Chausséewärter und die Anderen, welche stets behaupteten, zwei Damen, abwechselnd eine junge und alte, im Wagen des Grafen gesehen zu haben, ja doch Recht. Die Frage, warum aber Niemand die ältere Dame ankommen und abreisen sah und wohin sie schließlich wohl verschwunden sei, ist müßig, denn zur Nachtzeit war jeder Ein- und Ausgang der Schloßbewohner ohne Aufsehen möglich, und was im Schlosse geschah, war das Geheimniß von nur drei Menschen, dem alten Squarre, der Köchin und der Botin, – und alle drei hatten Schweres zu verschweigen, das bewies ihr Ende.

Durch diese Hypothese werden manche hingeworfene Aeußerungen des Grafen und Aussagen der Dienerschaft erklärt. Zunächst kann die Dame von ihrer Mutter so viel Deutsch gelernt haben, um mit den Dienstboten (und auch mit den Landleuten in der ersten Eishäuser Zeit) sprechen und den Brief von 1808 schreiben zu können. Ferner ist’s richtig, wenn der Graf sie „eine arme Waise“ nennt und zu Hohnbaum sagt, daß seine Verbindung mit ihr etwas Romantisches, einer Entführung Aehnliches gehabt habe. Erklärlich wird nun auch seine fortwährende Angst vor Verfolgung und Entdeckung, denn durch seine Agenten wußte er, daß Berthélémy den Entflohenen nachspüre, und bei den vielen französischen Truppendurchzügen gerade auf den Heerstraßen durch Thüringen und Franken lag die Gefahr der Entdeckung nahe. Auch Augereau’s Korps zog diese Straße, und später gestand der Graf: „Damals war ein Mann hier, der, wenn er mich gesehen hätte, mein Schicksal entschieden haben würde.“ – Eben deßhalb der andere Name, als den er in Frankreich geführt hatte; eben deßhalb die Sorge, keine Zeile seiner Handschrift in und um seinen damaligen Wohnsitz in andere Hände kommen zu lassen; eben deßhalb die stete Fluchtbereitschaft, denn daß gerade diejenigen Papiere, welche über seine Person und sein Verhältniß zu Berthélémy’s Frau und Tochter den alleinigen Aufschluß geben, zugleich mit dem nöthigsten Reisegeld im Chaisekasten aufbewahrt werden, läßt sicherlich diese Deutung zu.

In ähnlicher Weise werden die 13 Briefe in zwei Artikeln des „Nürnberger Korrespondenten“ und von O. Müller in Saalfeld benutzt. Und schließlich stellt sich doch all diese Bemühung als eine vergebliche heraus. Human berichtet uns „nach einer weitverzweigten Korrespondenz und aus zuverlässigster Quelle“ als Thatsache, daß die jüngere Berthélémy in Rheinbayern verheirathet gewesen und vor 18 Jahren gestorben sei und nie von ihrer Mutter getrennt gelebt habe. Ob nicht die Bestätigung dieser Nachricht noch heute aus der Rheinpfalz zu erwarten sein sollte?

Gegen die ganze Hypothese spricht vor Allem Eines: Wie ist’s möglich, daß der Mann, welcher in einem Augenblick, der für ihn verhängnißvoll werden konnte, den Ausspruch thut: „Keine Macht der Welt soll mir mein Geheimniß entreißen, ich nehme es mit ins Grab!“ gerade diejenigen Briefe, welche „die steten Ankläger während seines Lebens und die Verräther nach seinem Tode“ sein mußten, nicht nur nicht vernichtet, sondern sogar auf das Sicherste und so aufbewahrt, daß ihre Auffindung die größte Aufmerksamkeit auf sie lenken muß? Ist nach vierzigjährigem Kampfe mit sich und der Welt um die Bewahrung seines Geheimnisses eine solche Preisgebung desselben denkbar?

Es ist aber nicht allein die Schuld des Geheimnißvollen an sich, das den Grafen nicht von der Hülle des Unheimlichen für unser Auge befreien läßt, sondern die Widersprüche, die offenbaren Unwahrheiten, die nach seinem Tode zu Tage kamen, riefen Hypothesen ins Leben, die wir erst recht als schauerlich bezeichnen können.

Der Zweifel, ob der Geheimnißvolle Vavel de Versey oder van der Valk gewesen oder Keiner von Beiden, mußte wachgerufen werden, als – in Folge des gerichtlichen Aufrufs nach den Erben unter Angabe beider Namen – ein Advokat Dr. Martini aus Amsterdam mit einem Notar Schiefbaan aus dem Haag als Vertreter der van der Valks schon am 15. September 1845 (der Termin war auf den 30. Juni 1846 festgesetzt!) in Hildburghausen eintraf und die Erklärung abgab: „Der Graf habe seinen Verwandten mitgetheilt, Vavel de Versay sei sein bester Freund, an ihn möchten sie seine Briefe richten, dann werde er sie sicher empfangen.“ Ja, noch mehr: „Versay habe ihm gegen eine gewisse Verpflichtung auf Ehrenwort sein ganzes Vermögen vermacht.“

Und der Mann treibt die Ausbeutung dieser Freundschaft so weit, daß er selbst den Namen des Freundes sein ganzes Leben lang führt? Wo aber hätte der wirkliche Vavel gelebt? Wohin ist sein Vermögen gekommen? Hat der Graf die Renten dieses Vermögens bezogen und zugleich als ein van der Valk die aus dem Familienvermögen?

Wie nahe liegt da der Verdacht, daß der Mann, den wir in Ingelfingen und später in Hildburghausen mit der verschleierten Dame sehen, gar nicht der Pariser Diplomat van der Valk, sondern wirklich ein Baron oder Graf Vavel war, der sich des ganzen Nachlasses des in Paris gestorbenen van der Valk’s bemächtigt, aus den Briefen die Familien-Verhältnisse und -Mitglieder aufs Genaueste kennen gelernt, des Todten [339] Handschrift nachgemacht und nun ein Menschenalter die Rolle des Verwandten fortgespielt und seine Einkünfte von dort bezogen habe?

Kein Auge dieser Verwandten hat ihn je wieder gesehen, sie kannten seinen Aufenthaltsort nicht, da er seine Briefe stets nur von „Neustadt“ datirte. Briefe und Geldsendungen an ihn mußten an den Herrn Vavel de Versay an verschiedene Orte gerichtet werden, wo er jedenfalls gut bezahlte Agenten hatte, welche, oft auch noch nach mancher Zickzackreise der Sendungen, schließlich die richtige Ortsangabe benutzten, so daß diese bald über die Koburger, bald über die Hildburghäuser Post nach Eishausen gelangten. Auch diese Vorsicht rechtfertigt den Verdacht, daß der Mann nicht auf geraden Wegen ging.

Ja, es wird sogar die Frage aufgeworfen, ob dieser „Graf“ nicht etwa Keiner von den beiden Genannten, sondern ein Abenteurer der Revolution war, der sich vielleicht mit Hilfe der Guillotine des Einen oder Andern oder Beider entledigt, die Dokumente, Pässe, Briefe derselben an sich gebracht und dann mit Angès oder Sophie, als seiner Mitschuldigen, in Deutschland die sichere Stätte gesucht und, zu seinem eigenen Schutze, die Dame als ein politisches Geheimniß vorgeschoben habe. Vergeblich drückte die Gewissenslast nicht so schwer auf den Herzen der wenigen Eingeweihten im Schloß.

