Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[205]

No. 13.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.
Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Herbert hatte unterdeß seine Nichte vermißt und durchschritt mit suchendem Blicke die Zimmerreihe. Er war im Ueberzieher und hatte den Hut in der Hand. Margarete blieb stehen, als er auf die Schwelle trat, und ihre Hände sanken langsam von den Schläfen nieder.

„Haben sie Dich so allein gelassen, Margarete?“ fragte er innig mitleidsvoll, wie sie ihn vor Jahren meist zu dem kranken Kinde Reinhold hatte sprechen hören. Er kam herein, warf den Hut hin und ergriff die Hände des jungen Mädchens. „Wie kalt und erstarrt Du bist! Das öde, düstere Zimmer ist kein Aufenthalt für Dich. Komm, gehe mit mir hinüber!“ bat er sanft und hob den Arm, um ihn stützend um ihre Gestalt zu legen; aber sie fuhr zurück und trat um einige Schritte von ihm weg.

„Meine Augen schmerzen,“ sagte sie hastig, erschrocken aus ihrer dämmernden Ecke herüber. „Das gedämpfte Licht thut ihnen gut nach der grausamen Helle im Flursaale. … Ja, hier ist’s öde; aber still, mitleidig still – eine wahre Wohlthat für eine wunde Seele nach so viel weisen Trostphrasen!“

„Es war auch manch gutgemeintes Wort darunter,“ begütigte er. „Ich begreife, daß das heutige Zusammenströmen von Menschen und die Prunkentfaltung Dein Gefühl verletzt haben. Aber Du darfst nicht vergessen, daß unser Verstorbener allezeit Gewicht auf derartige öffentliche Kundgebungen gelegt hat – die glänzende Todtenfeier ist ganz in seinem Sinne verlaufen. Das mag Dir ein Trost sein, Margarete!“

Er zögerte einen Moment, als warte er auf ein Wort von ihren Lippen; aber sie schwieg, und da griff er wieder nach seinem Hute. „Ich fahre nach der Bahn, den Onkel Theobald abzuholen. Er wird es besser verstehen, als wir Alle, erlösend zu Deinem verschlossenen Schmerze zu sprechen, und deßhalb bin ich froh, daß er kommt. … Aber muß es sein, daß Du mit ihm nach Berlin zurückkehrst, wie mir mein Vater eben sagte?“

„Ja, ich muß fort!“ antwortete sie gepreßt. „Ich habe selbst nicht gewußt, wie gut mir’s bisher in der Welt ergangen ist – man nimmt das schöne, glatt und ungeprüft verlaufende Leben hin wie das leichte Athemholen, um welches wir kaum wissen. Nun kommt zum ersten Male ein großes Unglück über mich, und ich bin ihm nicht gewachsen, ich stehe ihm fassungslos gegenüber – es hat eine furchtbare Macht über mich!“ – Sie war ihm unwillkürlich wieder näher getreten, und er sah, wie der mühsam verbissene Schmerz ihre Stirn furchte. „Es ist schrecklich, immer wieder ein und denselben Gedankengang durchlaufen zu müssen! Und doch habe ich nicht die Kraft, ihn abzuschütteln; ja, ich bin zornig auf Die, welche von außen her den Kreis unterbrechen. Und das wird hier nicht anders – darum muß ich fort. Der Onkel hat Arbeit für mich, strenge Arbeit,


Ein Beschützer. 0Nach dem Gemälde von K. Fröschl.

[206] an der ich mir emporhelfen werde – er stellt einen neuen Katalog zusammen –“

„Und die Menschen dort sind Dir auch sympathischer –“

„Sympathischer als der Großpapa und Tante Sophie? Nein!“ unterbrach sie ihn kopfschüttelnd. „Ich bin viel zu sehr ihres Gleichen an Temperament und Charakter, als daß Andere Bresche zwischen uns legen könnten –“

„Die Beiden sind nicht Deine einzigen Angehörigen hier, Margarete.“

Sie schwieg.

„Ach, die armen Todtgeschwiegenen! Mit denen haben es die in Berlin freilich leicht!“ sagte er bitterlächelnd. „Die Edlen aus Pommern oder Mecklenburg oder irgendwo her können ruhig ihr Ritterschwert stecken lassen –“ er unterbrach sich und wurde roth unter ihrem unwilligen Blicke. „Verzeihe!“ setzte er rasch hinzu. „Das durfte ich nicht – in diesen dunklen Stunden nicht!“

„Ja, in diesen Unglücksstunden ist es grausam, mich an ein ewig lächelndes Gesicht zu erinnern!“ bestätigte sie fast heftig. „Ich fühle zum ersten Male, wie gram man solchen wohlgenährten, rosigen, gleichmüthigen Menschen sein kann, wenn man tieftraurig ist. … Man fühlt sich als gebeugte Jammergestalt, und da ragen sie neben Einem empor, blühend und seelenruhig, und in jedem Zuge steht zu lesen: ‚Was ficht mich das an?‘ … Die Junge vom Prinzenhofe stand heute auch so neben mir draußen am Sarge, stolz und frisch und kühl bis ins Herz hinein; ihr aufdringliches Parfüm erstickte mich fast, und das unaufhörliche Knistern ihrer langen Schleppe reizte meine Nerven bis zur Unerträglichkeit – ich hätte mit den Händen nach ihr stoßen mögen –“

„Margarete!“ – unterbrach er sie. Er ergriff mit sonderbaren Blicken ihre Hand; aber sie wand sich los.

„Besorge nichts, Onkel!“ sprach sie herb. „Soviel gute Manieren sind mir doch noch verblieben. Und wenn ich zurückkomme –“

„Nach abermals fünf Jahren, Margarete?“ fiel er ihr ins Wort und sah ihr gespannt in das Gesicht.

„Nein. Der Großpapa wünscht meine baldige Rückkehr – Anfang December komme ich wieder.“

„Dein Wort darauf, Margarete!“ Er sprach das hastig und streckte ihr abermals die Rechte hin.

„Was kann Dir daran liegen?“ fragte sie achselzuckend mit einem scheuen, halben Aufblicke ihrer verweinten Augen; aber sie legte doch für einen Moment ihre kalten Fingerspitzen in seine Hand.

Drunten war der Wagen, der den Landrath nach der Bahn bringen sollte, längst vorgefahren, und jetzt erschien die Frau Amtsräthin im großen Salon und kam die Zimmerreihe daher. Sie sah klein aus wie ein Kind in dem schlichten, wollenen Trauerkleide, und das harte Schwarz ihrer Krepphaube machte das feine, verwelkte Gesichtchen förmlich mumienhaft. Neben der officiellen feierlichen Trauer in ihren Zügen machte sich in diesem Augenblicke aber auch eine Art von unwilligem Befremden geltend.

„Wie, hier finde ich Dich, Herbert?“ fragte sie, auf der Schwelle verweilend. „Du hast Dich so eilig von unseren theilnehmenden Freunden verabschiedet, daß ich die Entschuldigung dafür nur in Deiner beabsichtigten Fahrt nach dem Bahnhofe finden konnte. Nun wartet der Wagen längst vor dem Hause, und Du stehst hier bei unserer Kleinen, die schwerlich auf Deine Tröstungen hören wird – dafür kenne ich die Grete. … Du wirst zu spät kommen, lieber Sohn!“

Ein undefinirbares, schwaches Lächeln flog um die Lippen des „lieben Sohnes“; aber er nahm pflichtschuldigst seinen Hut und ging schweigend hinaus, während die Frau Amtsräthin den Arm der Enkelin in den ihren zog, um sie fortzuführen. Droben in „Großmütterchens“ Salon sei es wohlig warm, und die Theemaschine summe, wie die alte Dame in trauervoll gedämpftem Tone sagte; Onkel Theobald werde wohl sehr erkältet ankommen, und da thue eine Tasse heißen Thees noth. … Und es sei doch sehr zu beklagen, daß der Onkel dem Einsegnungsakte nicht habe beiwohnen können; eine solche illustre Trauerversammlung habe das Lamprecht’sche Haus noch nie gesehen; geachtete Namen allerdings immer genug, nie aber hohen Adel – noch nie! Ob das nicht der herrlichste Abschluß eines stolzen Menschenlebens sei? Ein Abschluß, über den sich die Engel im Himmel freuen müßten!


17.

Es war Winter geworden, so ein rechter Winter thüringischer Art, der die Federbetten der Frau Holle oft so lange über die Berge und Thaltiefen ausschüttet, bis nur noch die niederen Firste der Dorfhäuser aus dem silberweißen Gestäube hervorragen. … Auch die kleine Stadt an der Pforte des Thüringer Waldes erhielt ihr redliches Theil der warmen Schneedecke. Blank und glatt, und immer neue Millionen der Schneesternchen in sich einwebend, lag sie da; alle Missethaten der Oktoberstürme, die mühsam geflickten Schäden an Mauern, Dächern und Thürmen und auch das wieder hergestellte Ziegeldach des Packhauses im Lamprecht’schen Hofe verschwanden unter dem eintönigen Weiß.

Und draußen vor dem vergoldeten Eisengitter des halboffenen steinernen Häuschens, dessen Fallthüren sich vor acht Wochen über dem letztverstorbenen Lamprecht geschlossen hatten, thürmte der Flockenwirbel eine alabasterne Mauer, ein Epitaphium, und wer lesen konnte, für den stand auf der glitzernden Schrägseite: „Bleibt fern! Was hinter mir liegt, hat mit euch draußen nichts mehr zu schaffen!“ – Einsame Schläfer! Einer nach dem anderen waren sie hier eingerückt, und wohl ein jeder der alten Kauf- und Handelsherren hatte bei diesem nothgedrungenen Abmarsche, beim Scheiden aus der geliebten Firma im Stillen gemeint: „Es wird nicht gehen ohne Dich!“ Aber es war gegangen; das Geschäftsgetriebe war stets über der vermeintlichen Lücke präcise zusammengeklappt, und die Bücher hatten darnach keinerlei Verlust zu verzeichnen gehabt.

So hatte sich auch die letzte Wandelung anscheinend geräuschlos vollzogen. Reinhold war zwar noch minorenn, aber er hatte das achtzehnte Jahr überschritten und sollte binnen Kurzem mündig gesprochen werden, eine leere Form, deren Vollziehung durchaus nicht erst abgewartet zu werden brauchte. Der junge Kaufmann mit den kühlen Principien eines greisen Kopfes hielt die Zügel schon nach wenig Tagen stramm in den Händen, und er war sattelfest, das mußte ihm ein Jeder lassen. Der erste Buchhalter und der Faktor, die einstweilen mit der Fortführung der Geschäfte betraut waren, sanken neben ihm an Macht und Willen zur Null herab und machten ihr Einspruchsrecht, im Hinblicke auf die kurze Dauer seines Amtes und die Reizbarkeit des Erben, nur selten geltend. Die Anderen aber, die Herren im Komptoir und die in der Fabrik Beschäftigten, duckten sich scheu und finster über ihre Arbeit, wenn der nervöse lange Mensch, schlotterig in Haltung und Gliedmaßen, aber mit Augen voll entschlossener, unerbittlicher Härte, in den Arbeitsräumen erschien. Der Kommerzienrath war auch streng gewesen und hatte den Untergebenen selten ein freundliches Wort gegönnt; aber an seine Gerechtigkeit hatte man nie vergebens appellirt; dies und seine Noblesse in Bezug auf die Bezahlung seiner Leute – „leben und leben lassen“ war sein Grundsatz gewesen – hatte ihm bei all seinem Hochmuth dennoch die Herzen Aller geneigt gemacht.

Daran übte jetzt der jugendliche Nachfolger eine geradezu vernichtende Kritik.

„Das Alles hat ein Ende! – Dem Papa ist Geld genug durch die Finger gefallen – er hat gehaust wie ein Kavalier, Kaufmann ist er nie gewesen!“ sagte er und begann „aufzuräumen“ mit dem alten Schlendrian. … Da wurde gleichsam über Nacht Vieles anders. –

Margarete war auch wieder da – seit vorgestern Abend. Tante Sophie hatte die Stunde ihrer Ankunft gewußt und war mit dem Wagen an die Bahn gekommen, und die Frau Amtsräthin hatte sich herabgelassen, mitzufahren, um die Verwaiste unter die großmütterlichen Flügel zu nehmen. Aber die alte Dame war nicht wenig überrascht gewesen, mit der Enkelin auch den Herrn Landrath aus dem Koupé steigen zu sehen. Er hatte sich als Abgeordneter des Landtages seit mehreren Wochen in der Residenz aufgehalten und war erst in den nächsten Tagen zurückerwartet worden. „Ein besonderer Fall“ habe ihn für einige Stunden nach der nächsten größeren Station geführt, hatte er lächelnd gesagt, und da sei es ihm sehr lieb gewesen, die heimkehrende Nichte zu treffen und sie während des mehrstündigen Aufenthaltes auf dem Bahnhofe beschützen zu können. Die Frau Amtsräthin hatte ärgerlich den Kopf geschüttelt über dies „unnütze Hin- und Herfahren bei der Kälte“. „Der besondere Fall“ hätte sich jedenfalls bequem auch auf dem Heimwege abwickeln lassen; aber der Dampf mache es jetzt den Menschen allzu leicht, jeder Laune nachzugeben.

[207] Und gestern in aller Frühe hatte er verabredetermaßen mit dem Schlitten vor der Thür gehalten, um Margarete mitzunehmen. Er habe seinem Vater eine Mittheilung über das verpachtete Gut zu machen, hatte er gesagt, und da sei es die beste Gelegenheit auch für sie, den Großpapa zu begrüßen. Dann waren sie hingeflogen über die weite, weiße Fläche draußen. Der Himmel war eine kompakte Schneewolkenmasse gewesen, und eisige Windstöße hatten ihnen um die Ohren gepfiffen und ihr den Schleier vom Gesicht gerissen. Die Zügel mit einer Hand haltend, hatte er schleunigst die flatternde Gaze erfangen, war aus dem Aermel seines weiten Pelzes geschlüpft und hatte den freigewordenen Theil der zottigen Hülle um den frostbebenden Körper des jungen Mädchens geschlagen.

„Lasse doch!“ hatte er gleichmüthig gesagt und trotz ihres Sträubens den Pelz noch fester um sie gezogen. „Töchter und Nichten können sich das getrost, unbeschadet ihrer Mädchenwürde, von einem Papa oder alten Onkel gefallen lassen.“

Und mit einem scheuen Seitenblicke nach dem Prinzenhofe hatte sie gemeint, man könne möglicher Weise von dort aus die Mummerei sehen.

„Nun, und wenn auch! Wäre das ein Unglück?“ hatte er mit einem lächelnden Blicke auf sie wieder geantwortet. „Die Damen werden wissen, daß das Rumpelstilzchen da neben mir gar niemand Anderes sein kann, als meine kleine Nichte. …“

Ja, freilich, die schöne Heloise war ihrer Sache so gewiß, daß sie unmöglich auf einen zweifelnden Gedanken kommen konnte!

