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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[449]

No. 28.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Gregor Vilmut stand noch am Ufer, wo er vorhin gestanden, obgleich die Fluth immer näher herandrängte. Es war das Furchtbarste, was dem energischen Manne auferlegt werden konnte, hier thatenlos zu verharren, während dort seine ganze Gemeinde um ihre Rettung kämpfte. Seiner Hülfe bedurfte man nicht, es waren Arme genug vorhanden, und das Commando hatte jetzt Raimund von Werdenfels, der dort oben auf der Mauer stand, dicht über dem tobenden Strome, und seine Befehle nach allen Richtungen hin gab. Seine Stimme hallte laut durch all das Brausen und Donnern, sein Auge war überall, und die Leute folgten mit einem leidenschaftlichen Eifer, als ob von diesem Blicke und dieser Stimme ihr ganzes Heil abhinge.

Vilmut war Zeuge davon, und er sah auch das Antlitz der jungen Frau, die nur wenige Schritte von ihm entfernt stand. Anna war auf die ausdrückliche Bitte des Freiherrn hier zurückgeblieben, aber ihr Auge hing doch nur an ihm allein. Mitten in dem herandrohenden Verderben sah sie nur ihren Raimund, der in dem Schiffbruche so energisch das Steuer ergriffen hatte und es wie ein Held und Retter führte, und ihr Antlitz leuchtete wie verklärt von Stolz und Glück. Es war ja ihre Stimme gewesen, die den Träumer wach gerufen hatte, er zeigte es jetzt im Sturm, daß er ein Mann zu sein verstand, und wie ein Mann sühnte er seine Schuld – mit Thaten!

Endlich kam Paul mit Feldberg zurück vom Schlosse; sie brachten den Pulvervorrath, und man bedurfte dieses letzten Mittels. Noch war nicht ein Drittel der Arbeit gethan, und die Gefahr war bereits auf das Höchste gestiegen. Werdenfels ließ schnell die nöthigen Vorbereitungen treffen, und dann zog sich auf seinen Befehl Alles zurück nach der Dorfseite. Als der Letzte außer dem Bereich der Gefahr war, gab er das Zeichen.

Krachend flog die Mine in die Luft, der Boden ringsum bebte und zitterte und Erde, Steine und Rasen wurden nach allen Richtungen hin geschleudert. Die Quadern barsten mitten von einander, ein Theil der Mauer stürzte ein, und ein breiter Spalt klaffte in dem nun endlich bezwungenen Wall.

Die Bauern umgaben in angstvoller Erwartung den Freiherrn. Er stand neben Anna, die an seine Seite geeilt war, als er den Wall verließ, und Beide blickten hinüber nach der nun preisgegebenen Niederung, die dort im Regenschleier lag.

„Jetzt ist der Weg offen!“ sagte Raimund leise. „Es war die höchste Zeit – das Wasser kommt!“

Das Wasser kam in der That, es säumte nicht, den ihm hingeworfenen Raub zu verschlingen. Schon brandeten die Wogen um das aufgewühlte Erdreich, schon züngelten sie gierig nach dem offenen Spalt hin. Jetzt hatten sie den Weg gefunden, und mit donnerähnlichem Getöse stürzte der ganze Schwall hinab in den tiefgelegenen Park. Was von den wankenden Mauern noch stand, das erlag diesem Ansturm, sie wurden zerrissen, niedergeworfen, fortgetragen, die Lücke gähnte in entsetzlicher Weite und durch das geöffnete Thor nahm die Zerstörung ihren Lauf.

Die hohen Baumwipfel begannen wie im Sturmwinde zu schwanken, schon sanken einige von ihnen, die anderen im Sturze mit sich reißend, man hörte das Krachen und Brechen der Stämme. In wenigen Minuten waren die prachtvollen Gärten, die drei Generationen mit einem Aufwande von Hunderttausenden geschaffen und gepflegt hatten, in einen wogenden See verwandelt, in dessen Fluthen all die herrlichen Anlagen, Fontainen und Statuen begraben lagen, nichts entging der Vernichtung!

An dem Schloßberge vorbei stürzte das Wasser in die Niederung, wo das Hauptgebiet von Werdenfels lag, die reichsten Besitzungen des Freiherrn. Dort wehrte keine Mauer, da von dieser Seite keine Gefahr drohte. Immer neue Wassermassen stürzten nach und immer weiter dehnte sich der wilde See aus, bis er drüben an dem Höhenzuge, hinter dem Buchdorf lag, eine Grenze fand. Die Felder und Wiesen versanken rettungslos in der dunklen Fluth, die all ihren Segen in Schlamm und Steinen begrub und sie auf Jahre hinaus unfruchtbar machte – das Opfer mußte in seiner ganzen Größe gebracht werden.

Aber es wurde nicht umsonst gebracht. All die Fluthen, die das Gebirg niedersandte, wälzten sich jetzt durch den Park der Niederung zu, im unteren Laufe des Stromes aber begann das Wasser zu sinken. Die Macht der anstürmenden Wogen war zertheilt, gebrochen, sie wichen langsam zurück von dem schwer bedrohten Dorfe – Werdenfels war gerettet!

In fieberhafter Aufregung, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung, hatte die Menge der Entscheidung geharrt, jetzt aber, wo die Rettung ihrer Heimath entschieden war, wandten sich alle Blicke auf den Freiherrn. Auch er war bleich vor innerer Aufregung, aber er stand fest und ruhig da und sah zu, wie die Zerstörung, die er selbst entfesselt hatte, sich über seine Besitzungen ergoß. Und als erst einzelne Stimmen, dann immer mehrere jubelnd verkündeten, daß das Wasser dort unten sinke, daß die Gefahr vorüber sei, da leuchtete es sonnenhell auf in Raimund’s dunklen Augen, und mit dem tiefen Athemzuge, der sich aus seiner Brust hervorrang, sank auch die schwere Last von ihm, die er jahrelang getragen. –

[450] Es schien in der That, als ob das Unheil durch dies Opfer versöhnt worden sei. Schon während des Arbeitens an der Mauer hatte der Regen nachgelassen, und jetzt plötzlich sprang der Wind um, der seit drei Tagen und Nächten unaufhörlich die schweren Regenwolken herantrieb. Dort hinter den Bergen erschien der erste Lichtblick an dem düsteren Himmel.

Unter den Bauern begann jetzt ein Winken und Flüstern. Sie wollten offenbar ihrem Gutsherrn danken und schämten sich, dem Manne gegenüber, den sie so lange als ihren ärgsten Feind behandelt hatten. Der Gemeindevorsteher, welcher noch am besten mit dem Worte Bescheid wußte, wurde von allen Seiten vorwärts geschoben und mit freundschaftlichen Stößen zum Reden ermuntert.

Ehe es aber noch dazu kam, schritt Gregor Vilmut vom Ufer her langsam auf den Freiherrn zu, es schien, als wolle er sprechen.

Da kam vom Dorfe her ein alter Mann, keuchend und athemlos. Die grauen vom Regen durchnäßten Haare hingen ihm wirr über das Gesicht, das den Ausdruck der vollsten Verzweiflung trug. Es war Eckfried, der in den letzten Tagen krank gelegen hatte. Als die Nachbarn ihm zuriefen, er solle fliehen, das Wasser dringe in das Dorf, hatte er sich mühsam aufgerafft und in das Freie geschleppt, wo die Frauen und Kinder bereits nach dem Schloßberg flüchteten.

Da auf einmal hieß es, der Felsenecker sei dort an der bedrohten Stelle und habe versprochen, das Dorf zu retten. Wie und auf welche Weise, das wußte Niemand, aber man sah und hörte es, wie an der Mauer gearbeitet wurde, und wie sie schließlich in die Luft flog.

Gleich darauf erschien Feldberg und rief den Flüchtenden zu, sie sollten umkehren, der Freiherr habe das Wasser in seine Gärten abgelenkt, es stürze mit voller Gewalt der Niederung zu und das Dorf sei gesichert.

Da hatte der alte Mann einen markerschütternden Schrei ausgestoßen, und ohne Jemand Rede zu stehen, ohne sich halten zu lassen, war er davon gekeucht. Bei jedem Schritte schien er zusammensinken zu wollen, aber die Todesangst trieb ihn vorwärts, bis er die vor dem Dorfe versammelte Menge erreichte. Erst hier verließ ihn die Kraft, und gerade vor dem Pfarrer brach er zusammen.

„Mein Toni!“ schrie er. „Die Fischer am Grundsee! Sie werden ertrinken – und der Toni mit!“

Vilmut zuckte zusammen, und auch Werdenfels und die Andern standen wie vom Blitze getroffen.

In der Aufregung hatte Niemand daran gedacht, daß dort an dem einsamen Grundsee das kleine Fischerhaus lag, das einzige in der ganzen Niederung; es mußte auf’s Aeußerste von der Fluth bedroht sein.

„Mein Bub’, mein armer Bub’!“ wiederholte Eckfried, dessen Gedanken sich nur um diesen einen Punkt drehten. „Sie haben ihn mir genommen, Hochwürden, Sie haben ihn hingebracht, und jetzt muß er umkommen, elendiglich verderben in dem Wildwasser! Geben Sie mir meinen Toni wieder!“

Auf dem Gesichte Vilmut’s lag eine geisterhafte Blässe, und er preßte die Hand gegen die Stirn, auf welcher kalte Schweißtropfen standen. Stumm, keines Wortes mächtig, blickte er auf den alten Mann nieder, der das Leben seines Enkels von ihm forderte – die furchtbaren Lehren dieses Tages wollten nicht enden.

„Nicht so verzweifelt, Eckfried!“ sagte der Freiherr, welcher sich zuerst wieder faßte. „Es wird ja Hülfe möglich sein, wenn sie überhaupt nothwendig ist. Der Fischer hat ja im schlimmsten Falle sein Boot und wird sich mit den Seinen darin gerettet haben.“

„Wenn es noch Zeit gewesen ist,“ warf Paul ein. „Das Wasser ging wie ein Sturmwind hinab in die Tiefe und die Leute ahnten nichts von der Gefahr.“

Jetzt richtete sich auch Gregor auf, die Betäubung des Schreckens wich, und seine alte Energie kehrte zurück. Seine Stimme war völlig klanglos, aber fest, als er sich an den Freiherrn wandte:

„Wir müssen uns Gewißheit verschaffen! Vom Schloßberg aus übersieht man die ganze Niederung, und das Boot steuert jedenfalls hierher oder nach der Buchdorfer Höhe.“

„Ganz recht!“ stimmte Raimund bei. „Es blieb ja keine Wahl, wenn das Dorf gerettet werden sollte, die Mauer mußte fallen, aber das Opfer von drei Menschenleben wäre doch ein furchtbarer Preis! Bleibt zurück, Eckfried, und erholt Euch. Es wird alles nur Mögliche geschehen!“

Er eilte fort mit Vilmut und Paul, der sich ihnen anschloß, auch der größte Theil der Dorfbewohner folgte.

Anna war bei Eckfried zurückgeblieben und versuchte ihn zu beruhigen, aber vergebens. Der Alte ließ sich nicht zurückhalten, er wollte selbst sehen und hören, was geschah, man mußte ihm den Willen thun. Von mitleidigen Händen geführt und gestützt, gelangte auch er endlich auf den Schloßberg.