Möchte ich auch nach dieser Richtung die Hypothesen nicht so weit treiben, so verschuldete der Graf es doch selbst durch die Beispiele von offenbarer Unwahrhaftigkeit, wenn man zu noch schlimmerem Verdachte verleitet wird. So äußerte der Graf nach dem Tode der „Lebensgefährtin“: „Ich habe immer wie mit religiöser Scheu ihre vielen Kommoden betrachtet, nie sie berührt; ich wußte nicht, wie viel schöne, ihr aufgedrungene Sachen sie enthielten“ – Das scheut sich nicht der Mann auszusprechen, welcher jeden Athemzug des armen Weibes bewachte, ohne dessen Wissen und Willen die Thür des Schlosses sich niemals öffnen durfte; der Mann, welcher die sechsundzwanzigjährige Treue seiner alten Köchin für Nichts achtete, sie mit Verbannung aus den Räumen, wo sie Lebensglück und Gesundheit eingebüßt, bestrafte, weil sie ihren Sohn, ehe er nach Amerika ging, noch einmal sehen wollte und zum Abschied ihn heimlich ins Schloß ließ; der Mann, der mit solcher Grausamkeit gegen die Treuesten verfahren konnte, wenn sie nur im Entferntesten sein Geheimniß gefährdeten, soll der Hauptperson dieses Geheimnisses den Empfang von Geschenken gestatten, die er nicht kennt, ihr, die mit keiner Seele, als ihm, umgehen darf, die keine Verbindung außer dem Schlosse haben kann, schon aus dem einfachen Grunde, weil sie alle Jahre nur einen Brief schreibt, den zu seinem Geburtstage!

Wer sich nicht scheut, eine solche Unwahrheit auszusprechen, dem kann man auch größere Leistungen darin zutrauen. Und wir finden sie in der Versicherung, die er in seiner letzten Stunde seinen Dienern mit den Worten gab, daß für sie Alle gesorgt sei, daß eine Dame kommen werde (Franziska nannte er sie), die seinen letzten Willen erfüllen werde, – da sein einziger männlicher Verwandter verunglückt sei. Statt der Dame kamen einige Herren, und zwar van der Valks, von einem Vavel de Versay und seinem Vermögen ist nirgends mehr die Rede, – und die Valks tragen die Erbschaft fort, indeß die armen, lebenslang getreuen Diener, die zum Theil ihre Gesundheit in dem harten Dienst eingebüßt haben, armselig genug abgespeist werden.

Solchen Möglichkeiten gegenüber darf man wohl noch eine Frage aufwerfen. Muß den Wächter seines Geheimnisses nicht unaufhörlich ein Gedanke gepeinigt haben, und zwar der: „Was wird aus dem Geheimniß, wenn er vor der Dame stirbt? – Wir wissen, daß er einmal der alten Köchin sagte: „Wenn ich sterbe, so nehmen Sie sich dieser Dame an.“ Aber was sollte diese Empfehlung bedeuten, welche Stütze sollte die Dienerin der Herrin sein ohne eine testamentarische Bestimmung? Eine solche fand sich aber später nicht vor. Wir wissen ferner, wie er es mit der Krankenpflege hielt. Für sich berief er stets Aerzte, wie denn zuletzt Dr. Knopf als solcher genannt wird, den todkranken Squarre durfte Hohnbaum nur einmal – und nur auf kurze Zeit – besuchen, „weil der gnädige Herr darin so wunderlich sei,“ klagte der Arme. Zum Schluß übte an ihm, wie an den Dienerinnen und der Gräfin immer der Graf allein als medicinischer Dilettant seine fraglichen Kuren. War das nicht ein frevelhaftes Spiel mit dem besten Gute des Menschen, seiner Gesundheit? Wäre nicht die, wie er seiner Korrespondentin selbst gesteht, schwer erkrankte Dame durch die Hilfe eines der ausgezeichneten Aerzte, die der Graf ja stets für sich berief, zu retten gewesen? Es verleitet zu einer Hypothese, die auch mir zu schauerlich ist, aber doch ist bei dem ja durchaus aufs Ungewöhnliche, Unheimliche gegründeten Treiben in dem Schloß und in der Seele dieses Mannes auch die Frage zu wagen: Hat wirklich der Graf am Fenster das Zeichen der in rauher Spätherbstzeit im Garten Wandelnden nicht gesehen? Das Weitere mag ich nicht aussprechen. Auch ich möchte in dem Einsiedler von Eishausen nicht einen gemeinen Verbrecher erkennen müssen. Aber es ist der Fluch eines solchen Geheimnisses, daß es so schwere Gedanken aufkommen läßt.

Wir müssen uns schließlich zu der Ansicht bekennen, daß der ganze Nachlaß des Grafen nur zu den diplomatischen Mitteln gehörte, welche das Auge etwaiger Nachforscher von der richtigen Spur ablenken sollten, und werden, um den Schlüssel des Geheimnisses zu finden, auf den Weg hingewiesen, welcher zu den Nachtseiten der Throne führt.

Human geht bei der historischen Beleuchtung dieses Geheimnißdunkels mit einer Gründlichkeit zu Wege, welcher wir hier nicht nacheifern können. Wir bitten diejenigen unserer Leser, deren Theilnahme für das Opfer dieses Geheimnisses wir erweckt haben, die betreffenden Abschnitte des Human’schen Buches (II. Theil, S. 71 bis 131) zu lesen und auch dem Kapitel „Beziehungen des Grafen zu fürstlichen Häusern“ (II., S. 46) und dem höchst wichtigen Abschnitt „Zweifel und Verdacht“ (I., S. 113), den ich auch nur im Vorbeigehen benutzen konnte, ihre Aufmerksamkeit zu schenken; wir müssen uns nunmehr darauf beschränken, auf die Gestalten hinzuweisen, in welchen wir das traurige Bild der armen Gräfin vom geheimnißvollen Grab wiedererkennen sollen.

Als Erste erscheint die schon von dem Knaben in Ingelfingen erkannte Prinzessin Maria Therese Charlotte, Ludwig’s XVI. ältere Tochter, die allerdings dort als „Herzogin von-Angoulème“ bezeichnet war. Dies durfte sie selbst nicht geworden sein, wenn das schwere Los auf sie fallen sollte. Man hat die Möglichkeit so aufgestellt: Die Prinzessin ist am 19. December 1778 im Schloß zu Versailles geboren und wurde am 10. August 1792 mit ihren Eltern, ihrer Tante Prinzessin Elisabeth und ihrem Bruder Ludwig Karl als Gefangene der Nation in den Tempelthurm gebracht. Hier ward gegen das Ende ihrer Gefangenschaft ihr manchmal gestattet, Damen zu empfangen, und diese Gelegenheit soll benutzt worden sein zur Befreiung und Flucht der Königstochter, während eine ihr sehr ähnliche Prinzessin Bourbon Condé oder Conti für sie im Gefängniß zurückblieb. Die Befreite fand in einem Kloster sichere Unterkunft; als aber am 18. December 1795 in Folge von Auswechselung gegen mehrere Deputirte die Gefangene aus dem Tempel befreit und in Wien mit königlichen Ehren empfangen worden war, spielte diese die Rolle als Tochter Ludwig’s XVI. fort, vermählte sich in Mitau, wo sie im Palast der ehemaligen Herzöge von Kurland ein Asyl vom Kaiser Paul I. angewiesen erhalten, 1799 mit dem Herzog Ludwig Anton von Angoulême und starb am 19. Oktober 1851 auf dem Schloß zu Frohsdorf. Die wirkliche Maria Therese Charlotte aber ward, um den längst die Bourbonen verfolgenden Familienzwist nicht neu zu schüren, vielleicht durch Talleyrand’s intriguante Mitthätigkeit, dem Diplomaten van der Valk anvertraut, der sie fortan vor dem Auge der Welt zu verbergen hatte und der diese Verpflichtung übernahm aus Treue gegen die Bourbonen. So stände der Graf selbst als Opfer einer politischen Großthat da und die unglückliche Königstochter wäre aus einer Klausur in die andere gekommen, aus dem Kloster in das lange Einsiedlerleben von Eishausen.

Andere Spuren führen auf eine Tochter des Herzogs von Enghien und der Prinzessin Charlotte Rohan-Rochefort. Der Versuch, in das Schloß zu Eishausen ein Nachspiel zu dem Trauerspiel von Vincennes zu verlegen, ist in den Romanen von L. Bechstein und G. Hesekiel gemacht worden.