Gegen Abend war er wieder in die Residenz zurückgekehrt, um einer letzten Sitzung beizuwohnen. In den gestrigen Tag hatte sich mithin so Vieles zusammengedrängt, daß Margarete erst heute gewissermaßen zu sich selbst kommen konnte.

Es war Sonntag. Tante Sophie war in der Kirche, und die Dienstleute, Bärbe ausgenommen, waren auch gegangen, die Predigt zu hören. So herrschte tiefe, sonntägliche Stille im Hause, die der Heimgekehrten gestattete, die Eindrücke, die sie bei ihrer Rückkehr empfangen, zu überdenken.

Sie stand auf dem Fenstertritte und sah mit umflortem Blick über den schneeflimmernden Marktplatz hinweg. … War es doch, als herrsche nicht allein draußen bittere Winterkälte – die Atmosphäre im Hause war auch kalt und frostig, wie durchhaucht von unsichtbaren Eiszapfen. … Es hatte ja früher auch oft genug Zeiten gegeben, wo ein finsterer Geist durch das alte, liebe Heim gewandelt, wo die Melancholie des Hausherrn einen Druck auf die Gemüther ausgeübt hatte. Aber das war doch nur der Widerschein seiner Verstimmung gewesen, mit welcher er sich ohnehin meist in die Einsamkeit seines Zimmers vergraben hatte. Alles, was sonst das Vaterhaus traut und anheimelnd machen konnte, war dadurch nicht alterirt worden. Er hatte sich nie in die althergebrachten häuslichen Einrichtungen gemischt, hatte stets mit vollen Händen gegeben und war somit bemüht gewesen, das Behäbige seines Hausstandes für die Seinen und die ihm dienten, zu erhalten. … Wie hatte sich das geändert!

Er saß in diesem Augenblicke auch wieder drüben auf seinem Schreibstuhle, hinter dem geliebten „Soll und Haben“, der Nachfolger; aber das Komptoir war nicht mehr allein der Schauplatz seiner Thätigkeit. Er war gleichsam überall. Wie ein Schatten spukte die lange Gestalt im Hause umher, vom Dachboden bis zum Keller hinab und erschreckte die hantirenden Leute durch sein plötzliches lautloses Erscheinen. Bärbe jammerte, daß er ihr wie ein „Gendarm“ auf den Fersen sei; er rufe die fortgehenden Butter- und Eierfrauen an sein Komptoirfenster und frage, wie viel sie in die Küche abgeliefert hätten, und dann käme er selbst hinüber und schimpfe über den „riesigen“ Verbrauch; er ziehe ihr auch frisch aufgelegte Holzstücke aus dem Bratfeuer und habe die große Küchenlampe mit einer ganz kleinen vertauscht, die sich wie ein Fünkchen in der mächtig weiten Küche ausnehme, und wobei sich der Mensch die alten Augen blind gucken müsse.

„Geld verdienen, Geld sparen!“ Das war jetzt die Devise, und die kalten, blutleeren Hände an einander reibend, versicherte der junge Chef bei jeder Gelegenheit, jetzt erst solle die Welt wieder das Recht haben, die Lamprechts als die Thüringer Fugger zu bezeichnen – unter den letzten beiden Chefs sei der Geldruhm halb und halb in die Brüche gegangen.

Ueber Tante Sophiens Lippen war bis jetzt noch kein anklagendes Wort gekommen; aber sie war recht blaß geworden, das frische, geistige Leben war wie weggewischt aus ihrem lieben, treuen Gesicht, und heute Morgen beim Kaffee hatte sie gesagt, daß sie mit nächstem Frühjahre ein paar Stuben und eine Küche an ihr Gartenhaus anbauen lasse; draußen in der schönen Gottesnatur zu wohnen, das sei immer ihr stiller Wunsch gewesen.

Jetzt kam sie über den Markt her. Die Kirche war aus. Massenhaft strömten die Andächtigen die Gasse herab, die von der Kirche nach der „Galerie“, dem stattlichen, die Ostseite des Marktes begrenzenden Pfeilergang führte. Dort wehten Schleier und Hutfedern, schleiften Sammet und Seide über die Steinplatten. Reich und Arm, Alt und Jung, wanderten sie neben einander, ihres Lebens und Daseins so sicher und gewiß – und vielleicht nächsten Sonntag schon ging so Mancher nicht mehr mit. Wer hört das Rauschen des Zeitwaltens über seinem Haupte? – So sicher und gewiß waren einst auch die stolzgeschmückte Frau Judith und die schöne Dore den Weg über den Markt hergegangen, den jetzt Tante Sophie in ihrem neuen Pelzmantel beschritt.

Auch die Kurrendeschüler kamen choralsingend daher. Margarete zog ihr Pelzjäckchen über der Brust zusammen und ging hinaus, die Tante an der Thür zu begrüßen, und in dem Augenblicke, wo sie den Thorflügel öffnete, stimmten die jungen Kehlen draußen das herrliche „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ in ergreifender Weise an.

„Hab’ mir’s ganz extra für den Sonntag bestellt – sonst werden nur Choräle gesungen,“ sagte Tante Sophie eintretend und schüttelte den Schnee von den Schuhen. Aber Margarete hörte kaum, daß sie sprach. Sie stand und horchte athemlos auf den hohen Sopran, der seraphimgleich, sieghaft und silberklar über den anderen Stimmen schwebte.

„Nun ja, ’s ist der kleine Max aus dem Packhause,“ sagte die Tante. „Der kleine Kerl muß nun auch ums liebe Brot singen.“

Margarete trat auf die Schwelle der halboffenen Thür und sah hinaus. Dort stand er, das schwarze Barett auf den Locken, die blühenden Wangen noch tiefer geröthet durch die scharfe Winterluft, und mit den Tönen, die der warmen, jungen Brust entquollen, wurde der Hauch des Athems zum Dampf vor seinem Munde.

Sobald der letzte Ton verklungen war, winkte ihm Margarete, und er kam sofort herüber und neigte sich wie ein kleiner Kavalier vor der jungen Dame.

„Geschieht es mit dem Willen Deiner Großeltern, daß Du bei der Kälte vor den Thüren singst?“ fragte sie in fast unwilligem Tone, wobei sie die Hand des Knaben ergriff und ihn zu sich auf die Schwelle zog.

„Das können Sie sich doch denken, Fräulein!“ antwortete er unumwunden und wie empört. „Die Großmama hat’s erlaubt, und da ist’s dem Großpapa auch recht. Es ist ja auch nicht immer so kalt, und das macht auch nichts – die frische Luft ist mir gesund.“

„Und wie kommt es, daß Du unter die Schüler gegangen bist?“

„Ja, wissen Sie denn nicht, daß wir Jungens damit viel Geld verdienen?“ Er warf einen hastigen Blick hinter sich, wo eben die letzten kleinen Nachzügler weiter gingen. „Lassen Sie mich!“ drängte er ängstlich. „Der Präfekt zankt!“ Er zog sein kaltes Händchen gewaltsam aus der Rechten der jungen Dame, und fort war er.

„Da hat sich wohl auch Vieles im Packhause geändert?“ fragte Margarete beklommen, wie mit zurückgehaltenem Athem.

„Ja wohl, meine liebe Grete, Alles!“ antwortete Reinhold an Stelle der Tante. Er stand an seinem offenen Komptoirfenster. „Und Du sollst auch sogleich erfahren, in welcher Weise sich’s geändert hat. Habe nur zuvörderst die Freundlichkeit, die Thür zu schließen, es kommt mörderisch kalt herein. … Die Nachbarsleute werden sich wohl gefreut haben, daß Fräulein Lamprecht die selige Frau Cotta in Eisenach nachäfft und die Kurrendeschüler ins Haus ruft – schade, daß Du nicht auch einen Napf voll Suppe in der Hand hattest! Das wäre noch rührender gewesen.“

Tante Sophie schloß die Thür und entfernte sich schweigend.

„Die Tante macht jetzt immer ein Gesicht, als wenn sie Essig verschluckt hätte,“ sagte Reinhold achselzuckend. „Der neue, [208] scharfe Besen, mit welchem jetzt das Haus ausgefegt wird, gefällt ihr nicht – selbstverständlich. Den Alten mag es freilich nicht behagen, wenn frische Luft durch ihr warmes, verrottetes Nest fährt; aber das ficht mich nicht an, und noch weniger werde ich der Tante den Gefallen thun, das alte Lotterleben fortbestehen zu lassen und notorische Faullenzer im Geschäft zu behalten. Der alte Lenz ist schon seit fünf Wochen entlassen und hat mit Neujahr das Packhaus zu räumen … So, nun weißt Du’s, Grete, weßhalb der Junge vor den Thüren singt. Andere Kinder müssen das auch – es fällt ihnen keine Perle aus der Krone – und ich sehe nicht ein, weßhalb der Prinz aus dem Packhause zu gut dafür sein soll.“

Er schlug das Fenster zu, und Margarete ging ohne ein Wort der Entgegnung in die Hofstube. Dort hüllte sie sich in einen Shawl, schob eine kleine Geldrolle in die Tasche und schritt gleich darauf über den Hof nach dem Packhause.


18.

Die Thür des alten Hauses fiel schwerfällig hinter der jungen Dame zu, und sie blieb einen Moment regungslos am Fuße der Treppe stehen. Diese Stufen war sie an jenem entsetzlichen Tage heruntergekommen, um nach Damhach zu laufen und die grause Gewißheit zu erlangen, daß sie eine Waise sei. … Wenn er wüßte, wie der Unmündige jetzt hauste! Wie er ohne Gnade und Erbarmen Alles ausschied, was nicht ganz mit seinen Rechenexempeln stimmte! … An dem kleinen Max hatte der Verstorbene sein Wohlgefallen gehabt – mußte sie doch oft dabei an Saul und David denken – der finstere, melancholische Mann hatte sich auch dem Zauber nicht entziehen können, den der schöne, hellschauende Knabe auf Alle ausübte. Sie erinnerte sich, mit wie weicher Stimme er zu dem Knaben gesprochen, wie er seinem Schwiegervater versichert hatte, daß er den Knaben später in sein Komptoir aufnehmen werde. Und hätte er nicht auch damals, inmitten des verwüstenden Sturmes, am Fenster gesagt, daß der Knabe wohl nicht dazu bestimmt sei, Andere zu amüsiren? … Und nun sang das Kind in schneidender Winterkälte vor den Thüren! –

Sie stieg die Treppe hinauf. Das Bretterwerk unter ihren Füßen war schneeweiß, und ein feiner Wachholderduft wehte sie an – der echte thüringer Sonntagsduft!

Auf ihr leises Anklopfen erfolgte kein Herein, und auch ihr Eintreten wurde nicht sofort bemerkt, obgleich die wachsame Philine in der Küche anschlug; In der einen tiefen Fensternische saß Frau Lenz und strickte an einer bunten Wolljacke, und in der anderen stand der Arbeitstisch ihres Mannes; er saß tiefgebückt über seiner Arbeit. Erst bei dem lauten, freundlichen Gruße der jungen Dame sahen die beiden alten Leute auf und erhoben sich.

Den erstaunten, gespannten Mienen des Ehepaares gegenüber gerieth Margarete plötzlich in Verlegenheit. Ihr warm aufquellendes Gefühl hatte sie hierher getrieben; aber sie kam aus dem Hause, wo den alten Leuten ein unerbittlicher Feind lebte, der ihnen das Brot vom Munde nahm und sie hinausstieß in Sorge und Elend. Mußten sie nicht Bitterkeit und Mißtrauen gegen Alles empfinden, was von dorther kam?

Der alte Maler kam ihr zu Hilfe. Er bot ihr herzlich die Hand und führte sie nach dem Sofa … Da saß sie nun in derselben Ecke, wo man vor zehn Jahren das abgehetzte, fiebergeschüttelte Kind zärtlich gehegt und gepflegt hatte. Jener Abend trat ihr in allen Einzelnheiten vor die Seele, und sie begriff nicht, wie der Papa nach solchen Beweisen von Hilfsbereitschaft und Güte für sein Kind in seinem Hochmuth gegenüber den Bewohnern des Packhauses bis an sein Ende hatte verharren mögen. Und wie schlimm stand es jetzt erst um die alten Leute!

Noch war der Mangel nicht sichtbar. Die Stube war wohlig durchwärmt. Ein großer warmer Teppich bedeckte den Fußboden; weder Möbel, noch Fenstergardinen sahen verkommen und abgenutzt aus – man sah, es war all die Jahre her Geld und Sorgfalt aufgewendet worden, das Behäbige des Heims zu erhalten. Inmitten des Zimmers stand der hergerichtete Mittagstisch. Das frisch aufgelegte Tischtuch glänzte wie Atlas, die Servietten steckten in feinen Ringen, und neben den gemalten Porcellantellern lagen Silberlöffel.

„Ich habe Sie in Ihrer Arbeit gestört,“ sagte Margarete entschuldigend, während Frau Lenz sich zu ihr auf das Sofa setzte und ihr Mann den nächsten Stuhl einnahm.

„Es war keine Arbeit, nur ein Zeitvertreib,“ erwiderte der alte Maler. „Ein festes Arbeitspensum habe ich nicht mehr, und da male ich an einer Landschaft, die ich vor Jahren angefangen habe. Freilich geht es langsam. Ich bin auf dem einen Auge völlig erblindet, und das andere ist auch ziemlich schwach; so bin ich immer nur auf die wenigen hellen Mittagsstunden angewiesen.“

„Man hat Ihnen Ihr festes Arbeitspensum genommen?“ fragte Margarete, unumwunden auf ihr Ziel losgehend.

„Ja, mein Mann ist entlassen,“ bestätigte Frau Lenz bitter. „Entlassen wie ein Tagelöhner, weil er als gewissenhafter Künstler die Arbeit nicht so massenhaft lieferte, wie die jungen gedankenlosen Schmierer –“

„Hannchen!“ unterbrach er sie mahnend.

„Ja, lieber Ernst, wenn ich nicht spreche, wer soll es sonst?“ erwiderte sie herb, und doch auch mit einem wehmüthigen Lächeln in den vergrämten Zügen. „Soll ich in meinen alten Tagen aufhören, das zu sein, was ich zeitlebens gewesen bin, der Anwalt meines allzu bescheidenen, guten Mannes?“

Er schüttelte den grauen Kopf.