Der Anblick, der sich von dort aus bot, war nun freilich trostlos. Die ganze Niederung stand bereits unter Wasser, das mit jeder Minute stieg, denn durch den Park stürzte noch immer die Fluth, wenn auch nicht mehr mit der alten Wildheit, und sie nahm ihren Weg gerade nach dem kleinen Grundsee.

Man unterschied trotz der Entfernung und des Nebels das Fischerhaus am Strande, aber es war bereits ringsum von Wasser umgeben, das längst durch die Thür und die niedrigen Fenster eingedrungen sein mußte. Ueber das Schicksal der Bewohner ließ sich augenblicklich noch nichts feststellen, man bemerkte nirgends ein Boot auf der öden Fläche.

Nur etwa ein Drittel der Dorfbewohner war zurückgeblieben, um bei einer etwaigen Rückkehr der Gefahr bereit zu sein, der größte Theil befand sich hier oben, ebenso wie die gesammte Dienerschaft des Freiherrn, und Alles sprach und lief in vollster Aufregung durch einander. Paul stand neben den beiden Damen, denn auch Lily war jetzt herbeigeeilt und bemühte sich, ihnen die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit klar zu machen, daß die Fischer sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hätten. Lily glaubte ihm auch unbedingt, Anna dagegen erwiderte keine Silbe auf seine Trostgründe. Ihr Auge hing nur an Raimund, der mit Vilmut auf dem äußersten Vorsprunge stand.

„Die Fluth muß sie überrascht haben,“ sagte Werdenfels, indem er angestrengt durch das Fernglas blickte, das man aus dem Schlosse herbeigeschafft hatte. „Sie haben offenbar nicht mehr Zeit gehabt, das Boot loszumachen, und scheinen auf das Dach des Hauses geflüchtet zu sein. Ich sehe dort etwas, aber deutlich läßt es sich jetzt nicht erkennen bei der trüben, nebeligen Luft.“

Er reichte das Glas dem Pfarrer, der es gleichfalls nach dem See richtete. Die beiden Männer, welche bis zu dieser Stunde Feinde gewesen waren, sie standen jetzt neben einander und tauschten ihre Beobachtungen aus, als ob das selbstverständlich wäre.

„Die Leute sind auf dem Dache,“ sagte Vilmut nach einer Pause mit Bestimmtheit. „Sie geben Nothzeichen – und da treibt auch das Boot hin – es wird aber nicht zu erreichen sein.“

Er wies auf einen dunklen Gegenstand in der Ferne, der, mit bloßem Auge gesehen, einem treibenden Baumstamme glich. Es war in der That das kleine Fischerboot, das die Wellen gleich in den ersten Minuten losgerissen hatten, aber die Strömung hatte es bereits weit weg geführt, nach der entgegengesetzten Richtung, und doch war es das einzige Werkzeug zur Rettung. Wo sollte man sonst ein Fahrzeug hernehmen in dem Gebirgsdorfe, dessen wilder Felsenstrom auch nicht den leichtesten Nachen trug!

„Da[WS 1] bleibt nur Eins!“ sagte Rainer. „Wir zimmern ein Floß; wenn Alle Hand anlegen, kann es bald fertig sein, und mit Tagesanbruch steuern wir hinüber. So lange müssen sie aushalten.“

„So lange halten sie nicht aus,“ erklärte Vilmut. „Ich kenne das Haus, in wenigen Stunden hat die Fluth die morschen Wände eingedrückt, und noch vor Einbruch der Nacht stürzt es zusammen. Jetzt, auf der Stelle muß die Hülfe gebracht werden, wenn sie nicht zu spät kommen soll. Wir müssen hinüber, gleichviel auf welche Weise!“

„Halt!“ rief Werdenfels, von einem rettenden Gedanken durchblitzt. „Auf dem Schloßteiche liegt ja stets ein kleines Boot, das im Winter losgemacht und vor der Witterung geborgen wird. Feldberg, wo ist das Boot?“

„Ich weiß nicht – vermuthlich irgendwo in der Meierei,“ sagte der Verwalter ungewiß.

[451] „So sehen Sie nach und lassen Sie es augenblicklich hierher bringen. Eilen Sie!“

Feldberg eilte davon, nach der Meierei, die, gleichfalls auf der Höhe gelegen, von der Fluth unberührt geblieben war, aber Rainer meinte bedenklich:

„Das wird nichts nützen, solange das Wasser noch so wild ist. Schauen Sie nur, wie das reißt und strudelt! Ich möchte Den sehen, welcher sich da hinauswagt, er kommt nicht lebendig zurück.“

Werdenfels erwiderte nichts, aber sein Blick begegnete wie unwillkürlich dem des Pfarrers. Es war eine stumme Frage und eine ebenso stumme Antwort, aber die beiden Männer verstanden sich. Der Freiherr wandte sich ab und sagte ruhig:

„Das wird sich finden, wenn nur erst das Boot da ist.“

Aber auch Anna hatte jenen Blick gesehen und verstanden. Als Raimund gleich darauf zu ihr trat, ergriff sie mit krampfhafter Heftigkeit seinen Arm und zog ihn bei Seite.

„Was willst Du thun?“ fragte sie athemlos und gepreßt.

„Anna, höre mich!“ begann er, aber diesen angstvoll flehenden Augen gegenüber hielt sein Entschluß nicht Stand, er verstummte mitten in der Rede.

„Was willst Du thun?“ wiederholte die junge Frau dringender. „Dich in die Todesgefahr werfen und mich der Todesangst preisgeben? Hast Du nicht schon genug Opfer gebracht? Da stehen mehr als hundert, die Du gerettet hast, laß sie die Hülfe bringen.“

„Von Denen wagt es kein Einziger, außer vielleicht –“

„Gregor! Ich weiß es, ich sah es an seinem Auge. So laß ihn allein die Rettung versuchen; er hat zu sühnen, und er wird es thun.“

„Habe ich nicht zu sühnen?“ fragte Raimund so leise, daß nur sie allein ihn verstehen konnte. „Denke an jene Stunde in Felseneck, wo ich Dir die Vergangenheit enthüllte. Eckfried’s Hof wurde das erste Opfer der Flammen und sein einziger Sohn wurde todt aus den Trümmern hervorgezogen. Jetzt ist sein Enkel dort drüben, das Einzige, was der alte Mann noch besitzt, das Einzige, woran er hängt, und ich bin ihm ein Leben schuldig. Laß mich auch den letzten Schatten bannen, der noch aus der Vergangenheit herüberdroht! Du weißt es, ich bin damals in Venedig oft genug allein vom Lido hinausgefahren in die hochgehende See und bin vertraut mit dem Steuer und mit den Wellen.“

„Die See war nicht so gefährlich wie diese reißende Strömung und die Trümmer, die sie mit sich führt. Soll ich Dich darin begraben sehen? Bleibe zurück, Raimund! Du wirst nicht gehen, wenn ich Dich bitte, wenn ich Dich anflehe, zu bleiben.“

„Wenn Du es verlangst, bleibe ich, aber meine Anna wird das nicht von mir fordern.“

„Doch, ich fordere es!“ sagte die junge Frau mit verzweiflungsvoller Energie. „Ich habe auch ein Recht auf Dein Leben, es gehört jetzt mir, und ich will es nicht verlieren.“

Die Rückkehr Feldberg’s unterbrach das Gespräch, er meldete, daß das Boot in einem Schuppen der Meierei gefunden sei, und gleich darauf wurde es auch zur Stelle gebracht. Es war ein kleines, zierliches Fahrzeug, nur dazu bestimmt, auf dem stillen, sicheren Schloßteiche umherzurudern, und wenig geeignet für eine gefahrvolle und ernste Fahrt.

„Das geht nun und nimmermehr!“ sagte Paul. „Das gebrechliche Ding hält ja den Wellen nicht Stand, der erste Baumstamm, der dagegen anprallt, bohrt es in den Grund. Gieb den Gedanken auf, Raimund! Es wäre eine Tollkühnheit, sich mit diesem Fahrzeug hinauszuwagen, und es ist eine Unmöglichkeit, damit zurückzukehren.“

Die Bauern, die sich um das Boot drängten, waren einstimmig der Meinung des jungen Baron. Es blieb nichts anderes übrig, man mußte auf das Floß zurückkommen und bis zum nächsten Morgen warten. Vielleicht stand dann das Fischerhaus noch, einstweilen mochte der Himmel den Bewohnern gnädig sein.

Da machte sich Eckfried mit wankenden Schritten Bahn durch die Menge.

„Wenn es Keiner wagt, ich thu es!“ brachte er mühsam hervor. „Laßt mich hinüber, ich will’s versuchen!“

„Bist Du denn toll, Alter?“ rief Rainer in seiner derben Weise, indem er ihn zurückzog. „Kannst Dich kaum auf den Füßen halten, kannst kein Ruder heben und willst ein Boot führen! Dazu gehören andere Kräfte.“

Eckfried hielt sich in der That kaum aufrecht. Er fühlte selbst seine Ohnmacht, und die Kraft, die ihm die Verzweiflung gegeben, erlosch so schnell, als sie aufflackerte. Mit gerungenen Händen blickte er hülfesuchend im Kreise umher, aber Niemand gab ihm Trost.

Vilmut war zuerst an das Boot getreten und hatte es schweigend, aber sorgfältig untersucht, jetzt war er damit zu Ende und sich aufrichtend, sagte er in dem alten befehlenden Tone:

„Weiß Einer von Euch das Steuer zu führen? Die Ruder nehme ich auf mich.“

„Sie, Hochwürden?“ rief Rainer zurückprallend. „Sie wollten selbst – nein, das geht nimmer!“

„Es muß gehen!“ war die kalte, entschlossene Antwort. „Ich habe als Knabe bisweilen das Ruder geführt und etwas wird wohl davon noch übrig geblieben sein. Aber um das Steuer handelt es sich. Ist Niemand unter Euch, der das auf sich nehmen kann und will?“

Allgemeines Schweigen folgte der wiederholten Frage. Die Gebirgsbewohner wußten mit dem Stutzen umzugehen, ein Boot zu lenken hatten sie nicht gelernt. Sie blickten mit einem förmlichen Entsetzen auf ihren Pfarrer, der sich auf das tückische Element wagen wollte, das ihnen eben noch Verderben gedroht hatte, aber kein Einziger machte Miene, seinem Beispiel zu folgen.

„Du siehst, Anna, es findet sich Niemand!“ sagte der Freiherr halblaut. „Hältst Du mich noch zurück?“

„Um Gotteswillen, was hast Du vor?“ fiel Paul ein, der die Worte gehört hatte. „Du willst Dich doch nicht etwa selbst hinauswagen? Dulden Sie das nicht, gnädige Frau, halten Sie ihn zurück. Er ist ja kaum genesen!“

Anna gab keine Antwort. Sie hatte Raimund vorhin selbst zur Rettung angetrieben, aber jetzt hielt sie mit beiden Händen seinen Arm umfaßt und wollte ihn nicht von sich lassen. Sie hatte ja nicht geglaubt, daß es sich hier für ihn um Leben und Tod handeln werde.

„Ich gebe es nicht zu,“ fuhr Paul fort. „Eher steige ich selbst in das Boot und versuche –“

Weiter kam er nicht, denn Lily schrie laut auf vor Entsetzen und ihn umklammernd, versicherte sie hoch und theuer, sie werde vor Angst sterben, wenn er sie jetzt verlasse.