Als die dritte Gestalt in dieser unheimlichen Reihe erscheint Stephanie Louise de Bourbon Conti. Sie soll den wunderbaren Gang ihres eigenen Schicksals in „Mémoires historiques“ (Paris, Floréal Jahr VI) niedergelegt haben, und Goethe entnahm denselben den Stoff zu seinem Drama „Die natürliche Tochter“. Die Darlegung Human’s, daß diese „Geheimnißvolle“ ihr Schicksal in Eishausen beschlossen haben könne, läßt die historische Wahrscheinlichkeit sehr vermissen.

Aber noch ein viertes mögliches Opfer des Geheimnisses glaubte Human nicht unerwähnt lassen zu dürfen: Ludwig’s XVI. zweite Tochter Sophie Helene Beatrice. Geboren am 9. Juli 1786, wäre sie 1804 in Ingelfingen 18, 1810 in Eishausen 24 und bei ihrem Tode 51 Jahre alt gewesen, Altersangaben, die gewiß viel für sich haben. Allein – diese Prinzessin soll ja im zarten Alter von elf Monaten gestorben sein, und in den Memoiren des Marquis de Parey werden ausdrücklich der trauernden Mutter, auf den versuchten Trost ihrer Damen, die Worte in den Mund gelegt: „Sie vergessen, daß sie mir eine Freundin gewesen sein würde.“ Warum man der Königin dieses Kind hätte entreißen sollen und wo es geblieben sein könnte, bis es in die Obhut unseres Bourbonenfreundes gekommen sein sollte – darüber schweigt die Tradition.

Seltsamer Weise brachte schon 1824 oder 1825 der „Moniteur“ die mysteriöse Notiz: „man habe in einem verborgenen Winkel von Thüringen die Spur einer längst verschwundenen französischen Prinzessin entdeckt, möge aber wohl Gründe haben, diese Spur nicht zu verfolgen.“

Wir haben gesehen, daß es an der Verfolgung dieser Spur nicht gefehlt hat, aber wir stehen hier am Ende doch nur vor dem Geständniß: wir wissen noch immer nichts.

Der Fortschritt dieses Jahrhunderts hat so Vieles gewirkt, er hat auch Archive an das Tageslicht gezogen, die früher dem Forscher hermetisch verschlossen waren – nur über dieses Geheimniß ergoß er kein Licht. Man hat, mit menschlicher Gefühlsweise, geglaubt, in den vielen Räumen des Eishäuser Schlosses könne doch wohl irgend Etwas sich verborgen finden, das zur Enthüllung der peinigenden Dunkelheit des hier vollendeten Schicksals einen Fingerzeig biete – auch das war vergeblich. Das Schloß ist niedergerissen und beim Einlegen der Dächer und Wände, beim Aufreißen der Böden und Keller auf das Eifrigste durchsucht worden – aber das Haus blieb stumm. Nichts ist von den Geheimnißvollen noch sichtbar, als ihre Gräber. Aber – diese Steine reden noch, sie reden noch heute mit aller Macht und allem Zauber des Geheimnisses.

Und so schließen wir auch diese Erinnerungen an die Opfer dieses Geheimnisses mit dem Wunsch und der Hoffnung, daß es jetzt, wo gewiß viele Rücksichten mit den Personen, denen man sie schuldig war, verschwunden sein mögen, der „Gartenlaube“ vielleicht doch gelinge, an Herzen zu pochen, welche endlich der Wahrheit und dem Recht die Ehre zu geben geneigt sind. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß neue Aufschlüsse über die Geheimnißvollen noch gegeben werden können. So sollen sich z. B. in Frankfurt am Main Papiere und Briefe befinden, die sich auf den Grafen beziehen. Möchten diese und vielleicht noch andere Schriftstücke, von deren Existenz wir nichts wissen, bald der Oeffentlichkeit übergeben werden. Denn gerade der Hinblick auf das arme weibliche Opfer dieses finsteren Trauerspiels muß uns immer und immer wieder zu dem Worte drängen, das ich vor zwanzig Jahren ausgesprochen: Zu beklagen wäre es, wenn die Hülle von einer offenbaren Unthat ungehoben bliebe. Ist das arme Wesen um sein Leben betrogen worden, hat es abgeschlossen von der menschlichen Gesellschaft sterben müssen und liegt nun so einsam auf dem Stadtberg von Hildburghausen begraben, was wäre dann gerechter, als daß ihm wenigstens das Andenken der Nachwelt gerettet und das an ihm begangene Verbrechen von der Geschichte gerichtet würde! –


[340]

Erinnerungen an den Dichter des „Ekkehard“.

(Fortsetzung und Schluß.)


Scheffel’s Wohnhaus auf der Mettnau bei Radolfzell
Originalzeichnung von R. Püttner.

Im Jahr 1852 endlich waren die väterlichen Bedenken gegen das zweckwidrige In-die-Welt-hinauslaufen beseitigt, und dem nach Kunst und Schönheit Schmachtenden öffneten sich Italiens Herrlichkeiten. Rom und Neapel durchwanderte Scheffel und streifte darauf mit dem schon früher in Berlin gewonnenen jüngeren Freund Paul Heyse am Strand von Sorrent und Capri umher. Eine schöne Epistel in des Letzteren „Neuen Gedichten“ erwähnt auch voll Sehnsucht jener Zeiten:

„Lieber alter Freund, gedenkst du
Unsrer Sorrentiner Tage,
Da wir in der Rosa magra,
Jener billigen, bescheidnen
Künstlerherberg’ alten Stiles,
Treulich hausten Thür an Thür?

Du, von Capri erst gelandet,
Da wir kaum in rothem Landwein
Uns den Willkomm zugetrunken,
Gabst des Säkkinger Trompeters
Erst Kapitel mir zum Besten,
Frisch gedichtet in Paganos
Palmenschatten; ich dagegen
Ließ dich sehn die Arrabiata
Kaum noch von der Tinte trocken ...“

Unter italischer Sonne war dem Meister Josephus plötzlich sein Poetenberuf aufgegangen, und die Erinnerungen der oberrheinischen Amtsstadt zusammen mit dort gemachten historischen Studien klangen nun in den Versen aus, die frisch und kräftig, voll herzerfreuender Heiterkeit, wenn auch nicht allzu formvollendet in die bisherige Amaranthschwärmerei hinein fielen und den Namen des jungen Autors in kurzer Zeit durch ganz Süddeutschland trugen.

Zwei Jahre später saß derselbe wieder mit einem Freunde, dem allzu früh geschiedenen Maler Anselm Feuerbach, in italischer Landschaft, diesmal im Kastell Toblino am gleichnamigen See. Seine dortigen Erlebnisse hat Scheffel 1856 im „Frankfurter Museum“ (herausgegeben von Creizenach) äußerst anmuthig und humoristisch erzählt.

Es ist charakteristisch für seine Eigenart, daß ihm der längere Aufenthalt in Italien bei aller Liebe zur südlichen Landschaft, die er später sich so oft zeichnend vor die Seele zurückrief (vergl. Illustration S. 341), keine dichterische Verklärung italischer Menschen gezeitigt hat. Er sah sie, ungerührt von der malerischen Außenseite, mit demselben kritischen Auge an, womit etwa ein Gefolgsmann des Rothbarts die welschen National-Eigenthümlichkeiten mochte betrachtet haben, und der Ausspruch des Alten in der Heidenhöhle (Ekkehard): „Aber nach Welschland muß gerannt werden, als säß in den Bergen hinter Rom der große Magnetstein. Ich hab’ oft darüber nach- gedacht, was uns in die falsche Bahn gewiesen – wenn’s nicht der Teufel ist, kann’s nur der gute Wein sein!“ – er entstammte einem althistorischen Span in der Seele seines Autors. Denn für dessen Augen waren die vergangenen Jahrhunderte nicht todt, er stand wie ein Mitlebender in ihren Ereignissen, die er aufs Genaueste kannte, ihm füllten sich die verlassenen Stätten mit lebendigen Figuren, die ihre charakteristische Sprache redeten. Seine Phantasie hatte gleich der Walter Scott’s einen starken Zug zur realistischen Darstellung, und seinem bilderreichen Humor war die derbe Sprache der Vorfahren das willkommenste Ausdrucksmittel. Auch war er der Erste, welcher mitten in die gangbaren süßlichen Verhimmelungen der „Ritterzeit“ hinein der auri sacra fames als Triebfeder der schönsten romantischen Begebenheiten zu ihrem Rechte verhalf.

