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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[309]

No. 18.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Lora-Nixe.
Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Als der Gottesdienst zu Ende war und die Gemeine sich entfernte, schloß sich Leonore dem alten Mädchen an.

„Am großen Scheidewege trafen wir heute mit Ihnen zusammen,“ sagte sie. „Sind Sie um des Festes willen hierher gekommen?“

Die Andere verneinte die Frage. „Ich war bis jetzt in England,“ entgegnete sie, „und wirkte an einer gesegneten Anstalt für Erziehung der Kinder nach dem Sinne Christi. Da empfing ich die Weisung, hinfort hier zur Ausbreitung seines göttlichen Reiches thätig zu sein. Der Ruf des lieben Heilandes war mir eine doppelt frohe Botschaft. Himmelgarten ist meine irdische Heimath, und der Sohn meiner verstorbenen einzigen Schwester ist jetzt Prediger in hiesiger Gemeine. Ich hatte ihn lange nicht gesehen. Er war als Missionar thätig und ist nur zurückgerufen worden, um sich von schwerer Krankheit zu erholen, die das Klima von Südafrika verursacht hatte.“

„Auf so fernem und gefährlichem Posten war Bruder Johannes?“ fragte Leonore erstaunt.

Schwester Jakobine nickte. „Er hat einen weiten und mühseligen Pfad schon zurückgelegt trotz seiner Jugend. In Brasilien ist er von dem wilden Indianerstamm der Barbados in harter Gefangenschaft gehalten worden. Seine Handgelenke zeigen noch die von den Fesseln roth geriebenen Ringe. Aber Gott war bei ihm in der Noth und hat ihn seiner Bande entledigt.“ Dann empfahl sie sich.

Ravensburgk, der dazu kam, bemerkte, ihr nachschauend: „Die Verneigungen hier sind vollständig kourfähig; sie stammen jedenfalls in gerader Linie vom Grafen Zinzendorf ab.“

Der zurückkehrenden Gesellschaft trat unter der Linde Heino entgegen. „Kommen Sie endlich?“ rief er. „Meine Bowle ist längst fertig.“

„Ich denke, Sie wollten Verse machen,“ sagte Ravensburgk. „Sie zogen sich doch an den Röhrbrunnen zurück.“

„Wie kann man in Stimmung kommen, angesichts eines Fischkastens und Krebskorbes? Beides stak statt einer Nixe im Brunnentrog,“ klagte Heino. „Wo waren Sie nur so lange?“ wandte er sich mit einem Ausdruck zärtlicher Empfindlichkeit an Leonoren.

„Ja, das frage ich auch,“ sagte Frau Paloty, die ruhig auf einem der hölzernen Gartensofas saß, mit einer Handarbeit beschäftigt, welche allerhand silberne Werkzeuge in Bewegung setzte, um mehrere Fäden zu verknüpfen zu einem Zweck, der unerfindlich blieb, wenn man nicht annehmen wollte, daß ein Strick verfertigt werden sollte, um unnütze Finger damit zu peitschen.

„In Ohnmacht war Fräulein Paloty,“ erwiderte Ravensburgk an ihrer Statt.

„Der einfache Gottesdienst hat mich allerdings tief ergriffen,“ erwiderte Leonore etwas verwirrt.

„Wir lesen jeden Morgen die Losung der Brüdergemeine,“ bemerkte ein Fräulein von Gokel, welche Leonoren keinen Vorsprung lassen wollte in frommer Empfindung.

„Meine Fifi verdankt ihr feines Französisch, das ihr specieller Fall ist, der Erziehung bei den Herrnhutern,“ fügte Frau von Tromsdorf hinzu.

Das Kloster Oliva bei Danzig.

[310] Und Frau von Giera rückte ihr großes schwarzes Kreuz, das sie auf der Brust trug, in das rechte Licht, Ravensburgk sah spöttisch von Einer zur Andern, „Wie weit sind Sie mit Ihren rothen Strümpfchen für die Mohrchen, Gräfin?“ fragte er die Komtesse Schwuggensee, welche in größerer Gesellschaft stets für den Missionsverein arbeitete.

„Ich finde es sehr ungehörig, daß über so ernste Dinge gescherzt wird,“ verwies die Komtesse.

„Gnädige Gräfin, fürchten Sie nicht, daß ich einen Faux-Pas begehe,“ erwiderte Ravensburgk höhnisch, „Sicheren Anzeichen nach hat die Frömmigkeit diesmal ihren Höhepunkt überschritten. Die Gesellschaft wird nächstens ein anderes Steckenpferd reiten, und die armen Kerlchen werden in ihrem heißen Klima wieder barfuß gehen dürfen.“

„Warum gefallen mir nur die Pietisten in der Gemeine, während die, welche in der Welt dieselbe Glaubensrichtung zur Schau tragen, mich anwidern?“ fragte Leonore.

Der alte Präsident hatte ihre Worte gehört. „Weil nicht umsonst geschrieben steht: ‚Wenn du betest, gehe in dein Kämmerlein‘,“ erwiderte er in gedämpftem Tone.

„Es ist der Kontrast mit Ihrem alltäglichen glänzenden Weltleben, der Sie angezogen hat,“ sagte Pölz.

„Das erste Symptom der Bußfertigkeit ist’s,“ lachte Ravensburgk. „Es zeigt sich etwas früh, aber das ist egal: einmal kommt’s!“

Es wurde Zeit zum Aufbruch.

Hcino zog seine Brieftasche, um die Rechnung zu berichtigen, und dabei flatterte ein zusammengefaltetes Billet zur Erde.

Ravensburgk lugte mit seinem eingeklemmten Glas darauf nieder. Als er das Wappenzeichen im Siegel erblickte, hob er es rasch auf und gab es Heino zurück. „Ein theures Andenken,“ sagte er leichthin, aber mit forschendem Blick.

Hcino nahm es zerstreut an sich. „Das Billet wurde mir heute überbracht, als ich mich zur Gesellschaft begab. Meine Kousine schrieb mir die zwei Zeilen, um ein Mißverständniß zwischen Mama und mir aufzuklären.“

Ravensburgk’s „Aha“ drückte deutlich aus, daß er Mißverständnisse sehr begreiflich finde.

Leonore hatte aufgehorcht. „Ist Ihre Frau Mutter mit in Jungbrunnen?“ fragte sie, und es lag wie Beklommenheit in ihrer Stimme.

In Heino’s Wangen schoß eine Röthe, und Ravensburgk antwortete mit fester Betonung: „Seine Mutter und seine Kousine.“

Leonore wechselte die Farbe. „Ist Ihre Kousine schön? geistreich?“ fragte sie gespannt.

„Schön ist sie eigentlich nicht,“ erwiderte Heino nachlässig.

Aber Ravensburgk unterbrach ihn: „Eine große Schönheit ist Fräulein von Grundleben allerdings nicht, und auch kein geniales Weib,“ sprach er, diesmal in ernstem warmen Tone. „In ihrer äußeren Erscheinung ist sie ein holdes Mädchen, ihrem inneren Wesen nach eine starke Frau. Verschlossen und zart wie eine Knospe und doch fest und durchsichtig wie ein Krystall.“

Heino nickte lächelnd. „Sie und Hedwig verstehen sich vortrefflich zu charakterisiren.“

Ravensburgk horchte auf. „Hat mich Fräulein von Grundleben charakterisirt?“

Heino hörte nicht auf ihn. Sein Blick hing an Leonoren, die sichtlich betroffen vor sich hinstarrte. Er sagte sich, daß sie die Zurückgezogenheit seiner Familie ihr gegenüber peinlich empfand.

Als Ravensburgk noch einmal dringend fragte: „Was hat Fräulein von Grundleben von mir gesagt? Bitte, genieren Sie sich nicht,“ wurde Heino ungeduldig und erwiderte rücksichtslos: „Ach, es ist nicht der Rede werth. Hedwig sagte, Sie erschienen ihr wie eine Harfe mit verstimmten und zerrissenen Saiten; die aber, welche noch anklängen, legten Zeugniß ab, welch schöner Töne sie ursprünglich mächtig gewesen sei.“

Ravensburgk hielt die Augen nachdenklich auf den Becher in seiner Hand gesenkt.

„Nun, welche tiefsinnige Betrachtungen stellen Sie über die Bowle an?“ fragte Pölz hinzutretend.

„Traubenblüthen in den Wein gemischt, Frühling und Herbst in einer Person,“ antwortete er; „das Bild eines gereiften Mannes, der den dummen Streich macht, sich noch einmal zu verlieben.“ Er lachte dumpf und trank das Glas aus.

Gleich den Zugvögeln, die an die Abreise denken, zog die Gesellschaft sich in immer engeren Kreisen zusammen; die Eselsbuben führten ihre Grauthiere heran, die Reitknechte nahten mit den Pferden, die Wagen rollten herbei.

Die Gesellschaft verließ mit wehenden Locken und Schärpen unter Geplauder und Gelächter den Ort.

Leonore brach aus dem Getümmel hervor. Ihre Augen schienen Funken zu sprühen; ein finsteres Fältchen lag zwischen den Brauen und gab ihr einen Ausdruck rücksichtsloser Entschlossenheit.

„Nun aber einen lustigen Ritt,“ rief sie, ihr Pferd antreibend.

Das schöne Thier ging in Galopp über. Die weiße Mähne flatterte mit den weißen Federn auf Leonorens Hut um die Wette. Lachend sah sie zu Heino zurück, mit dem Blick ihn sich nach ziehend. Seite an Seite flog das Paar davon.

Sie jagten an der Rückseite der Gärten vorüber, auch an dem, in welchem die Heimgegangenen schliefen, und dem anderen, in dem die feierlichen Lilien leise im Abendwind schwankten.

Mit einem einzigen scheuen Blick sah Leonore zwischen den Blüthenstengeln eine hohe schwarze Gestalt stehen. Mitten im wilden Dahinbrausen war es, als beuge sie etwas plötzlich nieder. Es war nicht der ihr eigene graziöse Gruß; sie bückte sich, wie Kinder beim Betreten der Kirche thun.

Aber da lag das stille Bild schon hinter ihr.

Und nun fuhr plötzlich die Reitgerte durch die Luft. Das feurige Thier bäumte auf und stürmte dann in rasender Karriere fort, Heino neben ihr, – eine wilde Jagd nach dem Glück.

Johannes sah ihr nach. „Ist’s eine Versuchung oder eine Mission, die da an mich herantritt?“ fragte er sich.

Der Abendwind strich vorüber, die Schwingen beschwert von Blüthenduft. Er schien zu flüstern: „Genieße, genieße; jetzt ist die schöne Sommerzeit!“

Die weißen Steine, die hinter den grünen Ranken schimmerten, schienen zu mahnen: „Bald ist die kurze Spanne Zeit vorbei, und Du liegst still im dunklen Grabe, und der Traum des Lebens ist ausgeträumt.“ Eine tiefe Sehnsucht erfaßte ihn wie alle Kinder der alten Mutter Erde in dieser Zeit und diesen Dämmerstunden, in denen sie mit ihrer ganzen Kraft die ihr Entstammten an ihr Herz zieht.

Stille Sammlung bei ernster Lektüre mußte die Seele wieder in ihr ruhiges Gleichgewicht bringen.

Er ging nach der Jelängerjelieberlaube, wo sein Buch noch lag.

Gleich einem Mönchsgewand trug es einen schwarzen Einband. Der Thomas a Kempis war es, der mit seiner gesunden Weisheit allezeit den Nagel auf den Kopf traf, wie es seinem wirklichen Namen „Hämmerlein“ entsprach.

Als Johannes es aufschlug, las er: „So oft ich unter Menschen gewesen bin, war ich weniger Mensch, als ich heim kam.“ Und dann folgte der Seufzer: „Nirgends habe ich Frieden gefunden denn in Hoekens und Boekens,“ d. h. in Wäldern und Büchern.

Er steckte den Rathgeber in die Tasche, nahm den breitrandigen schwarzen Hut, wie ihn die Presbyter tragen, und schritt hinaus den waldigen Höhen zu, die sich allmählich in die Schleier der Dämmerung hüllten.

Immer empfahl der alte Weise Einsamkeit; er war der echte Mönch.

Aber es durfte doch nicht die höchste Aufgabe des Menschen sein, sich selbst in eine ruhige reine Höhe zurückzuziehen, unbekümmert darum, ob neben ihm seine Brüder und Schwestern in den Stürmen des Lebens untergingen! Er war doch berufen zu warnen, zu lehren, zu retten!

Und dennoch! Konnte der heiße Wunsch, diese eine Seele gerade dem Untergang zu entreißen, nicht eben die Versuchung sein, welche im Gewand einer Mission an ihn herantrat?

Auf der Straße, welche er ging, war auch das Weltkind dahin gejagt. Er sah die Hufspuren im Staube eingedrückt. Er, der in der Wildniß daran sich gewöhnt hatte, auf diese Zeichen zu achten, meinte die feine Spur des arabischen Rosses zu erkennen. Da war sie geritten, und daneben der schöne junge Mann.

Er hatte die Sprache verstanden, welche die beiden leuchtenden Augenpaare mit einander redeten, während sie in wildem Fluge an ihm vorüber sausten.

Nein. Er wollte diesen Weg nicht weiter gehen.

[311] Da er empor blickte, sah er dem ersten Stern ins Auge, der über dem alten Bergfried von Falkeneck aufstrahlte.

Da wandte er sich und stieg den Pfad zu der Stammburg derer hinauf, auf welche er heute im Gottesdienst die Losung der Brüdergemeine bezogen hatte: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen; Du bist mein.“




Für Heino’s Angehörige war der Nachmittag einförmig hingeschlichen. Als auch bei der Abendpromenade manche der alten Bekannten gefehlt hatten, sagte Frau von Blachrieth verdrießlich, als sie nach Hause kamen: „Es ist doch auffallend, daß sich gar kein Verkehr für Dich finden will. Auch Ravensburgk läßt sich nicht sehen. Du hast ihn hoffentlich nicht beleidigt. Das könnte Heino schaden.“

„Beruhige Dich, Tantchen,“ tröstete Hedwig, indem sie die Spiritusflamme unter der Theemaschine anzündete. „Herr von Ravensburgk geleitete ganz freundschaftlich mit Heino Fräulein Paloty, als sie nach Himmelgarten ritten.“

Der Name verdarb der alten Dame vollends die Laune. „Vielleicht heirathet sie Ravensburgk. Das wäre eine brillante Partie für diese – wie heißt sie doch? Der älteste Name des Landes. Und ein Mann, der sich in seiner Jugend ausgetobt hat, wird immer ein guter Ehemann.“

„Ich glaube nicht, liebe Tante,“ warf Hedwig lächelnd ein, „daß diese Kombination richtig ist.“

„Ich weiß, was Dein Lächeln bedeuten soll,“ antwortete Frau von Blachrieth empfindlich; „aber da führt Dich Deine Unkenntniß von dem, was ein Dichter bedarf – und vielleicht noch etwas Anderes irre,“ fuhr sie mütterlich nachsichtig fort. „Heino hat Recht, wenn er sagt, dieses sich Abschließen von der Welt mache einseitig. Und anstatt ihn zu verdächtigen, solltest Du Dir ein Beispiel an ihm nehmen. Sonst gehst Du ganz in der Prosa des Lebens auf.“

Hedwig schwieg. Die arme Tante! dachte sie. Wenn sie doch nur einmal ganz genau wüßte, was sie will!

Das arme Kind! dachte Frau von Blachrieth. Da hat sie ihren hübschen Korallenschmuck angelegt. Die rothen Nadeln sehen wirklich allerliebst aus in den dunklen Zöpfen. Und nun sieht es Niemand.

„Herr Hauptmann Aufdermauer wünscht der gnädigen Frau seine Aufwartumg zu machen,“ meldete der Diener.

„Nun wird der sich den ganzen Abend zu uns setzen und von seinen Rehböcken und Weinbergen erzählen,“ sagte Frau von Blachrieth, auf dem Gipfel alles Mißvergnügens angekommen, leise zu Hedwig, während ein lautes: „Sehr angenehm!“ ihm die Erlaubniß zum Eintritt gab.

Und Georg machte allerdings Anstalt, den ganzen Abend bei den Damen zu bleiben, sprach aber weder von Jagd, noch von Weinbau.