„Du bleibst, Paul,“ sagte Werdenfels mit ruhiger Bestimmtheit. „Sieh auf Deine Braut, Du hast vor Allem an sie zu denken!“

„Und Du?“ fragte der junge Mann vorwurfsvoll. „Bist Du nicht in dem gleichen Falle?“

„Ich?“ In Raimund’s Augen erschien wieder jenes sonnige, blitzähnliche Leuchten. „Ich will mir meine Braut und mein Glück mit dieser Fahrt verdienen! Anna – forderst Du wirklich, daß ich bleibe?“

Der Blick der jungen Frau irrte über die schäumende Wasserfläche und schweifte dann hinüber nach jener Stelle, wo drei Menschen in Todesangst auf Rettung harrten; langsam, wie einer höheren Gewalt weichend, gab sie Raimund’s Arm frei und mit bebenden Lippen flüsterte sie:

„Geh – Gott wird ja barmherzig sein!“

„Dank!“ sagte Werdenfels leise und innig und trat dann rasch in den Kreis der Bauern.

„Schafft das Boot hinunter in das Wasser!“ befahl er. „Ich werde das Steuer führen.“

Einen Augenblick lang standen die Leute in sprachloser Ueberraschung, dann erfolgte allgemeiner stürmischer Protest. Sie wollten weder ihren Gutsherrn noch ihren Pfarrer in die Gefahr hinauslassen, und von allen Seiten wurden Bitten und Warnungen laut, aber Vilmut schnitt ihnen das Wort ab:

„Wir haben keine Minute zu verlieren. Schafft das Boot hinunter! Wenn Sie bereit sind, Herr von Werdenfels – ich bin es auch.“

Die Leute sahen ein, daß jeder fernere Widerstand vergeblich war. Zwölf kräftige Arme ergriffen das Boot, und in wenigen Minuten lag es auf dem Wasser. Vilmut war im Begriff, seinen Platz einzunehmen, da im letzten Augenblick trat Rainer vor.

„Nehmen Sie mich mit, Hochwürden!“ sagte er kurz entschlossen. „Ich hab’ ein Paar tüchtige Arme und die können Sie brauchen. Sie und der Freiherr zwingen es nicht allein.“

[452] „So kommt!“ versetzte Vilmut ebenso kurz, indem er ihm einen Wink gab, einzusteigen.

Werdenfels reichte seinem Neffen, der ihm gefolgt war, zum Abschied die Hand.

„Leb wohl, Paul! Und wenn ich nicht zurückkehren sollte – stehe meiner Anna zur Seite. Sie findet ja jetzt einen Bruder an dem Gatten ihrer Schwester.“

Der junge Mann antwortete nur mit einem Händedrucke. Es fehlte ihm nicht an Muth, die Gefahr zu bestehen, aber das angstvolle Weinen seiner kleinen Lily konnte er nicht ertragen. Er begriff nicht, wie Raimund sein so schwer errungenes Glück auf das Spiel setzen konnte, um fremdes Leben zu retten, und begriff die Braut nicht, die ihn von ihrer Seite ließ.

Werdenfels winkte noch einen Gruß hinauf zu der Höhe, wo Anna an der Seite ihrer Schwester stand, dann nahm auch er seinen Platz am Steuer ein. Die ersten Ruderschläge trieben das Boot hinaus in das Wasser und nach kurzer Fahrt erreichte es die Strömung, die es sofort ergriff.

Das kleine Fahrzeug schwankte wie vom Sturme erfaßt und drehte sich im Wirbel. Es war in höchster Gefahr umzuschlagen, aber die beiden Rudernden setzten ihre volle Kraft ein, und das Steuer lag in den Händen Raimund’s, in diesen weißen durchsichtigen Händen, die so kraftlos aussahen, und die doch die Macht besaßen, den wilden Emir zu bändigen und ihn bei jenem tollkühnen Sprunge über die Schlucht zu zügeln. Sie bewährten sich auch hier. Nach einem minutenlangen Kampfe mit den Wellen hatte das Boot die Richtung gefunden und schoß nun reißend schnell dahin, inmitten von Baumstämmen und Mauertrümmern, die es bei jedem Anprall zerschmettern konnten.

Mit dem Aufhören des Regens war auch die Luft klarer geworden. Die Berge, die man seit drei Tagen nicht gesehen hatte, begannen sich zu entschleiern, aber während dort oben ein Gipfel nach dem anderen emportauchte, sank der Nebel tiefer auf die Niederung und ballte sich dicht zusammen über der Wasserfläche. Das Fischerhaus entzog sich vollständig den Blicken und auch das Boot war nur kurze Zeit noch sichtbar, dann verschwand es gleichfalls in dem schweren, trüben Dunst. Die Zurückgebliebenen hatten nicht einmal den Trost, die kühne Rettungsfahrt verfolgen zu können.

Dagegen kamen vom Dorfe jetzt bessere Nachrichten herauf. Auch oberhalb des Durchbruches wuchs die Fluth nicht mehr, sie schien endlich ihren Höhepunkt erreicht zu haben, und damit hörte auch das wilde Nachstürzen der Wassermassen auf. Sie fingen an, sich zu beruhigen, es war jetzt wenigstens möglich, mit dem Boote zurückzukehren, wenn man die Hauptströmung vermied; ein Wagniß blieb es immer. –

Beinahe zwei Stunden waren vergangen, und schon begannen die ersten Schatten der Dämmerung aufzusteigen. Die ganze Niederung wallte und gährte jetzt im weißgrauen Dunst, und daraus hervor gurgelte und rauschte das Wasser. Vielleicht kämpften dort hinter jenem Nebelvorhang die Bedrohten und die Retter zugleich ihren Todeskampf, und Niemand konnte ihnen zu Hülfe kommen, kein Blick, kein Ruf konnte sie erreichen!

(Schluß folgt.)




Deutschlands merkwürdige Bäume.

3.0 Der Luther-Baum bei Worms.

Worms ist ein Fleck deutscher Erde, wo ein Blick die Male und Marksteine von Jahrtausenden überschaut und von den Werkstätten einer aufblühenden Gegenwart in das Nebelgrau ungemessener Fernen der mythischen Zeit schweift. Wie lange mag die heilige Keltenstadt sich in den Fluthen des Rheinstroms gespiegelt haben, bevor sie von römischen Pionieren entdeckt wurde! Borbetomagus, Augusta Vangionum, Burgundersitz, Nibelungenstadt, Merovingerresidenz, Karolingerpfalz, Haupt Rheinfrankens, auf bevorzugtem Boden des Ostreichs, wo die deutschen Könige gewählt werden mußten, von wo sie aus-, wohin sie sich zurückzogen, – wohin die Maiversammlung der alten, der Reichstag der späteren Zeit zumeist berufen wurde, auch jener, auf welchem das welterschütternde Wort erscholl: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ – Cultur und Geschichte haben sich hier in großen Zügen eingezeichnet, kein Fleck ohne Ueberlieferung, „kein Stein ohne Namen“! Der geflügelte Drache im Wappen, der Sigfridstein, der Rosengarten und andere Erinnerungen an das Heldenbuch und germanische Urzeit; der romanische Dom in seiner unvergleichlichen Zusammenwirkung von Thürmen, Kuppeln, Thor und Schiff des mächtigen rothen Quaderbaues mit noch unenträthselter Bildnerei und dem Denkmal der fränkischen Nornen, der drei königlichen „Heilräthinnen“; und dort die rothe Sandsteinmauer des Bischofhofes, in welchem der Mönch von Wittenberg vor Kaiser und Reich so herzhaft als folgenreich bei seiner Ueberzeugung beharrte; auch die düstere Synagoge, deren Gewölbe schon zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft hier eine Gemeinde Israels gesammelt haben sollen; und so manches Andere macht die auch heute noch so „wunnesame“ Stadt am Rheine zu einem Wallfahrtsort für jeden Glauben, jedes Streben.

Und welche Umgebung! Der Strom hat dieselbe, sein altes Bett suchend, verderbenbringend, wie er im Nibelungenlied erscheint, wieder heimgesucht, und ich könnte Einiges berichten von Lorsch und Edigheim, dem alten Otenheim – „da fließet noch der brunne“, wo Sigfrid erschlagen ward – was auf die Nibelungenfrage ein neues Licht würfe; doch weist meine Aufgabe auf eine andere Epoche Wormser Lebens, auf die Reformationszeit.

Gleich am Eingange der Stadt erhebt sich das herrliche Denkmal, von welchem Luther’s markige Gestalt in die moderne Welt blickt. Ein anderes Denkmal des großen Glaubenskämpfers verdankt nicht der Kunst sein Dasein und galt drei Jahrhunderte hindurch als das einzige: der Luther-Baum oder die Luther-Ulme bei dem nahen Dorfe Pfiffligheim. Man gelangt dahin mit der Bahn in wenigen Minuten, aber auch zu Fuß braucht man keine halbe Stunde. Worms, einst die volkreichste deutsche Stadt, breitet sich jetzt als kräftig wachsender Sitz der Großindustrie immer weiter im alten Weichbild aus, rückt auch dem Luther-Baum immer näher. Vor Jahren, da ich diesen zum ersten Mal sah, stand er noch außerhalb des Dorfes im fruchtbaren Gelände mit der Aussicht auf die alte Stadt, den Odenwald mit dem Melibocus. Aber auch heute noch hat man von dem Ruhesitz unter seinem Laubdach den alten Dom gerade vor sich.

Wie anderwärts die Linde, so wird ringsum im Gebiet der Vangionen (dem alten Wonnegau, aus welchem genau nach Westen der Donnersberg seinen „Elephantenrücken“ über den Pfrimmgrund erhebt) die Ulme oder Rüster als Weihbaum vor den Dörfern, auf Kirchhöfen und an denkwürdigen Stätten angepflanzt. Dafür zeugt die 150 Fuß hohe Riesenulme bei Guntersblum und so manche andere, auch die sturm- und wettergewohnte Ulme über dem Königskreuz bei Göllheim (wo im Anblick des Donnersbergs Adolf von Nassau im ritterlichen Kampf mit dem Gegenkaiser fiel), obwohl ihr der Gott des nahen mons Jovis (Berg des Donnergottes Jupiter) mit seinen Blitzen den besten Theil der Krone zerschmettert hat.

Alle überragt jedoch an Alter, Größe und Berühmtheit die Pfiffligheimer Luther-Ulme. Sie übertrifft an Stammumfang nicht blos die großen wipfeldürren Rüstern am Kuhthurm bei Leipzig um mehr als das Doppelte, sondern auch die bekannte Rüster von Hampstead in Middlesex, welche Roßmäßler, und nach ihm alle Welt, als die größte Ulme bezeichnet hat, um mehrere Fuß. Denn der Umfang des Stammes über dem Boden beträgt elf Meter und mißt weiter oben, über dem Geländer, noch immer neun Meter. Vor Jahren erfüllte mich der Anblick der ehrwürdigen Rüster mit Staunen, nicht blos deren gewaltige Stammesstärke, sondern die himmelstürmende Höhe, der hochragende Wipfel des majestätischen Baumes – und wie kein anderer hat mir die Luther-Ulme das Bild des heiligen Weltbaumes der Edda vergegenwärtigt.