Eill sehr glücklicher Griff war es, als er, von Italien heimgekehrt, die sanktgallischen Klostergeschichten zur Hand nahm, die der Mönch Rutpert begonnen und der jüngere Ekkehard bis ans Ende des 10. Jahrhunderts fortgeführt hat. Der heutige Leser sieht mit Ueberraschung, wie viele Details aus dem „Ekkehard“ in dieser von Scheffel selbst einer werthvollen Perlenschnur verglichenen Chronik bereits wörtlich stehen, aber er staunt nur um so mehr darüber, was der Dichter zu diesem kleinen Kreise der Klostergeschichten neu geschaffen hat. Es wäre überflüssig, noch ein Wort zum Preise des großen Kunstwerkes „Ekkehard“ hinzuzufügen, das so rasch eines der werthvollsten Besitzthümer unserer Nation geworden ist.

Vater Scheffel söhnte sich auch erst nach dem Erscheinen dieses Buches und seinem stets wachsenden Erfolge mit dem Gedanken aus, daß sein Joseph wirklich für den badischen Staatsdienst verloren sei, und legte Nichts in den Weg, als jener nun den Plan faßte, nach München überzusiedeln in den Kreis hervorragender Menschen, den König Max dort um sich versammelt hatte. Marie, seine Schwester, sollte ihn dahin begleiten. Sie hatte kurz vorher eine übereilt geschlossene Verlobung unmittelbar vor der Hochzeit gelöst und vertauschte gern die engeren Karlsruher Verhältnisse mit der freieren Atmosphäre von München. Alles schien sich dort vortrefflich anzulassen: der feine und interessante junge Poet, die schöne, sehr geistvolle Schwester fanden die zuvorkommendste Aufnahme bei Einheimischen und „Berufenen“. Scheffel wurde sofort zur Mitarbeiterschaft an der unter des Königs Protektorat erscheinenden „Bavaria“ geworben, die Pforten eines reichen Lebens thaten sich mit einer Fülle neuer Beziehungen auf. Aber es waren nur wenige Monate, welche die Geschwister in so reizenden Verhältnissen leben durften: im Februar 1857 raffte der damals in München so heimtückisch umgehende Typhus das schone, lebensfrohe Mädchen in wenig Tagen hin, und Scheffel brach in tiefem Schmerze um sie alle Verbindungen ab und kehrte nach Karlsruhe ins einsame Haus, zu den trostlosen Eltern zurück.

Diese Wendung war, abgesehen von dem persönlichen Verluste, für ihn ein großes Unglück, denn in dem heiteren Münchener Leben, im Verkehre mit so ebenbürtigen Geistern hätte er doch nicht seinen Hang zur Einsamkeit dermaßen ausbilden können, wie er es nun in der Heimath that, wo er die Menschen geradezu vermied. Und ein weiteres Unglück war es für sein litterarisches Schaffen. Zwei große Romane, deren einen er früher am Tobliner See, den andern jetzt in München geplant und begonnen hatte, sind in jener dumpfen und trauervollen Zeit zurückgelegt und später nie mehr aufgenommen worden. „Tizian’s Ende“ hieß der eine, und was sein Mittelpunkt sein sollte, das sagt Scheffel selbst in jenen Unglückstagen:

„Ist es nicht ein Verhängniß, daß ich in München eine Arbeit begann, drin ich allen Glanz einer edlen, jugendschönen, der Kunst zugewandten Weiblichkeit in Gestalt von Tizian’s Schülerin Irene schildern wollte und zu Marien sagte: ,Wenn was Gutes hinein kommt, ist’s von Dir, aber sie muß frühe sterben, die Gestalt meiner Dichtung!‘ Jetzt kommt der Tod und reißt mir mein bestes Leben von der Seite, und ob ich je wieder eine Feder anrühren kann, weiß ich nicht!“

Das Andere sollte ein Wartburgroman werden, ein Werk in großem Stile, dessen Bestandtheile der Hof des Thüringer [341] Landgrafen, Minnesang und Kreuzzugsabenteuer abgegeben hätten, dazu noch Donaulandschaft und der geheimnißvolle Autor des Nibelungenliedes, der bekanntlich seine Phantasie stark beschäftigte. Ein Stück dieses Romans, die Erzählung des Ritterknaben Juniperus vor Akkon, ist vollendet und der Welt übergeben, das Andere wird wohl auf immer für sie verloren sein, trotz der zu Zeiten in der Presse umgehenden Gerüchte von ungedruckten, aber vollendeten Manuskripten Scheffel’s. Freunde, welchen er den Plan des Romans mittheilte, erwarteten Großes davon, besonders ergötzlich gedacht war ein fahrendes Minnesinger-Trifolium: Höllenbrand, Schandolf und Lasterbalk, welches die minder respektabeln Seiten des Standes repräsentirte, der um den Landgrafen Hermann so glänzend durch Wolfram und seine Genossen vertreten war.

Sicher entstammt auch jenem Romanentwurf und dem Bedürfniß nach Proben höfischer Poesie, bez. noch ungedruckten Liedern der bekannten Größen, ein Theil der Aventiurelieder, die dann später vermehrt und als selbständiges Ganzes herausgegeben wurden. Als ich vor etwa 10 Jahren einmal bei Scheffel auf Fortsetzung jener alten Arbeiten drängte und ihn bat, mir mindestens einmal das vorhandene Manuskript zur Durchsicht zu geben, antwortete er, dasselbe sei so verworren und unleserlich, daß außer ihm sich Niemand darin zurechtfinden könne. Auch sei es ihm unmöglich, jetzt wieder in den alten Ton hineinzukommen.

Faksimile einer Handzeichnung von Joseph Viktor von Scheffel: Visp, Eingang in die Thäler von Monte Rosa.

Der Tod einer noch so geliebten Schwester ist für einen Menschen von lebhaftem Produktionsdrange keine dauernde Abhaltung vom Schaffen. Wenn also Scheffel in den nächsten Jahren stille saß und nichts von sich hören ließ, so ist der Grund davon neben ernsthaften Nervenstörungen, die ihn damals zuerst heimsuchten, vor allen Dingen der, daß er jenen starken Produktionsdrang nicht besaß. Er bedurfte allezeit günstiger Umstände und einer gewissen Lockung zum Schaffen. Vielschreiberei war ihm ein Gräuel, und er empfand es als großes Glück, daß er in der Lage war, auf die gute Stimmung warten zu können. Vielleicht wäre es ihm freilich besser gewesen, manchmal eine äußere Nöthigung zu haben. Müßig ging er aber darum doch nicht. Die Lust des Studiums war groß in ihm, er empfand im höchsten Grade die Wonne, welche das Versenken in geschichtliche Dinge gewährt, und indem er immer mehr den Quellen selbst in Archiven und Klöstern nachging, erwarb er sich die gründliche Gelehrsamkeit, welche ihn jeden Augenblick zur Uebernahme einer germanistischen Professur befähigt hätte. Was er aber noch bei seinen vielfachen Wanderungen durch Deutschland, die Alpen und Südfrankreich gewann, das war die genaue Kenntniß von Land und Volk, mit dem er gern in der menschlich-einfachsten Weise verkehrte, und nebenbei eine Fülle persönlicher Erlebnisse unter den seltsamsten Umständen, die er später, im Freundeskreise sitzend, mit unvergleichlichem Humor zum Besten gab.