Sichtlich erfreut nahm er die Einladung zum Thee an und folgte mit dem Ausdruck des lebhaftesten Vergnügens Hedwig, die Thee aus der Büchse von chinesischem Porzellan in die silberne Kanne schüttete, die Tellerchen und Eierbecher ordnete, das Kabaret mit kalten Fleischspeisen auf den Tisch stellte.

Frau von Blachrieth erklärte ihm Heino’s Abwesenheit mit dessen ernsten Studien zu einem neuen poetischen Werk.

Georg versicherte, daß er dasselbe jedenfalls seiner zukünftigen Frau zum ersten Weihnachten schenken würde, wenn er so glücklich sei, sich eine solche zu erringen.

Hierauf hatte Frau von Blachrieth nur ein herablassendes Lächeln. Es war bedeutungslos, ob auf dem Tisch einer Frau Aufdermauer Heino’s unsterbliche Werke lagen.

Georg bemerkte die überhebende Miene der guten Dame nicht. Er war beschäftigt, den heiß gewordenen Griff des Kessels mit seinem Handschuh zu umwickeln, daß Hedwig sich nicht die Finger verbrannte.

„Es fehlt doch etwas auf dem Theetisch, wenn es keine gerösteten Kastanien giebt,“ sagte er. „So schön der Sommer bei uns ist, der Herbst ist doch noch viel gemüthlicher, wenn das erste Feuer im Ofen flackert und auf der heißeu Platte die Kastanien aufgetragen werden.“

„Bei uns daheim giebt es statt Maronen Kartoffeln, aber diese in vorzüglicher Qualität,“ erwiderte Hedwig.

„Die schönsten Kastanien werde ich für Sie auslesen und Ihnen schicken,“ versicherte Georg. „Meine Bäume tragen dieses Jahr sehr reichlich.“

„Nun, da wir keine Kastanien haben, darf ich Ihnen Weißbrot mit Butter anbieten?“ fragte sie heiter. „Oder ziehen Sie Zuckerbrezelchen vor?“

„Um Goueswillen nicht,“ rief Georg. „Aber ein Butterbrot nehme ich dankbar an, vorausgesetzt, daß Sie die Gnade haben, es selbst für mich zu streichen. Ich möchte doch wissen, ob dann mein Fabrikat nicht noch einmal so gut schmeckt. Ja, gnädiges Fräulein, da ist meine Gabel auf der Butter. Ich schäme mich ordentlich, daß ich mich mit dem Produkt meines Gutes von Ihnen bewirthen lasse.“

„Dieser Butter braucht sich Niemand zu schämen,“ erwiderte Hedwig mit sachverständigem Blick auf die schön modellierte Butterscheibe und griff nach einem Messer, um ihr Werk zu beginnen.

„Sie werden doch nicht so unbarmherzig gegen Ihren zukünftigen Mann sein,“ rief Georg, ihre Hand zurückhaltend, „und ihn noch zu siebenjährigem Warten zwingen?“

„So schneiden Sie den Weck an,“ erwiderte Hedwig und suchte unter einem Lachen ihre Verlegenheit zu verbergen.

„Das werde ich bleiben lassen,“ antwortete Georg.

„Nun, damit dem Streit ein Ende gemacht wird, will ich die Butter anschneiden,“ entschied Frau von Blachrieth. „Aber ich hätte nicht von Ihnen erwartet, Herr Hauptmann, daß Sie sich vor einem ganzen Butterweck fürchten würden.“

„Vor sieben Jahren Einsamkeit in dem alten Hause Aufdermauer fürchte ich mich barbarisch,“ erklärte Georg. „Es ist gar zu traurig, allein in dem großen Gebäude zu sitzen. Ich denke es mir so hübsch, wenn in der tiefen Fensternische ein Nähtischchen stünde, wenn ein paar zierliche Füßchen durch die hallenden Korridore trippelten. Unter den Händen einer Frau gewinnt Alles eine würdigere Gestalt, vom kleinen Kaffeetisch an bis zum großen Jagddiner. Ihr zartes Gefühl versteht zu mildern, wo der stäte Verkehr mit einer Arbeiterschar schroff und derb macht, ihr beweglicher Geist kann das Interesse wach erhalten für Dinge, die außerhalb des eigentlichen Berufes liegen und doch von keinem gebildeten Menschen ungestraft vernachlässigt werden dürfen.“

„Was thust Du, Hedchen?“ rief Frau von Blachrieth. „Du gießest das heiße Wasser in den Sahnentopf, statt in die Theekanne.“

„Ach nein, ich schüttete nur daneben; Verzeihung,“ entschuldigte sich das junge Mädchen, roth wie eine Kirsche.

„Wie kommt es denn aber,“ fragte Frau von Blachrieth, „daß Sie bei diesen Ansichten noch unverheirathet sind?“

„Gnädige Frau,“ erwiderte Georg lächelnd, „die Liebe hat gar lange nichts von mir wissen wollen; mein Herz stand noch leerer als mein Haus. Lachen Sie nicht,“ fuhr er fort, und seine dunklen Augen hefteten sich durchdringend auf Hedwig. „Wenn nicht bald sich Jemand zum Einziehen entschließt, so zerfällt es in Ruinen wie alle unbewohnten Gebäude.“

Frau von Blachrieth nahm in kleinen Schlucken ihren Thee und ertheilte dazu ihre Rathschläge.

„Sie müssen sich eine lebendige Weltdame nehmen, damit Sie nicht zu einseitig werden. Ein Frauchen, das Ihnen keine Ruhe daheim läßt, gerade weil Sie sich allzuwohl dort fühlen – Sie werden sonst zu bequem –, die Ihr Haus umbaut; ein Schweizerhaus wäre viel schöner als das graue Gebäude.“

Georg sah sie ganz starr vor Staunen an. Dann rief er mit zornig gerunzelter Stirn:

„Wenn eine Frau mir solche Zumuthungen stellen wollte, hätte ich gar nichts mehr für sie übrig.“

Hedwig lachte.

„Sie lieben und hassen Ihre Frau schon ohne sie zu haben.“

Jetzt besann sich Georg und begann ebenfalls zu lachen. Dann aber fuhr er ernst fort:

„Ich mache vielleicht zu große Ansprüche. Ich will einer Frau Alles sein. Gesellige Freuden, Triumphe in der Welt muß sie im Stiche lassen. Und,“ fuhr er fort, seinen Bart nachdenklich kräuselnd, „wer ginge so ohne alle Bedenken in diese Einsamkeit, die nur während der Badesaison durch gleichgültige Touristen belebt wird, in welcher man von den Weltereignissen nur durch Zeitungen und Bücher etwas erfährt?“

Er sah Hedwig forschend an. Sie wurde dunkelroth.

[312] Die Frage der Tante, ob die Jalousien in ihrem Zimmer geöffnet seien, kam ihr zu Hilfe. Sie eilte hinaus, um sich wieder zu fassen.

Georg sah ihr schelmisch lächelnd nach.

Frau von Blachrieth entriß ihn seinen angenehmen Gedanken.

„Sie könnten mich zu tiefem Danke verpflichten,“ sagte sie mit der sanften Würde, die ihr zu Gebote stand, „wenn Sie Ihren Einfluß auf Heino dazu verwenden wollten, ihn zu Ihren Ansichten zu bekehren. Unser Familienprojekt ist Ihnen bei Ihrer Intimität mit Heino wohl nicht verborgen geblieben. Die Beiden ergänzen sich auf das Glücklichste. Hedwig hat die Stätigkeit, den praktischen Sinn, welche Heino’s geniale Begabung ausschließt; sie besitzt so viele Kenntnisse von der Landwirthschaft, in der sie aufgewachsen ist, um ihrem Gatten die Last der täglichen Arbeit abnehmen zu können, wenn sein Genius die Flügel regt. Und sie erhält einen in jeder Hinsicht ausgezeichneten Mann zum Lebensgefährten und einen würdigen Wirkungskreis, wo sie als Frau ihre Bestimmung erfüllen kann. Selbst Alter und Namen fügen sich passend zu einander, als wäre diese Ehe im Himmel beschlossen. Es steht nichts im Wege als meines Sohnes ungestümer Freiheitsdrang, Wenn Sie also Heino ein wenig ins Gewissen reden und ihn auf Hedwig’s Vorzüge aufmerksam machen wollten, würden Sie mir, meinem Bruder, uns Allen einem wahren Liebesdienst erweisen.“

Der arme Georg saß ihr gegenüber wie aus dem Himmel gefallen. Er war so zuversichtlich auf sein Ziel los marschirt, daß ihn das Hinderniß, welches Frau von Blachrieth enthüllte, vollständig aus der Fassung brachte. Jetzt fiel ihm freilich Heino’s geheimnißvolles Lächeln ein, als dieser erzählte, daß er von seiner Mutter hierher geführt worden sei. Hedwig’s Entwischen deutete er als Ausweichen; die Betonung der harmonisch klingenden adeligen Namen stieß ihn vor den Kopf. Er hätte aus der Haut fahren mögen.

Verletzt und beschämt erhob er sich und griff nach dem Hut.

„Ich werde das Mögliche thun,“ erwiderte er mit gepreßter Stimme, indem er einen verzweifelten Nachdruck auf ‚das Mögliche‘ legte. Der wieder eintretenden Hedwig machte er eine so gemessene Verbeugung und sah dabei so blaß und verstört aus, daß diese ganz versteinert stehen blieb und sprachlos ihm nachschaute, als er eilig davon schritt.

„Was hatte der Hauptmann?“ fragte sie bestürzt. „Er war so sonderbar gegen mich, als er ging.“

„Was sollte er haben?“ erwiderte die Tante. „Gewöhne Dir die übertriebene Empfindlichkeit ab, liebes Kind. Nichts ist den Männern lästiger als ein fortwährendes Uebelnehmen.“

Lauter Lärm vor den Fenstern unterbrach das Gespräch. Hedwig benutzte die Gelegenheit, um die Stirn an die Scheiben zu drücken und nach dem Hauptmann, der davon gestürmt war, auszuspähen. Aber er war bereits verschwunden.

(Fortsetzung folgt.)




Bilder von der Ostseeküste.

Danzig.
Von Fritz Wernick.0 Mit Originalzeichnungen von Robert Aßmus.
(Schluß.)


Rekognoscirender Schwede vor Danzig.

Die Wandlungen neuer Zeit sind an Danzig nicht spurlos vorübergegangen; aus Rücksichten der Gesundheitspflege und des Verkehrs ist vieles Schöne zerstört worden, Vieles der Nüchternheit vergangener Jahrzehnte zum Opfer gefallen. Andererseits sind würdige Baudenkmäler, die bisher in Schutt und Trümmern gelegen, in ursprünglicher Schönheit wieder hergestellt worden. Die prachtvollen Rathsstuben des alten Rathhauses, die gothischen Wölbungen einiger Gemächer stehen jetzt wieder in früherer Schönheit da, Thore sind freigelegt, Thürme von den angeklebten Schmarotzerbauten befreit, und auch das neu erstandene Landeshaus fesselt den Blick des Wanderers. Aber Danzig ist auch eine gesunde Stadt geworden. Unsere Altvordern haben sich wenig gekümmert um reine Luft, gutes Wasser, um die Hauptbedingungen eines gesunden Lebens. Aus versumpften Kanälen qualmten giftige Fieberdünste auf; das beste Trinkwasser der Stadt sickerte durch ein Leichenfeld, in den engen, tiefen Häusern herrschte dumpfe Kellerluft.

Diese Uebelstände sind durch die großartigen Reformen der letzten Jahrzehnte zwar beseitigt, von jener früheren Zeit aber hat sich die feste Gewohnheit erhalten, den Sommer draußen im Freien zu verleben. Von allen malerisch und architektonisch interessanten altdeutschen Städten ist keine andere von so herrlicher Landschaft umgeben wie Danzig. Ein Höhenzug, der den Lauf der Weichsel westlich begleitet, schmiegt sich weit hinaus an das [313] Gestade des Meeres, das er in herrlichen Linien einrandet. Ein grünes Vorland zwischen der See und jenen Waldbergen ist von den alten Danzigern mit Landhäusern und Strandkolonien besiedelt worden. Der Geschmack mag da gewechselt haben. Das beweisen zahlreiche Patricierschlößchen an den Abhängen jener Waldhöhen, an den Mündungen der zahlreichen Thalschluchten, welche diese Hügelzüge durchbrechen, das beweist der spätere Aufschwung der Seebadeorte, denen jetzt der Geschmack sich zuwendet. Strom, Meer, Waldberge und als großartige Staffage die alterthümliche thürmereiche Stadt, das vereint giebt den Landschaften der Umgebung von Danzig einen wunderbaren Reiz.

Das Landeshaus in Danzig. Nach einer Photographie.

An der „Langen Brücke“ liegen stets kleine Lokaldampfer zur Abfahrt bereit. Aus der schmalen Wasserstraße des stromlosen Niederungsflusses, aus Häusergiebeln und hohen Thorpforten kommen wir bald hinaus in den breiten Strom. Dort liegen die Gebäudemassen der kaiserlichen Werft, da sehen wir einige der mächtigen Kolosse unserer Marine auf Stapel, da umklammert das eiserne Dock einen Schiffspatienten, der von seinen Rissen, Wunden oder Altersschwächen geheilt werden soll. Abends, wenn elektrisches Bogenlicht die kaiserliche Werft taghell erleuchtet, ist der Anblick noch großartiger. Je weiter wir hinauskommen, desto umfassender wird die Aussicht. Auf halbem Wege nach dem Hafen hält unser Dampfer in Legan, wo auch die Handelsschiffe Rast zu machen pflegen. Dort beginnt eine weite Rundsicht sich zu entfalten. Vorwärts gewendet, umfaßt der Blick den waldigen Höhenzug, der zum Strande hinausläuft, in weiter Bogenlinie das Meer umsäumt und in der steil zur Fluth hinausspringenden Klippe von Adlershorst endet. Zurück gewendet sehen wir die Stadt mit den Thürmen der großen Pfarrkirche und den hohen Glockenspielen St. Katharinens, mit den unzähligen Fialen, Giebeln und alten Thurmklötzen über den Vorgrund des breiten Stromspiegels aufsteigen von hieraus imposanter und wirksamer als von höheren Aussichtspunkten.

Wollen wir am jenseitigen Ufer die kurze Dampferfahrt unterbrechen, so werden wir zugleich eines der interessantesten Werke neuester Zeit auf kurzem Spaziergange besuchen. Alle Spül- und Sinkstoffe, welche früher den Grund und Boden der Stadt verpestet, die Gesundheit ihrer Bürger schwer gefährdet haben, sind durch das vor wenigen Jahrzehnten ausgeführte Kanalisationswerk in ein Netz von Schwemmkanälen geleitet, dann in ein großes Sammelbecken geführt worden, aus dem sie ein Pumpwerk emporhebt, so daß diese Schmutzwasser nun in natürlichem Gefalle innerhalb eines weiten Leitungsrohrs dem kahlen Strandlande zufließen. Dort ziehen sich öde Dünenstreifen hin, todter Sand, der bisher allen Bemühungen, ihm einen Ertrag abzugewinnen, Widerstand geleistet hatte. Nun wird von dieser starren Wüste ein Stück nach dem anderen umgeebnet, von Rinnen durchzogen und dann mit den städtischen Spülwassern überrieselt. Da bildet schnell sich eine Ackerkrume, der durchlassende Dünensand dient als beste natürliche Drainage, das Gefilde ist zur Aufnahme jeder Aussaat bereit. Nun sehen wir auf dem ehemals todten Boden üppige Erdbeerfelder mit Früchten groß wie Taubeneier, die anspruchsvolle Tabakspflanze gedeiht hier kräftig, Kohlköpfe nehmen ganz unglaublichen Umfang an, Halmfrüchte, Gemüse, Gräser liefern erstaunliche Ernten. So überblicken wir jetzt ein weites, prangendes Fruchtgefilde rings umgeben von bleicher, kahler Düne. Von Danzig aus hat sich die Anlage von Rieselfeldern weithin verbreitet.