Schon an sich ist die Rüster, wenn auch ungesellig, keineswegs der trübe und mürrische Baum, wie ihn empfindsame Naturschilderung dargestellt hat, sondern zumeist von malerischer Schönheit. Die durchfurchte, zerrissene Rinde und die derbknorrige

[453]

Die Luther-Ulme bei Worms. Nach einer Photographie gezeichnet von Rudolf Cronau.

[454] Verzweigung macht sie aus einiger Ferne der Eiche ähnlich. Allerdings gewährt die hinsichtlich der Blattform und Größe außerordentlich wechselnde und abweichende Belaubung, besonders vom Winde bewegt, einen etwas krausen Anblick, aber stets macht der Baum den Eindruck üppiger Derbheit, großer Lebensfülle und Triebkraft. Und er besitzt diese auch, wie kaum ein anderer.

Und darin wurzelt denn die älteste protestantische Legende, welche der Ulme von Pfiffligheim den Namen gegeben, indem sie dieselbe mit dem Helden der Reformation in Verbindung setzt. Wird doch Uhland durch eine andere Ulme, die von Hirsau, welche in keiner erkenntlichen Beziehung zu dem großen Reformator steht, an diesen erinnert:

„Zu Wittenberg im Kloster
Wuchs auch ein solcher Strauß,
Der brach mit Riesenästen
Zum Clausendach heraus.“

Wie erwähnt, galt die Ulme von Pfiffligheim als das einzige Luther-Denkmal, bevor das prachtvolle aus Erz in Worms errichtet wurde. Von altersher führte sie ihren Namen, und alle den Baum umrankende Sagen und Ueberlieferungen knüpfen an jene stürmischen Lenztage an, da Luther von Oppenheim her in Worms einzog.

Die Augen der Welt waren damals hierher gerichtet, wo der glänzendste Reichstag stattfand, Stadt und Umgebung überfüllt war von dem Gefolge der Kurfürsten und aller Reichsstände, von dem Geleite des Reichsoberhauptes selbst aus Hispanien, Sicilien und Flandern. Sechsundsechszig Fürsten, an hundert Grafen nebst sechszig Deputirten der freien Städte hatten sich eingefunden, außerdem eine unzählige Menge von Prälaten, Domherren, Rittern, fremden Botschaften, Doctoren, wälschen Krämern, Händlern, Junkern und Neugierigen aus Dorf und Stadt, die sich der tollen Fastnachtslust unter den Augen des jugendlichen Kaisers selbst („Carle von Gent“) erfreuten. Neben ihm, dem Weltherrscher, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, fesselte die Aufmerksamkeit der Menge für eine Weile der erste Indianer auf deutschem Boden, ein „nach Zigeunerart verschleierter“ Eingeborener Mexicos, den Cortez seinem Könige zur Huldigung über’s Weltmeer geschickt hatte.

Aber die Theilnahme an diesen glänzenden und fremdartigen Erscheinungen erlosch, als man erfuhr: Martin Luther, der herzhafte Augustiner und Professor zu Wittenberg, sei von Kaiser und Reich zur Verantwortung gefordert und – werde kommen. Die deutschen Fürsten waren nämlich auf das Machtwort der vom Legaten verlesenen päpstlichen Bulle nicht eingegangen und bestanden unter Friedrich’s des Weisen Führung darauf, daß man Luther höre, bevor man verdamme. Und muthig setzte sich der citirte Mönch mit seinem Anwalte und einigen Freunden in das Rollwäglein, das der Wittenberger Magistrat gestellt hatte, und fuhr dem Unbekannten entgegen an den Rheinstrom. In Oppenheim noch gewarnt, sprach er das Wort: wenn in Worms so viel Teufel als Ziegel auf den Dächern, wolle er doch hin.

Die ganze deutsche Welt war in Aufregung, Worms in fieberhafter Spannung. Viele vom Reichsadel ritten zum Willkomm entgegen und gaben dem bleichen, von Krankheit und Ermüdung abgezehrten Mönche ein stattlich ritterliches Geleit. Bescheiden lehnte er ab, auch Sickingen’s Schutz auf der Edernburg. Am 16. April zehn Uhr Morgens kam er unter ungeheurem Volkszulaufe nach Worms hinein und stieg im deutschen Ordenshause ab, wo auch einige edle sächsische Räthe und der Reichserbmarschall von Pappenheim ihre Herberge hatten. Der weitere Verlauf ist bekannt.

Vor seinem Einzuge in Worms kam der Reformator zu der Stelle der Ulme von Pfiffligheim, denn die Heerstraße von Oppenheim her, die alte „Hessenstraße“, führte vor der Erbauung der napoleonischen Kaiserstraße über die Anhöhen und den flachen Pfrimmgrund nach dem Dorfe herüber und bog erst beim Luther-Baume in die gerade Richtung nach Worms ein. Nach einer Ueberlieferung – und die Annahme hat Wahrscheinlichkeit für sich, wenn auch kein Chronist es bekundet – habe nun Luther die Gelegenheit zu kurzer Rast hier im Schatten der Dorfulme ergriffen, wo bei der Biegung des Wegs die thurmreiche Stadt, in welcher sein und seiner Lehre Schicksal entschieden werden sollte, in Sicht lag. Die Aussicht mag ihm wohl Herzklopfen verursacht haben, wenn er auch keinen Augenblick an Widerruf dachte. Denn er selbst hat als Urkunde seines damaligen beunruhigten Gemüths nachträglich jenes leidenschaftliche Gebet aufgezeichnet, jenen Aufschrei zu Gott (seinem „Schutz“ und „Schirm“, seiner „festen Burg“), mit welchem er die Ruhe und Klarheit seines Geistes wieder gewann.

Während der zehn Tage seiner Anwesenheit in Worms – meldet eine weitere Tradition – sei der rüstige Glaubenskämpfer heraus zur Dorfrüster gekommen, um hier dem zusammenströmenden Landvolke eine jener populären, packenden und erschütternden Predigten zu halten, von denen er selbst gelegentlich zu Bucer sprach, wie er sich dabei dem Verständnisse und der Anschauungsweise des gemeinen Mannes anbequeme, um ihn zu erheben. Luther unter der Dorfrüster den rheinischen Bauern predigend – ein urdeutsches, poetisches Bild!

Auch bei seinem Abzuge von Worms, am Vormittage des 26. April, wo am Oberrhein schon Alles grünte und blühte und die Ulme im lenzfrohen Laubschmuck stand, habe der Reformator – so wird angenommen – von hier den letzten Blick nach der Stadt zurück geworfen, wo Gott durch ihn so Großes vor der Welt verrichtete, „Ist’s Menschenwerk, wird es von selbst vergehen: ist’s von Gott, so wird es bestehen.“

Andere erzählen: Hier bei der Ulme habe der Gottesmann die ritterliche Schaar getroffen, die zu seinem Troste und Schirm von Worms ausgeritten war. Frundsberg sei an das Rollwäglein herangetreten, und auf des Kriegshelden Wort: „Mönchlein, Du thust einen schweren Gang!“, habe Doctor Martinus auf ein schwaches Bäumlein am Wege deutend geantwortet: „Wie dies Reislein zum Baume erwächst, werden sie meine Lehre nicht dämpfen!“

Indeß erinnert diese Fassung der Sage doch zu sehr an die moderne Weise, historische Thatsachen in novellistischen Zusammenhang zu bringen. Und so entschied sich die Meinung der nüchternen und verständigen Leute dahin, daß die Ulme einfach zur Erinnerung an Luther’s Anwesenheit in Worms und sein muthiges Auftreten daselbst gepflanzt worden sei.

Allein die Größe des Baumes weist auf höheres Alter hin. Obwohl man stattliche Rüstern von mehr als hundert Fuß Höhe findet, die kaum zweihundertfünfzig Jahre stehen mögen, wie die noch im Alter breiten Jahresringe darthun könnten, so kennt man doch auch solche, denen urkundlich ein weit höheres Alter nachgewiesen ist. Immerhin thut Gerock in seinen Reimen auf unsere Luther-Ulme des Guten wohl zu viel, wenn er meint: „wuchs auf zur Nibelungenzeit, eh’ noch erstand der Wormser Dom!“ Die eigentliche Volkssage und bekannteste Legende vom Luther Baum kümmert sich jedoch nicht um solche Wahrscheinlichkeitsberechnungen und hat eine sinnigere Deutung, indem sie ganz im Zeitgeiste der Reformation ein Motiv benutzt, das am bekanntesten aus der Tannhäuser-Sage herausklingt.

Man erinnere sich, daß die Reformation kein zusammenhangloses Ereigniß ist, sondern das Ergebniß von Stimmungen war, die durch das ganze Mittelalter wirksam blieben und schon die erste Glanzperiode unserer Literatur durchgeistigen. Wenn Walther von der Vogelweide auch nach seinem Abschied von der „Frau Welt“ noch in seinen Liedern den Papst befehdet, selbst Wolfram von Eschenbach seine Heidenfreundlichkeit in keinem Epos verleugnet und Freidank geradezu der Grausamkeit des Papstes das Erbarmen Gottes gegenüberstellt, so hat sich auch das eigentliche Volkslied ganz in demselben Sinne der Sage vom Tannhäuser bemächtigt.

Ein fahrender Sänger dieses Namens, den wir aus der Manesse’schen Sammlung kennen, hat, nachdem er sein Leben lang der weltlichen Minne in frivolen Liedern gefröhnt, in einem Bußliede gleich Herrn Walther Abschied von der „Frau Welt“ genommen und voll Erhörungszuversicht zu Gott um Vergebung seiner Sünden gefleht. Nun sang das Volk von ihm in einer dem Sänger eigenthümlichen Strophe: wie Ritter Tannhäuser Abschied nahm von der heidnischen Göttin im Venusberg, um seine Wiederversöhnung mit Gott zu erstreben. Aber kein Priester wollte dem Reuigen seine Sünden vergeben, auch der heilige Vater in Rom nicht. Der Papst Urban (der Vierte) hatte einen weißen dürren Stock in der Hand und sprach verdammend:

„So wenig dieser Stab grünen mag, kommst du zu Gottes Gnaden!“

[455] An Christi und Mariens Milde verzweifelnd, wendet sich Tannhäuser wieder in den Berg, wo ihn die „Fraue zart“ mit Huld willkommen heißt. Nun fängt des Papstes dürrer Stecken an zu grünen: erschrocken schickt der Papst Boten in alle Lande aus, wo der Tannhäuser hingekommen wäre. Der war und blieb im Berg.

Dies tiefsinnige Volkslied war vor und beim Beginn der Reformation in verschiedenen Texten und Weisen verbreitet und beliebt, das Motiv des dürren Stabes allgemein bekannt und wegen der Pointe gegen den Papst sehr volksthümlich. Die Legende von der Luther-Ulme hat sich seiner in folgender Weise bemächtigt.

Zur Zeit, wo Luther in Worms und alle Welt für oder wider ihn war, kamen auch zwei Marktweiber von der Stadt her des Weges nach Pfiffligheim. Die Eine stritt für den Doctor Martinus, die Andere aber stieß zornig ihren Stock in die Erde, mit heftiger Widerrede eifernd:

„Hätte der Luther Recht, würde eher dieser dürre Stecken zum Baum!“

Und siehe, der Stock wurzelte, schlug aus und wuchs zum Luther-Baum heran. – Bei der außerordentlichen Triebkraft des Ulmenholzes wäre das Wurzeln und Grünen des „Stockes“ kein besonderes Wunder. Die Sage wird nur bedeutungsvoll durch die Benutzung des volksthümlichen Tannhäusermotivs mit Bezug auf Luther.