Allerhand Aussichten eröffneten und zerschlugen sich in den nächsten Jahren, das Letztere hauptsächlich deßhalb, weil Scheffel immer abgeneigter wurde, sich dauernd irgendwo zu binden. Der fürstliche Herr der Wartburg bot ihm eine Stellung dort, er hielt sich auch vorübergehend bei ihm auf, ging aber dann doch wieder. Die Eltern sahen seinen Lebensweg mit gemischten Empfindungen: die Dreißig waren überschritten und von Seßhaftigkeit am eigenen Herde keine Rede. Als eine glückliche Fügung begrüßte es darum der alte Herr, als nun der Fürst von Fürstenberg den Dichter einlud, nach Donau-Eschingen zu kommen, um das dortige Archiv zu ordnen, und Scheffel den Antrag annahm.

Wie es ihm dort gefiel, zeigen die folgenden Zeilen, freilich in scherzhafter Uebertreibung, wie es der Ton der Korrespondenz zwischen ihm und dem Weinheimer Hause so mit sich brachte. Er hatte in diesem Hause beim Abschiedsbesuche die ihm seltsamer Weise noch unbekannten Makamen des Hariri gefunden und mit Entzücken gelesen. Allerhand Unsinn in Makamenform wurde darauf hin mündlich und schriftlich zwischen ihm und der lustigen Jugend betrieben, und ein paar Wochen nach seinem Scheiden kam von Donau-Eschingen die folgende schöne Makame:

„Jussuf Scheff-El spricht:

[342] Viel Stunden sind um und viel auch bereits sind um Tage – seit mit alten Scharteken ich mich herum schlage – zwar ist darunter die Urschrift der Nibelungensage – die vor Mottenfraß ich geschützt in juchtenledernem Umschlage – doch steht zu fürchten, daß ich mich lahm und krumm plage – daß der Schaben und Motten Schwarm an mir selber ringsum nage – wenn stets bei der Arbeit geharrend ich nur meinen Büchern stumm klage – daß Niemand, Niemand, Niemand mit mir des alten Kanzleidieners Gebrumm trage – und Vieles, was ich zu lesen verdammt, in die Welt so entsetzlich dumm rage. – Drum scheint mir, daß heut, wo ich wiederum auf meiner Bücherei sitze – daß von Rechtswegen vernünftiger und mir zu Besserem sei nütze – wenn in den Ernst auch ein klein wenig schalkhaftige Narrethei blitze – und ich gegen 18 Grad Winterfrost mich durch einige Reimschreiberei schütze.

Wie herrlich ist’s doch im Allgemeinen, zu versäumen seine Kanzleistund – Gedenkend der Zeit, wo die ganze Welt, wo Thun und Lassen noch freistund – wo man mit der ganzen Jugendkraft mit fröhlichem Körper und Geist und – muthigem Ringen als wie ein Soldat zur Fahne der Poesei stund!

Anstellend diese verpönte, jedoch so edle und wahre Betrachtung – steig ich an diesem Vormittag in meiner eigenen Achtung – daß ich jedwede Bureau-Arbeit abweisend mit Verachtung – das Dampfschifflein der Gedanken heut befrachtend mit bess’rer Befrachtung – fortsteure aus der Region zeitweiser Sinnesumnachtung.

Fortsteure? Wohin? ich glaub’ in die Pfalz, in die fröhliche Pfalz nach Weinheim – denn dorthin denk’ ich zuweilen auch mit Sehnsucht und leisem Gegrein heim – als wär’ ein Stück meiner Seele mir mit unsichtbarlichem Scheinleim – dort festgeleimt und fände nicht an anderm Ort zum Gedeihn Keim. – Mir ist, es wäre Donnerstag, ich bäte, daß man mir einräum – ein Album, drin ich zeichnend mich so gern einspinn’ und einträum’ – zu schlürfen noch einmal italischen Lands und italischer Kunstphantasei’n Seim – oder zu ersinnen einen zierlich klingenden Feinreim.“ – – –

Hier folgt ein Passus, welcher zu viel private Anspielungen enthält, um allgemein interessant zu sein, und zum Schluß heißt es:

„’s schlägt zwölf Uhr schon. Die Kanzleistund’ ist mit Glück verträumt, die infame – so wünsch’ ich diesem Knittelgereim eine freundliche Aufnahme – und wünsch’ Euch Allen am Schlusse des Jahres in feierlichem Proklame – Viel Glück, und daß der Kaffee sei nie ohne Zucker und Rahme – O Juletante[1], du federgewandte, abu-seid-verständige[2] Dame – daß nicht ich verfall’ an der Donau Quell dem herzverzehrenden Grame – oder gar dem stillen Trunk mich ergeb’ und an der Seele erlahme – gedenke mein und schreibe mir bald eine lange, lange Makame – sie wird mir sein wie ein gülden Gefäß, gefüllt mit edlem Balsame!“

Der Wunsch wurde umgehend erfüllt, und zum Danke flogen rasch nach einander ein paar ähnlich reizende Episteln ins Haus. Dann vergingen mehrere Monate, und die Freunde in der Pfalz hörten nichts vom Meister Josephus. Also schickte man eines Tages an das fürstliche Archiv in Donau-Eschingen einen amtlich stilisirten Fragebogen um Auskunft über einen verloren gegangenen Poeten, und mit Postwendung kam auf einem Stempelbogen der fürstlichen Bibliothek folgende „amtliche Auskunft auf die werthgeschätzte Anfrage“ zurück:

Ad Frage 1: Lebt der Mann noch?

Antwort: Ja, aber schwach.

Ad Frage 2: Kann er schreibend

Antwort: Ja, aber ebenfalls schwach.

Ad Frage 3: Wie geht’s ihm?

Antwort: Wie dem Ovidius, da man ihn an den Pontus ins Exil gesetzt. Trinkt viel Bier. Macht große Fußwanderungen ins Wutachthal, Gauchachthal, Brigachthal. Entdeckt keltische Steinwälle auf abgelegenen Bergkuppen. Hat Händel mit Revisoren und Rechnungsräthen. Ist Pompier bei der Stadtfeuerwehr und durch Diplom vom 1. März Ehrenmitglied des wieder aufgelebten pegnesischen Schäferordens in Nürnberg.

Ad Frage 4: Plagt er sich mit eines neuen Buches Gestaltung?

Antwort: Leider, ja.

Ad Frage 5: Kommt’s bald heraus?

Antwort: Leider, nein.

Ad Frage 6: Oder ist er verliebt?

Antwort: Hier muß zuerst ad formalia dieser Frage bemerkt werden, daß selbe in keinem Gegensatz zu Frage 4 und 5 steht, indem man mit Bücherschreiben sich plagen und recht wohl daneben verliebt sein könnte. Quoad materialia aber die beruhigende Auskunft, daß von angedeutetem Zustande bei diesseitiger Stelle nichts wahrzunehmen.“

Es folgen noch einige weitere Absätze und dann, für den Fall einer beabsichtigten Uebersiedelung der Freunde nach Heidelberg, der Schlußpassus:

„Wenn dieselben die Güte hätten, dem Fürstl. Archiv Nachricht zu geben, wo dorten die neue Wohnung aufgerichtet wird, so möchte dasselbe, so es wieder einmal mobil wird, seine Aufwartung dort zu machen unterlassen zu haben bereuen zu müssen kaum in die Lage kommen.

Möge eine wohllöbl. Fragestellungs-Kommission aus der baldigen und eingehenden Beantwortung der geehrten Zuschrift vom 26. hujus die Ueberzeugung gewinnen, wie sehr dem dienstergebenst Unterfertigten das Bestreben angelegen ist, auch in dem laufenden Etatsjahr durch gewissenhafte Besorgung dienstlicher Angelegenheiten keiner verderblichen Oberflächlichkeit sich schuldig zu machen. (S. auch 2. württemb. Etats.-Instruktion vom 17. April 1819. F. Müller. Handbuch des Kasseb- und Rechnungswesens, Nördlingen 1846.“

Besser, als tausend Erklärungen es vermöchten, zeichnen die mitgetheilten Stellen Scheffel’s Art, den schalkhaften Humor, der seine Glanzlichter über die alltäglichsten Dinge warf, die Besonderheit seines Wesens, die Allem, was er sagte und schrieb, ein unverkennbares Gepräge aufdrückte.