Bald sind wir am Ziele unserer Dampferfahrt. Der Hafen Neufahrwasser, kaum eine Meile von der Stadt entfernt, liegt vor uns. Dort ankern die ungeheuren Schiffskörper, den mächtigen Leib vollgestaut mit Gütern aus allen Welttheilen, mit dem goldigen Weizen, der aus Polen und dem preußischen Hinterlande hier gestapelt und verladen wird. Dort schlendern wir hinaus zu einem Strandschlößchen mit vollem Ausblick auf das Meer und seine malerischen Uferberge, um uns zu erfrischen. Wir besteigen den Leuchtthurm, gehen auf die Molen, die kräftigen Steinwälle, die man in die See hinaus gebaut hat, um den anlangenden Schiffen eine sichere Einfahrt zu gewähren, wir nehmen ein Bad, und überall finden wir die Aussicht auf Meer und hohes Land, auf die gelben Dünenstreifen zur Rechten, die als natürliche Wälle die Ostsee von dem Süßwasserspiegel des Frischen Haff scheiden, gleich entzückend.

Ein anderer, vielleicht noch schönerer Weg führt uns im hohen Lande hin zu jenen Punkten, die der Danziger mit Stolz als die Perlen seiner Landschaft rühmt. Eine Eisenbahn führt dort auf dem grünen Vorlande zwischen dem Fuß der Hügelzüge und der See hin. zuerst halten wir da an einem Vororte, der in der Oeffnung eines grünen Waldthals liegt, von aussichtsreichen Höhen umschlossen. Hier und längs am Fuße der Waldberge [314] haben die Danziger ihre Sommerfrischen, ihre Landhäuser und „Höfe“ erbaut, aus deren Gärten man weit über die Meeresbucht blickt bis zu der Halbinsel Hela hinüber, die auf der äußersten Spitze einer schmalen Landzunge ein altgothisches Kirchlein und einen schlanken Leuchtthurm trägt. Weiter öffnen sich größere Thalgründe, in denen muntere Forellenbächlein durch Wald, Wiesen und Gärten abwärts rinnen zur nahen See.

Danzig und Umgebung.

An der Mündung des größten dieser Thalgelände liegt Kloster Oliva, eine der ältesten Kulturstätten der baltischen Lande. Schon gegen Ende des 12. Jahrhunderts haben Cisterciensermönche dieses Kloster gegründet, um unter dem Schutze der slavischen Herzöge, die in den Burgen des Landes saßen, für Ausbreitung des Christenthums zu wirken. Jene ältesten Landesfürsten haben Oliva mit ausgedehntem Landbesitze ausgestattet, aber erst unter der Herrschaft des deutschen Ordens gelangte Kloster Oliva zur Blüthe. Da entstanden denn um die Mitte des 14. Jahrhunderts eine prachtvolle Kirche, weite Klosterhallen mit Remter, Refektorium, Dormitorien, die in ihren Haupttheilen bis heute erhalten sind. Vieles ward seitdem zerstört, wieder aufgebaut, restaurirt; nun sieht man über dem alten Gemäuer spätere Ergänzungen aus den folgenden Jahrhunderten, denen auch Danzig seine Verschönerung dankt. An den Fuß der bewaldeten Hügelzüge geschmiegt, blicken die Thürme der Kirche, die langen Dächer der Klosterhallen aus dichtem Zaune hervor. Oliva ist ein sehr beliebtes Ziel kurzer sommerlicher Ausflüge. Hier lauscht man dem Spiele der mächtigen Orgel, einer der vorzüglichsten im Lande, läßt sich den Saal aufschließen, in welchem 1660 der Friede abgeschlossen wurde, in welchem die Souveränetät des Herzogthums Preußen anerkannt und damit der Grund zur späteren preußischen Monarchie gelegt worden ist. Lebendiger als an irgend einer anderen Stätte werden in uns hier die Erinnerungen wach an jene Zeiten, da vor Danzigs Thoren die feindlichen Heere standen, Schweden, Polen und Russen und zuletzt die Franzosen die Stadt stürmten – Erinnerungen, die unser Künstler in so charakteristischer Weise durch das Reiterbild in der Anfangsvignette dieses Artikels wiederzugeben wußte.

Das letzte Ziel unserer Fahrt bildet Zoppot. Alle Einzelheiten der herrlichen Strandlandschaft finden wir in anderer Anordnung wieder in diesem Bade-Orte. Da steht das Vorgebirge von Adlershorst am Abschlusse der Bucht, da schwingen die Uferlinien nach beiden Richtungen in schönen Bogen aus, und die bewaldeten Höhen treten bis nahe an das Gestade heran, zu aussichtsreichen Spaziergängen einladend. Aus dem bescheidenen Fischerdorfe ist Zoppot durch die Gunst der Lage und die bequeme Bahnverbindung zu einem stark besuchten Seebade herangewachsen, und lange Vergnügungszüge führen an jedem schönen Sommernachmittage endlose Scharen von Städtern hinaus, die hier ein Bad nehmen, Wanderungen in die Bergreviere machen oder sich in ruhigem Behagen der unmittelbaren Nähe der See mit ihren wechselnden Lichtreflexen, ihren zarten Farbenspielen freuen. Seine größte Anziehungskraft erhält Danzig erst durch die Fülle landschaftlicher Schönheiten, durch das Meer und die weitgedehnten Waldberge, aus deren Schoß die Spiegel kleiner Landseen hervorleuchten. Nur wer diese gesehen, kennt Danzig wirklich.




Erinnerungen an den Dichter des „Ekkehard“.

Eine schwere Trauerkunde zieht durch Deutschland: nach entsetztlichen Leiden starb zu Karlsruhe am 9. April Joseph Viktor von Scheffel, der Besten und – der Letzten Einer. Es wird gewaltig öde auf dem deutschen Parnaß, und nur wenige Häupter ragen in die stolze Höhe, wo ein großer Theil der Jetztlebenden noch in der Jugendzeit Rückert, Lenau, Uhland, Freiligrath, Heine, Geibel, Mörike stehen sah. Die letzten dreißig Jahre haben furchtbar aufgeräumt, wir sind arm geworden und klammern uns deßhalb mit größerer Innigkeit an die Wenigen, die uns bleiben. Deßhalb aber trifft auch jeder Verlust doppelt tief, vor Allem, wenn er außer dem gefeierten Dichter auch noch den lieben Freund wegnimmt, der in langen Jahren dem eigenen Leben ein treuer und theilnahmvoller Begleiter war. Es ist eine tieftraurige Empfindung, mit welcher der alternde Mensch die Genossen seiner Jugend scheiden sieht; aber über Eines wenigstens hat der Tod keine Macht: über die Erinnerung, welche im Flug über dreißig Jahre zurückträgt und die müde und resignirt aus dem Leben Gegangenen wieder jung, lebensfroh und glücklich zeigt ...

Gerade dreißig Jahre sind es her, daß in ein heiteres Landhaus zu Weinheim an der Bergstraße zwei junge Besucher eintraten. Der Aeltere, ein ernsthafter Gelehrter von damals schon [315] bekanntem Namen, stellte seinen Freund Joseph Scheffel den Damen des Hauses vor, und diese, welche den kürzlich erschienenen „Trompeter von Säkkingen“ bereits gelesen hatten, begrüßten lebhaft den schmächtigen, blonden Mann, dessen Habitus allerdings die Erwartungen der Jüngsten über das Aussehen eines Dichters stark enttäuschte. Keine wallenden Locken, keine weltschmerzlichen Blicke: nur schlichtes, kurzgeschnittenes Haar, ein Gesicht, wie es etwa ein junger Assessor auch haben konnte, und eine goldene Brille! Aber die Augen unter dieser Brille gewannen beim Sprechen einen merkwürdigen Ausdruck und um den sehr feingeschnittenen Mund spielten allerlei hnmoristische Linien, wenn er sich zum Erzählen öffnete und mit einem Accent, der die Vaterstadt Karlsruhe nicht ganz verleugnen konnte, die schönsten Abenteuer und Erlebnisse aus wälschen und deutschen Landen zum Besten gab. Nach einer Stunde schon waren Alt und Jung bezaubert; wie ein alter Freund saß der Gast im Familienkreise, und indem er von Pompeji und dem sorrentinischen Gestade erzählte, fuhr seine Hand mit dem Bleistifte über ein Blatt, und in charakteristischen Strichen entstanden darauf Uferfelsen und Brandung und feingezogene ferne Berglinien ... Das Blatt und manche folgende von seiner Hand befinden sich in guter Verwahrung, an jenem Nachmittage unter der Rebenlaube des Weinheimer Landhauses knüpfte sich aber eine Freundschaft, die fest und warm drei Jahrzehnte überdauert hat und heute das Recht verleiht, dem Gedächtnisse des Geschiedenen ein Blatt der Erinnerung zu weihen.

Joseph Scheffel (denn so, und nicht Viktor, wie ihn norddeutsche Begeisterung später umtaufte, nannten ihn Eltern und Freunde) wurde 1826 in Karlsruhe geboren als Sohn eines Elternpaares, welches nach Schopenhauer als das prädestinirte zur Hervorbringung ausgezeichneter Söhne gilt: charakterfest, ehrenhaft der Vater, geistvoll und etwas phantastisch die Mutter. Der alte Major, Veteran aus den Freiheitskriegen, war eine kurz angebundene Soldatennatur, etwas schrullenhaft, aber fest in Grundsätzen und Meinungen, die Mutter eine hervorragend schöne und lebhafte Frau, Schriftstellerin, deren poetische Produkte der Sohn mit kindlicher Pietät verehrte. Sehr bedeutend waren sie nicht, aber die humoristische Ader schlug darin, welche Joseph Viktor in so viel stärkerem Grade von ihr geerbt hat. Ihren großen Tag erlebte die „Frau Majorin“, als Anfang der fünfziger Jahre ein neues Lustspiel von ihr im Karlsruher Hoftheater aufgeführt wurde und die höchsten Herrschaften, sowie Alles, was zur Gesellschaft zählte, den lebhaftesten Beifall klatschten.

Die heitere und weltgewandte Frau nahm in den geselligen Kreisen der Resideuz eine hervorragende Stellung ein. Ein günstiges Geschick ersparte ihr zeitlebens die Last des Haushalts, indem so lange, bis die einzige Tochter Marie erwachsen war, eine sorgsame Großmama in Küche und Keller schaltete. So blieb ihr Muße genug, die schönen Seiten des Daseins zu pflegen, und das behaglich zugerichtete Scheffel’sche Haus in der Stefanienstraße zahlte zu den Mittelpunkten der Residenz. Aber der junge Joseph war kein häufiger Theilnehmer der Abendgesellschaften im mütterlichen Salon. Vereinigungen alltäglich schwatzender Menschen blieben ihm zeitlebens ein Gräuel, und so rettete er sich schon damals hinauf in seine Dachstube, deren Fenster in die grünen Wipfel hinaussahen, „wo die Hardtwaldamseln den Frühling ansangen“, und verbrachte dort hinter seinen Büchern oder mit einem guten Freunde die Stunden voll Jugendpoesie und unklaren Zukunftsahnungen, die so selig in der Erinnerung der Altgewordenen stehen.

Die Oberklasse des damaligen Karlsruher Gymnasiums zählte außer einer Anzahl tüchtiger Lehrer eine Reihe ausgezeichneter Köpfe als Schüler. Ein heute noch erhaltenes „Philologen-Album“, von den Letzteren den Ersteren gewidmet, zeigt in Wort und Bild eine erschreckliche Respektlosigkeit gegen die theuersten Errungenschaften philologischen Scharfsinns, aber zu gleicher Zeit die wahrhaft geniale Drastik und den sprühenden Geist der muthwilligen Autoren. Auch etliche Romantik wurde getrieben an den Kneipabenden, welche das letzte Jahr in Prima verschönerten. Man hielt des Königs Artus Tafelrunde ab, mit so viel ritterlichem Kostüm, als eben aufzutreiben war. Scheffel, mit 18 Jahren noch ein so mädchenhaft hübscher Junge, daß er eine reizende Königin Ginevra abgab, saß mit Schleier und goldenem Stirnreif zwischen dem König und Herrn Lanzelot vom See, Ein verspätet Hereintretender begann bei diesem Anblicke einen alten Vers zu citiren, der mehr deutlich als zartfühlend das Verhältniß des Paares charakterisirte. Worauf die Königin mit einem lauten Schrei ohnmächtig umfiel und Herr Lanzelot dem unhöflichen Gaste an die Gurgel fuhr und nur durch die energische Intervention seiner Mannen abgehalten wurde, ihn auf dem Fleck zu erdrosseln.

Manche jener lustigen Jugendgenossen liegen schon lange unter der Erde, wie Julius Braun und Graf Reichenbach, andere stehen unter den leitenden Männern in Baden wie Ellstätter und Stößer, auch der wanderlustige Ludwig Eichrodt bekleidet sein Staatsamt, während manchen Anderen, wie Karl Blind, das Jahr 1848 aus dem Lande trieb.

Vor allen diesen zeichnete sich Scheffel in der Schule weit aus durch den musterhaften lateinischen Stil, der ihm wie eine Naturgabe eigenthümlich war und den er auch zeitlebens in Vers und Prosa mit Vorliebe pflegte. Im Uebrigen wuchsen er und seine Freunde unter der lebendigen Einwirkung der Alten zu selbständigen Geistern auf. Was Joseph einem von ihnen schalkhaft zum zwanzigsten Geburtstage dichtete, gilt ebenso wohl für ihn selbst:

„Aber es hatte die Muse schon früh seinen Scheitel berühret,
0Und von Buttmann und Krebs flüchtet’ er an ihre Brust.
‚Keck‘ drum nannt ihn Herr Süpfle, der zeusgeliebte Professor;
0Vierordt, der Hofrath, auch schüttelt’ bedenklich das Haupt.
Doch es erlosch nicht der göttliche Funke im Lärm der Philister,
0Brannte und glühete fort, Flammen ersprühend und Licht.
Endlich konnte ihn die Hydra Lyceum nicht länger umstricken,
0Frei, mit geflügeltem Schritt zog er gen Heidelberg hin.“

Denselben Weg nahm nun Joseph selbst, und in der einzig schönen Stadt am Neckar, wo das Leben so heiter fließt und auf Schritt und Tritt historische Erinnerungen zur Seele sprechen, wo in den zauberischen Sommernächten der fröhliche Lärm aus den Gartenschenken den Neckar entlang hallt, während über Schloß und Kaiserstuhl der Vollmond steht und in seinem glitzernden Schein die Wellen drunten leise rauschen – aus dieser Fülle des freudigsten Lebensgenusses sog des jungen Studiosen Herz die tiefe Liebe zu „Altheidelberg der feinen, der Stadt an Ehren reich“. Immer wieder kehrte er dahin zurück, so viel ihn auch die Fahrt in der Welt herum tragen mochte, und es ist eine wehmüthig-rührende Fügung, daß er sie auch zu seiner letzten schweren Erkrankung wieder aufsuchen mußte, nachdem ihm vorab in den fröhlichen Studententagen so viel Glück und Heiterkeit dort gelächelt hatte.

Die Genossen jener Tage wissen von manchem gelungenen Streich des Uebermuths zu erzählen, von nächtlichem Anläuten z. B. an der Thür einer zanksüchtigen Hauswirthin, der man dann, als sie schimpfend unter der Thür erschien, mit der heuchlerischen Frage, ob nicht hier der gewisse Herr Maier wohne, an den man Etwas abzugeben habe, einen großen Balken vom nächsten Bau in den Hausflur stieß und zwar so glücklich durch die vordere und die hintere Thür zugleich, daß beide diese Nacht nicht mehr geschlossen werden konnten und der erbosten Wittwe Nichts übrig blieb, als ihr offenes Haus bis zum Tageslicht zu bewachen.

Oder ein anderes Mal, wo nach nächtlichem Randaliren und Fenstereinwerfen am andern Morgen ehrbar und geschäftsmäßig im schwarzen Rock mit der blauen Aktenmappe unterm Arme Scheffel und ein nunmehriger badischer Würdenträger bei den Beschädigten erschienen, um „das Protokoll aufzunehmen“, unter großem innerlichen Ergötzen über die reichlich strömenden Klagen und Verwünschungen. Als dann eine Stunde später die wirkliche Polizei erschien, mußte sie sich sagen lassen, die „Herren“ seien schon dagewesen, und hatte noch einen Zorn mehr zu verwinden.