Seitdem also kannte man die Luther-Ulme. Unter ihr sammelte sich in Freud und Leid zu Ernst und Scherz das Landvolk, zu ihr wallte an Feierabenden die singende Dorfjugend, sie gewährte dem Wanderer schattige Rast Jahrhunderte hindurch. Mit Ehrfurcht lauschte der Rastende dem geheimnißvollen Flüstern in der Krone, dem Eulenruf, Rabenkrächzen oben, dem mächtigen Sausen in der Höhe, wenn unten kein Laut, kein Lüftchen sich regte. So schauerte schon der Ulme grüner Wipfel, als am nahen Georgenberg die Pfälzer Bauern von der vereinigten Macht der Fürsten, denen bereits Sickingen erlag, niedergehauen wurden, daß die Pfrimm roth von Blut vorüberfloß, während die Landsknechte unter der Luther-Ulme um ihre Gefangenen knöchelten. Und wieder nach hundert Jahren sah sie Dorf und Feld verödet, Spanier und Croaten gleich Wölfen des Weges kommen, die Finnen- und Smaländer-Regimenter Gustav Adolf’s vorüberziehen, die Lederkanonen der schwedischen Artillerie vorbeirasseln. Und eines Pfingsttages hielten die Dragoner Melac’s unter ihrem Laubdach Rast, des heulenden Land- und Stadtvolkes höhnend, da Worms auf Geheiß des allerchristlichen Königs vor ihren Augen in einem Flammenmeer aufging. Und abermals nach hundert Jahren zogen die republikanischen Cohorten, Custine’s Husaren und Houchard’s schnauzbärtige Chasseurs à cheval aus Worms vorüber, zur Eroberung von Mainz. Das Alles hat die Luther-Ulme gesehen, Sturm und Dürre erduldet, auch daß von guten und schlechten Dichtern die Sage ihrer Entstehung in zahllose Reime gebracht wurde.

Die Luther-Ulme galt als ein Symbol, gleichsam als der heilige Baum, der Schicksalsbaum des Protestantismus. Vom Blitz getroffen, vom Wetter geschädigt, war auch ihr mächtiger Stamm im Lauf der Jahrhunderte morsch und hohl geworden. Dennoch schlug die Krone alljährlich im Lenze wieder mächtig aus, rauschte freudig noch 1870 den nach Frankreich ziehenden Colonnen zu; und als Sieg auf Sieg gemeldet ward, glaubte sie wohl den Stürmen nicht länger trotzen zu müssen. Am Vorabend der Capitulation von Metz (26. Oktober 1870) brach und warf ein Orkan die Krone vom Stamme. Erschüttert stand das Volk. Es schien vorbei zu sein mit denn ehrwürdigen Wahrzeichen. In der Höhe von acht Metern über dem Boden war die Krone mit allem Astwerk herniedergeschleudert. Gebrochen, geborsten, astlos, kahl und klaffend hohl stand nur noch der niedrige Stumpf.

Als Bonifacius im frommen Eifer die Axt an Donar’s Eiche bei Geismar anlegte, ward das Holz wieder zum Bau einer Capelle zu Ehren Sanct Peter’s verwendet, um unsere heidnischen Vorfahren sacht zum neuen Glauben hinüberzuleiten. Der Protestantismus baut den Heiligen keine Capellen. Aber das Astwerk des Luther-Baumes sollte nicht im Feuer aufgehen, denn Ulmen liefern ein geschätztes Werkholz und deren Maser die beliebten „Ulmer“ Pfeifenköpfe. Als sich die Kunde vom Fall des Luther-Baumes verbreitete, beeilte sich die Nachbarschaft, Andenken von demselben zu holen, und rasch war das Holz vergriffen. Vieles kam in die Hand eines Speculanten, welcher Falzbeine, Federhalter u. dergl. m. davon fertigen und am Luther-Denkmal in Worms verkaufen ließ. Das interessanteste Stück befindet sich jedoch im Besitz des Herrn Reis, königl. Verwalters der Kreis-Armen- und Kranken-Anstalt zu Frankenthal in der Pfalz. Derselbe hat sich aus dem Holze vom Luther-Baum einen großen schönen Blumentisch mit Aquarium und Heronsbrunnen anfertigen lassen, zugleich aber die Vorsicht gebraucht, sich amtliche Ursprungszeugnisse zu verschaffen, damit dem werthvollen Familienstück, einem Unicum, der antiquarische Werth unbestritten bleibe.

Unterdeß stand der mächtige Stumpf des Luther-Baumes in seinem trostlosen Zustande, wüst, zerrissen, mit klaffender Höhlung, wie ein verfallender, halbeingestürzter Schornstein, anscheinend allen Lebens bar. Aber die Pfiffligheimer und ihr wackerer Bürgermeister Ott gaben das ehrwürdige Denkmal, den Stolz ihres Dorfes, die Zierde des Wonnegaues, nicht so leicht verloren. Durch Ausfüllung und Schließung des völlig hohlen Stammes suchten sie dem Todtwunden beizuspringen. Und der Erfolg war verblüffend, nahezu ein neues Wunder. Der Baum hat sich zur Freude Aller vollständig verjüngt, wie man uns schreibt. Aus den Bruchrändern sproßten neue Zweige hervor, die jetzt wieder zu starkem Astwerk herangewachsen sind und eine schöne, geschlossene Krone bilden. Wer mit der Bahn vorbei, dem Donnersberg entgegen, fährt, kann den immer noch großen Baum nicht übersehen. Aber das Staunen wird zur Ueberraschung, tritt man der Luther-Ulme näher und erblickt den Riesenstamm, zu welchem die Krone trotz ihrer Größe in sehr unrichtigem Verhältniß steht.

Trägt der Baum seinen Laubschmuck, so ist von der Bruchstelle nichts mehr zu sehen. Der Stamm selbst aber mißt bei einem Umfang von neun bis elf Meter nur noch sechs Meter Höhe. Indeß ist die Lebenskraft des Verjüngten so rege, daß ihm mit voller Sicherheit von jetzt ab noch ein hohes Alter in Aussicht gestellt werden kann. Mächtige Aeste setzen sich wieder an in üppiger Verzweigung, der Baum wächst, allerdings mehr in die Breite als in die Höhe. Die Laubkrone des Luther-Baumes ist, wenn auch nicht so hochragend wie einst, doch so kraus, dicht und frisch als je. Es quillt und schwillt von neuem Leben in diesem ehrwürdigen Wahrzeichen des Protestantismus.

A. B.




Carrara und seine Marmor-Industrie.

Eng verbunden mit der Geschichte der Bildhauerkunst ist der Name „Carrara“! Wer kennt nicht den „carrarischen Marmor“? Seit vielen Jahrhunderten behauptet er seine Bedeutung als vorzüglichstes Material für die Ausübung einer der edelsten Künste; überall wird er geschätzt und gesucht, und die großartigsten Kunstwerke, verbreitet über die ganze Erde, sind Zeugen seines Werthes.

Zwischen dem Golf von La Spezia, dem Hauptkriegshafen des Königreichs Italien, und der Mündung des Arno in das Mittelländische Meer tritt der Gebirgsstock der Apenninen nicht so unmittelbar an’s Meer heran, wie weiter nördlich: eine wohlangebaute Ebene von außerordentlicher Fruchtbarkeit zieht sich längs der Küste hin, dahinter erheben sich Vorberge von geringer Höhe, vielfach mit Oelbäumen und Kastanien bewachsen: dann erst steigt eine gewaltige Bergkette nackt und schroff zu imposanter Höhe empor.

Dort liegt die Stadt Carrara mit ihren Marmorgruben, etwa dreißig Kilometer östlich von La Spezia, vierundfünfzig Kilometer von Pisa; sie bleibt dem Auge des auf der Eisenbahn längs der Küste Reisenden verborgen, weil zwischen den Bergen gelegen; doch ist von der Station Avenza aus ein Bahnstrang nach Carrara gelegt worden, welchen der Zug in zehn Minuten durcheilt. Außerdem führt eine zweite, nur zum Transporte des Marmors bestimmte Eisenbahn bis an’s Meer und zugleich über Carrara hinaus, immer bergauf, bis dicht an die Gruben hinan. [456] Dieselbe wurde im Jahre 1876 eröffnet und hat eine Länge von fünfzehn Kilometern; sie ist ein Actienunternehmen und zwar ein recht kostspieliges, da beim Bau große Schwierigkeiten zu überwinden waren, sodaß sich auf der geringen Strecke mehrere Viaducte und Tunnel befinden, unter letzteren ein besonders interessanter; er ist durch den Marmor gesprengt, ohne jedes Mauerwerk. Dicht dabei befindet sich im Felsen ein halbkreisförmiger Ausschnitt antiken Ursprungs; ganz deutlich erkennt man die Stellen, wo der römische Sclave einst den Meißel ansetzte.

Die Bahn fuhr in die Thäler von Colonnata und Torano, die hauptsächlichsten Fundstätten des Marmors, und überschreitet dicht bei der Stadt Carrara den Bach Carrione, welcher das Thal von Torano durchfließt; in diesem Thale sind die bedeutendsten Gruben, und daselbst wird der reinste Marmor gefunden. Dort, wo der Bach Carrione in’s Meer mündet, befindet sich die Marina di Avenza, wo der Marmor, welcher über See befördert werden soll, verladen wird. Zwei mächtige Docks sind zu diesem Zwecke, das eine von Engländern, das andere von Einheimischen, erbaut worden; beide sind mit doppelten Geleisen versehen und ragen fast bis dreihundert Meter in’s Meer hinein. An schönen Tagen liegen immer eine Menge Schiffe bereit, die kostbare Ladung aufzunehmen, und ein reges Leben entfaltet sich am Strande, wo die ausgedehnten Depots für Marmor durchschnittlich einen Werth von mehreren Millionen Franken in sich bergen

Vom Meeresufer bietet sich ein prächtiges Panorama dem Auge dar; während sich nach Süden zu das Mittelmeer in schimmerndem Blau ausdehnt, wird der Norden vom mächtigen Gebirgskamme der Apenninen begrenzt, über welchen hinaus viele Bergspitzen gen Himmel ragen; die höchste derselben, der über 5000 Fuß hohe Monte Sagro, ist mit seinen weiß glänzenden Flecken den Schiffern ein weithin sichtbares Wahrzeichen.

Die Landstraße nach Carrara ist in ihrer ganzen Länge von einer starken halben Stunde trotz des Bestehens der Eisenbahn außerordentlich belebt von Fuhrwerken aller Art. Den bei Weitem überwiegenden Theil derselben bilden die Karren für Beförderung der Marmorblöcke, meist mit nur zwei plump, doch überaus dauerhaft gearbeiteten Rädern versehen und mit den breitgehörnten grauen Stieren bespannt. Die kolossalen Lasten haben der Straße tiefe Spuren eingedruckt, und ihr Zustand erscheint durch den ununterbrochenen Verkehr dieser schwerbeladenen Karren trotz fortwährender kostspieliger Reparaturen doch als ziemlich verwahrlost.