„Ungerecht dürfen wir aber auch nicht sein, liebe Frau,“ sagte er mild. „Für mein festes Einkommen habe ich allerdings in den letzten zwei Jahren nicht mehr die entsprechende Arbeit geliefert, meiner Augen wegen. Ich habe das auch gesagt und um Bezahlung per Stück gebeten, aber der junge Herr will davon nichts hören. Nun, ihm steht das Verfügungsrecht zu, wenn er auch noch nicht mündig erklärt ist und die Testamentseröffnung noch bevorsteht … Auf dieses Testament hoffen noch manche von den alten Arbeitern draußen in Dambach, denen es ähnlich ergeht wie mir.“

Margarete wußte von Tante Sophie, daß ein Testament ihres Vaters vorhanden war, welches in den nächsten Tagen eröffnet werden sollte; aber es war nur eine flüchtige Erwähnung gewesen, die Tante mochte nichts Näheres wissen. Das sagte die junge Dame auf den eigenthümlich gespannten Blick des alten Mannes hin. Sie hatte auf diese Thatsache wenig Gewicht gelegt, noch weniger aber war ihr der Gedanke gekommen, daß die letztwillige Verfügung des Verstorbenen möglicher Weise Reinhold’s Eigenmächtigkeiten rückgängig machen könne.

„Mein Gott,“ rief sie lebhaft, „wenn Sie meinen, daß das Testament Vieles ändern kann –“

„Es wird und muß Vieles ändern,“ fiel Frau Lenz mit sonderbar harter Betonung und Bestimmtheit ein.

Margarete verstummte für einen Moment, betroffen in den noch immer schönen blauen Augen der alten Frau forschend – eine Art von wilder Genugthuung funkelte in ihnen auf. „Nun ja,“ setzte sie dann nachdrücklich, mit schwerem Vorwurf hinzu, „wozu dann die Grausamkeit, das Kind ums Brot auf der Straße singen zu lassen?“

Frau Lenz fuhr empor und trat auf ihre Füße. Sie war lahm und konnte sich nur schwer fortbewegen; aber in diesem Moment schien sie von Schmerz und Schwäche nichts zu fühlen. „Grausam? Wir? Gegen unser Kind, unseren Abgott, unser Alles?“ rief sie wie außer sich.

Der alte Maler ergriff begütigend ihre Hand. „Ruhig Blut, liebes Herz!“ mahnte er mildlächelnd. „Grausam sind wir zwei alten Menschen nie gewesen, gelt Hannchen? Nicht gegen die kleinste Kreatur der Schöpfung, geschweige denn gegen unseren Jungen … Sie haben ihn singen hören?“ wandte er sich zu Margarete.

„Ja, vor unserem Hause, und das Herz hat mir wehe gethan. Es ist so bitterkalt – ich meinte, der Athem müsse ihm vor dem Munde gefrieren. Er wird sich erkälten.“

Herr Lenz schüttelte den Kopf. „Der kleine Bursche hat sich selbst hart gewöhnt. Die Stube da ist ihm zu eng für seine Stimme, und doch steht er oft, ehe wir uns dessen versehen, droben am Bodenfenster oder auf dem offenen Gange und singt in Sturm und Schneegestöber hinein.“

(Fortsetzung folgt.)

[209]

Ein Nothruf.
Nach dem Oelgemälde von A. Hagborg.

[210]

Deutschlands Kolonialbestrebungen.

Skizzen aus meiner letzten Forschungsreise in Ostafrika.
Von Dr. G. A. Fischer. Mit Illustrationen von G. Mützel.

Kuafi-Neger aus dem Innern des Massai-Landes.

Die weißen Stellen, welche die Karten von Afrika früher in beträchtlichem Umfange zeigten sind in den letzten Jahren bedeutend zusammengeschrumpft. Trotzdem befinden sich im Westen sowohl wie im Osten noch immer zusammenhängende Länderstrecken von der doppelten Größe Deutschlands, die noch kein Fuß eines Europäers betreten hat und über die wir nur nach Erkundigungen dürftige Nachrichten besitzen.

Der Westen Afrikas ist, was koloniale Unternehmungen anbetrifft, einstweilen der bevorzugte Theil. Einmal ist er bequemer und rascher zu erreichen, und zum andern bieten sich hier gewaltige Ströme dar, die das Eindringen in das Innere sehr erleichtern. Der Osten hat aber andere Vortheile, unter denen das besonders in den nördlicheren Theilen gefundene Küstenklima der bedeutendste ist. Auch sind die ackerbautreibenden Negerstämme des Ostens besser für die Arbeiten der Kultur zu gebrauchen, als die Stämme der Westküste. Letztere hat allerdings außerdem den Umstand für sich, daß sich dort noch sogenanntes herrenloses Küstenland befindet; herrenlos insofern, als die Häuptlinge oder, wie sie vielfach genannt werden, Könige von keiner europäischen Macht anerkannt sind und es nicht schwer fällt, für ein Fäßchen Rum ein ganzes Königreich zu erhandeln. Im Osten theilen sich in den Besitz des Küstengebietes der Sultan von Sansibar und die Portugiesen. Was den Ersteren betrifft, so ist es allerdings nur eine Frage der Zeit, daß sein Gebiet in den Besitz einer europäischen Macht übergeht. An eine Ausbreitung der Kultur und Civilisation ist unter mohammedanischer Herrschaft nicht zu denken.

Gerade der Theil des äquatorialen Ostens, welcher sich seiner Bodenbeschaffenheit und seines Klimas wegen am meisten zu Kolonisationsprojekten eignet, wird von Volksstämmen bewohnt, die allem Fremden feindlich sich entgegenstellen. Es sind das die sich zwischen Abessinien, dem Viktoria Nyanza und dem Kap Guardafui erstreckenden Gebiete. Von Abessinien sowohl wie auch von der Küste des rothen Meeres und von Sansibar aus sind wiederholt vergebliche Versuche gemacht worden, in diese unbekannten Länder einzudringen, aber alle scheiterten an dem Widerstande der Eingeborenen. Endlich ist es dem Verfasser dieser Zeilen und bald darauf dem englischen Reisenden Thomson gelungen, wenigstens einen Theil dieser terra incognita zu durchforschen und das Leben eines wilden und in vieler Beziehung merkwürdigen Stammes kennen zu lernen, nämlich des Massai-Volkes.

Das Gebiet, mit dem ich den Leser näher bekannt machen will, charakterisirt sich besonders durch mehr oder weniger unvermittelt aus der Ebene emporsteigende isolirte Berge, die zum Theil mit ewigem Schnee bedeckt sind. Die Ebenen, welche sich zwischen denselben ausbreiten, liegen schon 3- bis 6000 Fuß über dem Meeresspiegel. Bis zu 4000 Fuß sind sie meist dürr und mit mehr oder weniger dicht stehenden Akazien und Mimosen bewachsen, in höherer Lage aber bilden sie die saftigsten und üppigsten Weideflächen, wo ein milderes Klima und der Duft von verschiedenartigen aromatischen Kräutern, die an die unserer Alpen erinnern, vergessen macht, daß man sich in Afrika unter dem Aequator befindet. Stellenweise tritt hier prächtiger Hochwald auf, den besonders Wachholderbäume, die den Umfang und die Höhe unserer Pappeln erreichen, charakterisiren. Zahlreiche kleinere und größere Seen sind in dem Hochlande eingebettet, die alle von Flußpferden und großen Schwärmen von Pelikanen, Enten und Gänsen bewohnt werden. Größere Flüsse existiren in diesem Gebiete nicht, nur Bäche, welche sich in die Seen ergießen.

Die Gesteine sind fast durchweg vulkanischer Natur. In früheren Zeiten sind hier viele umfangreiche Vulkane thätig gewesen; jetzt ist, soviel bekannt, nur noch einer in Thätigkeit; er wird von den Eingeborenen „Dönjö Ngai“, das ist Gottesberg, genannt. Im Jahre 1880 hat der letzte größere Ausbruch hier stattgefunden. Die Eingeborenen vergleichen das donnerartige Geräusch, welches zuweilen aus dem Berge ertönt, mit dem Brüllen ihrer Rinder; die Mohammedaner glauben, der leibhaftige Teufel sei dort verborgen und feuere von Zeit zu Zeit Kanonenschüsse ab, um die Menschen zu erschrecken. An verschiedenen Orten des Landes finden sich heiße Quellen, welche zum Theil einen großen Gehalt an kohlensaurem Natron besitzen.

Der imposanteste und bekannteste unter den oben erwähnten Schneebergen, der sogenannte Kilima-Ndjaro, ist ebenfalls ein erloschener Vulkan. Aus weiter Entfernung sieht man sein mit dickem Schnee bedecktes Haupt aus der Ebene sich erheben. Seine Höhe über dem Meeresspiegel beträgt mindestens 18000 Fuß, bei 16000 Fuß beginnt die ewige Schneegrenze, während sie in unseren Breiten schon zwischen 8- bis 9000 Fuß liegt. Als der deutsche Missionar Krapf zuerst die Nachricht von dem Vorhandensein eines Schneeberges unter dem Aequator brachte, hielt man es in der Gelehrtenwelt für eine Unmöglichkeit, daß ewiger Schnee bei den Strahlen der Tropensonne existiren könne. Zwischen der kühlen und heißen Jahreszeit ist nur wenig Unterschied in der Ausbreitung des Schnees zu bemerken. Kilima-Ndjaro nennen ihn die mohammedanischen Küstenbewohner, das heißt Geisterberg (Kilima Berg, Ndjaro ein böser Geist), und es knüpft sich viel Aberglaube an die den Eingeborenen so räthselhaften weißen Massen. Da jene sich einestheils vor der großen Kälte, andererseits auch vor bösen Mächten fürchten, so hat sich noch Niemand überzeugt, welcher Art jene Massen seien. Die Leute, welche ich fragte, was das Weiße auf dem Berge bedeute, antworteten meistens: „Steine,“ zuweilen auch: „Das wissen wir nicht.“ Von den Mohammedanern hört man wohl die Meinung aussprechen, daß es Silber sei, und es geht die Sage, auf der Spitze des Berges lägen große Schätze, die aber von einer Mauer umschlossen seien; wer es wage, die Mauer zu ersteigen, falle auf der andern Seite todt herab. Einige schlaue Neger, die in der Weltstadt Sansibar, dem Paris Ostafrikas, schon Eis kennen gelernt hatten, wußten allerdings die richtige Erklärung. Da aber ihre Sprache keine Ausdrücke für Schnee und Eis besitzt, so halfen sie sich in der Weise, daß sie sagten: „Das Wasser ist durch die Kälte geronnen.“ Ergötzlich war auch zu beobachten, wie die Sansibar-Neger sich über den bei der Athmung in der kühleren Luft sichtbar werdenden Wasserdampf belustigten, eine Erscheinung, die in dem Küstenklima, wo die Temperatur nicht unter 15° R. sinkt, natürlich nie vorkommt. Als ich, mit meiner Karawane am Fuße des Schneeberges lagernd, an einem kalten regnerischen Morgen aus dem Zelte trat und von meinem Reitesel wie gewöhnlich mit einem Willkommschrei begrüßt wurde, brachen die Sansibar-Neger in ein lautes Lachen aus und riefen: „punda analia moschi,“ das heißt: der Esel schreit Dampf.

Das Volk, welches die Abhänge des Schneeberges bewohnt, aber nur bis zu einer Höhe von 5000 Fuß, wo noch Bananen gedeihen, ist ein friedlicher ackerbautreibender Stamm, die sogenannten Watschaga, die zugleich auch als tüchtige Schmiede berühmt sind und die besten Schwerter und Speere liefern. Hier wäre ein richtiger Ort, eine Kulturmission zu errichten, die Eingeborenen in den verschiedenen Handwerken auszubilden und Versuche mit der Anpflanzung werthvoller Handelsprodukte zu machen. Zahlreiche, nie versiegende Quellen kommen von dem Berge herab, Nahrung ist das ganze Jahr im Ueberfluß zu erhalten, die Wälder liefern verschiedenartige Nutzhölzer, unter welchen besonders ein leichtes zu Drechslerarbeiten sehr geeignetes Holz sich findet, aus welchem die Eingeborenen Gefäße schneiden. Elefanten sind an den Abhängen des Berges noch in großer Menge vorhanden.

So friedfertig im Allgemeinen der ackerbautreibende Neger Ostafrikas ist, so bösartig und unverträglich sind die Hirten- und Nomadenvölker. Das ganze oben charakterisirte Gebiet Ostafrikas wird von solchen Nomadenstämmen bewohnt. Den nordöstlichsten Theil desselben haben die Somali inne, die als fanatische Mohammedaner von allen am meisten gefürchtet sind. Manches an dem so verhängnißvollen Kap Guardafui gestrandete Schiff fiel ihnen zur Beute; schonungslos wurden alle an Bord befindlichen Personen niedergemacht, bis vor Kurzem England einen Vertrag mit den Häuptlingen zu Stande gebracht hat, welcher die ganze Ladung des Schiffes den Eingebornen zuerkennt, wohingegen diese sich verpflichten, das Leben der Schiffbrüchigen zu schonen. Die Häuptlinge [211] sind nur aus dem Grunde diesen Vertrag eingegangen, weil sie nunmehr als rechtmäßige Besitzer die erbeuteten Waaren unbehindert in dem nahe gelegenen Aden verwerthen können.

Den zweiten dieser Volksstämme, welcher südlich und westlich von den Somali wohnt, bilden die Gala, unter denen ich auch einige Monate zubrachte. Früher den Massai an Wildheit gleich, hat der südlichere Zweig dieses Stammes, wiederholt durch die Somali besiegt, sehr an Kraft eingebüßt und ist umgänglicher in dem Verkehr mit Fremden geworden, während der nördlichere noch immer ein unbändiges kriegerisches Volk ist, das zahlreiche Pferde besitzt und beritten in den Kampf zieht. Den dritten Stamm endlich bilden die zwischen den ostafrikanischen Schneebergen und dem Viktoria Nyanza wohnenden Massai und die ihnen nahe verwandten Kuafi. In Körperbildung, Sprache, Sitten und Gebräuchen sich ähnelnd sind diese vier Stämme doch unter einander die erbittertsten Feinde. Wir wollen jetzt die Lebensweise der Massai als des urwüchsigsten und noch in keiner Weise von der Kultur beeinflußten Volkes etwas genauer betrachten.

Massai-Krieger im vollen Kriegsschmuck.