Neben solchen Allotria gingen doch auch ernsthafte Studien her, nicht nur das der Jurisprudenz, die Scheffel als Fach erwählt hatte, sondern Geschichte und Alterthumswissenschaft, vorab in Beziehung auf Land und Leute seiner Umgebung. Scheffel ist, wie Hebel, nur im Zusammenhalt mit seiner engeren Heimath ganz zu verstehen, es war in ihm bei aller Weite des Horizonts ein speciell badischer Zug, der Jedem sofort auffallen mußte, ein inniger Zusammenhang mit Sitte und Anschauung des Volks. Unter den stammverwandten Schweizern, Bayern und Schwaben hielt er sich oft und gerne auf – ein dauernder Wohnsitz in Norddeutschland würde ihm wohl unmöglich gewesen sein. Er empfing von dem alten Berlin unerfreuliche Eindrücke, als er nach [316] der Heidelberger Zeit dort hinkam – sein süddeutsches Wesen bedurfte der Heimatherde, um sich zu entfalten.

Freilich ging das bei seiner starken Eigenart, die manchmal mit der des alten Herrn heftig zusammenprallte, nicht ohne vielfache Kämpfe ab, trotz der guten Verhältnisse des Elternhauses. Des Vaters Ideal war, seinen Joseph dereinst als badischen Kreisgerichtsrath zu sehen, der Sohn hatte auch im Princip Nichts dagegen einzuwenden und machte sein Staatsexamen mit allen Ehren. Aber die darauf folgende Schreiberei in der Gerichtsstube sah den jungen Praktikanten immer unerfreulicher an, und er fühlte bald nur das Eine klar: daß er sein Leben nicht so zubringen könne. Alles Uebrige schien bedenklich zweifelhaft. Die Poesie als Lebensberuf zu wählen, wäre ihm nicht von ferne eingefallen. Die paar lustigen Kneiplieder, die er bis dahin geschrieben, schienen weder ihm noch den Freunden etwas Besonderes, eher dachte er noch daran, sein entschiedenes Talent für Landschaftsmalerei auszubilden, allein auch das schien unsicher. Als Karlsruher Haussohn war ihm ein gutes Stück bürgerlicher Korrektheit anerzogen, er gab also immer wieder den väterlichen Vorstellungen nach, und so vergingen unerquickliche Jahre zwischen 1847 bis 1851 mit juristischer Praxis und plötzlich verzweifeltem Desertiren daraus, zum großen Kummer des Alten, dem es durchaus nicht in den Kopf wollte, daß aus seinem Joseph „nichts Ordentliches“ werden sollte.

Joseph Viktor von Scheffel.
Nach einer Photographie von Schulz und Suck, Hofphotographen in Karlsruhe.

Seine damalige Stimmung schildern am besten die folgenden Auszüge aus einem Brief, den er am 18. December 1851 an den damals aus dem Orient heimkehrenden Julius Braun richtete, als Antwort auf ein langes Schreiben, das die Aufforderung enthielt, rasch zum gemeinsamen Aufenthalt nach Rom zu kommen.

„... Während wir in Altdeutschland herum sitzen und uns immer noch die Augen reiben, als hätten wir einen bösen Traum geträumt, hast Du Dir auf klassischem Boden die Sohlen abgelaufen, manchen scharfen Ritt durch die Wüste und die ausgebrannten Steinberge Kleinasiens gemacht und vom Steuer Deines Schiffes hinaus ins blaue Meer des griechischen Archipels geschaut, und nun ruhst Du im alten Rom und rekapitulirst hinter dem Vater Herodot, der vor grauen Jahren desselbigen Wegs gefahren, Deine Reisebilder.

Lieber Langer, wem das zu Theil geworden der darf wieder manchen schlechten Tabak in Deutschland rauchen, er hat immer noch ’was Erkleckliches voraus ... Ich hab im rauhen Schwarzwald oben in Säkkingen und auch zu Herrischried, wo ich im Ochsen und sonst mir manchen guten Freund erworben, gar oft meine Gedanken zu Dir fliegen lassen, und die schmutzigen Wände meiner Amtskanzlei kamen mir immer grün vor, und meine Hauensteiner wurden vom ‚jungen Ambtmâ‘ immer viel glimpflicher behandelt, wenn ich ein Wanderblatt aus italien oder aus dem Orient zu Gesicht bekommen hatte ...

... Langer! Dein gestriger Brief hat mir ins Herz geschnitten. Hättest Du vier Wochen früher geschrieben, so wäre jetzt mein Bündel geschnürt, und ich käme zu Dir über die Alpen, bräche in Rom bei Dir ein und sagte: Mensch, hauche mich an mit Deinem Odem, auf daß ich des Tintenschreibens erlöst werde. Am Neujahr wollt’ ich fort, da kam der Louis Napoleon mit seinem Staatsstreich, und wiewohl mich’s herzlich gefreut hat, daß der kleine Thiers auch einmal mit jenem keltischen Gesang: ‚Ha’ – ham’ – hammer Dich emol etc.‘ abgefaßt und nach Ham in Schatten gesetzt wurde, so schien mir die Landstraße doch zu kritisch, um jetzt darauf zu wandern. Von Dir hatt’ ich auch keine Nachricht, dachte, Du führst von Konstantinopel donanaufwärts heim.

Um ein paar Monate nützlich zu arbeiten, laß ich mich von Bruchsal ans Hofgericht verschreiben, und wie ich kaum ein paar Tage hier sitze, kommt Dein Brief. ‚Rathe, wo sind wir jetzt?‘[1] habe ich mich gefragt, den Brief in der Hand und die Gluth des Orients im Sinn. Auf meinem Sekretariat, wo die Gipfel des Zuchthauses zum Fenster hereinwinken und der alte Sekretär Sch ..., der bereits 50 Jahre im Amt ist und nur noch im Kanzleistil denkt und ein Gesicht hat wie ein Schellfisch und vor lauter Dekreten und Urtheilen die Liebe vergessen hat, so daß er sie jetzt – zu spät – nur seinem Hund Pfefferle zuwenden kann – und um mich herum seinen Tabak schnupft – da sind wir jetzt! Daß ich’s nicht lange aushalten werde, begreifst Du. Leer, unbefriedigt fahre ich schon lange in der Welt herum. In Karlsruhe bin ich oft stundenlang vor den Gipsabgüssen gestanden, am Donnerstag hab ich der Frau Venus von Melos meinen Besuch gemacht, am Samstag der kleinen Büste der Sappho oder der schleierduftigen Berliner Muse – ich muß mich an der plastischen Schönheit antiker Welt und südlicher Natur erlaben, sonst verbeißt sich alle Sehnsucht nach innen und ich bin im Stande und schreib meinen Hofgerichtsräthen einmal wahnsinnige Entscheidungsgründe zu einem weisen Urtheil. Schreib mir deßhalb, ob Du den Sommer noch in Rom bleibst. ... Ich wollte oft, ich hätte nie ein corpus juris gesehen und wäre in München Maler geworden. ...

Deutschland ist gegenwärtig ein Janusbild mit dem einen Kopf, der nach rückwärts schaut, der vordere hat den Schnupfen gehabt und ist vor allzustarkem Niesen abgefallen. ... Die Professoren katzbalgen sich, wie früher, die deutsche Bewegung fluktuirt jetzt im Kleinlichen, die theologische Fakultat ist wieder lebendig geworden, denn die Jesuiten waren im Lande und haben dem Herrn Allerhand gesagt, was sie bereits der Archäologie für verfallen hielten – und jetzt streiten sie wieder über die Unterscheidungslehren und es wimmelt mit Flugschriften wie vor dreihundert Jahren. Was sagst Du dazu?“

(Fortsetzung folgt.)
  1. Anspielung auf eine Stelle dieses Briefes.




[317]

Die Austellung des Ornithologischen Vereins in Wien.

Mit Originalzeichnungen von Gustav Zafaurek.

Sechszehiger Hahn.

Den großen Industrie-, Gewerbe- und Kunst-Ausstellungen gegenüber verschwinden diejenigen, welche uns nicht Kunstwerke der Menschenhand, sondern lebende Naturwunder vorführen. Die Dauer der ersteren kann man nach Wochen und Monaten bemessen, während die letzteren nur ein paar Tage bestehen und längst aufgelöst sind, wenn man in einer illustrirten Wochenschrift ihrer gedenkt.

So würde man auch heute in Wien vergeblich nach den Spuren jener Vogel-Ausstellung suchen, die der Ornithologische Verein in der heiteren Donaustadt am 20. März dieses Jahres eröffnet hatte. Nach allen Windrichtungen, aus denen sie gekommen war, ist die zwitschernde und kreischende gefiederte Gesellschaft wieder aus einander gegangen.

Aber sie ist einer kurzen Erinnerung dennoch werth, die jeden Vogelfreund sicher interessiren wird, dem es nicht vergönnt war, in den von Tannen und Fichten grünenden, mit Volièren und Käfigen vollgepfropften Räumen zu verweilen.

Vor dem Zauberschlosse muß der Tradition gemäß ein Ungethüm wachen, an welchem man vor Allem vorbeikommen muß. So auch hier. Eine gespenstige Pyramide von Holzröhren, deren jede ein auffallendes Loch zur Schau trug, starrte dem Besucher entgegen; hier aber war Alles schön oder nützlich, sogar das Ungethüm: die ominösen Röhren waren nämlich Nistkästchen, aus derartig imprägnirtem Holz hergestellt, daß sie Jahrzehnten trotzen und kein Ungeziefer aufkommen lassen. Der Erfinder, Fritz Zeller, hat schon seit Jahren Tausenden von Vögeln ein wohnliches Heim ohne Miethzahlung geschenkt, den ganzen Prater und Hunderte von Schulgärten unentgeltlich damit versehen und bietet nunmehr in diesem Artikel wahrhaft Unüberttreffliches.

Wer sich durch Gegensätze amüsiren wollte, durch gleichzeitige Ohrenqual und Augenlust, der fand beim Weiterschreiten beides reichlich in einem Pfauenhause mit allen Sorten von Perlhühnern als Zugabe. Hinter demselben befand sich eine Volière mit den herrlichsten Fasanen, dem zierlichen Pfauenfasan, dem prächtigen Swinhoë und den imposanten Ohrfasan, mit herrlich, gleich einem Silberregen wallenden Schweife – ein fesselndes Bild!

Im Hintergrunde reihten sich die große Raubvögel an; sie erweckten keine Sympathie, erregten aber allgemeine Bewunderung, gleichwie in der Weltgeschichte die großen Eroberer und Menschenwürger.

Kiwi.

Tannenbaum mit Webernestern.

Der rechte Flügel des Gebäudes enthielt die Präparate, mitunter wahre Kunstwerke, die zu leben schienen. Da fanden wir den äußerst seltenen Ibis nipon, bizarr aussehend wie die Bewohner seiner Heimath, die von König Tai Tschi regierten Koreaner; daneben einen Flüchtling aus Afrika, den rothbrüstigen Pelikan, der im vorigen Jahre bei Silistria erlegt wurde, einen Singschwan, majestätisch in der Luft daherrudernd, gleich allem aus Hodek’s Meisterhand Kommenden, lebenswahr und schön zugleich, nur – fast unerschwinglich im Preise. Vorüber an vielem Anderen, über das nur die Anerkennung des gute Willens hinaushalf, vorüber an dem Kaleidoskop von Vogeleiern, die so recht nach Amateurart von dem Besitzer eigenhändig auf Gefahr der geraden Glieder – sei es durch Wirkung eines Sturzes, sei es durch die derber Forstwartfäuste – von den Baumwipfeln und Felsgraten herabgeholt worden! – in die Tropen zu den Papageien, Nonnen, Mövchen, Tanagras, Amadonna, die in überwältigender Pracht von Josef Günther zur Schau gebracht wurden. Schade, daß die leichte Aufzucht dieser tropischen Gäste noch so wenig Verbreitung fand, der Liebhaber wird stets eine Fülle von Belehrung und Freude an seinen Schützlingen finden. Greifen wir unter ihnen nur die dumm dreinsehenden schwarzköpfigen Nonnenvögel heraus und belauschen wir ihr Liebeswerben.

Mit vorgestrecktem Halse gackert das Männchen etwa zwanzigmal ta-ta-ta etc., und hierauf eine Quint höher ti-ti-ti-ti; dicht an dasselbe geschmiegt lauscht das Weibchen der Zaubermelodie, neigt den Kopf ängstlich horchend dem Schnabel des Männchens zu, immer mehr und mehr, bis letzteres ausweichen muß und ersteres fast vom Sitzholze herabfällt.

Da kommen wir, auf dem Wege zu den sich heiser krähenden Hähnen an einer netten Zusammenstellung vorüber, dem Ei des riesigen Aepiornis, dem des Straußes, dem des Huhnes und dem des Kolibris. Ersterer wurde von keinem Menschen gesehen, der so weit der Wildheit entwachsen war, um ihn zu beschreiben; es bleibt unserer Phantasie überlassen, uns denselben in seiner Riesengröße vorzustellen und uns im Traume vor ihm zu fürchten, wenn der Alp uns drückt.

Das Kolibri-Ei wird gleichfalls bald einem ausgestorbenen Vogel angehören, wenn unsere Damen nicht aufhören, sich mit diesen fliegenden Juwelen zu schmücken. Gern wäre es denen erlaubt, die ihren Reiz durch diesen geborgten Schmuck erhöhen, leider aber sind die in der Mehrzahl, welche mit Hilfe der Kolibris ihr abschreckendes Aussehen durch den Kontrast noch abschreckender machen – natürlich gehören unsere Leserinnen sämmtlich der Minderzahl an. 50 000 Kolibri-Eier ergeben erst ein Riesenei des Aepiornis.

Die Ausstellung der Hühner war eine sehr reichhaltige, doch interessiren die Details nur den Eingeweihten, während die große Menge höchstens vor Spielarten mit sonderbarer Zehenbildung stehen blieb. Dasselbe gilt von den Singvögeln. Die ganze Wonne des Doppelschlages, des Schnalzens, des tiefen Rollens bleibt uns Laien unverständlich. Die überirdisch verklärten Züge andächtig Horchender belehrten uns dafür, daß auf diesem Gebiete Vorzügliches geleistet wurde. Ein Objekt von überraschender Wirkung war die Volière des Opernsängers Fritz Schroedter. Mehr als 80 Webervögel, theils unscheinbar von Aussehen, theils in grellem Orange oder Purpur leuchtend, bauen im Tannengrün ihre wunderbaren Nester vor den Augen des Beschauers, als wiegten sie sich auf Palmenwedeln unter der heißen Tropensonne. Die meisten Webervögel-Arten verdienen schon darum ein erhöhtes Interesse unsrer Leser, weil sie zu den charakteristischen Vögeln der westafrikanischen Landschaft, also auch unsrer Kolonien, Togoland und Kamerun, gehören. Sie sind es, welche dem Reisenden zuerst in die Augen fallen und ihm überall entgegentreten, in den Dörfern sowohl, wie in der mit mannshohem Grase bedeckten Savanne und in dem dichten Gebüsch des Urwaldes. In unsern Vogelstuben sind die westafrikanischen Webervögel, die Edel- und Feuerweber, ebenso häufig vertreten wie die ihnen verwandten ostindischen Baukünstler, die Banyaweber.

Doch gehen wir weiter!

Webervögel-Volièren.

An der Wand dort eine riesige Karte der Welt in Mercator’s Projektion! Von tausend Besuchern bleiben etwa zwei vor derselben stehen und entnehmen ihr die Kunde eines großen Werkes, das seit zwei Jahren in aller Stille unter der Aegide eines Prinzen vor sich geht. Langsam spannen sich Fäden über das ganze Erdenrund, von Pol zu Pol, von Ost nach West. Die Karte stellt graphisch die Wirksamkeit des internationalen, permanenten [318] ornithologischen Komités dar, ein Gegenstand, auf welchen wir ein anderes Mal des Ausführlichen zurückkommen wollen.