Ansicht von Carrara.
Nach einer Photographie.

Die Stadt Carrara liegt auf klassischem Boden, ihre Gefilde waren schon zu einer Zeit der Cultur erschlossen, als die Gründung Roms noch in weiter Ferne lag. Nicht ganz eine deutsche Meile von Carrara entfernt befinden sich nicht weit von der Landstraße und nahe dem Meere die Ueberreste der uralten Stadt Luna, bei den Griechen Selene, jetzt Luni genannt, wonach noch heutzutage die ganze Landschaft den Namen „La Lunigiana“ trägt.

Die Stadt Carrara zählt mit ihren Vorstädten etwa 27,000 Einwohner, welche zum größten Theile von der in bestem Fortschritte befindlichen Marmorindustrie leben.

Sehr interessant sind einige alte Häuser aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert in Via Finelli und anderen Straßen, nach damaliger Manier an Thür und Fenstern mit zierlichen Säulchen geschmückt; so das Gebäude, welches Michel Angelo bei seinen wiederholten Besuchen zu Ende des fünfzehnten und Anfang des sechzehnten Jahrhunderts beherbergte; der Dom, im gothischen Stile des dreizehnten Jahrhunderts erbaut, steht unter dem Schutze des Staates, der jährlich zur Unterhaltung und Restauration desselben beisteuert; von modernen Bauten sind erwähnenswerth einige Privatgebäude und das zwar kleine, doch geschmackvolle Theater. Die Hauptplätze der Stadt sind mit Statuen geschmückt, so steht auf Piazza Alberica das Monument der Maria Beatrice d’Este und auf Piazza del Duomo die Statue des Andrea Doria. Die Akademie der schönen Künste enthält viele Gypsabgüsse klassischer Werke und zu Luna gefundene Römerarbeiten; zu ihren Ehrenprofessoren gehörten unter Anderen Rauch und Thorwaldsen. Eine Menge Bildhauerwerkstätten sind des Besuches werth, zum Beispiel diejenigen der Professoren Lazzerini, Carusi, Bacca und vieler Anderer, wo fleißige Hände fortwährend Meißel und Hammer führen und die reizendsten Kunstwerke [457] entstehen. An Material fehlt es ihnen nicht, denn eine halbe Stunde hinter der Stadt beginnt das Reich der „Cave“, der Marmorgruben.

Die Cave von Carrara waren schon vor der Herrschaft der Römer bekannt und wurden, wenn auch in geringem Maßstabe, ausgebeutet. Dies geht aus den ältesten uns überlieferten Nachrichten lateinischer Schriftsteller hervor. Carrara und das nahe gelegene Dorf Colonnata, neben Torano Mittelpunkt der Marmorgruben, wurden früh römische Colonien, und der damals sogenannte Lunensische Marmor wurde dazu verwandt, die Monumente des republikanischen und kaiserlichen Rom zu schmücken, indem er bald den berühmten Marmor vom Pentelikon und den Parischen Marmor von der ersten Stelle verdrängte.

Mit dem Verfall der römischen Macht nahm die Marmorindustrie in den Bergen von Carrara mehr und mehr ab und sank zu völliger Unbedeutendheit unter der Herrschaft der Gothen und Longobarden, sodaß im frühesten Mittelalter nur wenige Denkmäler aus jenen Gruben hervorgegangen sein mögen. Sie hob sich erst unter der Herrschaft des Hauses Malaspina, welches auf alle Weise zu ihrer Förderung beitrug und nur geringe Abgaben von den Pächtern der Cave forderte, sodaß letztere im sechszehnten Jahrhundert jährlich nur die Summe von 450 Goldgolden entrichteten. Zur damaligen Zeit ließ unter Anderen der arabische Herrscher von Fez auf der Rhede von Avenza mehrere Schiffe mit dem kostbaren Gestein befrachten, welches damals schon seinen Weg über die Alpen fand und nach Deutschland, Frankreich, England und Spanien befördert wurde.

In den Marmorbrüchen von Carrara.
Nach einer Photographie.

Für das außerordentliche Gedeihen der Marmorindustrie in der Neuzeit bilden den besten Beleg die statistischen Nachrichten der Handelskammer von Carrara, welche den folgenden Angaben als Grundlage dienen.

Im Bezirke der Commune Carrara befinden sich 645 Cave di Marmo, Marmorgruben, wovon über 400 im Betrieb sind. Die bedeutendsten und lohnendsten derselben sind im Thale von Torano gelegen, dann in demjenigen von Colonnata und endlich in den kleineren Seitenthälern und ziehen sich mehrere tausend Fuß am Gebirge hinauf. Man greift kaum zu hoch, wenn man die Zahl der in den Gruden beschäftigtent Arbeiter auf etwa 5000 angiebt. Zum Zertheilen der Blöcke dienen über 60 Sägemühlen mit etwa 300 Rahmen und 400 Arbeitern. Gegen 30 Beutelkasten zum Schleifen des Marmors beschäftigen etwa 70 Personen. Der dazu erforderliche Sand muß von Viareggio herbeigeschafft werden, weil derjenige der Gebirgsbäche als zu kalkhaltig keine Verwendung finden kann. Das jährlich verbrauchte Eisen erreicht das Gewicht von 2400 Centnern, und die Kosten für das Sägen der Blöcke betragen mit Einrechnung der Ausgaben für Sand und Eisen circa 18 Franken pro Cubikmeter. Die Zahl der Kunstwerkstätten für Sculptur, Architektur und Ornamente, welche gegenwärtig in Carrara existiren, beträgt 106 mit gegen 250 Arbeitern, ohne von dem außergewöhnlichen Arbeiten zu sprechen: wenn solche vorliegen, vereinigt sich die nöthige Anzahl von Künstlern zu gemeinsamem Schaffen, wie z. B. letzthin behufs Decoration einer großen Kirche von Rio de Janeiro.

[458] Der jährliche Ertrag der Cave von Carrara beträgt nicht weniger als etwa 220,000 Tonnellate, gleich 2,200,000 Centner Marmor, theils in rohen Blöcken, theils gesägt und verarbeitet. Dieses kolossale Ouantum repräsentirt einen Werth von etwa 10 Millionen Franken und wird zu Lande und Wasser nach allen Himmelsrichtungen aufgeführt. Nur die Ausfuhr nach Amerika hat, in Folge des dortigen hohen Eingangszolls, in den letzten Jahren bedeutend nachgelassen.

Wiewohl das Gebirg nicht nur weißen Marmor, sondern auch farbigen und bunten enthält, so ist doch die Production der letzteren verschwindend gering gegenüber den ungeheuren Massen weißen Marmors, welche in den Cave von Carrara gebrochen werden. Man unterscheidet hier mehrere Qualitäten, je nachdem der Marmor sich zur Verarbeitung eignet und äußeren Einflüssen zu widerstehen vermag. Die erste Stelle nimmt der Marmo statuario ein, der wieder nach Glanz und Feinkörnigkeit in drei Qualitäten geschieden wird; dann folgt der Bianco-Chiaro, auch ein vorzüglicher Marmor von herrlich weißem Glanze, doch schon minder brauchbar, als der erste, um die Wunder der Bildhauerkunst hervorzuzaubern. Ihm schließt sich der Venato oder geäderte Marmor und der Ordinario oder gewöhnliche an.

Der Marmo statuario ist von vorzüglich seiner Structur und einem so reinen, glänzenden Weiß, daß man sich fast geblendet fühlt bei Betrachtung eines frischgebrochenen, von der Sonne grell beschienenen Stückes: er ist weiß, wie frischgefallener Schnee. Er findet sich in großen Knoten im Gebirge und ist von intensiv gefärbtem Gestein umgeben, welches die Marmorgräber mit dem Ausdrucke „Madremacchia“ oder Mutterfleck bezeichnen; dieser Mutterfleck ist nichts anderes, als alle Art von Unreinigkeit, welche, ursprünglich im Kalkstein enthalten, sich in Folge des Krysiallisationsprocesses abgesondert und zusammengefunden hat und in ihrem Innern den reinen Marmor von absoluter Weiße, ohne den kleinsten Flecken enthält.

Wenn daher die Cavatori oder Marmorgräber einen Block Marmo statuario von beträchtlicher Größe losgebrochen haben, so hüten sie sich, die Madremacchia völlig abzulösen; sondern sie lassen dleselbe daran haften, damit so der etwaige Käufer sich von der absoluten Reinheit des Inneren und der ausgezeichneten Qualität des Marmors überzeugen kann. Der Laie steht allerdings überrascht vor einem solchen ihm als Marmor bester Güte-bezeichneten Blocke, wenn er ihn theilweise mit großen häßlichen, schwarzen Flecken bedeckt sieht.

In nur etwa dreißig Gruben wird dieser Marmor gefunden, während die bei Weitem meisten Cave den Marmo Bianco-Chiaro und die anderen Qualitäten produciren.

Sehr lohnend ist ein Gang durch die Berge, welche die wichtigsten Gruben enthalten, und in dieser Beziehung bietet am meisten das Thal von Torano, so genannt nach dem von Carrara etwa vierzig Minuten entfernten Dorfe Torano und durchflossen vom Bache Carrione, dessen Wasser unterwegs viele Sägen zu treiben hat, in welchen rastlos das Eisen durch die Riesenblöcke knirscht. Die tiefgefurchte Straße und die zum Transporte des Marmors erbaute, oben schon erwähnte Eisenbahn bilden den besten Wegweiser: denn hier münden die steilen Abstürze von allen Seiten ein, auf welchen die losgelösten Blöcke zu Thal kommen. – Schon lange vor Sonnenaufgang eilen die kraftvollen Männer zu ihren betreffenden Gruben, und um fünf Uhr früh beginnt gewöhnlich die schwere Arbeit in den Cave, um bis drei Uhr fortgesetzt zu werden. Wahrlich ein saures Brod, das manchen Schweißtropfen kostet, der von den gebräunten Stirnen der Arbeiter rinnt; ernst und schweigsam verrichten dieselben ihre Arbeit, welche nicht nur die ganze körperliche Kraft in Anspruch nimmt und oftmals auf’s Höchste anstrengt, sondern auch unausgesetzte Aufmerksamkeit und Vorsicht erfordert, da zuweilen eine kleine Unachtsamkeit sowohl das eigene Leben, wie auch das der Gefährten bedrohen kann.

Und wirklich kommen täglich unter jenen Tausenden von Arbeitern Unglücksfälle vor, sodaß Arm- und Beinbrüche nichts Seltenes sind, in der Regel obenein mit schweren Complicationen verbunden, mit starken Anschwellungen der verletzten Glieder, da sie in den meisten Fällen von dem zermalmenden Gewichte der Marmorblöcke herrühren; durchschnittlich fallen Jahr aus Jahr ein circa zwanzig Menschenleben der gefährlichen Arbeit zum Opfer. Nicht nur in den Gruben selbst, sondern auch auf dem Transporte sind diese traurigen Folgen meist ungenügender Vorsicht häufig und mancher in der Vollkraft stehende Mann wird mitten in seinem Wirken von einem plötzlichen Tode ereilt.