Das ganze Leben dieses Volkes dreht sich gleichsam nur um einen Gegenstand, nämlich das Rind. Von ihm lebt der Massai ausschließlich. Um des Rindes willen zieht er in den Kampf, und alles, was er thut, steht in irgend einem Zusammenhang mit dem Thiere, ohne das er nicht zu existiren vermag. Da die jüngeren Leute, die Krieger, nur die Milch und das Fleisch des Rindes genießen – Ziegenfleisch und Ziegenmilch ist für die Weiber – so ist der Verbrauch ein so großer, daß er durch die Zucht allein nicht gedeckt werden kann. Es bedarf daher häufiger Raubzüge zu den benachbarten Negerstämmen, zumal es das Bestreben eines jeden Jünglings ist, eine möglichst große Menge Vieh zu erbeuten, um dann behaglich leben und heirathen zu können. Denn dem Kriegerstand ist die Ehe nicht gestattet, auch enthält er sich des Genusses von Tabak und alkoholischen Getränken, um nicht an Widerstandskraft einzubüßen. Der Krieger legt alles darauf an, einen recht abschreckenden und wilden Eindruck auf seinen Feind hervorzurufen, deßhalb putzt er sich zum Kampfe in der verschiedensten Weise heraus. Auf unserer Abbildung, welche nach einer photographischen Aufnahme angefertigt ist, sehen wir einen langen geschmeidigen Krieger in vollem Kriegsschmucke. Um das Gesicht die in einen Rahmen von Rindshaut eingenähten Straußenfedern; auf der Spitze prangt der weiße Schwanz eines Affen. Die Backen sind mit weißer Thonerde bestrichen, in der Hand trägt er den langen mächtigen Speer, um die Hüften ein kurzes Schwert, und eine Keule, aus dem Horne des Rhinoceros geschnitzt, steckt an der rechten Seite. Den linken Oberarm ziert ein Armband aus Perlen; an der rechten Hand sehen wir einen langen den Mittelfinger schildartig bedeckenden Ring von Eisen. Die Unterschenkel tragen einen Schmuck aus dem schwarz-weißen Fell eines Affen, und von der Schulter herab wallt ein Mantel aus dünnem Baumwollenstoffe, der von den mohammedanischen Kaufleuten in dieser Weise dem Geschmack der Massai entsprechend in den Handel gebracht wird. Der mächtige aus Ochsen- oder Büffelhaut verfertigte Schild ist schwarz-weiß-roth mit verschiedenartigen Mustern bemalt. Die Krieger lieben auch – tout comme chez nous – klingende Geräusche, besitzen aber, was musikalische Instrumente betrifft, nur einen Gegenstand, den man höchstens mit unserem Schellenbaum vergleichen könnte, nämlich länglich geformte Schellen, die um den Oberschenkel geschnallt werden. Um das Fußgelenk legen sie winzige Schellchen, welche beim Gehen ein dem Sporengeklirre täuschend ähnliches Geräusch hervorbringen. Die gemeinen Soldaten gehen fast unbekleidet, nur eine kleine Haut aus Ziegenfell hängt auf der Brust herab.

Ohne ein Zeichen von Unbehaglichkeit zu äußern, erschienen diese Jünger des Mars in solch dürftiger Uniform selbst des Morgens bei einer Temperatur von 7° R. in unserem Lager. Im Kampfe sind sie unwiderstehlich und fürchten den Tod nicht. Die Mohammedaner erzählen, daß, wenn man sich einem verwundeten Massai nähere, er seinen Feind mit wüthendem Blicke auffordere, ihn zu tödten. Der Massai kämpft nur mit der Lanze als Stoßwaffe; das Feuergewehr verachtet er und ist sich dessen Gefahr noch nicht recht bewußt. Vor einigen Jahren wurde eine Abtheilung von 60 Mann einer Elfenbeinkaravane von den Massai aufgerieben. Nachdem alles Lebende getödtet war, errichtete man einen Scheiterhaufen, um sämmtliche unnützen und gefährlichen Gegenstände zu vernichten, darunter vor allem die Gewehre. Nun beging man aber die Unvorsichtigkeit, die letzteren zum Theil mit der Mündung nach außen zu stecken, und als das Feuer die noch geladenen Gewehre ergriff, wurden auf diese Weise mehrere der umstehenden Massai verwundet.

Den Hauptschmuck der Männer bilden Ohrringe aus Metall, Perlen oder geflochtenen Bastfasern, welche bei einzelnen Leuten oft so groß sind, daß sie bis auf die Schultern reichen. (Vergl. unsere Anfangsvignette S. 210.) Sogar die vor meinem Zelte aufgehangenen Thermometer versuchte man als Ohrschmuck zu verwenden. Die Weiber legen den meisten Werth auf dicken Eisendraht, der in dichten Spiralen um Ober-, Unterarm und Unterschenkel gewunden wird. Auch um den Hals wird dieser Draht getragen, jedoch in lockeren Windungen, die wie eine mächtige Halskrause weit abstehen. Das Gesammtgewicht eines solchen Eisenschmuckes beträgt mindestens 25 Pfund. Außerdem hängen aber noch an den Kopfseiten der verheiratheten Frauen große Doppelscheiben aus spiralig gewundenem dicken Messingdraht, die an den bei allen Individuen enorm ausgedehnten Ohrläppchen befestigt und so schwer sind, daß sie noch durch ein besonderes über den Kopf laufendes Riemchen gehalten werden müssen, wodurch mit der Zeit ein tiefer Einschnitt in die Haut verursacht wird. Man sieht, daß auch diese Damen um der Mode willen viel zu ertragen vermögen, besonders wenn man bedenkt, daß sie mit all dem Zierrath auch noch sehr angestrengt arbeiten müssen.

Kinder, Weiber und alle verheiratheten Männer rasiren sich den Kopf vollständig. Nur bei den dem Kriegerstande angehörigen jungen Männern ist es üblich, das Kopfhaar zu pflegen und in zierlichen und auffallenden Frisuren zu zeigen. Hier kann man die schönsten Zöpfe und Chignons sehen. Eine eigenthümliche, aber auch bei anderen afrikanischen Stämmen beliebte Frisur wird in der Weise hergestellt, daß man die Haare des Vorderkopfes in drei mit Bast umwickelte Hörnchen zusammenflechtet, die über der Stirn etwas vorspringen und sich dann nach oben und hinten biegen.

Wenn die Entwickelung der Kochkunst einen Rückschluß auf die Kulturstufe eines Volkes gestattet, so befinden sich die Massai auf einer sehr niedrigen. Man genießt nur Milch und an Holzspießen oberflächlich geröstetes Fleisch, welches Rinder, Schafe und Ziegen liefern. Geflügel, Wildbrett und Fische werden durchaus verschmäht. Nur im Falle der Noth bequemt man sich dazu, vegetabilische Nahrung zu genießen. Trotz der großen Einfachheit der Speisen bestehen dennoch besondere Regeln in Bezug auf Zubereitung und Genuß derselben, die zum Theil an die semitischen Vorschriften erinnern. Milch und Fleisch dürfen niemals zusammen genossen werden, sondern man lebt eine Zeitlang (10 bis 15 Tage) nur von Milch und dann wieder eben so lange ausschließlich von Fleisch. Erstere darf niemals gekocht werden, auch ist es nicht erlaubt für Fleisch und Milch dasselbe Gefäß zu benutzen. Man ist so ängstlich bemüht eine Berührung dieser beiden Nahrungsmittel zu vermeiden, daß man sogar, bevor man von einem zum anderen übergeht, ein Brechmittel nimmt.

Der Glaube an Zauberkräfte besonders im bösen Sinne, der selbst in unserem aufgeklärten Europa noch nicht ganz verschwunden, ist bei diesem Volke noch ein allgemeiner. Besonders fürchtet man sich vor dem bösen Blick, und man gebraucht verschiedene Schutzmittel, um ihm zu begegnen: junge Mädchen tragen einen aus dem Holze einer bestimmten Baumart geschnitzten Halsschmuck, während die Krieger glauben, sich durch Rindermist sichern zu können, der auf Backen und Stirn aufgetragen wird. Eine besondere Kraft scheint dem Speichel zugeschrieben zu werden, wenigstens reichen die jungen Krieger den Leuten ihres Stammes, welche den Ruf haben, Wunderkräfte zu besitzen, die Hand hin, damit jene darauf speien, und auch von mir verlangte man dies mitunter in einem Maße, daß bei der starken Hitze die Speicheldrüsen ihren Dienst versagten. Die Mohammedaner, die übrigens selbst kaum weniger abergläubisch sind, wissen den Aberglauben der Eingeborenen, mit denen sie einen regen Elfenbeinhandel treiben, geschickt für sich auszubeuten, indem sie die verschiedensten werthlosen Gegenstände, unter denen beschriebene Papierstreifchen eine Hauptrolle spielen, mit Erfolg gegen bösen Blick, Krankheiten und alle möglichen Uebel ausbieten.

Es wird nämlich das Massai-Land, seitdem das Elfenbein so bedeutend im Preise gestiegen, alljährlich von mehreren oft 600 bis 1000 Mann starken Karavanen aufgesucht. Diese haben mit vielen und großen Entbehrungen und Gefahren zu kämpfen. Die fast ausschließlich an vegetabilische Nahrung gewöhnten Küstenbewohner sind für längere Zeit nur auf [212] Fleischkost angewiesen, die bei ihnen mannigfache Verdauungsstörungen hervorruft, zumal die hungrigen Träger das Fleisch oft halbroh verzehren.

Dr. G. A. Fischer’s Karavane von einem Nashorn angegriffen.

Da ferner das Wasser in gewissen Distrikten sehr knapp ist, so müssen oft acht- bis zehnstündige Märsche zurückgelegt werden, ehe man einen Wasserplatz erreicht. Unter den den Fremdlingen drohenden Gefahren ist eigentlich nur die Feindseligkeit der Eingeborenen von Belang; wilde und gefährliche Thiere geben in Afrika nur selten Veranlassung zu Unglücksfällen; giftige Schlangen sind im Allgemeinen selten; von meiner 230 Mann starken Karavane wurde während eines achtmonatlichen Aufenthaltes im Innern nicht ein einziger unter den barfuß durch dick und dünn laufenden Leuten von einer Schlange gebissen. Der Löwe geht dem Menschen bei Tage immer aus dem Wege, und Nachts halten Dornenverschanzung und Wachtfeuer diesen und andere Raubthiere zurück. Die einzigen Thiere, welche ungereizt auf den Menschen losgehen, sind sonderbarer Weise alte männliche Büffel und die Nashörner. Letztere greifen jedoch den sich heranschleichenden Jäger nicht an; sobald sie ihn wittern oder bemerken, nehmen sie die Flucht, wie ich wiederholt zu beobachten Gelegenheit hatte. Dagegen scheinen ihnen die langen Züge der Karavanen ein großes Aergerniß zu bereiten. Zweimal wurde die unsrige von Nashörnern angegriffen, das eine Mal von einen Pärchen, das andere Mal von einem einzelnen Thiere. Wie rasend kommen sie auf die Karavane zugestürmt, mit gesenktem Kopf, zischend und fauchend, einer dahin brausenden Lokomotive vergleichbar. Das von der Hand Mützel’s gefertigte Bild veranschaulicht eine solche Situation. Sobald der Ruf: „Faru, Faru!“ (d. h. Nashorn) erschallt, bemächtigt sich der Karavane eine allgemeine Panik, die Träger werfen ihre Lasten fort, die Einen suchen Bäume zu erklettern, die Anderen sich hinter Büschen zu bergen, die Dritten sich durch die Flucht zu retten. Den Eseln, auf die es jene Ungethüme besonders abgesehen haben, werden schleunigst die Lasten abgeworfen, um ihnen die Flucht zu erleichtern. Ist dazu keine Zeit mehr vorhanden, und entziehen sie sich nicht durch rasche seitliche Wendungen den hierzu ungeschickten Angreifern, so werden sie aufgespießt und in die Luft geschleudert. Finden die wüthenden Thiere auf ihrem Wege kein lebendes Wesen vor, so beschnüffeln sie für einen Augenblick die auf dem Boden liegenden Kisten und Kasten und stürmen dann in gerader Richtung weiter. Die Mohammedaner behaupten, wenn man beherzt stehen bleibe, werde man nicht angegriffen; das Thier mache dann wenige Schritte vor dem Menschen Halt und wühle mit dem Horne den Boden auf, sodaß man Zeit habe, es durch einen wohlgezielten Schuß ins Genick niederzustrecken. Es dürften sich aber wohl Wenige finden, die beherzt, kaltblütig und ruhig genug sind, sich hierauf einzulassen. – – –

Der Vulkan „Dönjö Ngai“ (Gottesberg).

Nachschrift der Redaktion. Die interessanten Mittheilungen unseres geschätzten Mitarbeiters, dem wir u. A. auch unsere Illustrationen zu dem Artikel Sansibar in Nr. 6 der „Gartenlaube“ verdanken, werden von unseren Lesern gewiß mit besonderer Freude begrüßt werden. Jene wenig erforschten Länder an der ostafrikanischen Küste (erst in diesen Tagen ist in London das erste ausführlichere Werk über dieses Gebiet unter dem Titel „Durchs Massai-Land“ [Throuh Masai Land] von Joseph Thomson erschienen) sind für unsere Kolonialbestrebungen in letzter Zeit besonders wichtig geworden. Vor einigen Wochen hat bekanntlich Dr. Gerhard Rohlfs als Generalkonsul des Deutschen Reiches in Sansibar seinen Einzug gehalten und dem Sultan sein Kreditive überreicht. Die Aufgabe des rühmlichst bekannten Afrikaforschers wird vornehmlich darin bestehen, den bereits aufblühenden nicht unbedeutenden deutschen Handel und die neuen deutschen Kolonialunternehmungen in jenen Ländern thatkräftig zu unterstützen. Der Anfang dazu ist bereits gemacht worden. An der Ostküste von Afrika, in der Nähe von Sansibar, weht nunmehr eine Flagge, der wir dasselbe Glück wünschen, das dem Stanley’schen Banner geleuchtet, die Flagge der „deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft“, die einen schreitenden Löwen im rothen Felde zeigt, dessen Hintergrund mit einem Sternbild geziert ist. Diese neue Gesellschaft hat in Usegua, Usagara etc. an 2500 Quadratmeilen Land erworben und gedenkt dort nicht allein Handel zu treiben, sondern auch Tabak, Thee, Opium etc. zu bauen. Auch hier werden jedoch die Deutschen zunächst nur Kapital und Intelligenz verwenden können, da auch diese Länder, soweit bis jetzt Nachrichten vorliegen, zur Gründung von Ackerbaukolonien nicht geeignet zu sein scheinen und weiße Arbeiter in den Plantagen nicht beschäftigt werden können. Trotzdem ist eine gewisse Aussicht vorhanden, daß die Arbeiterverhältnisse an der Ostküste von Afrika sich günstiger gestalten werden als in Miseren an der Westküste gelegenen Kolonien, daß dort unseren Landsleuten gelingen wird, die Eingeborenen zur Arbeit heranzuziehen und ihnen die Segnungen der wahren Civilisation zu bringen.


[213]

Unter der Ehrenpforte.

Von Sophie Junghans.
(Fortsetzung.)