Lange hielt er es indessen in der kleinen Residenz am Donauquell nicht aus. Als die Bibliothek neu geordnet war, nahm er Abschied von der mehr geologisch interessanten als landschaftlich reizenden Gegend und begann sein Wanderleben von Neuem, mit gelegentlichen längeren Aufenthalten in Karlsruhe. Auch in Heidelberg ward Scheffel damals oft gesehen. Selbstverständlich war er, wie jeder, der sich von der großen Menge sehr stark unterscheidet, ein innerlich einsamer Mensch, und weil er das war und sich in seinen vielen Eigenthümlichkeiten auch von den Ausgezeichneten selten wirklich verstanden sah, kam es ihm gar nicht darauf an, einen lustigen Kneipabend lang mit Solchen zusammenzusitzen, an denen außer ihrer Fähigkeit zum Weinvertilgen nichts Ausgezeichnetes zu finden war. Der „Engere“ zu Heidelberg enthielt neben geistvollen Männern auch eine hinlängliche Anzahl der Erstgenannten, und so standen seine Unterhaltungen durchaus nicht immer auf der Hohe der

„Neun antiken Tanten,
Die man im Mythus mit Apollo nennt.“

Aber eine Menge von Heiterkeit wurde doch darin entwickelt, wenn Häußer die Maibowle braute und stets neue Geschichten erzählt wurden, die freilich stets in Gefahr schwebten, von dem entsetzlichen Hohngebrüll „Meidinger“ begrüßt zu werden, denn in diesem Punkte wenigstens war man im „Engeren“ sehr rigoros. Scheffel blieb der Gesellschaft stets eng verbunden, ob er persönlich anwesend war, ob er von ferne einen der langen Reiseberichte sandte, die heute eine werthvolle Kollektion ausmachen müssen und hoffentlich der Oeffentlichkeit künftig nicht vorenthalten werden, obgleich weder Häußer noch der Pfarrer Schmetzer mehr leben, um sie herauszugeben.

Der Letztere, ein Original und nebenbei ein Pfarrherr, wie er heut zu Tage kaum mehr möglich sein würde, im „Gaudeamus“ als Kaplan des wilden Heeres gefeiert oder als „Tegulinum’s (Ziegelhausen’s) Augur, der sternenkundig vorsingt in dem Rundgesang“, war ein tüchtiger Astronom und furchtloser Zecher, der aufrechten Hauptes unter dem mitternächtigen Himmel in sein Dorf zurückwanderte, wenn die Andern Mühe hatten, ihre Stadtwohnung aufzufinden. Indessen war, was für ihre robusten Naturen ganz unschädlich sein konnte, zuviel für Scheffels zartere Konstitution, und jenen heiteren Festen im „Engeren“ folgte 1861 eine schwere Nervenerkrankung. Scheffel brachte den Sommer in der Wasserheilanstalt Brestenberg am Hallwyler See zu, und von jener Zeit an datirt eine Veränderung in seinem Aussehen und ganzen Habitus, die mir schmerzlich auffiel, als ich ihn nach jahrelanger Trennung im Jahre 1863 in Pienzenau bei Miesbach wiedersah, wohin er sich, um völlig ungestört zu arbeiten, in Ernst Förster’s hübsches Landhaus zurückgezogen hatte. Die früher elegante und schmächtige Figur war stark geworden, über die angegriffen aussehenden Augen lief oft ein nervöses Zucken, aber der alte gute [343] Humor war noch vorhanden, und wir verlebten mit ihm zusammen einen goldenen Septembertag auf der schönen Aussichtswarte des „Taubenberg“, der mir unvergeßlich sein wird.

Das Alleinseinkönnen ist bekanntlich eine scharfe Probe auf den inneren Reichthum einer Menschenseele. Scheffel hielt diese Probe glänzend aus, er saß dort in dem einsamen Waldhaus Monate lang ohne Sehnsucht nach dem Umgang mit Stadtmenschen, versenkt in seine Bücher, vollkommen zufrieden und vergnügt. Mit den umgebenden Bauern stand er vortrefflich, sprach ohne Herablassung mit ihnen und war stets bemüht, ihre Anschauungen und Gewohnheiten sorgfältig zu schonen. Dann streifte er auch wieder Tage lang in die nähere und fernere Umgebung, in die altersgrauen Stifter von Weyarn, Polling und Andechs, ging den Spuren germanischer Götter in den uralten heiligen Figuren nach und traf bei solchen Fahrten auf allerhand unerwartete Funde.

Im Herbst darauf erschien „Frau Aventiure“, aus welcher er uns damals Proben vorgelesen. Die Welt wußte nicht recht, was aus diesem Buche machen, er empfand darüber eine Art von Enttäuschung und schrieb noch später, 1869, ein Jahr nach dem Erscheinen und riesenhaften Erfolg des „Gaudeamus“:

„Als Poet hab ich mit diesem Heidelberger ‚engern‘ Humor eine eigentlich wehmüthige Erfahrung gemacht: mein ernsthaft gemeintes und aus mühsamen historischen Forschungen herausgewachsenes Büchlein ‚Frau Aventiure‘ schleicht seit 1863 durch die Litteratur und bringt’s trotz aller Anerkennung Sachverständiger kaum nach sechs Jahren zu einer neuen Auflage. Die durstigen Studentenlieder aber, welche im Nov. v. J. erschienen, waren mit allgemeinem Halloh! schon im December vergriffen!“

Sie sind freilich verständlicher für die große Menge und in ihrer Art auch ein Unikum: Das Hohelied vom deutschen Durst und Humor. Daß der Letztere indessen nicht das selbstverständliche Erbe aller Deutschen ist, zeigt die kopfschüttelnde Bemerkung eines sehr gelehrten Professors, der da meinte, als ihm das Granit- und Asphalt-Lied zu Gesichte kam: das sei doch eine kuriose Manier, die Geologie zu popularisiren!

Trotz der im Anfang kühlen Aufnahme, welche „Frau Aventiure“ fand, giebt es doch heut zu Tage Viele, die sich gern in die tiefsinnige Schönheit ihrer Lieder versenken und ihren Duft einfangen, wie die Blume alten Rheinweins. Manches steht auch darin den alten Meistern zugeschrieben das des Dichters eigenes Herz in Schmerz und Freude bewegte, ebenso wie das Trompeterlied: „Das ist im Leben häßlich eingerichtet“ existirte, ehe der „Trompeter“ geschrieben war. Aber an dergleichen Dinge ist Angesichts des frischen Grabes nicht zu rühren, und es wäre auch kein Schaden, wenn sie dem Spürsinn künftiger Litteraturhistoriker auf immer verborgen blieben. Scheffel selber war mit Allem, was sich auf seine Herzens-Erfahrungen und -Enttäuschungen bezog, so streng zurückhaltend, daß nicht viel Kunde davon existiren wird.

Scheffel auf einer Fußreise am Hohentwiel.
Nach einer Zeichnung von Anton von Werner.

Die nun folgenden Jahre wohnte Scheffel dauernder in Karlsruhe und wurde umgänglicher gegen die Karlsruher, als er dies früher gewesen. Die Freundschaft mit dem jung aufstrebenden A. von Werner wurde ihm zur Lebensfreude, und Poet und Maler vereinigten sich zu gedeihlichem Schaffen. Die illustrirten Ausgaben von „Gaudeamus“, „Trompeter“, „Frau Aventiure“ entstanden rasch nach einander, und es steht zu hoffen, daß Werner, der schriftgewandte Künstler, seine Erinnerungen an jene Tage festgehalten haben wird. Aus späterer Zeit stammt die Zeichnung, welche wir in Holzschnittreproduktion wiedergeben. Sie ist gelegentlich eines Besuches Anton von Werners bei Scheffel im Jahre 1882 auf einem Ausfluge, den die beiden Freunde zusammen nach dem Hohentwiel machten, entstanden.