Die Ausstellung, bereits die vierte des Ornithologischen Vereins, bot im Ganzen ein reichbewegtes, interessantes Bild, und wer die Wiener Verhältnisse kennt, der wird dem Vereinspräsidenten Bachofen von Echt und dem Arrangeur der Ausstellung, Regierungsrath Dr. v. Hayek die Anerkennung dafür nicht vorenthalten, die Scientia amabilis der Ornithologie endlich auch dort populär gemacht zu haben, was aus dem fast beispiellosen Andrange zu derselben – binnen 9 Tagen 60 000 Personen – hervorgeht.

Und doch fehlte durch einen tückischen Zufall die Hauptzierde derselben, eine Kollektion der seltensten lebenden Vögel aus Neu-Seeland, welche der berühmte Ornithologe Buller derselben zuführt. Wahrscheinlich schwimmt er noch auf dem Rothen Meere, verschmachtend in tropischer Gluth und ängstlich besorgt um seine drollig aussehenden Kiwis, die auf dem Kontinent noch nicht lebend gesehen wurden und diesmal leider nur in ausgestopftem Zustande vorgeführt werden konnten. Diese flügellosen Vögel leben in unterirdischen Höhlen, welche sie nur des Nachts verlassen, um ihrer aus Würmern bestehenden Nahrung nachzugehen. Seit Einführung der vierfüßigen Raubthiere, der Hunde, Katzen und der unfreiwilligen Importation der Ratten, werden die Kiwis immer seltener und dürften sehr bald ausgestorben sein.

Doch bringt Buller, wie er versicherte, auch andere, große Seltenheiten von den Inseln der heißen Quellen mit. Wenn dieselben, wie zu erwarten ist, glücklich ankommen sollten, würde der Ornithologische Verein neue Triumphe feiern, die vielleicht gleichfalls einer Schilderung werth sein durften. G.H.     

Ibis nipon, Pfauen-, Ohrfasan und eine Eierkollektion.


Was will das werden?

(Fortsetzung.)
5.

Meine liebeselige Stimmung verflog nicht mit der schönen Stunde, die sie gezeitigt – sie blieb tage-, wochen-, mondelang, nicht immer in gleicher Höhe, sondern fluthend, ebbend, heute ein Rausch, der mir die Sinne schier umnebelte und mich zu jeder tüchtigen Arbeit unfähig machte, morgen eine kraftvoll arbeitsfrohe Begeisterung; dann wieder ein seliges Träumen zu den Wipfeln der Bäume hinauf, in denen die Vögel sangen, hin über die sonnigen Beete mit den Schmetterlingen, die von Blume zu Blume sich wiegten – aber sie blieb. Es war damit, wie mit dem Patscholiduft in meinen Schloßzimmern, der nicht „heraus wollte", wenn er sich auch einmal mehr bemerklich machte, als das andere Mal. Und auch in einem Zweiten hatte die Stimmung in meinem Herzen mit dem Duft in meinem Zimmer Aehnlichkeit. „Man gewöhnt sich daran," hatte Holzbock gesagt. Es kam die Zeit, wo ich den Duft nicht mehr spürte, trotzdem er da war, wie sonst, und es kam die Zeit – und o, wie wie bald! – wo ich die Seligkeit in mir wohl noch empfand, aber doch nur als Etwas, das sein müsse, und von dem ich kaum begreifen konnte, daß es nicht immer gewesen.

Die Brücke, welche die Gegenwart mit meiner Vergangenheit hätte verbinden sollen, schien abgebrochen, und wenn sie noch stand, ich hatte keine Lust, sie zu betreten. Es war nicht eigentlich mein freier Wille gewesen, was mich in diese neuen Verhältnisse geführt hatte, die mit den alten angewohnten in schroffstem Gegensatz standen; aber sollte ich mir selbst nicht als ein leichter Ball erscheinen, den der Zufall heute hierhin schleudert und morgen dorthin, mußte ich aus der Noth eine Tugend machen, in der ich mir selbst gefiel. Und das gelang mir zu meiner großen Beruhigung überraschend gut und schnell. Du gehörtest einmal nicht, tröstete ich mich, zu dem zahmen Geflügel, das auf dem festen Lande sein sicheres Nest hat; – ein Sturmvogel bist du, der heimlos über das wilde Meer schweift und keine Rast kennt, als wenn er sich einmal auf der züngelnden Welle schaukelt. Dazu hat dich das Schicksal gewollt, das dich zu einer Zeit, in welcher andere Jünglinge unter der Eltern, der Verwandten treuer Hut die ersten tastenden Schritte in das Leben thun, ohne Eltern und Verwandte auf dich selbst stellte. So magst du nun sehen, wie du mit dem Leben fertig wirst.

Und wenn mir dann das Gewissen zuraunen wollte, daß ich, immerhin eltern- und verwandtenlos, doch gute Freunde mein nennen durfte: in erster Linie den wackeren Professor, in zweiter die guten Frauen in dem alten Giebelhause – deren Rath und thatkräftige Hilfe mich wohl auch „mit dem Leben hätten fertig werden“ lassen – so brachte ich die mahnende Stimme bald zum Schweigen. Das Leben, zu dem sie mir verholfen hätten im besten Falle, war das Leben nicht, das ich führen konnte, war eines in Ketten und Banden, die ich doch einmal hätte sprengen müssen. So war es ja nur ein ungeheueres Glück, daß ich es so früh gethan.

Und in der Konsequenz dieses Bruches mit meiner Vergangenheit, welcher mir in meines Geistes Thorheit als eine Heldenjünglingsthat erschien – wenn ich auch in einem langen Brief an Professor Hunnius meine Flucht aus der Heimath einen „Pagenstreich“ nannte und als solchen zu entschuldigen suchte – wurde es mir nicht allzu schwer, der neu errungenen Freiheit auch die Erinnerung an meine Jugendfreunde zum Opfer zu bringen: an Schlagododro, an Adalbert, selbst an Maria. Mit jedem Tage wurden die theueren Gestalten mehr zu blassen Schemen, denen ich auswich, wollten sie mir nahen. Und hatte ich nicht guten Grund dazu? Wie verwundert würde der Löwenherzige die blauen Augen gerollt und die gelbe Mähne geschüttelt haben über mein jetziges Leben! Wie hätte es die schneidende Satire des blassen Spötters herausgefordert! Und hätte ich dem lieben Mädchens das nicht lachen konnte, in ihr ernstes Gesicht sagen können –

Nun ja, es muß gesagt sein, weil es einzig und allein diese Tollheiten erklärt, wenn es auch in sich selbst die Tollheit der Tollheiten – ach! und etwas viel Schlimmeres war, wofür ich aber nicht die Verantwortung zu tragen brauche – Gott sei Dank! – es muß gesagt sein, daß ich Frau von Trümmnau liebte.

Für mich schon längst nicht mehr Frau von Trümmnau – für mich Adele, die ich mit dem herzlichen Du anredete und die mir das Du von Herzen zurückgab. Freilich nicht in der Gesellschaft, nur wenn wir allein waren. Und wir waren es nicht so oft, wie es mein Sehnen verlangte, das immerdar zu ihr ging; aber doch so oft es ihre und meine Zeit erlaubte, und die Rücksicht, welche sie aus die Gesellschaft nehmen zu müssen behauptete, selbst in Anbetracht eines jungen Menschen „sans conséquence“, und dessen „Mutter sie beinahe sein könne“.

[319] Sie mit ihren vierundzwanzig Jahren!

Und mit denen sie mich doch und mit ihrer Frauenwürde und ihrer gesellschaftlichen Stellung in Schranken hielt, die ich nach kurzer Zeit nicht mit einem Wort, einer Gebärde, einem Blick zu überschreiten wagte. Hätte ich mich doch lieber in mir selbst verzehrt, als sie erzürnt! Und was die Furcht nicht that, mich vor jeder Unbedachtsamkeit zu bewahren, durch die ich ihre Gunst verscherzt, die mich wohl gar aus der geliebten Nähe verbannt hätte, das bewirkte jene schwärmerische Anbetung, die dem begehrlichen Manne lächerlich erscheint, und die dem Jüngling, wenn er wahrhaft liebt, so natürlich, so selbstverständlich ist.

Ich durfte ihr die Hand küssen, wenn ich kam und ging – das war Alles, und hatten meine Lippen eine Sekunde länger verweilt, als ihnen erlaubt war, ging auch dies „Alles" verloren, und ich konnte sicher sein, auf Tage nicht einmal die Spitzen ihrer Finger berühren zu dürfen. So war ich denn klug und weise, mich begnügend mit dem, was mir blieb. Und das ja so viel war, daß mich die Engel in himmlischer Höhe darum hätten beneiden müssen: ihr süßer Anblirk, ihr silberhelles Lachen, ihr holdes Geplauder und der beschämende Triumph, in allem Anderen von ihr gehalten und behandelt zu werden wie ein Bruder von einer Schwester, die, wie sie sein volles Vertrauen hat, so ihn ihr Vertrauen rückhaltlos schenkt.

Ich meinte, sie könne nichts mehr vor mir zurückbehalten haben. Daß sie des Herzogs Tochter sei, hatte sie mir freilich nie in direkten Worten gesagt, und ich glaube bestimmt, für diesen einen Punkt versiegelte ihren Mund ein Eid, den sie sich selbst gegeben oder der Herzog ihr abgenommen hatte. Dafür nahm sie aber an, wie mir aus tausend Anspielungen und Wendungen zweifellos hervorging, daß mir das Geheimniß so gut bekannt sei, wie jedem, der am Hofe verkehrte, und vermuthlich auch der ganzen Stadt, womöglich dem ganzen Ländchen.

Und es währte nicht lange, so hatte ich auch von ihr selbst die traurige Geschichte ihrer Ehe erfahren, in der ich sie freilich in meinem Gewissen nicht von aller Schuld freisprechen konnte, und hätte dieselbe auch nur in einem Uebermaß von kindlichem Gehorsam bestanden.

Ihr Gatte war dreißig Jahre älter als sie. Sie hatte ihn, wie sie selbst zugeben mußte, nie geliebt, nie einen Augenblick auch nur die Illusion der Liebe für ihn gehabt. Er war auch, was ich durch mein Allerweltsorakel wußte, einer edleren Liebe so wenig fähig wie werth gewesen: ein völlig blasirter Roué von dem Schlage des Kammerherrn von Trechow, des windigen Genossen seines wüsten Lebens, dessen schale Neige er einem in der herrlichsten Blüthe der Schönheit und Jugend prangenden Mädchen anzubieten wagte. Und das Mädchen hatte den traurigen Freier annehmen können! Wie war das möglich gewesen?

„Mein Gott," sagte Adele in einer jener Stunden, in denen sie mit mir sprach, wie mit sich selbst; „ich gebe zu, es würde mir heute nicht so leicht geworden sein; ich würde vielleicht – gut! wenn Du willst, ich würde bestimmt Nein sagen. Aber damals! lieber Himmel, mit meinen siebzehn Jahren! Was wußte ich von der Welt! was hatte ich vom Leben gesehen in meiner Pension, in die ich noch als halbes Kind gekommen, und die ich nur verließ, um zu heirathen! Ein Glück erwartete ich von der Ehe nicht. Nach den dunklen Andeutungen unserer Stiftsdamen – meine Pension war nämlich ein adeliges Fräuleinstift – so eine Art Kloster – mußte ich die Ehe für ein Martyrium halten, das man lieber nicht auf sich nimmt, oder doch nur auf sich nehmen kann in der Zuversicht, sich schneller der himmlischen Freuden würdig zu machen, nachdem man den Jammer und das Elend des Lebens so recht gründlich ausgekostet. Und schien doch, was ich von Ehen hörte oder wußte, diese trübselige Ansicht zu bestätigen. Die herzogliche Ehe sollte eine glücklose sein; und meine Mutter, die nach wenigen Jahren von ihrem Gatten geschieden und deren einziges Kind ich war, hatte ich nie lachen, aber desto öfter weinen sehen. In unserm Kloster war es nicht gerade amüsant, aber doch ein vergnügliches Dasein im Vergleich mit meinen trübseligen Kinderjahren bei der melancholischen Mutter auf unserem einsamen Landgute. Dann starb die Mutter, der ich mehr als halb entfremdet war; ihren Gatten, der sich längst wieder verheirathet – glücklicherweise weit von hier – hatte ich meines Wissens nie zu Gesicht bekommen. Mit den eigenen Verwandten war meine Mutter zerfallen; Niemand kümmerte sich um mich, Niemand nahm sich meiner an, als der Herzog. Nun, er wünschte mich in seiner Nähe; er wünschte, daß ich Herrn von Trümmnau heirathete, und so habe ich ihn geheirathet.“

Das war eine lange Erklärung, durch die für mich nichts klar wurde, als daß der Herzog das Glück seines Kindes, nachdem er den Frieden des Hauses, welches ihr Elternhaus hätte sein sollen, zerstört, seinem eigenen Interesse rücksichtslos geopfert hatte. Dann freilich hatte er sie nicht ganz „in seiner Nähe“, ganz für sich, die schöne liebenswürdige Tochter, die in der prächtigen Villa, welche er ihr geschenkt, nur für ihn blühte, während ihr alternder Gatte an fremden Höfen die nutzlosen Tage und Jahre verzettelte und jetzt bereits seit Jahr und Tag bald hier bald da im Süden lebte, „die angegriffene Gesundheit womöglich zu kräftigen“.

„Ich weiß nicht, was Du willst,“ sagte Adele, wenn sie mir wieder einmal solche Gedanken, die ich nicht äußern durfte, von der Stirn gelesen; „mehr als glücklich kann man doch nicht sein, und ich bin es ja in einem Maße, daß ich den lieben Gott alle Morgen bitte, er möge ein Auge zudrücken und mich kleinen Nestvogel in seiner Gnade so ruhig weiter singen und flattern lassen. Nun hat er mir noch in meine fröhliche Einsamkeit einen jungen Freund geschenkt, der mir den Bruder ersetzt, nach dem ich mich all mein Leben lang schmerzlich gesehnt habe und der wirklich ein lieber prächtiger Junge und so recht nach meinem Herzen ist, wenn er nur das abscheuliche melancholische Wesen lassen wollte, das ihn immer zur Unzeit und am unrechten Orte befällt, – nämlich in meiner Gegenwart, während er in der Gesellschaft seiner Herren Freunde, höre ich, ein sehr munterer und ausgelassener Kamerad sein soll, der so leicht kein Spiel verdirbt. Da sehe ich doch wahrhaftig nicht ein, weßhalb er mir just mein harmloses verderben muß.“

War ihr Spiel wirklich so harmlos? Die Quelle ihrer Fröhlichkeit und was den kleinen Nestvogel, wie sie sich nannte, so aus voller Lust erquicklich singen und so lustig flattern machte, war es wirklich nur ihr angeborenes lebenskräftiges Temperament? ich hätte nicht in den Jahren stehen müssen, wo Man gewohnt ist, alles Glück und Leid der Welt nach dem Stande seiner eigenen Herzensangelegenheiten zu bemessen, und mein Herz hätte nicht so tief getroffen sein dürfen, wollte sie, daß ich mich dabei beruhigte und nicht vielmehr ruhelos nach der wahren verborgenen Quelle ihres Glücks spähte, die doch keine andere sein konnte als die Liebe; in diesem Falle eben eine der Gegenliebe gewisse Liebe. Aber umsonst zermarterte ich mich in spürender Eifersucht. In ihrer Umgebung war Niemand, den ich mit meinem Verdachte auch nur im Vorübergehen hätte beehren können. Dann wurde mir wohl ein Herr von Pahlen genannt, ein russischer Officier, der in irgend einer diplomatischen Mission vor vier Jahren sich mehrere Wochen an unserem Hofe aufgehalten hatte und von ihr ausgezeichnet sein sollte. Aber selbst die Nachrichten meines allwissenden Mentors über diesen verdächtigen Punkt lauteten sehr unbestimmt, und wenn ich, was ich nicht unterließ, bei einer schicklichen Gelegenheit ihr gegenüber des genannten Herrn (von dessen Liebenswürdigkeit ich Wunderdinge gehört!) erwähnte, nahm sie das so unbefangen auf, wußte von dem famosen Russen noch ein paar harmlose Geschichten so harmlos zu erzählen – nein, der Russe war es sicher nicht. Ich mußte schon die Stunde abwarten, die mir das Räthsel löste.