Georg kam zu dem alten Weber, um mit demselben im Auftrage seines Vaters etwas zu erörtern. Es handelte sich um die indessen thatsächlich beschlossene landgräfliche Vermählung mit der Gräfin von Hennegau. Die Stadt bereitete Geschenke für die Braut, die ihr am Tage des Einzuges, zum Willkommen, gereicht werden sollten. Auch die neuen Einwohner sollten aufgefordert werden, in ihrem eigenen Interesse sich an diesen Gaben, und zwar mit einem Erzeugnisse ihres Kunstfleißes, zu betheiligen. Der Bürgermeister hatte den Lukas Vanderport zu sich rufen lassen wollen, da erbot sich Georg, diese Besorgung zu übernehmen und zugleich vorläufig mit dem alten Manne sich zu besprechen. Er machte kein Hehl daraus, daß er besondern Antheil an der Weberniederlassung nehme. Der alte Tiedemars erblickte hierin einen Beweis für die Fähigkeit seines Sohnes, ein Gemeinwesen zu verwalten und in einem größeren Kreise zu wirken, und war im Stillen recht damit zufrieden.

„Steht auf, Georg, was thut Ihr?“ (S. 214.)

Nicht lange und die drei, Meister Lukas, Hilde und Georg, saßen um den dunkelbraunen Eichentisch, über welchem Hilde die Lampe aufgehängt hatte, in ernstlichem Gespräche. Man merkte, daß das Mädchen gewohnt war, auch in wichtigen Dingen um ihre Meinung gefragt zu werden, denn ohne sich mit derselben vorzudrängen, griff sie im richtigen Augenblicke ein und zwar so, daß, was sie sagte, die Aufmerksamkeit sofort fesselte. In diesem Falle schien ihr Rath noch besonders erwünscht: handelte es sich doch um Dinge, die einer Frau gefallen sollten.

Hilde schlug dem Vater als Geschenk für die landgräfliche Braut die prächtige Decke eines fürstlichen Lagers vor. Ein Muster, beinahe ein Wunder vom feinsten Gewebe mußte das werden, und reich verziert mit den Borden, welche die Frauen der Niederlassung so kunstreich anzufertigen verstanden. Sie gerieth förmlich in Eifer, während sie das Meisterwerk beschrieb, wie sie es sich dachte. Der alte Mann wiegte beifällig, aber noch etwas zweifelhaft den Kopf. Georg seinerseits schien sehr genau zuzuhören, denn er hing an ihrem belebten Gesicht. Als sie aber fragte. „Wie dünkt Euch, Herr – eine Borde etwa zwei Hände breit, um den äußeren Saum ... am Kopfende aber muß sie herüberfallen, das sieht reicher aus – oder meint Ihr nicht?“ da fuhr er wie verlegen auf, und seine Antwort ließ erkennen, daß er doch so recht nicht bei der Sache gewesen sein mußte. Die Wahrheit zu sagen, hatte er allerdings an ihren Lippen gehangen, aber nur um auf die Wiederkehr eines reizenden, kindlichen Zuges zu warten, der, während sie sprach, ein paar Mal um dieselben erschien. Es war schwer, Lippen, die so aussehen konnten, ungeküßt zu lassen, und er hatte in Gedanken eben wer weiß wie viele Male die seinen darauf gedrückt. Als ihn nun aber Hilde so ehrlich ansah und sich gleich darauf an dem vielleicht zu beredten Ausdruck seiner Augen verwirrte, da geschah ihm das Gleiche. Dem Einen entging die Empfindung des Anderen nicht, und es war nach diesem Augenblick fast, als hätten sie ein Geheimniß mit einander vor dem Vater, der so arglos zwischen ihnen saß.

Georg hatte selten ein angenehmeres Gefühl gekannt. Hilde aber war für die nun noch folgende Dauer seines Besuchs scheuer; freilich nicht so, daß es der alte Weber gemerkt hätte. Dem jungen Manne jedoch entging die leise Veränderung nicht, und er hatte große Lust, sich innerlich dagegen aufzulehnen. War es denn möglich, daß man so mit diesem Mädchen auf der Hut sein mußte? Zum Teufel auch, wie sollte er ihr da jemals näher kommen? Und dazu fühlte er sich jetzt mehr als je gefesselt, ja wie von einem Zauber umfangen, dessen Macht die ganze Atmosphäre dieses friedlichen altväterischen, aber durchaus nicht ärmlichen Gemaches zu verstärken schien.

Georg stand endlich auf, da die vorläufige Erörterung der Angelegenheit nicht wohl länger ausgesponnen werden konnte. Hilde hatte sich zugleich erhoben und die Hängelampe losgehakt, um ihm zu leuchten. Sie würde mit hinauskommen, jetzt mußte sich endlich ein Augenblick finden für eine Berührung ihrer Hände, nach der er fieberte, für ein leises, süßes Wort!

Aber Meister Lukas begnügte sich nicht damit, dem vornehmen Gast bis an die Stsubenthür das Geleit zu geben; er schlürfte vielmehr mit bis an die Hausthür, die zu dieser Abendstunde hinter dem Besucher sorgfältig verschlossen werden mußte. Hilde dagegen blieb etwas zurück; der Vater hatte sogar zu mahnen: „Leuchte doch besser, Kind!“ und Georg mußte sich mit dem ungestillten Verlangen nach einen verstohlenen traulichen Gruße entfernen.

[214] Der Bürgermeister war sehr zufrieden über das Ergebniß dieser Rücksprache mit dem alten Weber, wie es ihm Georg mittheilen konnte. Er legte sich jetzt häufig im Stillen zurecht, welche Geschäfte dem Sohne nach und nach übertragen werden sollten, damit, wenn er ihn nächstens dem Landgrafen als Gehilfen in der Kanzlei vorschlüge, man gleich ausdrücklich die Materien nennen könne, für welche Georg sich schon zum Referenten brauchbar gemacht habe.

Recht unerwüuscht war es ihm daher, daß, als wenige Tage später Meister Lukas Vanderport zum Behuf weiterer Besprechung jener Angelegenheit bei ihm erschien, Georg im Hause nicht zu finden war. Er mußte dasselbe erst vor Kurzem verlassen haben, denn die Mutter schwur darauf, er sitze ja in seiner Stube, wo sie eben noch mit ihm geredet habe. Gerade in dieser Sache, die Georg schon so geschickt eingeleitet hatte, wünschte der alte Tiedemars den Sohn auf dem Laufenden zu halten, daher ihm das Fehlen desselben bei dieser Unterredung mit dem Weber sehr ungelegen kam. „Es wird meinem Georg leid thun, daß Ihr ihn nicht antrefft, Meister Lukas,“ meinte er, während er dem alten Manne artig einen Sitz anwies. Hätte der Bürgermeister gewußt, wie die Sache sich verhielt, so würde er sich verwundert haben.

Georg hatte in seiner Stube gesessen, einem Eckzimmer im zweiten Stock, dessen Fenster im Erker in die Straße hineinsprang. Dort stand sein mit Büchern und Papieren bedeckter Arbeitstisch, und er träumte gerade über seinen Skripturen, als sein Auge, durchs Fenster die Gasse hinunter schweifend, auf die Gestalt des alten Webers fiel. Der Alte kam auf das Bürgermeisterhaus zu, wahrscheinlich wollte er zum Vater. Jedenfalls aber trug ihn sein Schritt in der seiner eigenen Behausung entgegengesetzten Richtung fort, und einem raschen Gedanken folgend sprang Georg auf, raffte sein Barett vom Nagel und eilte die Treppe hinunter, bei aller Hast aber mit einer gewisseu Vorsicht, fast als wäre es ihm gerade recht, wenn ihm Niemand begegnete. Unten im Flur wendete er sich nicht rechts, der Straßenthür zu, sondern nach links in den Hof und Garten. Der Garten aber, wie wir wissen, erstreckte sich bis an die Stadtmauer, welche denen vom Bürgermeisterhause hier durch ein besonderes Pförtchen den Ausgang gewährte. Dieser Weg vors Thor war beträchtlich kürzer als der durch die Stadt; dem jungen Manne aber kam er lang vor. Dabei beschäftigte ihn nichts als der Gedanke, ob er Hilden antreffen und ob er sie – endlich einmal – allein finden werde. Ihr Vater war in der Stadt und der wahrscheinliche Fall der, daß sie indessen das Haus hüte. Wie aber, wenn der Unstern etwa eine Nachbarin hingeführt hätte!

Jetzt war er endlich am Hause und suchte durch das Blumenfenster zu spähen. Drinnen schien alles still, aber auch leer. Er klopfte an die verschlossene Hausthür, und die Minute, während der er im Hause nichts sich regen hörte, schien ihm endlos. Endlich ein leichtes Geräusch – sein Herz pochte ungestüm vor Lust – das Haus war nicht verlassen, der Schritt, der sich jetzt von innen näherte, der ihre! Die Freude darüber schien ihm so hell vom Angesicht, als er jetzt dem Mädchen wirklich Auge in Auge gegenüber stand, daß ein Abglanz davon auch auf ihren lieben stillen Zügen aufgehen mußte! Kaum wußte Georg, was er sagte, als er die Frage hervorbrachte, ob Meister Lukas zu Hause sei ... der Vater schicke ihn ...

„So, seid Ihr meinem Vater nicht begegnet?“ fragte Hilde dagegen. „Er ist in die Stadt und just zu dem Herrn Bürgermeister, in derselben Sache, in der wahrscheinlich auch Ihr kommt; denn er hat indessen mit den Nachbarn Rücksprache genommen. Wie schade, daß Ihr den Weg umsonst gemacht habt!“

Sie hielt die Thür noch immer halb offen. Da aber Georg keine Miene machte, zu gehen, kam ihr die Unfreundlichkeit, ihn nach dem langen Wege, den er gefällig unternommen hatte, so zwischen Thür und Angel abzufertigen, doch allzu groß vor, und sie forderte ihn auf, herein zu treten. Doch klang ihre Stimme nicht so sicher wie sonst wohl, und als jetzt die Thür hinter ihm ins Schloß fiel und sie in dem halbdunkeln Flur seine brennenden Augen auf sich gerichtet fühlte, da kam eine plötzliche Angst über das Mädchen. Doch ließ sie sich nichts merken, sondern führte den Gast in die Stube ... „Wollt Ihr ein wenig verziehen, Herr?“ sagte sie, ihm einen Sessel rückend. Ihm war, als zitterten ihre Hände dabei. Er hätte sich auf sie stürzen und sie mit Küssen fast ersticken mögen, und er fühlte, daß die Leidenschaft, die ihn jetzt durchschütterte, jeden Widerstand überwältigt haben würde. Und doch zwang er sich gewaltsam zur Ruhe vor dem einen Gedanken, diesen Widerstand der stolzen keuschen Seele dieses Mädchens nicht in dem rücksichtslosen Ausbruch seines Gefühles zu besiegen, sondern gleichsam zu schmelzen, sie zu zwingen auch ihn zu lieben!

Und wenn er sie jetzt so ansah, die edeln Züge, die heute nicht den beinahe herben Ausdruck wie sonst wohl, die etwas Weiches, fast etwas Leidendes hatten, dann überkam es ihn wie eine Ahnung unsäglichen Glückes. Gesprochen hatten sie außer den wenigen ersten Worten noch nichts, und so heftig war bei beiden der Sturm der Gefühle, daß sie von diesem Schweigen gar nichts merkten. Er trat an den Sessel, den sie ihm hingerückt hatte, als wollte er sich setzen; Keines wagte das Andere anzusehen, aber endlich hob sie, wie von einem Magneten gezogen, langsam die Augen zu den seinen. Ihre grauen Augen waren dunkel bewimpert, und dies einer der eigenen Reize des etwas farblosen Angesichts. Aber Georg sah jetzt keine Schönheit der Bildung, er sah nur die Seele selber, die ihn aus diesen Augen ansah, nicht streng und auch nicht begehrlich, noch nicht einmal zärtlich, sondern mit einem tiefen, flehenden, um Schonung flehenden Blick ... und in der nächsten Sekunde war Hilde, von seinen Armen umfaßt, in den Sessel gesunken, und er, auf den Knieen vor ihr, barg das Haupt in ihrem Schoße.

Hilde beugte sich über den blonden Kopf, noch immer zitternd und mit leisen, flehenden Worten. „Steht auf, Georg, was thut Ihr? steht auf ...“ Dabei strich sie ihm kosend, aber mit der allerleisesten Berührung nur, über das kurze Haar hin.

Georg erhob sich endlich. Ein halbes, weiches Lächeln spielte um seine jungen Lippen, und eine solche Morgenröthe lichter Freude lag auf dem Antlitz, daß Hilde vor der siegenden Schönheit desselben leise erschauerte und ein Bangen empfand vor der Größe der Seligkeit, die mit der Liebe dieses Mannes ihrer wartete. Sie litt es, daß er sie jetzt zärtlich in die Arme schloß, daß er ihren Kopf zurückbeugte und ihr Lippen, Augen und Stirn küßte. Und diese Küsse! das war mehr, als nur eine Berührung seines Mundes – das innerste Wesen dieser leidenschaftlichen Natur schien sich durch dieselben mit dem ihren zu verbinden ... es war ihr, als empfinde sie dabei ihn selber, seine Seele, im tiefsten Innern der ihren, als sei sie eins mit ihm geworden.

Und dann – wie denn alles in dieser Liebesstunde anders war und anders kam, als es der Mann wenigstens fähig gewesen wäre, sich vorher auszudenken – dann saßen sie beide ganz schlicht nebeneinander auf einer hölzernen Bank an der Wand und plauderten! Und wie süß dies Gespräch, in dem man nachholt, was man vorher versäumt und übersprungen zu haben glaubt, wie das nun einmal so Gang und Art der Liebe ist! Aber wehe ihr auch, oder wehe ihrer Dauer, wenn sie nichts nachzuholen findet! wenn die spätere Bekanntschaft gleichsam die Annahme des Wechsels auf Sicht verweigert, welchen die wundergleiche Vertraulichkeit des ersten, leidenschaftlichen Entbrennens ausgestellt hatte!

Wie Hilde so leicht zurückgelehnt dasaß und träumerisch und halb vor sich hin erzählte, vom Vater, von der früheren Heimath und von ihrer Jugend, da hielt Georg, neben ihr, ihre Hand mit immer neuer Lust in der seinen und trank ihr die Worte von den anmuthigen Lippen. Sie lächelte ganz leise vor sich hin, wenn er sprach und ihr sagte, wie sie vom ersten Augenblicke an den besten Theil seiner Gedanken mit sich davongetragen habe. Fing Georg aber an, von ihrer Schönheit zu reden, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich schön?“ sagte sie mit einem Tone harmlosen und aufrichtigen Zweifels, der ihn entzückte. „Mich dünkt, mir wäre lieber, wenn Ihr mir sagtet, ich gefiele Euch wie ich bin.“

„Nicht ‚Ihr‘ – sage ‚Du‘, Hilde,“ bat er schmeichelnd.

„Nun denn; Du – Du,“ ihm war, als habe noch kein Liebeswort ihn je mit einer solchen Fülle inbrünstiger Zärtlichkeit überschüttet, wie dieses Du. Die Versuchung war groß, er lag wieder zu ihren Füßen, und sie umschränkte sein Antlitz mit ihren beiden Händen, wie wohl eine Mutter ihrem Kinde thut.