1865 endlich hatte er den Schritt gethan, den seine Mutter schon seit lange so sehnlich gewünscht, indem er sich mit Freiin Karoline von Malsen, einer geist- und anmuthvollen Dame, verheirathete. Allein beide Naturen stimmten so wenig zusammen, daß schon nach kurzem Bestand der Ehe eine Trennung eintrat, die bis acht Tage vor Scheffel’s Ende andauerte, wo die so lange von seinem Hause Ferngebliebene zurückkehrte, um ihm den letzten Trost einer vollen Versöhnung zu gewähren. Die Mutter erlebte diese Trennung nicht mehr, sie schied im Bewußtsein des Glückes ihrer Kinder und ließ dem tief gebeugten alten Mann allein die Sorge für den geistesschwachen Sohn Karl, den dritten der Geschwister, welcher den Vater noch um mehrere Jahre überleben sollte.

Das Kind seiner kurzen Ehe, den blonden Knaben Viktor, erzog Scheffel im elterlichen Hause und zog mit ihm im Sommer an den Bodensee, wo er sich auf der vorspringenden Landzunge der Mettnau bei Radolfszell ein stattliches Haus erbaute und unermüdlich war, diesen Besitz immer zu vergrößern und zu verschönern.

Die stumpfen Klippen des Hohentwiel und Hohenkrähen stehen über der Landschaft, und der Erstere ist neuerdings ein vielbegangener Berg geworden. Scheffel erzählte mir, als wir vor einigen Jahren mit einander hinaufstiegen, von der Verzweiflung des alten Wächters, der, nur eingeübt auf die Erzählung von der tapferen Vertheidigung des Kommandanten Widerhold im Dreißigjährigen Krieg und vom Fall der Veste im Jahr 1800, sich nun plötzlich von den zahlreich heraufkommenden Reisenden bestürmt sah um Auskunft über die Herzogin Hadwig, den Ekkehard und den Kämmerer Spazzo. Endlich aber erfuhr er auch, in welchem Buch das Alles geschrieben stehe, kaufte sich das Buch und legte sich als verständiger Custode die Lokalität zurecht. „Und sehen Sie, Herr Doktor, wenn sie mich jetzt fragen, wo die Hadwig gewohnt hat, dann zeig’ ich ihnen den Thurm dort, und wenn sie die Linde im Burghof sehen wollen, führ’ ich sie unter selbigen Quetschenbaum, da sind sie ganz zufrieden. Aber Ihnen vergeß’ ich’s nicht, daß Sie mir mit dem Buch eine solche Unmuß’ gemacht haben!“

Die Jahre zogen ihren Gang, und Scheffel’s Name wuchs zu einer Nationalcelebrität. Auflagen um Auflagen seiner Bücher wurden vergriffen, die Autographensucht schrieb tonnenweis unnütze Briefe an ihn, um Antwort zu erpressen, Reporter erschienen und „interviewten“ ihn, er schloß sich solchen Bestrebungen gegenüber immer hartnäckiger ab. Es kam der fünfzigste Geburtstag im Jahr 1876, wo Fürsten und Volk von Deutschland wetteiferten, sein Haupt mit reichen Ehren zu bedecken. Der Großherzog verlieh ihm den erblichen Adel, und Viktor von Scheffel, wie er mehr und mehr in Büchern und Zeitungen genannt wurde und, dem allgemeinen Druck nachgebend, sich schließlich selber nannte, er fügte das neuverliehene Wappen über das Portal seines Hauses der Mettnau ein, sprechend: „Man muß nur [344] gesund bleiben, so altert man von selbst ruhig in Ehren und Würden hinein.“

Ehren und Würden sind ihm in reichem Maße zu Theil geworden, Geld und Erfolg ebenfalls. Und doch glaube ich, seine glücklichsten Stunden werden nicht die gewesen sein, wo die Verlegerbriefe mit der Meldung neuer Auflagen oder die Kistchen mit Dekorationen kamen, sondern die, wo er einsam schweifend im Wasgau, in Tirol, in Franken die Stätten vergangenen Lebens aufsuchte, unter den Burgtrümmern den Hochwald rauschen hörte und die Gestalten tausendjähriger Vergangenheit herauf beschwor. Denn das höchste Glück liegt doch nur in der Bethätigung des innersten Wesens, und die Zwiesprache mit dem eigenen Genius ist ein feineres Ding, als der Widerhall vom Lobgeschrei der großen Menge ...

Aber allgemach mußte der rastlose Wanderer die Fahrt einstellen. Stärker und stärker kamen seit fünf Jahren die Mahnungen ans Ende. Jährliche Badereisen nach Kissingen vermochten wohl noch Linderung zu bringen, aber Anzeichen verhängnißvoller innerer Störungen waren unverkennbar, und vom vorigen Jahr an sind es nur noch kurze Zeilen, die als Antwort auf fragende und theilnehmende Briefe kamen. Vor mir liegt als Letztes eine Karte mit zitternden Zügen der sonst so festen und wunderschönen Handschrift, datirt Heidelberg vom 19. Februar d. J., ein kurzer Dank für die Geburtstagsgratulation, „leider gar zu krank und schreibunfähig.“

Und hier schließe ich den Bericht über den seltenen Geist, den merkwürdigen Dichter, der ein so treuer Freund seiner Freunde war. Was der arme, gequälte Körper noch Furchtbares zu leiden hatte, was der junge Sohn und die Freunde blutenden Herzens mitlitten, das gehört nicht hierher. Zum Schlusse mögen die Worte stehen, welche Scheffel selbst vor Jahren zum Trost für Andere bei schwerem Trauerfall schrieb:

„Ich bin fest überzeugt, daß die unsterbliche Seele diese letzten Schmerzen nicht mehr mitempfindet, sondern sich schon zur Auswanderung in lichtere und leichtere Sphären bereit hält.“

Möchte das an ihm selbst wahr geworden sein!

München. R. Artaria.     


Blätter und Blüthen.

Praterfahrt in Wien am 1. Mai. (Mit Illustration S. 328 und 329) Das festliche Treiben, mit welchem die Wiener den Mai begrüßen, entbehrt nicht eines historischen Hintergrundes. Schon zur Zeit der Herzöge wurde in der schönen Donaustadt das Veilchenfest gefeiert, an welchem selbst der Landesfürst teilnahm. Jener Brauch ist mit der Zeit, wie so vieles Andere, verschwunden, aber als Ersatz für ihn blieb die Sitte, am 1. Mai nach dem Prater, dem großen Park der heiteren Kaiserstadt, zu wallfahrten. Unser Zeichner hat ein Augenblicksbild der gegenwärtigen Praterfahrt festgehalten. Wagen und Reiter und Fußgänger tummeln sich hin und her, und im Mittelpunkte erscheint die Equipage des Kaisers Neben den vornehmsten sieht man die einfachsten Leute, neben dem Officier den ranglosen Soldaten, neben der Modedame das arme, alte Mütterchen, und sogar der „Strizzi“ mit der Virginiacigarre im Munde und einer undefinierbaren Kopfbedeckung auf dem Haupte fehlt nicht.