Als ob das Schicksal nicht beschlossen hätte, daß mir diese Stude nur zu bald kommen sollte! Als ob nicht vorauszusehen gewesen wäre, daß diese Stunde die letzte meines eigenen Glückes sein mußte – alles dessen, was ich für beseligende Wirklichkeit nahm und das doch nichts war – für mich nichts war und nichts sein konnte, als eine geschminkte Lüge und ein eitler Traum!


6.

Aber heißt, so hart aburtheilen über diese Phase meines Lebens, nicht, das Kind mit dem Bade ausschütten? Sind die Irrgänge der Jugend Irrgänge für die Jugend selbst, oder nicht vielmehr für uns, die wir die Jugend hinter uns haben und von [320] dem erhöhten Standpunkte aus den geraden Pfad sehen, den wir hätten gehen müssen? Und auch gehen können? O ja, wenn wir eben nicht jung gewesen wären! Und den wir wahrscheinlich schon um deßhalb nicht gehen durften, weil wir sonst alle die Erfahrungen nicht gesammelt hätten, von deren Höhe wir mit so weisem Kopfschütteln auf jene Irrgänge herabblicken, in welchen die Dornen uns so tiefe Wunden rissen, daß uns die Narben bei bösem Gemüthswetter noch heute schmerzen. Und in denen so viel blaue Wunderblumen blühten, die das dankbare Herz nicht vergißt und nie vergessen kann, weil ihr Duft geblieben ist und uns noch heute in der Erinnerung berauscht!

Nein, gute, herzige Adele, meine Liebe zu Dir war keine geschminkte Lüge! Was Du darin gefehlt hast, Du hast es gut gemeint, und es kann Dir daraus kein Vorwurf gemacht werden, daß Du in der sicheren Reinheit Deiner Liebe die Gefahr nicht sahst, in welcher der Unwissende von Anfang an schwebte und in die er sich so fürchterlich verstricken mußte. Und mein Fehl – vielleicht soll die Moral es mit gewissen Dingen nicht schwerer nehmen, als es die Natur zu thun scheint; ich meine, uns nicht mit der Verantwortung für etwas belasten, das erst zum Verbrechen wird, wenn die Binde fällt, mit der die Natur, als sie uns in das Leben entließ, unsere Augen umhüllte.

Dennoch fehlte es mir an Warnungen nicht, die meine Leidenschaft hätten stutzig machen sollen; aber ich kann der Natur nicht die Ehre geben, daß sie es gewesen wäre, von der die Warnungen ausgingen.

Ich hatte Adele in letzter Zeit wiederholt weniger heiter gefunden, als sonst immer; dann hatten sich diese ernsten Stimmungen vertieft und waren häufiger aufgetreten; zuletzt kamen ganze Tage, in denen ich kaum einmal das alte liebe, herzige Lachen von ihren Lippen hörte. Ich drang geraume Zeit vergeblich in sie, mir zu sagen, was es sei. Aber endlich hatte ich sie einmal in Thränen gefunden und der Anblick mich so außer mir gebracht, daß sie, um mich nur zu beruhigen, halb wider Willen, wie mir schien, meinem Drängen nachgab. Sie wollte sich von ihrem Gatten scheiden lassen. Mit dem Gedanken hatte sie sich schon längst getragen; es waren auch bereits einleitende Schritte geschehen, denen sie aber keine Folge geben konnte, weil sie sich die Freiheit mit der Hingabe ihres ganzen mütterlichen Vermögens erkaufen sollte. Der Mann, dessen Namen sie führte, wollte es billiger nicht thun. Dann aber wäre ihr nur geblieben, was sie der Güte des Herzogs verdankte: die Villa und was er ihr sonst im Laufe der Jahre geschenkt – genug, daß sie damit standesgemäß hätte weiter leben können – in der Möglichkeit der Ungnade des Herzogs. Vielmehr in der Gewißheit dieser Ungnade. Der Herzog hatte sich dem Scheidungsprojekt gegenüber schwankend gezeigt, indem er anfangs nichts davon hören wollte, dann eine halbe Einwilligung gab, die er heute Vormittag, als sie auf endliche Entscheidung gedrungen, ganz zurückgezogen hatte. Das war der Grund ihrer Thränen gewesen, die nun reichlich wieder hervorbrachen, als sie mir am Abend im Wäldchen, wo unsere erste denkwürdige Unterredung stattgefunden und das seitdem mein Lieblingsplatz geblieben war, diese Mittheilungen machte. Wir saßen neben einander auf der Bank. Ihr schönes Haupt war auf meine Schulter gesunken; ich hatte den Arm um ihren Leib gelegt, bebend vor Wonne und doch nicht wagend, sie fester an mein pochendes Herz zu ziehen, in dem bitteren Gefühl, daß es nicht Liebe sei, was mir diese Gunst gewährte, nur der Schmerz, der bei mir, wenn nicht Hilfe, so doch Trost suchte. So bemühte ich mich denn, die Weinende zu trösten: der Herzog werde nicht unerbittlich sein; was sie bitte, sei ja doch nur ihr gutes Recht, das ihr der Herzog um so weniger vorenthalten könne, als gerade er es gewesen, der sie, die Unschuldige, Unerfahrene, von jedem Rath, jeder Fürsorge Anderer Verlassene, durch seine Autorität, durch seinen Machtspruch in diese unerträgliche Lage getrieben habe.

„Das ist es ja eben,“ sagte sie, ihren Kopf von meiner Schulter hebend und sich die Thränen trocknend. „Er sieht nichts Unerträgliches in meiner Lage. Er begreift nicht, weßhalb ich nicht so weiter leben könne, leben wolle, wie bisher. Ich habe ihm erwidert, das Märchen, daß Trümmnau seiner Gesundheit wegen jahraus jahrein in Monaco spielen müsse – denn weiter thut er da unten nichts – könne doch nicht ewig aufrecht erhalten werden. Er müsse doch einmal zurückkommen, und was dann? – ,Dann ist es so wie früher,‘ erwiderte er; ,ihr lebt eben so neben einander.‘ – Nein, sage ich, es ist nicht so wie früher, denn ich bin nicht mehr, wie ich früher war. Wenn ich jenes gräßliche Nebeneinanderhergehen damals ertrug – heute, nachdem ich jahrelang unbehelligt habe leben dürfen, heute, nachdem ich über so Manches anders denke, als ich damals gedacht habe, ertrüge ich nicht mehr, was ich jetzt als Unanständigkeit und eine Schmach empfinde.“

„Hast Du ihm das gesagt?“ rief ich.

„Ja,“ erwiderte sie nach einigem Zögern.

„Und er will Dich dennoch zu dieser Schmach zwingen?“

„Er hat die Achseln gezuckt und gesagt, die Sache sei nicht so schlimm, wie ich sie mache, und wenn da wirklich ein Opfer von meiner Seite zu bringen wäre, so glaube er, dies Opfer beanspruchen zu dürfen.“

„Aber das ist ja doch die abscheulichste Tyrannei,“ rief ich empört, „und einen Menschen zu tyrannisiren, dazu hat Keiner das Recht, er sei auch, wer er sei, und stehe zu dem Menschen in einem Verhältnisse, in welchem er wolle. Dann freilich bleibt Dir nichts übrig, als der Gewalt mit Gewalt zu trotzen. Du bist sein Sklave nicht. Wenn er Dir das Recht eines freien Menschen verweigert, so holst Du es Dir an einer anderen Stelle – sein Herzogthum ist Gott sei Dank nicht Deutschland. Und wenn Du dies Alles hier zurücklassen und mittellos in die Fremde gehen müßtest, ich gehe mit Dir, und wäre es bis ans Ende der Welt. Ich will für Dich arbeiten, daß mir das Blut aus den Nägeln spritzt: ich will für Dich betteln, wenn es sein muß.“

„Und stehlen und morden, nicht wahr? Du Wilder, Du – lieber Kerl!“

Sie hatte mir beide Hände auf die Schulter gelegt, mich, durch Thränen lächelnd, anblickend, und so gab sie mir einen herzlichen Kuß. Ich taumelte von meinem Sitze auf. Sie war zu gleicher Zeit aufgestanden und sagte, meinen Arm nehmend:

„Komm! laß uns ein wenig promeniren! Wir haben uns da beide in eine Aufregung hineingesprochen, welche die Sache am Ende wirklich nicht verdient. Denn darin muß ich ja dem Herzog Recht geben: so eilig ist es nicht. Wenigstens amüsirt sich Trümmnau vorläufig noch ganz gut in Monte Carlo und wird sich auch weiter amüsiren, vorausgesetzt, daß der Herzog fortfährt, ihm seine Spielverluste zu decken. Manchmal wünsche ich freilich, Trümmnau’s Ansprüche steigerten sich derart, daß sie der Herzog beim besten Willen nicht mehr befriedigen kann, und es dann, so oder so, zur Entscheidung kommt. Daß sich der Herzog in der letzten Stunde gegen mich entscheiden sollte, kann ich mir nicht denken. Dazu ist er zu gutmüthig und hat mich auch viel zu lieb.“

So sprach sie, schon wieder in dem alten herzigen Plauderton; ich hörte stumm und verdrossen zu. Wenn die Sache so stand, wenn sie sicher war, daß der Herzog, mochte er sich jetzt noch so sehr sträuben, zuletzt nicht Nein sagen werde, weßhalb dann diese Sorge und Angst? weßhalb dann diese Verzweiflung, diese heißen an meiner Brust vergossenen Thränen? Auch sonst hatte der Herzog so Unrecht nicht: sie konnte warten, bis der Herr Gemahl da unten rebellisch wurde. Es hatte ja gar nicht den Anschein – sie gab es ja selbst zu – daß das so bald eintreten würde. Und wenn es eintrat und er zurückkam: seine Zimmer in dem großen Hause standen immer unbenutzt: sie betrat dieselben nie; sie brauchte sie auch hernach nicht zu betreten. Sie mochten so „neben einander hinleben“, wie der Herzog sagte: was ging ihr dabei an ihrer Freiheit verloren? Und was an Freiheit sie bei der Scheidung gewinnen mochte, wem immer es zu Gute kam – ich war es sicher nicht. Wäre ich unsinnig genug gewesen, je daran zu zweifeln, der Kuß vorhin hätte mich eines Anderen belehren müssen. Ich hatte keine Erfahrung in diesen Dingen, bedurfte derselben aber auch nicht. Ich wußte, wie sie mich geküßt hatte, und wie ich sie geküßt haben würde, hätte ich gedurft.

„Und dazu kannst Du mehr, als irgend ein Anderer,“ sagte sie.

„Wozu?“

„Du bist verzweifelt unaufmerksam: den Herzog umzustimmen. Du darfst ihm jetzt schon sagen, was ihm Keiner sonst sagen darf. Und diese Deine Macht über – Dein Einfluß, wenn Dir das besser klingt, auf ihn, muß immer noch wachsen. Ja, ich

[321]

Blüthenzeit, schönste Zeit.
Nach einem Oelgemälde von F. Sperl.

[322] hoffe mehr; ich hoffe, und das ist mir ein gar lieber Gedanke, daß die Zeit kommt, wo Du mich für ihn entbehrlich machst, mich bei ihm ersetzest, und mehr als das. Was er braucht, ist ein Freund. Eine Freundin, eine Frau, und wäre sie zehnmal gescheiter und geistreicher, als ich arme unwissende, dumme Person, kann dem Geistreichen nicht folgen, wo er es am meisten braucht, am dringendsten verlangt, um nun seine Einsamkeit und, Verlassenheit erst recht und sich doppelt unglücklich zu fühlen.“

„Weil er sich unglücklich fühlen will,“ rief ich: „weil er aufhören müßte, sich als Herzog zu fühlen in dem Augenblicke, wo er sich nicht mehr einsam und verlassen wüßte, und deßhalb sorgfältig darüber wacht, daß dieser Augenblick doch nur niemals komme! Und ich soll das Kunststück fertig bringen, das Du Dir nicht zutraust? Ich versichere Dich, daß ich nicht um ein Haar breit mehr Einfluß auf ihn habe, als Renten oder irgend Einer von den Anderen; sogar weniger als sie, weil ich nicht so klug bin wie sie, und mit Ja und Nein und Nein und Ja Fangball spielen kann wie sie.“

„Das glaubst Du ja selbst nicht,“ sagte Adele; „aber ich habe Dich mit meinen albernen Geschichten aufgeregt und werde mich ein ander Mal besser vorsehen. Jetzt gehst Du nach Haus und schreibst eine Scene in Deinem ‚Münzer‘, so eine, in der es recht fürchterlich über die armen Fürsten hergeht. Einen Handkuß erlaube ich Dir heute auch nicht mehr. Du bist unartig gewesen? Geh’!“

Und ich ging, Wuth und Verzweiflung im Herzen, mir zuschwörend, daß ich niemals wieder ihre Schwelle überschreiten wolle. Und dem Herzog schreiben wolle, zum Fürstendiener sei ich nun einmal nicht geschaffen, und zu einem Spielzeug halte ich mich für zu gut. Er solle sich ein anderes suchen und –

„Das glaubst Du ja selbst nicht,“ hörte ich in Adelens ruhig klarer Stimme.

Nun gut: dazu hatte ich vielleicht nicht den Muth. Aber eine Scene im „Münzer“ wollte ich schreiben und ihm zu lesen geben, die mir den Absagebrief ersparen sollte!

„Das glaubst Du ja wieder nicht,“ sagte die klare Stimme.

Nein, ich glaubte es wieder nicht. Er würde mich deßhalb so wenig fortjagen, wie er es gethan trotz aller ähnlichen Veranlassungen, die ich ihm bereits gegeben, und bei denen er nie den Herzog herausgekehrt hatte, sondern immer der großherzige geistreiche Mann und freundliche Berather geblieben war.

Oder log ich mir vielmehr das jetzt vor und legte mir die Dinge zurecht, wie sie liegen mußten, und sah die Personen, wie ich sie sehen mußte um Adele’s willen? Und wie sie nicht lagen und nicht aussahen, sobald ich Adele aus der Rechnung ließ, die dann auf keine Weise mehr stimmte?

Aber was war denn ich für sie, die mir Alles war und die Angel, in der sich für mich diese ganze höfische Welt drehte – was war ich für sie? Ein Nichts, ein Pudel, mit dem man spielt und den man ins Wasser schickt, wo es für Einen selbst zu tief wird; ein lieber Junge im besten Fall, bei dem man sich ruhig ausweinen kann, weil er ja doch geduldig still hält, und dem man nachher zur Belohnung einen Kuß giebt. Einen Kuß, mit dem man eben – liebe Jungen küßt, nicht bloß im Abendschatten verschwiegener Bäume, nein! vor aller Welt küssen dürfte, vor den Augen auch des Mannes, den man liebt, und der ja besser weiß, wie ihre Küsse brennen, ihre wahren Küsse!

So in den Alleen, den verschlungenen Gängen des Parkes, über den bereits die Nacht herabsank, irrte ich ohne Rast und Ruhe. Schon ein paarmal war ich am Schlosse gewesen und immer wieder umgekehrt in den Park hinein auf ihre Villa zu, bis ich das Licht aus den Fenstern schimmern sehen würde. Arme unglückliche Motte, ich! Als ob ich mir nicht schon die Flügel so arg verbrannt hätte! Was wollte ich denn noch? Ihre Verzeihung erbetteln? Nun, die würde sie mir wohl gewähren und, wenn ich gar sehr bettelte, noch einen Kuß! den ersten und – letzten! Das wußte ich! So hatte ich sie doch einmal geküßt, einmal an mein Herz gedrückt –

Nein, nein! auf diesem Wege lag Wahnsinn! Zurück, Unglücklicher, wenn Du noch einen Funken von Stolz in dir hast! wenn du dich nicht auf ewig verachten und hassen sollst, wie du dich ihr verächtlich und hassenswerth gemacht hättest!