Der Tagelohn des gewöhnlichen Arbeiters beträgt drei Franken und mehr, die intelligenteren und mit der Beaufsichtigung ihrer Cameraden und Anordnung der auszuführenden Verrichtungen betrauten Leute erhalten bis zu sechs Franken. Wenn über die regelmäßige Zeit hinaus gearbeitet wird, so werden zwei, drei Stunden mit eineinhalb Franken bezahlt. Das ist nicht viel, wenn man die theueren Preise der Lebensmittel in Betracht zieht. Denn wenn auch das Territorium von Carrara reich ist an Wein, Oel und Früchten und den Vortheil einer reichlichen Bewässerung besitzt, so genügt doch die Production an Korn kaum zur Hälfte für den Bedarf der Bevölkerung, weshalb eine starke Einfuhr stattfindet. Die Zahl der Landwirthschaft treibenden Bewohner ist gering, weil eben Alle größeren Verdienst bei Bearbeitung des Marmors suchen, und so wird der Acker spät, in Hast und Eile bebaut von denjenigen, deren Hauptbeschäftigung in den Bergen zu suchen ist. Ueberdies erwächst den Leuten eine nicht zu unterschätzende Mehrausgabe für Kleidung und besonders für Schuhwerk, welches auf unglaubliche Weise in den Gruben und auf dem scharfkantigen Gesteine ruinirt wird. Alles dies in Erwägung gezogen, ist der Tagelohn eines „Cavatore“ (Grubenarbeiters) wahrlich nicht zu hoch bemessen.

Die Marmorgruben sind ausnahmslos „al ciel aperto“, unter freiem Himmel, angelegt, ohne Herstellung von Schachten und Tunnels. Der Meißel und Hammer für Losbrechen und das Pulver für Lossprengen der Blöcke sind die Hauptfactoren bei der Arbeit in den Gruben. Von allen Seiten hört man den Schlag des Hammers, rastlos fällt er auf den Meißel nieder; doch oft wird dieses eintönige Geräusch unterbrochen durch langgezogene Hornsignale; dies ist das Zeichen, daß eine Mine angezündet werden soll, und nun heißt es, sich möglichst aus dem wahrscheinlichen Bereiche ihrer Wirkung entfernen. Mit fürchterlichem Knalle, dem ein dröhnendes Echo der Berge nachfolgt, springt die Mine; Felsstücke werden emporgeschleudert und rollen unaufhaltsam in die Tiefe, in ihrem Gefolge das kleinere Gestein. Der Marmorblock verfolgt unbeirrt seinen Weg bergab, bis die Steilheit des Berges sich verflacht.

„Hurtig mit Donnergepolter entrollet der tückische Marmor.“

Die Stelle, wo der Block liegen geblieben ist, dient ihm vorlaufig als Ruhestätte; er ist, wie der Cavatore sich ausdrückt, „al poggio“ („am Berge“) angekommen. Dort wird er einigermaßen hergerichtet, er wird in Form gebracht, meist viereckig behauen und vom schlechten Gesteine befreit: mit einem Worte, er macht hier schon einigermaßen Toilette, um sich würdig der noch tief unter ihm liegenden Welt zu präsentiren.

Der so hergerichtete Block wird nun mit Hebestangen und Brecheisen behutsam bis zur gebahnten Straße weiter bewegt. Wo die Steigung des Abhanges alsdann wieder eine so starke wird, daß man befürchten könnte, der Block würde durch seine eigene Schwere zur Tiefe gezogen und sowohl unten Unheil anrichten, wie auch selbst im Sturze beschädigt werden, ist abermals die größte Vorsicht geboten; er wird sorgsam mit starken Seilen umwunden und, an diesen gehalten, allmählich herabgelassen. Das ist ein gefährliches Stück Arbeit, denn oft müssen seinen Weg hemmende Steine bei Seite geschafft und ihm Luft gemacht werden. Zu diesem Behufe steigen Arbeiter mit Brecheisen hinab und beseitigen die Hindernisse; das darf nur behutsam und unter beständiger Aufmerksamkeit der den Block an den Seilen Haltenden geschehen, um dem Zerquetschtwerden der unten Befindlichen vorzubeugen.

Die Bahn, auf welcher die Blöcke theils geschoben, theils rutschend und zurückgehalten aus einer Grube zur fahrbaren Straße oder zur Eisenbahn gefördert werden, heißt die „Lizza“, die Arbeiter, welchen diese Aufgabe obliegt, die „Lizzatori“. Je schwerer der betreffende Block und je tiefer im Gebirge die Grube liegt, desto zeitraubender und gefährlicher ist selbstverständlich die Arbeit, und man kann sich kaum einen Begriff machen von der Mühe, welche das Zuthalschaffen eines Blockes von mehreren hundert Centnern Gewicht verursacht; eine schwere Verantwortlichkeit ruht auf den Schultern der Aufseher, deren Anordnungen sich die Arbeiter unbedingt zu fügen haben.

Solche besonders werthvolle Blöcke bleiben in vielen Fällen hier am Fuße des Berges ruhen, bis sie einen Käufer gefunden [459] haben, was meist nicht lange dauert, da die Nachfrage eine sehr rege ist.

Die Mehrzahl der Blöcke, welche sich nicht durch besondere Größe auszeichnen, werden, bald nachdem sie die gebahnte Straße erreicht haben, weitergeschafft. Dies besorgen die Carratori oder Karrenführer mit mehreren hundert Paar Stieren; sie führen die Blöcke entweder bis zur Eisenbahn oder zu den Sägemühlen oder zur Rhede von Avenza.

In den Sägemühlen, welche ganz nach dem Muster der Holzsägemühlen eingerichtet sind, werden die Blöcke zu Platten geschnitten. Andere Blöcke werden handwerksmäßig zu aller Art Geräthschaften verarbeitet, und selbst auf den Straßen Carraras kann man die fleißigen Einwohner bei dieser Beschäftigung beobachten. Mir fiel besonders eine Straße auf, in welcher ich ein halbes Hundert ganz und halbfertiger Badewannen wahrnahm, jede von einem geschickten Arbeiter eifrig mit Hammer und Meißel für ihre einstige Bestimmung hergerichtet. Eine große Anzahl Blöcke wandert in die Ateliers der Meister und die Bildhauerwerkstätten der Copisten, welche unermüdlich nach den Gypsmodellen von Antiken oft künstlerisch vollendete Arbeiten herstellen. Der Rest endlich, abgesehen von dem Marmor, der auf Bestellung in’s Ausland geht, findet sich auf der Rhede von Avenza in großartigen Depôts zusammen, daselbst auf Käufer harrend.

Der Marmo statuario erster Qualität wird auf der Rhede von Avenza bis zu 1600 Franken pro Cubikmeter bezahlt, derjenige zweiter Qualität bis über 500 Franken, der dritter Qualität bis 300 Franken; der Preis für Bianco-Chiaro bewegt sich zwischen 150 und 250 Franken, der von Marmo Venato zwischen 180 und 250 Franken, während der Ordinario ebenso hoch wie der schlechteste Bianco Chiaro bezahlt wird. Es giebt natürlich Blöcke von Marmo statuario, für welche sich ein fester Preis nicht bestimmen läßt; so wurde in der einem Herrn Fabricotti gehörigen Grube del Polvaccio im Jahre 1864 ein Block besten Marmors von 300 Cubikmeter ausgegraben, welcher mit 50,000 Franken bezahlt wurde. Ueberhaupt wird der Marmor aus einigen renommirten Gruben, deren Erzeugnisse sich bereits bewährt haben, z. B. durch ihre Widerstandsfähigkeit gegen die Einflüsse der Witterung, mehr gesucht, als solcher aus weniger bekannten Gruben, und deshalb auch höher geschätzt.

Noch an vielen anderen Orten des Gebirges findet sich Marmor, und bedeutende Gruben werden in der Nähe von Massa und Seravezza ausgebeutet. Allein das Gebiet des besten Marmors von unvergleichlicher Schönheit beschränkt sich im Großen und Ganzen auf das Thal von Torano. Es ist eine unermeßliche Fundgrube des edlen Steines; ganze Berge desselben sind im Laufe der Jahrhunderte losgebrochen worden; doch fragt man die Marmorgräber von Carrara, ob denn der Vorrath nicht etwa bald ein Ende nehmen könnte, so zeigen sie lächelnd und unter Kopfschütteln auf den Monte Crestola, dabei erwidernd:

„O Signore, an jenem dort wird noch mancher Meißel stumpf gemacht werden!“

P. R. Martini.




Der „arme Reisende“.

Beiträge zur Geschichte des Vagabondenthums und der Mittel zu seiner Abwehr.
Von Fr. Helbig.
I.
Statistische Erhebungen aus der Jetztzeit. – Die fahrenden Leute des Mittelalters. – Die Bettlerzunft. – Specialitäten: der Staudenkönig; der Allerweltskunde; der Hopfenkönig. – Deutsche Zigeuner. – Das Hausirgewerbe. – Die Macher. – Handwerksregeln. – Stadt und Land. – Sommer und Winter. – Der Vagabondenhumor. – Die Herbergen (Pennen).

Die unheimliche Vermehrung des Geschlechts der „armen Reisenden“, das zur ungewöhnlichen Höhe emporgestiegene Vagabondenthum bildet schon längst das vielfach erörterte Thema in den Leitartikeln unserer Tagesblätter, hat eine große Anzahl von Flugblättern und Broschüren auf den Markt gebracht, die Tagesordnung socialpolitischer Versammlungen ausgefüllt und hält die Energie und Erfindungskraft der Verwaltungsbehörden beständig in Athem. Auch die „Gartenlaube“ ist dem Thema bereits mannigfach nahe getreten (vergl. die Artikel: „Die Ordensbrüder der Klopfer“, Jahrgang 1866, „Der Vagabondenrichter“, Jahrgang 1877, „Almosenschleuderei und verständige Armenpflege“, Jahrgang 1879).

Schon einige statistische Ziffern vermögen die Größe der Gefahr zu bezeugen, die hier heranwächst, sowie daß die Furcht vor derselben keine blos illusorische ist. Die Zahl der im deutschen Reiche arbeitslos umherziehenden Vagabonden beträgt nach amtlichen Ermittelungen mehr als 200,000. Im Jahre 1880 erfolgten im Königreiche Sachsen nach einer Zusammenstellung des statistischen Bureaus in Dresden 22,337 Bestrafungen von Bettlern und Landstreichern, in Baiern im Jahre 1879 108,911, doppelt so viel als im Jahre 1872; im Landgerichtsbezirk Schwerin erfolgten vom 4. October 1879 bis zum 31. December 1880 6210 Verurtheilungen. In der Stadt Bielefeld reisten im Jahre 1880 allein 12,315 Gewerbsgehülfen durch. In der Stadt Köln wurden im Jahre 1880 bis 1881 zusammen 1084 Landstreicher bestraft, in Aachen 432, in Trier 407, in Düsseldorf 947 etc.

Nach angestellten Beobachtungen fällt es aber einem einigermaßen gewandten Fechtbruder nicht schwer, in größeren Städten täglich 3 bis 4 Mark zusammenzubetteln. Ein Schmied in einem oberrheinischen Dorfe bot einem durchreisenden Fachgenossen Arbeit an, worauf dieser höhnisch entgegnete:

„Heute Morgen bin ich von M. weggegangen; es ist jetzt fünf Uhr und ich habe unterwegs schon fünf Mark ‚verdient‘. Das können Sie doch keinem Gesellen auslegen!“ Sprach’s und verschwand.