„Wer von uns Beiden schön ist, weiß ich wohl,“ sagte sie, diesmal mit ihrem alten, ernsten Lächeln. „Ach, nur zu gut.“ Er hatte sich erhoben, ihre Hände waren auf seine Schultern geglitten und sie stand vor ihm und blickte ihm still in das strahlende Gesicht. „Woran denkst Du, Hilde?“ fragte er.

[215] „Du wirst mich auslachen, an ein Bild denke ich, welches ich als kleines Mädchen gesehen und nie vergessen habe. Es war in herrlichen Farben an die Wand gemalt, im Stadthause in Mecheln, das früher der Palast des Erzbischofs gewesen und deßhalb so herrlich verziert war.“

„Nun?“ fragte er lächelnd, da sie innegehalten und ihn wieder nachdenklich angesehen hatte.

„Ein feuriger Wagen, von vier Rossen gezogen, obwohl ihn das Gewölk zu tragen schien. Die Pferde bäumten sich und schnoben heißen Dampf aus, wie lebend, alles so wild. Aber ganz ruhig, hell und schön stand oben auf dem Wagen derjenige, der sie lenkte, das Haupt ganz von Strahlen umglänzt, wie wohl die Heiligen auf den Bildern der Kirche, aber viel schöner, als je ein solcher gemalt worden ist. Und das war, so sagten sie mir damals, der Sonnenjüngling, die liebe Sonne selber – und so, Georg, so siehst Du aus!“

Georg vergalt ihr das Kompliment mit einem warmen Kusse. „Ja,“ sagte sie, sich sanft los machend, „Du die Sonne und ich –“

„Nun, und Du?“ fragte er scherzend. „Die holde Selene, die keusche Mondgöttin? meinetwegen.“

Sie sah ihn betroffen an, als ob er ihr die Worte aus dem Munde nehme. „Ja, ein anderes Bild war auch noch da,“ sagte sie. „Am dunklen Himmel, zwischen Sternen, stand ein umschleiertes Mädchen, mit verhülltem Haupte, über dem es wie eine kleine goldene Sichel glänzte. Nicht weiß ich, sollte sie den Mond oder die stille Nacht bedeuten.“

Er hatte sie wieder an sich gezogen, um sie zu küssen. „Du mein Mond, meine stille, süße Nacht, meine Erquickung,“ flüsterte er verliebt. Aber Hilde war noch nicht fertig und verweigerte sanft den Kuß. „Und wie sie gegen den strahlenden Sonnenjüngling, so, dünkte mich, sehe ich gegen Euch aus. Denn, Georg, sie gefiel mir gar nicht ... Der Maler hatte es mit ihr verfehlt“ – hier lachte Hilde schalkhaft. „steif und böse erschien sie, eine rechte alte Jungfer!“

Nun schalt Georg, in halb verwundertem Entzücken über eine Anmuth der Rede, die er noch bei keinem Weibe kennen gelernt hatte. „Laß Sonne und Mond, Hilde,“ rief er; „die beiden wären schlechte Schutzgötter für unsere Liebe! Der ganze weite Himmel trennt sie, sie kommen nimmermehr zusammen. Und ich meine, Dein lieber Mund, Du Böse, sollte zu dieser Stunde besseres zu thun finden, als Dich selber zu verunglimpfen.“

Er wollte sie wieder an sich ziehen, als der Schritt eines draußen, dicht am Fenster, Vorübergehenden sich vernehmen ließ. Georg horchte, während seine Hand herabsank. „Sollte das Dein Vater sein, Hilde?“ fragte er.

„Nein. Draußen geht es vorbei. Aber es ist jetzt um die Zeit, daß er heimkehren muß.“ Hilde war ganz ruhig geblieben, aber das Licht schwand aus ihrem Angesicht, als sie Unruhe und Hast sich ihres Freundes bemächtigen sah. Ihm war endlich das Verstreichen der Zeit zum Bewußtsein gekommen, und wie lästig, wenn ihn der Alte hier gefunden hätte!

„Ich muß fort, Hilde!“ Damit ergriff er sie bei den Händen und zog sie mit sich hinaus in den Flur. Nicht in der Stube, an deren Fenster Meister Lukas jetzt jeden Augenblick vorüber kommen konnte, wollte er seinen Abschied nehmen. Hilde war ihm schweigend gefolgt. Draußen fand sie sich noch einmal in seinen Armen, sie hörte sein von Leidenschaft gebrochenes Flüstern an ihrem Ohr. „Mein bist Du – mein –“ und dann war sie allein. Mit heißen Wangen und mit rasch klopfendem Herzen stand sie da, athemlos, wie Jemand, den ein mächtiger Sturm geschüttelt hat. Und jetzt streckte sie die Hand aus und griff nach der Wand neben sich, zur Stütze. So schwankte sie in die Stube hinein und dort saß sie wie halb betäubt auf der Bank nieder.

Aber der Vater kam jetzt wirklich heim. Hilde erkannte seinen Schritt draußen und stand auf, um ihm die Thüre zu öffnen. Dem Eingetretenen nahm sie Hut und Stab ab, während er ihre Hand behielt. Die Beiden trennten sich so selten, selbst nur für kurze Zeit, daß solch ein Heimkommen schon ein Ereigniß war.

„Nun, Vater, wie ist es ergangen?“ fragte Hilde. „Habt Ihr den Bürgermeister angetroffen?“

Meister Lukas hatte sich in seinen Lehnstuhl an den Tisch gesetzt, denn es war nun bald Zeit für das Abendbrot. „Freilich, und einen umgänglichen, braven und gescheiten Herrn habe ich an ihm gefunden, wie immer,“ sagte er behaglich. „Wir sind gut mit einander fertig geworden, denn wie ein kluger Regent weiß er jedem seine Ehre zu gönnen und sieht darauf, daß auch dem kleinen Manne seiner Zeit ein billiger Vortheil zugewendet werde.“

„Du sagst ja immer,“ meinte Hilde, „so lange er im Rathe der Stadt etwas zu sagen habe, werde es der Gemeinde an einem verständigen Fürsprecher nicht fehlen.“

Meister Lukas nickte. „Hast Du auch die Frau Bürgermeisterin gesehen, Vater?“ fragte Hilde, etwas leiser als zuvor. Ihr war heute jedes Wort kostbar, mit dessen Hilfe sie sich die Menschen besser vorstellen konnte, die mit einem Male eine solche Wichtigkeit für ihr Leben erlangt hatten.

„In die Stube kam sie nicht,“ erwiderte der alte Weber, „oder vielmehr, sie fuhr mit dem Kopfe zur Thür hinein, da dann ihr Herr und Gemahl sie, ein wenig herrisch wie mich dünkte, zurückwinkte. Die Frau hatte eine hastige übergeschäftige Art. Auf dem Flur hielt sie mich dann noch an, um mir zu verkünden, daß sie uns nächstens heimsuchen werde, da sie die Aussteuer beschaffen müsse. Und sie wisse, ein Gebild, wie wir es wirkten, für die großen Tafeltücher, finde man so leicht nicht noch einmal.“

Hilde hatte auf die letzten Worte nicht Acht gehabt; sie war von ihren eignen Gedanken zu sehr hingenommen. Der Vater fuhr fort: „Auch den Sohn sah ich nicht. Der Bürgermeister schickte nach ihm, als ich kam, denn er läßt, wie er mir sagte, den jungen Menschen, der ihm wohl viel Geld auf Schulen gekostet haben mag, an den Geschäften Antheil nehmen. Auch mir schien es billig, daß der Herr Georg den Verlauf unserer Sache höre, da er sich derselben neulich hier so verständig angenommen hatte. Wie es sich aber traf, hatte er gerade einen Ausgang gethan; den alten Herrn hat der Zufall recht verdrossen.“

Hilde, die eben das Tischtuch ausbreitete, hielt verwundert inne. „Sein Vater hatte ihn ja aber selber zu Dir geschickt,“ sagte sie. „Er kam und verlangte Dich zu sehen. Im Auftrage des Bürgermeisters.“

„Herr Georg Tiedemars war hier?“ Meister Lukas sah seine Tochter betroffen an.

„Ja, Vater.“

Dem alten Manne wurde das Herz schwer, als er seine Tochter bei den Worten langsam erröthen sah. „Das ist sonderbar ... im Bürgermeisterhause wußte Niemand ein Wort davon. Vielleicht –“ der Greis hatte mit den auffallend klaren, forschenden Augen noch einmal in das Gesicht seiner Tochter gesehen und fuhr nun bedächtig fort: „vielleicht kam er als ungeduldiger Bräutigam, in derselben Angelegenheit, von der seine Mutter zu mir sprach ... obwohl man freilich denken sollte, dergleichen wäre Sache der Weiber.“

„Was meint Ihr, Vater?“ fragte Hilde, mit einem qualvollen Bewußtsein davon, daß ihr heute das Verständniß ganz gewöhnlicher Worte fehle.

„Hast Du mich vorhin nicht sagen hören, Kind, daß er bald Hochzeit machen wird?“ fragte Meister Lukas dagegen. „Die Bürgermeisterin will ein paar Gedecke für den jungen Haushalt hier in der Gemeinde weben lassen. Nun, sie kann ein Stück Geld draufgehen lassen, denn da kommen viele Batzen zusammen. Des alten Külwetter einzige Tochter ist die Braut ... des reichen Kaufmanns, der Laden und Gewölbe am Schloßplatze hat.“

„Nein, Vater, die Braut bin ich!“ – Hilden war es, als müsse sie diese Worte überlaut hinausschreien – und im nächsten Augenblick schwamm und drehte sich Stube und Geräth um sie, und es brauste in ihren Ohren wie ein mächtiges Wasser. Als sie nach einigen Sekunden den Gebrauch ihrer Sinne wieder erlangt hatte, wußte sie nicht, ob sie jene Worte wirklich laut gerufen habe oder nicht. Aber ein Blick auf den Vater zeigte ihr, daß sie, Gottlob, nichts Ungewöhnliches gethan haben müsse. Er saß ruhig, wie zuvor, jetzt aber sah er sie an ... und der besorgte, forschende Blick enthielt eine Warnung für Hilden, sich zusammen zu nehmen. Mit unerhörter Anstrengung beschickte sie an jenem Abend alles, was ihr oblag, und wechselte Rede und Antwort mit dem Vater. Erst als sich, glücklicher Weise zu ziemlich früher Stunde, wie es in diesem Hause Sitte war, die Thür ihrer Kammer für die Nacht hinter ihr geschlossen hatte, da brach sie, hart an der Thür, auf den Dielen zusammen.

(Fortsetzung folgt.)


[216]

An das deutsche Volk.

Zur 70. Jahresfeier der Geburt des Fürsten Bismarck (1. April 1885).

Wir schauten die größte germanische That, von der die Geschichte berichtet,
Das größte der Wunder, wie es nur im Traum vorahnend die Muse gedichtet:
Germanische Kraft mit zermalmender Wucht zu germanischem Werke verbündet,
Germanias Größe gefestet zum Ring, zur funkelnden Krone geründet!

5
Gewalt’ges vollbringt ein gewaltig Volk. Doch wer ist’s, der zum Heile sie wendet,

Die gewaltige That? wer ist’s, der sie plant? und wer ist’s, der sie vollendet?
Wer ist’s, der Verworr’nes, der Ziele bewußt, mit ordnendem Geiste gestaltet;
Zu lebendiger Blüthe der Wirklichkeit, was Jahrhunderte träumten, entfaltet?

Der Genius ist es, der Heros, traun! in welchem zum lichten Gedanken

10
Das Ringen, das dumpfe, des Volkes wird, das gegährt in beengenden Schranken,

Und Leben gewinnt und feste Gestalt, und vor dem staunenden Blicke
Der Mitwelt streitbar tritt in die Bahn, zu entscheiden die großen Geschicke.

Auch dir, o deutsches Volk, auch dir ist solch ein Mittler erstanden,
Ein Führer und Lenker, so kühn als klug, ein Held in germanischen Landen,

15
Der, wie Keiner vor ihm, der Räthselsphinx der germanischen Zukunft begegnet,

Mit Kraft von Natur, mit Macht vom Geschick, mit Glück vom Himmel gesegnet!

Du feierst ihn heut – zujauchzest du ihm! Doch – willst du am schönsten ihn ehren,
O deutsches Volk, so gedenke du heut auch ein in dich selber zu kehren,
Und frage dich still: Ist gesichert nunmehr für immer uns, was er geschaffen,

20
Geschaffen mit waltender Geisteskraft, und ersiegt im Sturme der Waffen?


O Festtag, werde zum Schicksalstag für alle germanischen Gaue,
Daß sinnenden Blicks anheut, wie zurück, auch vorwärts Jeglicher schaue,
Anflehend der Schicksalsmächte Gunst, daß über dem Reiche sie walten,
Wenn heimgegangen die Starken sind, die wie Säulen es heben und halten!

25
Die Stämme, die Gaue der Deutschen, o seht, im weiten germanischen Reiche,

In einander gewachsen sind sie noch nicht wie die Aeste im Wipfel der Eiche:
Vereint sind sie, zusammengefügt nur erst wie ein Bündel von Speeren,
Nun kämpfend vereint – um aufs Neue vielleicht sich gegen einander zu kehren?

Weh dir, o deutsches Vaterland, wenn deinen sämmtlichen Söhnen

30
Das Heiligste nicht vor Allem du selbst! wenn sie der Treu’ sich entwöhnen,

Wenn ihnen nicht ewig als Leitstern gilt in unvergänglicher Reinheit
Des Vaterlands Ehre, des Vaterlands Glück, des Vaterlands Größe und Einheit!

O weckt ihn nicht auf, den alten Fluch, den Fluch der germanischen Erde,
Daß nicht zu grollender Nachbarn Spott, zum Tummelplatze sie werde

35
Gesättigter Rache, schnöden Verraths – daß den Herd des heimischen Lebens

Nicht schände die Schmach barbarischen Thuns und zerfahrenen wüsten Bestrebens!

Die Bäume rauschen im Niederwald – sie flüstern aus jüngsten Tagen
Eine schaurige Mähr, voll warnenden Sinns – sie rauschen und flüstern und sagen:
„Nicht fremde Hand wird stürzen das Mal, das stolz hier schaut in die Lande:

40
Doch wehe, wenn einstens des Ruhms Denkmal sich zum Denkmal wandelt der Schande!“


Der Lorbeer, geflochten der deutschen That – er deckt grauschimmernde Haare!
Den Helden, den heute wir feiern, wir sehn ihn gedrückt von der Bürde der Jahre!
Doch – ob auch erschöpft von den Mühen des Kampfs und dem Schweiße gewaltiger Thaten,
Darf nun er auf seinen Lorbeern ruh’n, und können wir seiner entrathen?