Früher war das Schauspiel glänzender; die österreichische Aristokratie setzte einen Ehrgeiz darein, bei der Praterfahrt am 1. Mai die elegantesten Wagen, Pferde, Lakaien und — was eigentlich zuerst hätte erwähnt werden sollen — die prächtigsten Damentoiletten zu zeigen. Den Equipagen eilten die Läufer voran, die erst durch das Jahr 1848 in ihrem Laufe gehemmt wurden. Berühmte Reiter, wie der vielgenannte Sportsmann Graf Sandor, vollführten ihre merkwürdigsten Reiterkunststückchen. Den Hauptreiz auf die Bevölkerung übte aber das vollzählige Erscheinen des Hofes aus. Der Kaiser, die Kaiserin, alle Erzherzoge und Erzherzoginnen nahmen an der Praterfahrt Theil; der Vater des Kaisers, der vor acht Jahren verstorbene Erzherzog Franz Karl, fuhr, einer alten Gewohnheit gemäß, in einer sechsspännigen Equipage mit Vorreitern, und im „Kaisergarten“, einem dem Hofe reservirten Theile des Praters, bewirthete er am 1. Mai die gesammte kaiserliche Familie mit einem Diner.

Aber auch heute noch bietet der 1. Mai dem Besucher des Praters ein sehenswerthes, farbenreiches Schauspiel, welches beweist, daß Wien all’ das besitzt, was zu der frühlingsfrohen Fahrt nöthig ist — nicht zu vergessen: die schönen Frauen und die heiteren, in der Frühlingssonne himmelhoch aufjauchzenden Leute, die — wie es im Volksliede heißt - „ka Traurigkeit g’spüren“ lassen, was auch über sie hereinbrechen mag. - o -     

Mit Onkel auf Reisen. (Mit Illustration Seite 337.) Es giebt Onkel , welche eigentlich nur den Namen Oheim verdienen , da sie im Grunde nichts weiter bedeuten als einen Verwandtschaftsgrad: Onkel mit Familie, welche jeden Pfennig ihrer Einkünfte benöthigt, Onkel, welche sich um ihre Neffen und Nichten etwa in so weit kümmern, als sie dann und wann einmal zu Besuche erscheinen und wohl auch zum Besuche einladen. Man begrüßt sie als Onkel, freut sich, sie wiederzusehen, und gratuliert ihnen zu Familienfesten wie zu Neujahr. Das ist Alles. Der wahre, ideale Onkel stellt ganz etwas Anderes dar. Er ist wohlhabend bestenfalls unverheirathet, mindestens kinderlos, voraussichtlich Erbonkel, womöglich Goldonkel. Er ist ein munterer Herr, welcher mit Neffen und Nichten auf dem Neckfuße und auf dem Geschenkfuße steht und gewissermaßen ein Theil seiner socialen Aufgabe darin erblickt, da, wo Papa sich seinen Sprößlingen versagen muß, für ihn einzutreten. Er muß oft heikle Dinge ordnen, versöhnen. Ein richtiger Onkel ist für den Bruder Studio ebenso unschätzbar, wie unter Umständen für ein Fräulein Nichte, welche mit ihrer Herzensangelegenheit nicht ohne seine Beihilfe ins Reine kommen kann. Dafür ist sein Lohn kein geringer: der Neffe breitet seinen Ruhm aus, die Nichte — und was für bezaubernde Nichten gibt es! — umschmeichelt ihn mit Liebkosungen wie mit Sammet. Es mag vorkommen, daß Letzteres nicht ohne einen gewissen wehmütigen Beigeschmack bleibt; selbst bei dem Onkel auf unserem Bilde ist diese Möglichkeit, trotz seines geistlichen Charackters und seiner überreifen Jahre, wohl kaum ausgeschlossen — jedenfalls ist derselbe ein echter Onkel, von Genugthuung erfüllt, als Führer und Beschützer einem Flug in die schöne Welt hinaus, verhelfen zu können, und das strahlende Gesichtchen da sagt es: er hat das „Profit!“ redlich, das ihm auf der Rast von rosigen Lippen zugetrunken wird!V. B.     

Visp. (Mit Illustration S. 341) Im schweizerischen Kanton Wallis liegt an der natürlichen Pforte zu den interessanten Thälern des Monte Rosa die kleiner Ortschaft Visp. Gewaltige Gletscher bilden hier den Hauptschmuck der Landschaft, und ihre zahlreichen zu Thal eilenden Abflüsse vereinigen sich im Visperthale zu einem starken Bergstrome, der nach kurzem ungestümen Laufe als Vispbach in die Rhone mündet. In der Nähe von Visp zieht sich über den Rücken des Matterhorns des St. Theodule-Paß, einer der mächtigsten Pässe in Europa, mit einer entzückenden Aussicht auf schneebedeckte Felsenberge, wilde Eiskahrs und mächtige Gletscher. Die Scheffel’sche Zeichnung, die uns Bisp vorführt, stammt aus dem Jahre 1852. Seitdem hat sich die Physiognomie des Städtchens verändert, denn dasselbe wurde im Sommer 1855 von einem Erdbeben heimgesucht, welches einen großen Theil der Gebäude in Trümmer legte.*      

Der große Schachwettkampf in Nordamerika, über den wir neulich berichteten, ist jetzt entschieden worden; das Resultat zeugte von der Wandelbarkeit des Schlachtenglücks auch auf den Schachfeldern; denn während Zuckertort in New-York vier Partien gewann hat und Steinitz nur eine Gewinnnummer gezogen hatte, gelang es dem Letzteren, an der zweiten Station des Kampfes, in Saint-Louis, seinen Gegner einzuholen, so daß der Match hier bei einer Remispartie 4 zu 4 stand. Nun ging’s den Mississippi immer abwärts in das Schachpalais von New-Orleans: dort fielen die Würfel der Entscheidung, aber gänzlich zu Ungunsten Zuckertort’s, der hier nur noch eine Partie gewann, 6 verlor und 4 remis machte. So ist jetzt Steinitz, der in Amerika eine große Schachzeitung herausgiebt und, obschon ein geborener Deutsch-Oesterreicher aus Mähren, sich jenseits des Oceans heimisch gemacht hat, nicht bloß der transatlantische Schachkünstler, sondern er wird Anspruch erheben, diese Würde in beiden Hemisphären zu behaupten. G.     

Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Schon im Jahre der Gründung der Gesellschaft, 1866, wies die „Gartenlaube“ in einem Artikel auf die menschenfreundlichen Absichten und Bestrebungen derselben hin, und seitdem sind noch mehrere Artikel — der letzte 1881 (S. 230.) aus der Feder des Kontre-Admirals a. D. Reinhold Werner - erschienen, welche sämmtlich mit warmen Worten auf die Gesellschaft aufmerksam zu machen und stets neue, reichlichere Hilfsmittel für sie zu werben suchten. Heute bildet der großartige Erfolg, den sie während ihres nun zwanzigjährigen Bestehens aufzuweisen hat, sicher den beredtesten Fürsprecher für ihre der ausgedehntesten Theilnahme würdige Wirksamkeit: Von 1866 bis 1885 einschließlich verunglückten an den deutschen Nordseeküsten 938, an den deutschen Ostseeküsten 811 Schiffe, also zusammen 1749 Schiffe oder im Durchschnitt jährlich deren 87. Hierbei waren im Ganzen nachweislich 9524 Personen gefährdet, von denen aber nicht weniger als 8755 Personen, das sind etwa 92 Prozent aller dieser Schiffbrüchigen, durch die opferwillige Thätigkeit der Gesellschaft gerettet wurden! D. Th.     


Kleiner Briefkasten.

G. M. in München. Den Schriftstellernamen Emmy von Rhoden führte die im v. J. verstorbene Gattin des Schriftstellers Friedrich Friedrich. Ihre letzte Erzählung hat den Titel „Der Trotzkopf“ (Stuttgart, Gustav Weise), ein sehr empfehlenswerthes Jugendbuch, welches binnen Jahresfrist in zweiter, mit dem Portrait der verstorbenen Verfasserin geschmückter Auflage erscheint.

Otto Geb ... in Wien Wir bitten um Angabe Ihrer Adresse, worauf wir Ihnen brieflich antworten werden.


Inhalt: [Verzeichnis der Beiträge in Nr. 19 der Gartenlaube 1886; wird hier z. Zt. nicht dargestellt.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Schwester der Hausfrau. –
  2. Abu-seid, Held der Makame.