Und bereits wieder – zum zehnten Male vielleicht – angesichts der Villa, aus deren Salon jetzt wirklich das Licht der Lampe von ihrem Arbeitstische schimmerte – ich kannte die Stelle so genau! – kehrte ich um wie Einer, der ein Verbrechen begehen will und den plötzlich der Muth zur That verläßt. In halber Sinnlosigkeit war ich so schon eine Strecke fortgerannt, bevor ich merkte, daß ich nicht den Weg zum Schloß, sondern zur Stadt eingeschlagen hatte. Die Wege glichen sich freilich sehr und der eine war so einsam wie der andere. Es war ja auch ganz gleich, wohin ich ging. An Arbeiten war doch nicht zu denken. Der Herzog, der morgen in der Frühe auf acht Tage nach Berlin wollte und in sehr ungnädiger Stimmung war (er war es immer, wenn er nach Berlin mußte), hatte für heute Abend jede Gesellschaft abgesagt. Ich hatte eine dunkle Erinnerung an ein Rendezvous, das ich mir mit Renten und dem Lieutenant von Brink in einem Restaurant der Stadt gegeben. Also zur Stadt!

Plötzlich stand ich still. Auf dem immer noch völlig verlassenen Wege kam mir Jemand sehr raschen Schrittes entgegen. Es mochte Renten sein, der mich von Frau von Trümmnau abzuholen kam. Mit meinem schlechten Gewissen wollte ich aber gerade jetzt nicht von daher kommen; lieber mochte er sich dort sagen lassen, daß ich bereits seit einer Stunde fort sei. Dies und was es sonst noch war, ging mir durch die Seele, und in demselben Moment hatte ich mich, der ich so schon hart am Rande des Weges schritt, an den dicken Stamm eines Baumes gedrückt, bereit, im Falle mich Renten doch bemerken sollte, einen Scherz aus der Sache zu machen. Aber der da kam, bemerkte mich nicht, und es war nicht Renten. Als der Mann ein wenig an mir vorbei war, hatte ich in dem Dämmerschein des Mondes, der eben jetzt durch die Wipfel zu scheinen begann, seine Gestalt hinreichend deutlich gesehen. Es mußte ein Fremder sein. Ich kannte ja so ziemlich Jeden in der kleinen Stadt, und auch die Tracht war anders gewesen, wenigstens kein sommerlicher Promenadenanzug, eher ein Reisekostüm. Vor einer Viertelstunde hatte der Eilzug auf der großen Linie von Norden nach Süden die Stadt passirt. Jemand, der so schnell ging, wie der Fremde, konnte sehr wohl die Strecke vom Bahnhof durch die Stadt auf dem kürzeren, ja auch um die Stadt herum auf dem längeren Wege durch den Park zurückgelegt haben. Was aber suchte er hier, wo auf herzoglichem Terrain kein Haus mehr lag, nur noch Adele’s Villa?

(Fortsetzung folgt.) 


Noch heute „das geheimnißvolle Grab“.

Neue Studien und alte Erinnerungen von Friedrich Hofmann.
(Fortsetzung.)


Für den Genuß der frischen Luft im Freien sorgte der Graf noch in anderer ebenfalls außerordentlicher Weise. Er miethete vom Pächter einen von Buschwerk und alten Weidenstämmen umgebenen Grasgarten unweit des Schlosses, den er mit Fichtenreisig und Dornbüschen noch dichter umgeben und durch eine acht Fuß hohe Brettereinfassung ringsum für jedes Späherauge unnahbar machen ließ. Der Weg vom Schloß führte über eine Brücke (über den Rodachbach) und einen Steg über einen alten Wallgraben zum Garteneingang. Der Thür gegenüber versperrte eine Hecke den Einblick in den Garten, in welchem zur Linken und Rechten Kieswege der Umzäunung entlang liefen. Einige Ziersträucher und Blumengruppen in der Mitte der Rasenfläche deuteten an, daß man sich in einem Garten befinde. Sollte nun die Promenade der Gräfin beginnen, so stellte die Botin sich vor die Schloßthür und schritt, sobald sie merkte, daß die Gräfin das Schloß verlassen hatte und hinter ihr stand, vorwärts, ohne sich umzusehen, bis an die Gartenthür. Diese schloß sie auf und nahm eine solche Stellung hinter der Thür ein, daß sie die in den Garten schlüpfende Gräfin nicht sehen konnte. Während der Gartenpromenade, die, je nach Jahreszeit und Witterung, ein bis zwei Stunden dauerte, stand der Graf mit Fernrohr und Gewehr am Fenster Wache. Wollte die Gräfin ins Schloß zurück, so warf sie ihr Taschentuch in die Höhe, der Graf gab der Botin ein Zeichen, und der Herweg wurde in derselben Weise wie der Hinweg zurückgelegt.

Wir kommen nun zu einem sehr dunklen Punkt, zu der Frage: womit beschäftigte sich das eingeschlossene, stets nur auf sich selbst angewiesene Weib in all den Stunden, welche nicht durch Schlafen, Essen und Trinken, Spazierenfahren oder die Gartenpromenaden ausgefüllt worden sind? [323] Auf welchen Bildungsgrad ist nach Allem zu schließen, was man aus ihrem Munde gehört hat und was man in ihrem Nachlaß fand?

Kann man doch nicht einmal herausfinden, welches ihre Muttersprache war. Ist sie eine Französin gewesen, welche Deutsch erst gelernt hat, oder keine Französin, so daß es als Hinweis auf höhere Bildung gelten könnte, wenn der Graf von ihr sagt: „Sie sprach sehr gut französisch“?

In des Grafen Absicht lag offenbar die Verbreitung der letzteren Annahme. Deßhalb theilte er der Wittwe des Pfarrers Kühner (mit welcher er die mit ihrem Manne gepflogene Korrespondenz bis zu seinem eigenen Ende fortsetzte) einst einen Brief mit, welchen die Dame schon am 22. September 1808, also in der ersten Hildburghäuser Zeit, ihm zum Geburtstag geschrieben haben soll und auf den er so hohen Werth legte, daß er „ein solches Blatt nur der schwesterlichen Treue seiner Korrespondentin anvertraute.“

Ich habe diesen Brief in der Hand gehabt. Er war wie von unbehilflicher Kindeshand geschrieben und voller Fehler. Auffällig war gleich die Anrede: „Lieber guter Ludwig!“ Diesen Taufnamen des Grafen haben wir nirgends wieder gefunden. Der Brief fährt fort: „Ich wünsche Dir zu Deinem Geburtentage viel Glück und Segen etc.“ Beachtenswerth ist der Schluß: „Ich weiß, daß meine Lage schrecklich war und ich danke Dir nochmals. Behalte mich lieb, lieber Ludwig. Ich verbleibe im Schutze Maria’s und dem Deinen! Deine arme Sophia bis ins Grab.“

Diesem deutschen Briefe widerspricht jedoch das römisch-katholische Gebetbuch der Dame, das ein französisches war: „La dévotion journalière etc.“, gedruckt 1756. Erbauungsbücher wählt man doch nur in der Muttersprache. Daher ist es höchst gewagt, die Gräfin wegen ihres guten Französisch emporzuheben. Man kommt in Gefahr, neben jenen klugen Mann gestellt zu werden, der sich so sehr darüber wunderte, daß in Paris die kleinen Kinder auf der Straße schon französisch sprechen.

Wenn aber der Graf in derselben Mittheilung sagt, daß die Dame „nur ein Mal im Jahr mit der Feder schrieb und nach ihrer vorletzten Krankheit auch dies unterließ“, so wirft dies ein böses Licht auf das geistige Leben der „armen Sophia“. Und wenn ich an das Spielzeug gedenke, das mir als von ihr benutzt auf dem Berggarten gezeigt worden ist, so kann ich nicht mehr daran zweifeln, daß ein vielleicht glücklich begabter Geist durch die Qual der entsetzlichen Einsamkeit endlich verkümmert und verkommen ist. Man bedenke nur Eines! Vergeblich habe ich früher auf dem Berggarten und jetzt wieder bei Dr. Human nachgeforscht, ob denn die Dame gar keine weibliche Bedienung gehabt habe. Niemand weiß etwas davon. Wir wissen nur, daß erst auf ihrem Sterbebette die Botin ihr als Pflegerin zugelassen wurde, und wir wissen auch, daß diese für solches Vertrauen acht Jahre lang das Schloß nicht verlassen durfte und einen gewissensschweren Tod zu erleiden hatte. Aber war es denn möglich, daß die Dame beim Anprobiren und Anziehen der vielen neuen Kleider allein fertig werden konnte? Oder bediente der Herr Graf „Allerhöchst-Sie“ auch als Kammermädchen, wie man ja weiß, daß er sie oft auf einem Rollstuhle durch alle Zimmer fuhr? Ich frage jedes Frauenherz: welche Freude konnte das eingeschlossene Weib in all der Kleiderpracht haben, wenn sie die Lust an der Beschauung und die Bewunderung der Pariser Herrlichkeiten mit keinem andern weiblichen Wesen theilen durfte? Wenn ihr nichts möglich war, als in dem neuen glänzenden Staat höchstens vor den Augen ihres „Herrn Ludwig“ durch die vielen Zimmer zu spazieren oder tief verschleiert im verhängten Wagen damit auszufahren? Mußte unter solchem Drucke nicht nach und nach der Geist, der nach Unterhaltung, nach Zeitvertreib suchte, bis zum Kindischen hinuntersinken?

Man wirft zwar ein, daß der Graf für die Dame Jahre lang die „Leipziger Modezeitung“, das „Journal des Dames“ gehalten und daß sie auch französische und deutsche Klassiker gelesen habe. Jene Zeitungen haben doch wohl nur wegen der Modebilder Interesse gehabt; für die Lektüre deutscher Klassiker bringt man ein einziges Beweismittel auf: im Nachlaß der Gräfin fand sich ein Heftchen der Groschenbibliothek, welche, damals vom Bibliographischen Institut, das 1828 von Gotha nach Hildburghausen übergesiedelt war, in Hunderttausenden von Exemplaren gedruckt und verbreitet wurde. Auch dieses Heftchen habe ich in der Hand gehabt, kann mich auf den Inhalt aber nicht mehr entsinnen und weiß nur, daß einzelne Verse mit Bleistift stark angestrichen waren. Womit will man aber beweisen, daß diese Striche von der Gräfin herrühren und daß sie das Heftchen selbst gelesen hat? Der Graf hatte acht Jahre Zeit, in das für die Dienerschaft stets verschlossen gehaltene Zimmer der Dame abzulegen, was er einst dort finden lassen wollte, wie er Manches daraus entfernte, was eben nicht dort gefunden werden sollte. Dafür gleich ein Beispiel.

Wenn es irgend Etwas gab, das einer zur Einsamkeit gezwungenen Seele in würdigster Weise Unterhaltung Trost und Erhebung bieten konnte, so war es die Musik. Wirklich erzählte der Graf, daß die Dame in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes bei ihm Klavier gespielt habe. Nach Eishausen kam ein solches Instrument nicht, dagegen weiß Kühner, daß in einem Hinterzimmer des Schlosses eine – Drehorgel stand. Dieses Instrument hat sich dann allerdings im Nachlaß der Dame nicht vorgefunden. Aber gehört hat man es doch wohl, wie man oft auch ein äußerst helles Lachen der Dame gehört haben will, das man der Lustbarkeit zuschrieb, wenn sie einige ihrer vielen Katzen in einem Kinderwagen von ihren Hunden durch die Zimmerreihen fahren ließ. Der Nachlaß bezeugte diese Freuden durch die blauen Halsbänder der Katzen mit den eingestickten Namen derselben, wie Agathe, Zemira, Lilli, Jette etc. Und wenn sie dieses Spieles satt war, so spielte die Arme mit dem vielen Geld, das ihr immer zufloß, ohne daß sie es verwenden konnte. Sie nähte sich viele Seidenbeutelchen zusammen, in welche sie alle die Friedrichsd’or, holländischen Dukaten, Kronen- und preußischen Thaler, Species und Silberkreuzer steckte und die man in allen Ecken ihres Zimmers umhergestreut fand. – Und zwischen diesen Spielereien der Verzweiflung in der trostlosen Einsamkeit – wer zählte die ernsten Stunden, von welchen diese arme Seele gemartert werden mußte, sie, die nicht einmal in der Einsamkeit der Natur ihre schwermüthigen Lieder so laut singen durfte, daß ein anderes Menschenohr sie hätte erlauschen können! –

Der Tod war endlich ihr Erlöser. Sie war am 25. November 1837, Abends zehn Uhr, gestorben, – wie man sagt, in Folge einer Erkältung, die sie sich an einem rauhen Herbsttag in dem sogenannten Garten zuzog. Der Graf hatte ihr Zeichen zur Rückkehr übersehen, und als man sie endlich suchte, war sie ohnmächtig zusammengebrochen. Trotz alledem wurde kein Arzt gerufen und noch weniger ein Geistlicher: die Arme nahm, wie Squarre und die Botin, das Geheimniß ihres Lebens mit in die Gruft. – Aber derselbe schwere Tod wartete auch auf ihn! –

Das Begräbniß der „Frau Gräfin Vavel“, wie die Todte noch in dem Bericht genannt wird, welchen vor der herzoglichen Ephorie zu Hildburghausen der Todtengräber Knoll darüber zu Protokoll gegeben, fand am 28. statt, nachdem die Eishäuser Leichenfrau drei Tage und drei Nächte bei der Todten Wache gehalten hatte. Früh vier Uhr wurde der Sarg, in welchen am Abend vorher die Leiche, ohne Anwesenheit des Grafen, gebettet worden, auf den Hildburghäuser Leichenwagen gebracht. In einem zweiten Wagen nahmen die beiden Diener des Grafen, Gebrüder Schmidt, und die Leichenfrau Platz. Sechs Träger begleiteten mit Fackeln die stille Fahrt durch Steinfeld und über den hohen Stadtberg hinüber. Sicherlich stand der nun befreite Wächter des Geheimnisses am Fenster und verfolgte mit dem Fernrohr den Zug, bis für ihn die letzte Fackel in der Nacht verschwand.

Gegen sechs Uhr kam der Zug auf der Marienstraße an der Stelle an, wo der Weg zum Berggarten hinaufführt. Hier wurde der Sarg auf eine Bahre gehoben und nun an einem mir wohlbekannten alten Holzbirnbaum vorüber hinauf ins Haus getragen. In der Halle ließ der ältere Schmidt nun den Sargdeckel aufheben, bis Alle die Leiche gesehen hatten. Dann trug man den Sarg an die Gruft – und versenkte ihn ohne einen Klang von Trauermusik, ohne einen Ton Gesang, ohne einen letzten Spruch des Segens. Nur der Todtengräber „hat ein Vaterunser gebetet und das Grab bedeckt und die Erde geordnet“. Es ist ein wohlthuendes Gefühl, daß die stille Stätte an den treuen Dienern Schmidt und seiner Frau wenigstens liebevolle Pfleger gefunden, sonst müßte man auch hier ausrufen:

„O Gott, wie muß es einsam sein
In einem solchen Grabe!“

Diesem stillen Frieden gegenüber war im Schlosse des Grafen stürmische Unruhe eingedrungen. Seine Aeußerung gegen die Dienerschaft, als die Gräfin todt war: „Was sage ich nun, sie war doch nicht meine Frau?“ – lag auch in der Antwort, die er dem Pfarramt gab, als dasselbe nur den Leichenschein und die Personalienangabe der Verstorbenen bat, und welche lautete: Man möge ihm die Namhaftmachung erlassen, die Verstorbene sei nicht seine Gemahlin gewesen, er habe sie nie dafür ausgegeben. Um so mehr fand nun das Hildburghäuser Kreis- und Stadtgericht sich verpflichtet, einzuschreiten. Dies voraussehend hatte der Graf den „seiner Gefährtin eigenthümlich gehörigen Nachlaß“ in einem Zimmer nach Südost aufspeichern lassen, wo derselbe auch verzeichnet und versiegelt wurde; er selbst ließ sich wegen seiner Abwesenheit von dieser Procedur bei der Gerichts-Deputation mit seinem Unwohlsein entschuldigen. Als aber das Gericht auf Mittheilung der Personalien der Verstorbenen drang, erklärte er: „Keine Macht der Erde soll mir mein Geheimniß entreißen; ich nehme es mit ins Grab!“ Er besteht zugleich auf unbedingte Entsiegelung des Nachlasses, weil er das „dem Andenken der Verstorbenen schuldig sei“. Endlich muß er doch den Anforderungen der Gesetze sich fügen, und so läßt er sich zu einer Angabe unter der Bedingung herab, daß sie bis nach seinem Tod geheim gehalten, namentlich zu keinem gerichtlichen Aufruf nach den Erben benutzt werde. Und worin besteht diese Angabe? Mit ihr schrumpft das große Geheimniß, schrumpft „Allerhöchst-Sie“ mit all der fürstlichen Kleider- und Schmuckpracht, Haltung und Bedienung zusammen in eine einfache: „Sophie Botta, ledig, bürgerlichen Standes, aus Westfalen, 58 Jahr alt.“ – ! –

Ob diese Enthüllung Glauben fand? Wir bezweifeln es, aber dennoch geschah die Entsiegelung, der Graf behielt den Nachlaß, zahlte den Taxwerth, der gerichtlich deponirt wurde, und Ediktalien für die Erben unterblieben aus Rücksicht auf den Wohlthäter des Landes „bis auf Weiteres“.