45
Nein, heg’ ihn, o Deutschland, so lang’ ihn noch die himmlischen Mächte dir gönnen!

Nie mag im gewaltigen Drange der Zeit erlahmen sein Wollen und Können,
Und niemals komme der Tag, wo nicht, wie bisher, zu gedeihlichem Werke
Aus des Volkes Vertrau’n er schöpfe den Muth, aus dem Heimathboden die Stärke.

Wie Columbus erschloß er durch Fahr und Noth die Bahn zu verheißenen Küsten,

50
Wie Moses fand er des Auswegs Spur für sein irrendes Volk in den Wüsten;

Wie Jenem, ist es vielleicht ihm versagt, dort, wo er sä’te, zu ernten,
Wie Dieser, blickt er sterbend vielleicht nach Gefilden, weit noch entfernten –

Doch – ist es noch nicht errungen ganz, wofür er kämpfte und lebte,
Und schwebt es noch in den Lüften halb, das Deutschland, das er erstrebte,

55
So gönnet ihm doch, nicht wolkenverhüllt, nicht umdräut von finsterem Grauen,

Nein, winkend in rosigem Zukunftslicht es mit brechendem Auge zu schauen.
  Robert Hamerling.

[217]

Fürst Bismarck.

[218]

Dr. Leopold Damrosch.

Noch selten haben sich bei einem Todesfalle so viele Umstände vereinigt, denselben zu einem wahrhaft tragischen, für die weitesten Kreise erschütternden zu machen, wie bei dem am 15. Februar erfolgten plötzlichen Dahingehen des deutsch-amerikanischen Mannes, dessen Name über diesen Zeilen steht. Und nicht allein innerhalb des amerikanischen Kunstlebens, dem er seit Jahren als ein Führer und eine Leuchte angehörte, nicht nur innerhalb des gesammten Deutschthums der neuen Welt, welches gerade jetzt mit besonderem Stolze auf ihn als einen der Seinigen blicken durfte – weit über Amerika hinaus, im alten Vaterlande und in der ganzen Musikwelt Europas wird die Kunde von seinem Tode nicht allein mit Trauer und Theilnahme, sondern mit jenem gesteigerten Wehgefühle vernommen werden, welches man unwillkürlich angesichts Eines empfindet, der mitten im vollsten Schaffen, mitten im vollsten Erfolge, so recht auf seinem Schilde dahin gestreckt wurde. Das Werk aber, aus dessen Mitte, oder richtiger gesagt, von dessen vollster Gelingenshöhe herunter er fortgerissen wurde, war, wie der Mann selbst, deutsch – ein so deutsches, daß man sich in der Geschichte des germanischen Wirkens und Gedankens auf amerikanischem Boden, sowohl was vornehme Artung wie vollendeten Erfolg betrifft, vergebens nach einem Seitenstücke dazu umsieht. Es war die große deutsche Oper in New-York, welche Dr. Damrosch im vorigen Herbste in dem größten und prachtvollsten Opernbaue der neuen Welt, in dem vor zwei Jahren von einem New-Yorker Millionärkonsortium der Öffentlichkeit übergebenen „Metropolitan-Opera-House“, begründet und die er gleich im Laufe der ersten Wochen zu einem solchen Triumphe für die deutsche Kunst zu gestalten gewußt hatte, daß das Unternehmen selbst von den Widerwilligen alsbald als ein im amerikanischen Musikleben eine Epoche bezeichnendes anerkannt werden mußte.

Aber wie viel aufreibende Arbeit, wie viel rastlose Kämpfe, wie viel große Leistungen und, leider auch, wie mannigfache Enttäuschungen waren diesem letzten, großen, durch nichts mehr anzutastenden Erfolge des genialen Mannes in den vierzehn Jahren vorangegangen, die er Amerika angehörte! Und wer will sagen, wie überarbeitet, wie überangestrengt, wie erschöpft bereits der ganz in seinem idealen Streben Aufgehende und sich Auszehrende war, als er an das Gewinnen seiner letzten großen Lebens- und Kunstschlacht heranging, um schon nach wenigen Monaten das volleroberte Kampffeld mit dem eigenen zusammenbrechenden Leibe zu decken?

Es war im Jahre 1872, daß Dr. Leopold Damrosch nach Amerika kam. Er folgte dem Rufe des New-Yorker Männergesangvereins „Arion“, und der Name, den er mit sich über den Ocean brachte, war schon damals ein in der Musikwelt Deutschlands längst wohl gegründeter und wohlbekannter. Nicht nur als Geigenvirtuos, sondern auch als Komponist und namentlich als Gründer und Leiter zweier der hervorragendsten Mnsikinstitutioncn Breslaus (1858 bis 1870) hatte er sich bereits seit Jahren einen Platz unter den tonangebenden Musikern des alten Vaterlandes erobert.

Sein in Posen ansäßiger Vater – auch er selbst erblickte in dieser Stadt am 22. Oktober 1832 das Licht der Welt –– wollte durchaus einen „Studirten“ aus dem auffallend und vielseitig begabten Sohne machen, und machte auch richtig einen solchen aus ihm, der nicht nur sein heimisches Gymnasium, sondern auch die Berliner Universität so glatt absolvirte, daß er schon im Jahre 1854 als Arzt promoviren konnte. Damit hatte er aber auch den Wünschen des Vaters und der Familie gegenüber das ihm Möglichste gethan. Der Künstler in ihm rief mit Gewalt, daß man jetzt endlich auch ihn gewähren lasse, und der junge Doktor, der neben seinem Secirtisch und seinen medicinischen Kollegien noch immer Zeit genug gefunden hatte, unter vorzüglichen Berliner Meistern ein Violinspieler ersten Ranges zu werden, trat plötzlich als solcher im Jahre 1856 in Magdeburg mit einem Erfolge in die Öffentlichkeit, welcher alsbald für seine ganze Zukunft entscheidend wurde. Gleich dieses erste Debüt lehrte, daß der Musikant den Studirten zum Leben nicht nöthig habe, sondern sich fortan allein und ausschließlich durch die Welt schlagen, ja wohl gar die Welt erobern könne.

Schon frühzeitig hat sich der zum Sologeiger und von diesem zum Kapellmeister fortgeschrittene Mediciner zum Vorkämpfer und Propagator jener Musikrichtung gemacht, die sich in Berlioz, Liszt und Wagner verkörperte. Auch in Amerika ist Dr. Damrosch dieser Richtung treu geblieben, ohne sich jedoch in irgend welche rigorose Ausschließlichkeit zu verrennen. Es bedurfte für ihn in diesem mit kluger Mäßigung Hand in Hand gehenden Eifer nur weniger Jahre, um bald neben Theodor Thomas, der bereits vor ihm das Feld inne gehabt hatte, zum musikalischen Sämann und Volkserzieher zu werden, dessen Wirken eine ungleich eingehendere Charakterisirung und Würdigung erheischt, als ihm hier in wenigen Zeilen zu Theil werden konnte. Wie schon in Breslau rief er auch hier die musikalischen Organisationen, deren er dabei als Mittel und Handhaben bedurfte, selber ins Leben. Zur Leitung des Männergesangvereins „Arion“ trat schon 1873 die Gründung der „New-Yorker Chor-Gesellschaft“, an die sich 1878 wiederum die der „New-Yorker Symphonie-Gesellschaft“ schloß. Mit diesen drei großen Musikfaktoren aber war Dr. Leopold Damrosch in den letzten Jahren seiner New-Yorker Dirigententhätigkeit thatsächlich in der Lage, seinem großen Werk der amerikanischen Musikpflege und Musikerziehung in einem Umfang und einem Stil zu dienen, wie sie selbst einem höchstgesteckten Künstlerstreben nur selten erreichbar werden. Und wenn es dabei auch nicht ohne stete Kämpfe abging, wenn die materiellen Erfolge gar oft weit hinter dem Idealerwerb zurückstanden, so fehlte es dieser großangelegten und vielseitigen Dirigententhätigkeit doch auch schon in diesen vergangenen Jahren, neben ihren nie geleugneten künstlerischen Erfolgen, keineswegs an solchen Höhepunkten, welche auch die Signatur des praktischen Gelingens in jedem Sinne tragen.

Ein solcher war vor allen Dingen das große New-Yorker Mai-Musikfest des Jahres 1881. In dem Lichte, in welchem wir jetzt das abgeschlossene Leben des landsmännischen Meisters erblicken, will uns dasselbe wie ein Prolog, wie ein rauschendes, ruhmvolles Vorspiel zu dem großen Triumph erscheinen, in dessen Mitte soeben der Dirigentenstab seiner Hand für immer entsank.

Vor dem in eine große Trauerhalle verwandelten Riesenraum des Metropolitan-Opera-House, von seinem eigenen Schlachtfelde aus aber haben sie soeben den auf seinem Schilde und seinen Lorbeern gefallenen deutschen Kunststreiter auf fremder Erde bestattet. Nur ein Bruchtheil der Tausende, welche den mächtigen Theaterbau am oberen Broadway umdrängten und umflutheten, vermochte Zutritt zu finden. Auf der vorderen Bühne war der Katafalk errichtet. Ein ganzer Frühling von Kränzen und duftigen Blumengebilden umgab und deckte den Sarg. Im Publikum sah man Alles, was New-York in der Kunst-, der Schriftsteller- und Journalistenwelt, der Politik und der Gesellschaft an Persönlichkeiten besitzt, – darunter in den ersten Reihen die von Schmerz um den Tod des Führers niedergebeugten Gestalten von „Brunhilde“-Materna, „Fides“–Brandt, „Elsa“–Kraus, „Lohengrin“–Schott, „Wolfram“–Robinson, und wie sie Alle heißen, die Getreuen, die er in diesen letzten drei Monaten sanft ins singende und siegende Gefecht geführt. Henry Ward Beecher, der Redegewaltige der Plymouth-Kanzel, und Felix Adler, der Philanthrop, riefen dem Geschiedenen begeisterte Würdigungs- und erschütternde Abschiedsworte nach. Und dazwischen sangen die vornehmsten Chorvereine tiefrührende Scheideweisen. Sein eignes Orchester aber ließ über der hingestreckten Form des todten Meisters noch einmal die Klänge der großen Siegfried-Todtenklage erschallen, – und man wird wohl sagen dürfen, daß dieses stolze Klangopfer ein verdientes war, und daß ihm noch nie eine ergriffnere, von der Gewalt des Augenblicks durchschüttertere Zuhörerschaft gelauscht hat, als die, welche am Nachmittag dieses 18. Februar den Manen des deutschen Musikers und deutschen Kunstkämpen auf amerikanischer Erde, den Manen Leopold Damrosch’s die letzten Ehren erwies.

New-York. Udo Brachvogel. 


[219]

Der Schlimmste seines Gleichen.

Ein Mahnwort an die Pilzsammler. Von Paul Kummer.

Auch in der harmlosen Pflanzenwelt giebt es Verbrechergestalten, welche durch ihre äußere Erscheinung über ihren inneren Charakter Unvorsichtige zu täuschen wissen und mit ihrer unheilvollen Wirkung dem Verführten Verderben bereiten, ja nicht selten den Tod bringen.

Dazu gehören auf unserm deutschen Boden besonders die giftigen Pilze, deren manche schon durch ihr ganzes Aeußere sowie durch ihren Aufenthalt an schattigen Waldstätten auf Moder- und Verwesungsstoffen ihr wahres Naturell in symbolischer Weise verrathen.

Welche entsetzliche Wirkung der Genuß mancher Pilze nach sich zieht, hat die Erfahrung des Volkes schon durch die Namen einiger Giftlinge angedeutet; gang und gäbe sind für solche etwa die Namen Satanspilz, Speiteufel, Teufling, Hexenpilz, Mordschwamm etc. Einige unter diesen Waldkindern sind wohl mit Unrecht in den schlimmen Verdacht gerathen, es giebt aber noch andere, die sehr wenig bekannt sind, sodaß für dieselben kaum ein volksthümlicher Name vorhanden ist, obwohl sie durch ihre giftige Wirkung oft das größte Unheil gestiftet haben.

Der gefährlichste unter diesen unbekannten Feinden ist die Amanita bulbosa (auch A. phalloides genannt), deutsch der Knollenpilz oder Gichtblätterpilz. Da er zur Gattung der Fliegenpilze gehört, obgleich er weder in Farbe, noch in Größe, noch in auffälliger Tracht dem bekannten rothen Fliegenpilze gleicht, will ich ihn, auch um der Abschreckung willen, den weißen Fliegenpilz heißen. Unter diesem Namen mögen ihn die folgenden Zeilen an den Pranger stellen und seiner gefährlichen Verbrechernatur gründlich überführen.

Der weiße Fliegenpilz (Amanita bulbosa).

Er wohnt keineswegs an verdächtigen Orten, treibt sich nicht etwa an dumpfigen, modrigen Stätten umher, sondern hat sich stets den lichten frohen Wald, besonders den moosgrundigen, blumenreichen Laubwald ausgewählt. Da hält er sich zur schönen Sommerszeit auf bis spät in die Herbsttage, und zwar in Gesellschaft solidester anderer Pilze. Denn in seiner Nähe wächst auf demselben Waldgrund der edle Steinpilz, der allbekannte und beliebte goldgelbe Pfifferling, und mancher andere harmlose Pilzflor ersteht um ihn her, obgleich allerdings auch der rothe Fliegenpilz als sein nächster Verwandter sich auf denselben Plätzen stolz erhebt und mit schönheitlicher Verachtung auf den geringen und meist völlig in Weiß gekleideten Bruder herabsieht. Ja, so schwarz dessen Wesen ist, so weiß ist seine äußere Tracht: weiß ist der etwa fingerhohe und -dicke Stiel, weiß auch die denselben gar zierlich umgürtende Manchette, weiß sind die Fruchtblätter auf der Hutunterseite; nur sein Hut selbst kommt nicht blos in seidigem Weiß, mit weißlich warzigen Schuppen, Warzen oder Hautfasern besetzt vor, sondern wir finden ihn oft auch citrongelblich oder grünlichgelb, selten etwas gebräunt. Seine Verwandtschaft mit dem rothen Fliegenpilze verdankt er aber nicht nur der erwähnten Manchette am Stiele und den verwischbaren Warzen, welche den Hut garniren, sondern auch und vornehmlich der dicken knolligen, häutig umlappten Basis seines Stieles. Wer diese Merkmale genau beachtet, wird ihn nie wieder verkennen, ihn vor Allem mit keinem eßbaren verwechseln können. Unsere Abbildungen veranschaulichen uns die einzelnen Entwickelungsstadien des weißen Fliegenpilzes: in Fig. l. sehen wir das erste Hervorbrechen desselben; in Fig. 2 sind Hut und Manchette noch nicht völlig entwickelt, während wir in Fig. 3 den reifen Pilz vor uns haben.

Fragen wir aber, mit welchen andern er wohl von Unkundigen verwechselt werden könnte und gar oft schon verwechselt ist, so läßt die Antwort darauf seine besondere Gefährlichkeit für den harmlosen Pilzsucher erkennen. Den was ihn so gefährlich macht und leider nur zu oft schon die traurigsten Unglücksfälle veranlaßt hat, ist der Umstand, daß er dem gepriesenen und vielgesuchten Champignon nicht unähnlich ist; denn auch dieser hat eine Manchette am Stiel und einen weißen Hut und ist von etwa gleicher Größe. Der weiße Fliegenpilz unterscheidet sich vom Champignon allerdings schon dadurch, daß dieser einen angenehmen Geruch hat; auch das dicke Hutfleisch und der meist nackte, oder mit festgewachsenen Schuppen bekleidete Hut zeichnet den Champignon aus; vor Allem aber sind die Blätter seiner Hutunterseite nicht dauernd weiß, wie beim weißen Fliegenpilz, sondern rosenröthlich, bis sie später kaffeebraun und braunschwarz werden. Diese Blätterfarbe tritt beim Champignon aber erst auf, wenn der Hut sich zu entfalten beginnt; ist derselbe noch jugendlich geschlossen – und dann ist der Champignon bekanntlich am delikatesten und wird am liebsten gepflückt – so sind die Blätter noch weißlich. In solchem Falle kann uns oft nur eine nähere Prüfung des Geruches und der Stielbasis lehren, ob wir es wirklich mit dem Champignon zu thun haben. Die Aehnlichkeit beider ist dann für den Unkundigen so groß, daß vor Allem im Walde Niemand Champignons sammeln sollte, der den weißen Fliegenpilz nicht ganz genau kennt. Ich sage ausdrücklich im Walde; denn die Heimstätte des weißen Fliegenpilzes ist stets der Wald, während der echte Champignon höchstens einmal am Waldwege vorkommt, wo von dem Fuhrwerksverkehr Pferdemist angeweht ist, der seine wesentliche Lebensbedingung bildet, sonst aber nur auf Wiesen, Triften, an Feldrinnen, überhaupt nur auf freien Plätzen zu finden ist. Eine Abart des Champignon, der Waldchampignon, kommt zwar gerade im Walde vor, ist aber weniger delikat, und der Unkundige möge diesen lieber meiden, um seinem Grundsatze treu zu bleiben, im Walde niemals Champignons zu sammeln.

Der Genuß des weißen Fliegenpilzes ist namentlich wegen der langsamen, schleichenden Wirkung auf unsern Organismus gefährlich. Die Betrogenen werden zu spät auf die Gefahr aufmerksam und sind somit dann aller Mittel und Wege beraubt, den genossenen Giftstoff wieder unschädlich zu machen. In der That merkt man bei keinem einzigen anderen giftigen Pilze erst so spät nach dem Genusse, daß man ein verderbliches Gericht gegessen habe. Bei dem rothen Fliegenpilze z. B. treten die ersten Symptome der Vergiftung schon in etwa einer halben bis einer Stunde auf, sodaß man sehr bald wirksame Mittel anwenden kann; auch ist dieser insofern weniger gefährlich, als sein Genuß zuweilen von selber Erbrechen hervorruft, ehe die Verdauung stattgefunden hat. Eine Vergiftung durch den weißen Fliegenpilz hingegen spürt man erst, wenn es nicht mehr möglich ist, noch etwas zur Rettung zu thun – und darum eben ist er der gefährlichste aller Pilze!

Durch Vergleichung der sehr vielen durch ihn vorgekommenen Vergiftungsfälle ergiebt sich, daß stets erst mehrere Stunden nach dem Genusse, zumeist in 8 bis 10 Stunden, ja in einigen Fällen [220] erst in 30 oder 48 Stunden die ersten Symptome der Erkrankung sich zeigen. Schon nach 8 bis 10 Stunden aber kommt alle Hilfe zu spät, künstliche Brechmittel sind dann vergeblich, da der Giftstoff, das sogenannte Bulbosin, vom Körper bereits absorbirt ist. Die Wirkung desselben hängt natürlich von der Menge der genossenen Pilze ab, aber schon der Genuß von nur etwa zwei bis drei Pilzen hat den Tod zur Folge. Statistische Vergleiche haben deßhalb erwiesen, daß etwa zwei Drittel der Vergiftungen durch diesen Pilz absolut tödlich verliefen. Das ist aber ein Verhältniß, wie es bei keinem andern Giftpilze stattfindet, da selbst der Genuß des rothen Fliegenpilzes, so schlimm auch zuweilen die daraus folgende Erkrankung ist, nachgewiesenermaßen nur in seltenen Fällen den Tod nach sich zieht. Die Leiden bei der durch den weißen Fliegenpilz hervorgerufenen Erkrankung sind außerdem schrecklich genug. Das Krankheitsbild ist dann der Cholera sehr ähnlich, es zeigt Kolik, quälenden Durst, Zusammenfall der Kräfte, zunehmende geistige Abstumpfung, bis endlich nach etwa zwei Tagen der Tod von diesen bis aufs Höchste gesteigerten Leiden erlöst.

So wenig das Volk diesen giftigen Pilz kennt, so war seine Wirkung doch nachweislich schon vor 200 Jahren den Aerzten bekannt, wo J. Bauhin den Verlauf der Erkrankung nach dem Genuß dieses Pilzes mit ihrem tödlichen Ausgange bereits schilderte.

Im Hinblicke auf solche furchtbare Folgen eines unvorsichtigen Pilzgenusses dürfte Mancher meinen, daß lieber auf alle Pilze als Nahrungsmittel verzichtet werden sollte. Aber es wäre wiederum mehr als thöricht, dieses überall reichlichst von selber wachsende nahrhafteste Nahrungsmittel unbeachtet lassen zu wollen. Auf wie viele Sachen im Leben müßten wir dann folgerichtig verzichten, weil es schädliche ihres Gleichen giebt, durch deren Verwechselung zuweilen ein Unglück sich ereignet hat! Nicht im entferntesten sind zu diesem Zwecke diese Zeilen geschrieben, nein, gerade damit der Leser durch genaue Kenntniß des weißen Fliegenpilzes um so vorsichtiger die ihm ähnlichen edlen Pilzsorten einsammle. Und deren giebt es genug, wenngleich man sich meistens begnügt mit dem Champignon, Steinpilz, Pfifferling, Röthling, Mousseron, Stachelpilz und der Morchel. Die zahlreich vorhandenen populären Bücher über Pilze geben sichere Anleitung, die edlen Sorten kennen zu lernen.

Vor Allem muß jedoch die Regel befolgt werden, stets nur solche Pilze zu sammeln und zu kaufen, die man auf das Genaueste kennen gelernt hat; aber wirkliche Sicherheit hat man nur dann, wenn man zugleich diejenigen schädlichen genau kennt, welche mit einem bekannten eßbaren eine möglicher Weise zur Verwechselung führende Aehnlichkeit haben.


Blätter und Blüthen.

Ein Nothruf. (Mit Illustration S. 209.) Heimgekehrt vor den drohenden Anzeichen des Sturmes ist die Flotille der Fischer, bis auf einen derselben, der sich beim Bergen seines reichen Fanges verspätete. Jetzt ist sein kleines Fahrzeug ein willenloses Spielzeug des Unwetters und der Wellen. Wie eine Nußschale schwankt es auf den Gipfeln der sich überstürzenden schaumgekrönten Wogen. Ruderlos rollt es daher, von jedem Windstoß in andere Richtung getrieben; starr, den sicheren Tod vor Augen, erwartet der Mann seinen Untergang, den Blick nach der Hütte am Strande gerichtet, wo Frau und Kind vielleicht bald als Wittwe und Waise ihn beweinen werden.

Jammernd stürzt das junge Weib heraus aus der Hütte, wo sie mit bangem Blicke ausschaute nach dem heimkehrenden Manne, laut läßt sie den Nothruf erschallen. Da belebt sich der öde Strand, reckenhafte Gestalten, den Südwester tief in den Nacken gedrückt, die hohen Stiefel bis zum Leibe emporgezogen, eilen herbei, dem Kameraden draußen auf der hohen See zu helfen, ihn zu retten. Eilig wird der festgefügte Kahn in die brausende, brandende See geschoben, nervige Fäuste packen die Ruder und dahin fliegt der Rettungskahn dem Unglücklichen entgegen. Schwer ist der Kampf, aber endlich gelingt es: geborgen liegt der Halberstarrte im Boote bei den Freunden – und nach einer bangen, verzweiflungsvollen Stunde hält die Frau am Strande mit einem Jubelruf den Geretteten in den Armen. – r.     


Das Portrait des Fürsten Bismarck (S. 217), welches unsere heutige Nummer schmückt, ist bereits das vierte in der Reihe der Bildnisse des großen Staatsmannes, welches die „Gartenlaube“ im Laufe der Jahre gebracht hat.

Das erste unter ihnen, nach einem Meisterwerke des ausgezeichneten Berliner Künstlers A. Bürde gefertigt, stammt aus dem Jahre 1846 und zeigt uns das energische von kurzem Vollbarte umrahmte Gesicht des angehenden parlamentarischen Kämpfers.

Zehn Jahre älter erscheint Bismarck auf dem zweiten Portrait, das von demselben Künstler entworfen wurde. Es ist der Geh. Legationsrath von Bismarck, der Gesandte Preußens an dem deutschen Bundestage, der unter fortwährenden hartnäckigen Kämpfen langsam, aber sicher zur Höhe des Ruhms emporsteigt.

Vielleicht aus der glücklichsten Zeit seines Lebens stammt das dritte Portrait Bismarck’s. Das Jahr 1873 steht darunter, und wir sehen den eisernen Reichskanzler vor uns, der im diplomatischen Kampfe die Feinde Deutschlands niedergeworfen, durch seinen Genius den Erfolg der siegreichen deutschen Waffen gesichert und mehr als irgend ein Anderer in der Welt beigetragen hatte zur Einigung Deutschlands und zur Gründung des Reichs. Diese interessanten Bismarck-Portraits, welche im Jahrgang 1873 der „Gartenlaube“ erschienen sind, möge nun unser heutiges, von R. Huthsteiner gezeichnetes und von M. Klinkicht geschnittenes Portrait ergänzen, das unsern Lesern den greisen Jubilar vorstellt, der am 1. April dieses Jahres sein siebenzigstes Lebensjahr vollendet und kurze Zeit nachher – im Juni – auf das volle halbe Jahrhundert seines gewaltigen Wirkens im Staatsdienste zurückblicken wird.


Zweisilbiges Räthsel.

Nachdem meine Erste mein Ganzes erdacht,
Hat keck sie im Ganzen das Zweite vollbracht.   E. St.


Auflösung des Rebus „Die Firmatafel“ in Nr. 12 : En gros et en détail.


Kleiner Briefkasten.

F. L. in St. Das Edikt von Nantes, 1598 von Heinrich IV. gegeben, gestattete den Reformirten die freie Ausübung ihrer Religion in Frankreich. Ludwig XIV. hob das Edikt im Oktober 1685 auf und machte dadurch die französischen Protestanten rechtlos, die sich nunmehr ins Ausland wandten, wo sie namentlich in Genf und in der französischen Schweiz Unterkunft fanden. Die Entwickelung des französischen Protestantismus daselbst, sowie die damit verbundene Gesittung und Litteratur ist ausführlich geschildert in dem von uns bereits anerkennend besprochenen Werke „Kultur- und Litteraturgeschichte der französischen Schweiz und Savoyens. Von Dr. Herman Semmig. Zürich, Trüb’sche Buchhandlung (Th. Schröter)“, das Ihren Zwecken am besten entsprechen dürfte.

P. L. M. in Liège und Th. Sch. in Hamburg. Ueber das von Ihnen erwähnte Uhrengeschäft und den betreffenden Elektrisirapparat vermögen wir Ihnen keine Auskunft zu geben. Für Inserate kann keine Redaktion der Welt die Verantwortlichkeit in dem Sinn übernehmen, daß sie auch für die Brauchbarkeit der vom Verkäufer angepriesenen Waaren einsteht. Die Redaktion un der Verlag der Inseratenbeilage, die von der Redaktion und dem Verlage unseres Blattes völlig getrennt sind, können nur darauf achten, daß Inserate, die offenbar auf Schwindel beruhen oder gegen Anstand und Sitte verstoßen, nicht zum Abdruck gelangen. Aber jeden Gegenstand, der in der Beilage zur „Gartenlaube“ annoncirt wird, auf dessen solide Ausführung oder seinen reellen Werth zu prüfen, das ginge doch zu weit!

C. W. in Löhnberg. Wenden Sie sich an die Redaktion der Zeitschrift „Export“ in Berlin.

E. S. in Krot. Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.

Kunz, Preßbaum. Ob echt oder unecht, die Pillen gehören in die Kategorie der Geheimmittelschwindeleien und darum geben wir Ihnen die Bezugsquelle nicht an.

F. E–s in Neustadt-Magdeburg. Ungeeignet.


Inhalt: Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Roman von E. Marlitt (Fortsetzung). S. 205. – Deutschlands Kolonialbestrebungen. Skizzen aus meiner letzten Forschungsreise in Ostafrika. Von Dr. G. A. Fischer. S. 210. Illustrationen S. 210, 211 und 212. – Unter der Ehrenpforte. Von Sophie Junghans (Fortsetzung). S. 213. Mit Illustration S. 213. – An das deutsche Volk. Zur 70. Jahresfeier der Geburt des Fürsten Bismarck (1. April 1885). Gedicht von Robert Hamerling. S. 216. – Dr. Leopold Damrosch. Von Udo Brachvogel. S. 218. – Der Schlimmste seines Gleichen. Ein Mahnwort an die Pilzsammler. Von Paul Kummer. Mit Abbildung. S. 219. – Blätter und Blüthen: Nothruf. S. 220. Mit Illustration S. 209. – Das Portrait des Fürsten Bismarck. S. 220. Mit Portrait S. 217. – Zweisilbiges Räthsel. – Auflösung des Rebus „Die Firmatafel“ in Nr. 12. – Kleiner Briefkasten. S. 220.



Unseren Lesern

widmen wir die erfreuliche Mittheilung, daß die Abonnentenzahl der „Gartenlaube“ auch im neuen Jahre wieder eine ansehnliche Steigerung erfahren hat. Unsere Auflage beträgt heute (am Schlusse des ersten Quartals) bereits

270,000 Exemplare

und ist immer noch im Zunehmen begriffen. Wir sehen in dieser Thatsache eine Aufforderung, auf dem seitherigen Wege rüstig vorwärts zu schreiten, und senden hiermit den alten, treuen Freunden der „Gartenlaube“ unseren Dank, den neuen unseren herzlichen Willkommengruß!
Leipzig, Ende März 1885. Die Redaktion. 


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.