Die äußere Beunruhigung des Grafen hatte nun ein Ende, ob auch die innere? Man hat Anzeichen, dies zu bezweifeln. Von dem Augenblick an, wo er die als „Gräfin“ geehrte Mitbewohnerin des Schlosses für eine „ledige und bürgerliche“ Dame aus Westfalen erklärt hatte, war ein Schatten mehr auf den vom Geheimniß schon genug umdunkelten Mann gefallen und der lang unterdrückten Fama im Volke die geschwätzige Zunge gelöst. Der Graf fühlte offenbar die Nothwendigkeit, durch Annäherung an einen in den höchsten wie niedrigsten Kreisen verehrten Mann und durch Einblicke, die er demselben in seine Vergangenheit gestattete, einen Anhalt gegen den Wandel der öffentlichen Meinung zu finden. Dieser Mann war der schon genannte Obermedicinalrath Hohnbaum in Hildburghausen, dessen Urtheil wir sehr hoch zu halten haben. Er fand den alten Herrn zwar körperlich leidend, aber geistig stark, „von ungebrochener Willenskraft, bereit, das Aeußerste zur Bewahrung seines Geheimnisses zu wagen; der geistige Blick so frei und beweglich, wie der eines Mannes, der eben erst von dem dichtesten Marktgewühl des politischen und wissenschaftlichen Lebens heimkommt.“ Ich setze diese Anerkennung um so lieber hierher, als ich in die unbedingte Verherrlichung des Grafen, deren Kühner und Human sich beeifern, noch immer nicht einstimmen kann. Mit den größten geistigen Vorzügen, hoher Begabung, gründlicher Wissenschaftlichkeit, reicher Welt- und Lebenserfahrung und einer glänzenden Beredsamkeit – ist auch die Eigenschaft eines selbst zur Grausamkeit gegen Andere fähigen Egoisten vereinbar; und daß ein Mann, welcher mit so unerschütterlicher Festigkeit, wie der [324] Graf, nur ein Ziel im Auge hat, im rücksichtslosen Dienst für dasselbe es auch mit der Wahrheit nur so lange halten kann, als nicht ihr Gegentheil für seinen Zweck geboten ist, – auch dafür bietet die Geschichte des Geheimnißvollen Belege. Nicht den Arzt hatte der Graf gerufen, sondern den Mann voll hoher Lebensweisheit. Ihm erzählte er Das aus seiner Jugendzeit, was wir oben bereits angeführt haben. Er ging aber weiter, sagte, daß er in Weimar und Jena zu Schiller’s Zeit gewesen und mit Loder enger bekannt geworden sei. Endlich erwähnte er auch die Todte bei einer Reise nach Wien zu Kaiser Alexander. „Denken Sie,“ sprach er, „damals war die Dame schon bei mir; ich mußte unaufhaltsam mit Kurierpferden reisen; die Dame konnte ich nicht verlassen, sie mußte mich begleiten, und Niemand durfte ihr Dasein ahnen.“ – Später äußerte er: „Ich wollte Sie für die Kranke als Arzt rufen lassen, doch sie wollte das nicht, hätte auch Opfer von Ihnen verlangt“ – und als Hohnbaum erwiderte, ein Arzt sei gewohnt, Geheimnisse zu bewahren, fuhr der Graf auf: „Herr, Sie wissen gar nicht, welche Verantwortung Sie auf sich genommen hätten, wenn ich Sie zu dieser Dame geführt hätte!“ – Stimmt diese Bedeutung der Todten wirklich zu der bürgerlichen Mamsell Botta aus Westfalen?

Wenn auch der alternde Herr jetzt nicht mehr so oft, wie früher, mit dem Fernrohr zu den Fenstern eilte, wenn Frachtfuhren oder Post- und andere Wagen auf der Chaussée sich dem Dorfe näherten, so konnte er doch nie zur inneren Ruhe kommen. Wie sicherlich schon früher (bei der Vermeidung des persönlichen Verkehrs mit Pfarrer Kühner!) fürchtete er als die letzte Gefahr für sein Geheimniß – sich selbst! Klagte er doch nach der allerdings fünfstündigen Unterhaltung mit Hohnbaum seiner Korrespondentin: „Es geht mir wie den Nonnen; wenn sie einmal sprechen dürfen, so sprechen sie zu viel.“ Und wirklich erhielt Hohnbaum keine zweite Einladung. – Zu Anfang des Jahres 1843 bat er, zum Behufe einer Testamentserrichtung, den Chef des Hildburghäuser Kreis- und Stadtgerichts, Justizrath Rommel, zu sich. Auch dieser hat in dem Greis „einen sehr feinen, hochgebildeten und über seine Umgebung auf das Genaueste unterrichteten Mann“ zu bewundern; es entspinnt sich eine sehr anregende Unterhaltung, aber – war es Scheu vor einer Erörterung persönlicher Verhältnisse? – zu einem Testament kam es nicht.

Wir nahen dem Ende dieses Trauerspiels ohne Schluß. Von der Gicht heimgesucht, trat der Greis in das Jahr 1845. Als er die Gefahr seines Zustandes erkannte, stieg seine Unruhe von Tag zu Tag, und endlich sahen, hörten und – rochen die Diener, daß er in hastiger Thätigkeit war: er räumte auf! Der Geruch verbrannter Papiere durchdrang alle Räume. In den letzten Tagen und Nächten rief er oft den Namen seiner früheren Dienerin Johanna aus, der alten Köchin, welcher er 26 Jahre lang so Vieles erzählt hatte, die vor wenigen Wochen gestorben war und deren Tod ihn so sehr zu beruhigen schien. Sehr oft hörte man ihn sagen: „Daß ich doch zu keinem Entschluß kommen kann!“ Zu Johann Schmidt, der mit Frau und Kindern bereits im Schloß wohnte, ließ er auch die Schmidts vom Berggarten herbeiholen, und am 6. April befahl er Simon Schmidt mit Schreibzeug zu sich. Er wollte ihm seinen letzten Willen diktiren. Abermals vergebens, – der schwere innere Kampf dauert fort; am 7. befiehlt er, einen Boten zum Gericht zu senden, aber kaum ist der Bote auf dem Weg, so muß er zurückgerufen werden, und das wiederholt sich mehrmals, bis die Ermattung Herr über den Sterbenden wird. Da spricht er noch: „Wenn ich sterben sollte wird man einen öffentlichen Aufruf erlassen; darauf wird eine Dame kommen, denn der einzige männliche Erbe, den ich hatte, ist verunglückt, dann werdet Ihr sehen, daß für Euch gut gesorgt ist.“ Mit diesen Worten, von deren letztem, verheißenden Theil sich später nichts bewahrheitet hat, beschließt er sein Leben. (Schluß folgt.) 


Blätter und Blüthen.

Ludwig Börne’s Gedenktag. Am 6. Mai 1786 wurde als eines jüdischen Wechslers Sohn in Frankfurt am Main Ludwig Baruch geboren, der bei seinem Uebergange zum Christenthum den Namen Ludwig Börne annahm. Ein Jahrhundert ist seit seiner Geburt verflossen, fast ein halbes Jahrhundert seit seinem Tode (1837). Und noch immer ist sein Angedenken lebendig bei den Zeitgenossen: man ehrt in ihm einen unbeugsamen politischen Charakter, der in der Zeit des deutschen Bundestags anfangs die Principien des Liberalismus, später die des Radikalismus mit Begeisterung vertreten und wie wenige Andere den Haß der Metternich und Gentz auf sich geladen. So sehr die Zeiten sich geändert, so sehr das deutsche nationale Bewußtsein erstarkt ist, so wenig eine Schrift wie Börne’s „Menzel, der Franzosenfresser“ jetzt noch für den Ausdruck der herrschendenn Gesinnung gelten darf: Börne ist durch die Schärfe und Energie seines Stils, durch die Verschmelzung des Charakters und der politischen Richtung und Gesinnung, die er gerade deßhalb mit seltener Schlagkraft zum Ausdrucke brachte, ein leuchtendes Vorbild der späteren Publicistik geworden. Immerhin läßt es sich nur so erklären, daß ein Autor, der nie ein größeres zusammenhängendes Werk verfaßt, der nur Skizzen und Humoresken, Theaterkritiken, Reisebriefe und publicistische Artikel und Ergüsse veröffentlicht hat, einem so breiten Platz in unserer Litteraturgeschichte einnimmt. Wie anmuthend freilich sind seine Humoresken im Stil Jean Paul’s, dem er eine so glänzende Denkrede gehalten, wie einflußreich jene geistvollen dramaturgischen Berichte, die nicht nur damals Aufsehen erregten, sondern noch jetzt Muster sind für die geistreiche und witzige Feuilletonkritik, und welch ein Feuer politischer Parteibegeisterung lodert in seinen „Briefen aus Paris“! Er war ein Vorkämpfer der modernen Litteraturepoche, ein Patriot im Sinne des Tacitus, der die Schwächen seines Volkes und seiner Zeit geißelte, nicht mit schadenfrohem Hohne, sondern aus echter Vaterlandsliebe. So wird unsere mit Kränzen so verschwenderische Zeit wohl einen Kranz übrig haben für den Grabstein auf dem Père-Lachaise, das schlichte Erinnerungszeichen des vereinsamten deutschen Politikers, das sich schüchtern neben den glänzenden Mausoleen der französischen Staatsmänner und Generale erhebt. G.     

Blüthenzeit, schönste Zeit. (Mit Illustration S. 321.) Ich denke eines Frühlingsspaziergangs indem ich unser Früblingsbild betrachte. Vor Jahren war es. Ich wanderte einsam, abseits einer Stadt in ländlicher Natur. In der Nähe keine Menschenstimme, nur Ammernruf und Lerchensang und der stille, sonnige, geheimnißvoll sich entfaltende Lenz. Ich schritt einen Hohlweg mit mannshohen Böschungen entlang, rechts oben von einer Hecke aus Hainbuchengebüsch begleitet.

Da rührte es sich hinter der Hecke, und ich sah auf und sah hinter der undichten sprossenden Hecke grelle Farben von Kinderkleidern. Leise stieg ich aufwärts, denn ich belausche gern Kinder.

Im Durchblick sah ich, was mir unvergeßlich eingeprägt ist. Eine blumige Wiese, darin zwei Blumen pflückende Kinder. Fünf Schritte vor mir aber kauerte ein süßes Geschöpf von vier Jahren, ein Blondkopf mit ernsthaften großen, blauen Augen, steif wie eine wendische Bauernbraut bei der Brautschmückung, und eine ältere Gespielin kniete vor ihr und steckte ihr das Haar voll Veilchen, Gänseblumen und Butterblumen. Ernsthaft und schweigend wurde die Arbeit verrichtet. Die Schattenstreifen und Schattenflecken von der Hecke fielen auf die Gruppe, nur das runde Rosengesichtchen mit den Blumen über sich leuchtete von Sonne.

Ich machte eine unvorsichtige Bewegung, und die großen blauen Kinderaugen wandten sich zu mir her, und über das Gesichtchen lief ein strahlendes Lächeln.

Ich hätte es küssen mögen, dieses Kind, aber ich that es nicht. Ich stieg in den Hohlweg nieder, und mein Herz sprach:

Das ist der Frühling! V. B.     

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Sprechsaal.


Auf die Frage 10 unseres Sprechsaals, landwirthschaftliche Lehrinstitute für Damen betreffend, werden uns folgende Anstalten genannt:

Haushaltungs- und Molkereischule zu Roggenburg (Bayern);
Haushaltungsschule Klosterberg (geleitet von Schulschwestern de N. D.) für Mädchen am Maria-Hilf-Berg bei Amberg.

Zur Frage 13, die Reinigung der Fußböden von Lackanstrich betreffend, erhalten wir folgende Zuschrift: „Man kauft zuerst eine gute Reisbürste mit 8 bis 10 Centimeter hohem Rücken; gewöhnlich muß man sie erst machen lassen; der Rücken ist deßhalb so hoch, damit die Hände der Waschenden so wenig wie möglich mit dem Wasser in Berührung kommen. Dann kauft man beim Materialisten (oder Droguisten) für eine Mark (50 Kreuzer) „Aetznatron“. Davon thut man ein eigroßes Stück in ein Halbliter großes Töpfchen, gießt heißes Wasser darauf, schüttet’s nach einem Weilchen, wenn’s ein bischen zergangen ist, auf den Fußboden, reibt diesen tüchtig mit der Bürste, spült mit warmem Wasser und einem Waschfetzen ab und geht so Parkette um Parkette weiter, wäscht das Zimmer zwei- oder dreimal, bis der Boden desselben weiß ist.“ Eine Abonnentin in P.

Frage 14: Bei meinem Konversations-Lexikon (Halbfranz-Einband) sind schon seit längerer Zeit an verschiedenen Bänden auf dem Rücken und den Deckeln Spackflecke stark vorhanden und trotz sorgfältiger Behandlung nicht fortzubringen gewesen. Sollten dennoch diese Flecken nicht durch irgend ein Mittel zu beseitigen sein und die noch nicht damit behafteten Bände davor verschont werden können?

Frage 15: Wie kann man Schalen und Grus von geröstetem Kaffee verwerthen?



Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

A. O ... tz in D. Der von Ihnen genannte Bauverein hat sich aufgelöst. – Eine belehrende Schrift über Arbeiter-Bauvereine ist die folgende: F. Schneider. „Mittheilungen über deutsche Baugenossenschaften, mit Vorwort von Schulze-Delitzsch“. (Leipzig 1878, Julius Klinkhardt.)

Oberlahnstein. Die Namensunterschrift des die „Monatsschrift für Pilzkunde“ betreffenden Briefes ist so unleserlich, daß uns direkte Antwort unmöglich ist.

K. S. in Wien. Auf die betreffende Anstalt paßt das, was in dem Artikel „Briefliche Kuren“ gesagt worden ist. Wenden Sie sich an einen Arzt.

R. H. Wir danken Ihnen für die Mittheilung, daß auch der Stettiner Touristen-Klub Winter-Ausflüge veranstaltet.

J. H. B. Jahrgang 1866 ist vergriffen, Jahrgang 1867 können Sie durch jede Buchhandlung beziehen.

C. S., Elisabeth in L. und Ernst Sch. in C. Nicht geeignet.

Gemäldeverkauf. Die Unterschrift Ihres Briefes ist völlig unleserlich. Geben Sie uns Ihre Adresse deutlich an, dann werden wir Ihnen brieflich antworten.


Inhalt: Die Lora-Nixe. Novelle von Stefanie Keyser (Fortsetzung). S. 309. – Bilder von der Ostseeküste. Danzig. Von Fritz Wernick. S. 312. Mit Illustrationen S. 309, 312, 313 und 314. – Erinnerungen an den Dichter des „Ekkehard“. S. 314. Mit Portrait S. 316. – Die Ausstellung des Ornithologischen Vereins in Wien. S. 317. Mit Illustrationen S. 317 und 138. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 318. – Noch heute „das geheimnißvolle Haus“. Neue Studien und alte Erinnerungen von Friedrich Hofmann (Fortsetzung). S. 322. – Blätter und Blüthen: Ludwig Börne’s Gedenktag. S. 324. – Blüthenzeit, schönste Zeit. S. 324. Mit Illustration S. 321. – Sprechsaal. – Kleiner Briefkasten. S. 324.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.