Bei einem in ein Düsseldorfer Gefängniß eingelieferten Stromer fand man einen Beutel mit 906 einzelnen Geldstücken, welche zusammen einen Werth von 16 Mark 98 Pfennig repräsentirten. Diese Summe hatte der Mann in drei Tagen zusammengefochten, abzüglich dessen, was er bereits verbraucht hatte.

Auf dem platten Lande beträgt der tägliche Erlös des „Geschäfts“ immer noch 2 bis 3 Mark. Schon das Abbetteln von ein oder zwei größeren Orten erzielt meist einen Gewinn von 1,30 bis 1,50 Mark. Das macht nach jetzigen Arbeitsverhältnissen beinahe den Tageslohn eines rechtschaffenen Arbeiters aus, der dabei im Durchschnitt täglich zehn Stunden arbeiten muß, während das Abbetteln kaum drei bis vier Stunden beansprucht. Demnach beläuft sich die Summe dessen, was jährlich im lieben Vaterlande zusammengefochten wird, auf nahezu eine halbe Million Mark. So viel wird also der redlichen Arbeit entzogen, um damit das Nichtsthun zu prämiiren! Dazu tritt dann noch der Betrag der Kosten, welche dem Staate, den Gemeinden, den Armenverbänden aus der Detention, Strafverfügung, Verpflegung in Krankheitsfällen und an Almosen erwachsen. Sie stiegen z. B. in der Provinz Hannover von 1872 bis 1880 von 18,759 Mark auf 234,585 Mark, in der Rheinprovinz auf dieselbe Zeit um 139 Procent, in Westfalen um 135 Procent.

An sich ist das Vagabondenthum kein Product der Neuzeit, es ist so alt wie die menschliche Gesellschaft, so alt wie der in derselben bestehende Gegensatz von Arm und Reich, von Arbeit und Nichtsthun.

Das Vagantenwesen hat sogar, wie Alles, was in der Geschichte fortlebt, eine gewisse typische Physiognomie, einen corporativen Charakter, eine gegliederte Organisation angenommen und sich erhalten. Es schließt sich dabei eng an das Gaunerthum an und geht viel in dasselbe über. So wird der reisende Handwerksbursche im zweiten Stadium zum Stromer und Vagabonden und im dritten zum Gauner und Dieb. Beide, Gaunerthum und Vagabondenthum, leihen sich denn auch gegenseitig ihre Handwerksregeln, ihre Kniffe und Schliche, Zeichen und Sprache.

Die „fahrenden Leute“ des Mittelalters, die Herren der Landstraße, setzten sich zusammen aus Bettlern, Gauklern, Spielleuten und Hausirern. Anfangs genossen sie noch das Gastrecht auf Burgen und Höfen. Mit steigender Vermehrung verfielen sie [460] der Entartung und wurden zur verheerenden Landplage. Am ärgsten war dies der Fall in der Zeit nach dem demoralisierenden Dreißigjährigen Kriege. Dann war es besonders die Menge der vielen Territorialgrenzen, welche das freie Umherziehen ungemein begünstigte, weil es die Verfolgung erschwerte und unter Umständen den Uebertritt in’s andere Land sogar amtlich begünstigte.

So konnte man schon am Ausgange des Mittelalters von einer Bettlerzunft sprechen, die zwar keinen bestätigten Zunftbrief noch eine obrigkeitliche Matrikel besaß, gleichwohl aber in ihrer Verfassung und Gliederung dem Vorbilde der ordentlichen Handwerkszunft genau entsprach. Da gab es wie im Handwerk abgegrenzte Branchen. So unterschied man unmaskirte Bettler und maskirte oder freie Bettler. Zu diesen zählten die Steigbettler, welche mit wirklichen oder künstlich erzeugten Gebrechen auf das Mitleid zu wirken suchten. Unter diesen galten als besondere Art diejenigen, welche von Galgen und Rad die halbverwesten menschlichen Gliedmaßen stahlen und an den Kirchthüren und Stadtthoren sitzend sie als ihre eigenen vorzeigten. Die Butzschnurrer verstanden sich darauf, Unglücksfälle zu erdichten und sie mit kläglichem Antlitze von Haus zu Hans weiter zu verbreiten. Auch die Kaste der Stapler (Stabuler) war schon im fünfzehnten Jahrhunderte bekannt und hatte ihre Eintheilung in gemeine Stapler, Hochstapler und Reichsstapler. Die ersteren zogen unter der Maske von Pilgern, Wallfahrern, aus der Gefangenschaft befreiten Christensclaven umher, während die Hochstapler schon als größere Herren, asiatische Prinzen, Fürsten vom Libanon, vornehme Weltpriester, Officiere und Brandbettler auftraten. Der Besitz reichsfürstlicher Pässe machte sie zu Reichsstaplern. Sie hielten zu bestimmten Zeiten ihre Generalversammlungen, die „geistlichen“ zu Regensburg, die weltlichen zu Fürth.

Auch neuerdings noch cultivirt das Landstreicherthum gewisse Specialitäten. So haben es die Staudenbettler, deren hervorragendster sogar den Namen eines Staudenkönigs führt, darauf abgesehen, Stauden, das heißt Hemden zu betteln, indem die Vagabondensprache diesen Ausdruck für das betreffende Kleidungsstück führt. Der Staudenkönig würde es unter seither Würde halten, Geld zu betteln. Er befolgt dabei seine eigene Taktik. Will er, wie der technische Ausdruck lautet, „in’s Geschäft steigen“, so zieht er, sei es Winter oder Sommer, das Hemd aus und öffnet beim Eintritt in die Wohnung die bloße Brust. Diese drastische Berufung auf das Mitleid schlägt ihm selten fehl. Ein Mensch, der nicht einmal das Nothwendigste, nicht einmal ein Hemd auf dem Leibe trägt, wie bejammernswerth ist derselbe, meint die gutherzige Hausfrau und öffnet mitleidig die Wäschtruhe. So bringt der geübte Staudenbettler bis zum Abend leicht ein halb Dutzend zusammen, und für Hemden finden sich leicht Käufer. Lachend über die leichte Täuschung eines Frauengemüths verjubelt er den Gewinn noch an dem Tage in Branntwein.

Ein Anderer hat sich den Beinamen „Allerweltskunde“ erworben, weil er, van Haus aus den besseren Ständen angehörend und nicht ohne Intelligenz, auf alle möglichen Geschäfte dressirt ist, welche heutzutage nach ihren Fachgenossen kleine Reisegeschenke zu geben pflegen. So ist er an einem Tage Kaufmann, Mechaniker, Uhrmacher, Klempner, Gürtler, Instrumentenmacher etc. Er führt auch für jedes Metier die passende Legitimation mit, denn er versteht sich trefflich auf das Graviren von Stempeln und die Veränderung seiner Handschrift.

Wieder ein Anderer läßt sich den „Hopfenkönig“ schelten. Er war früher Kaufmann, ist aber seit Jahren ohne Beschäftigung und geht jetzt regelmäßig jedes Jahr auf weiten Umwegen zur Hopfenernte nach Spalt in Baiern. Mit der Kundgebung dieses redlichen Zweckes ködert er überall das Mitleid.

Eine besondere Kategorie versteht sich darauf, „Fallen zu machen“, das heißt allerlei falsche Vorspiegelungen, Aufträge von Verwandten und Bekannten zu singiren, angebliche Verwandtschaften zu erklügeln, und was dergleichen mehr, um sich in das Vertrauen der Leute einzuschleichen.

Der reisende Kellner, der sehr oft in den reisenden Commis überspringt, sucht besonders durch Frechheit und ein dreistes Auftreten zu imponiren. – Vagabondirende Fleischergesellen reisen namentlich in katholischen Ländern gern als Scharfrichterknechte, vor denen die Leute auf dem Lande eine abergläubische Scheu haben.

Und mit der Furcht erzielt der Vagabond oft mehr, als mit dem Mitleid; daher lieben es die Stromer, besonders auf dem Lande, in ganzen Rotten aufzutreten, wobei zugleich, wie es in einer Polizeistatistik heißt, die Raffinirten die weniger Routinirten unter ihre Flügel nehmen.

„Die schlimmsten Vagabonden,“ heißt es in einer anderen statistischen Zusammenstellung über das Bettelwesen der Rheinprovinz, „sind die sogenannten ‚deutschen Zigeuner‘ (Korbflechter), welche in Karawanen umherziehen in Begleitung einer großen Anzahl unmündiger Kinder und liederlicher Weibspersonen. Mit der größten Frechheit werden die schlechten, von ihnen fabricirten Körbe und Anderes aufgedrungen und nebenbei die Kinder zum Betteln geschickt,“

Zu ihnen gesellen sich dann noch Besenbinder, Kessel- und Regenschirmflicker. Da sie oft Gefährt haben, so bezeichnet man sie wohl als das „Vagabondenthum im Reisewagen“. Mit dem von ihnen gelösten Gewerbescheine decken sie sich der Polizei gegenüber.

Denselben breiten Deckmantel der Bettelei bildet vielfach das Hausirgewerbe. So zieht der in der Vagabondenwelt bekannte „Wurzelfried“, von Haus aus Schneider, mit allerlei Wurzeln umher, die er den Landleuten als Mittel für Zahnschmerzen, Kopfreißen und vieles andere Gebreste verkauft. Ein Anderer bietet gelbe Seife als Arcanum gegen alles Mögliche aus, welcher er durch eine parfümirte Emballage aus Silberpapier eine besondere Anziehungskraft verleiht. Dabei ist es aber weit weniger auf den Absatz der Waare, als aus den Gewinn eines Zehrpfennigs abgesehen.

Eine gefährliche Gattung der Vagabonden sind die sogenannten „Macher“. Sie bauen ihre Pläne auf die Vertrauensseligkeit und Unerfahrenheit der Jugend und haben es daher vornehmlich abgesehen auf die jungen Handwerksburschen, die mit den Markstücken des Vaters im Beutel und den Segenssprüchen der Mutter im Herzen ihren ersten Wandergang machen. Es sind alte ausgediente Fechtbrüder. Sie reisen meist in Gruppen. Einer unter ihnen ist der Schlepper, der die Opfer aufspürt und zuführt. Ein Anderer spielt den Unparteiischen, der, wenn das „Geschäft gemacht“, das heißt das aufgespürte Muttersöhnchen, der „Affe“, gehörig bei Zeche und Spiel gerupft ist, das Opfer fortschafft („verschiebt“). Die Macher sind äußerlich nobel, sowohl in der Kleidung als im Auftreten, tragen Uhren und Ringe, wenn auch keine echten, und wissen durch Vorzeigen pappener Goldstücke und gefälschter Markscheine. in der Gaunersprache „Blüthen“ genannt, den noch unerfahrenen Wanderburschen zu imponiren.

Sie wissen sich auch der Polizei gegenüber gut zu stellen indem sie auf gute „Flaggen“ (Reisepapiere) halten, und haben besonders unter den Herbergswirthen Freunde und Helfer, da diese von ihnen bei der Ausbeutung ihrer Opfer den besten Vortheil haben.

Das durch das Zusammenleben genährte und erzogene Standesbewußtsein, sowie das durch korporatives Zusammenwirken geförderte Geschäftsinteresse haben dem Vagabondenthume schon früh zu einer Organisation verholfen, die wenigstens von den alten Fachmeistern festgehalten wird. Wenn da so ein Trupp dem anderen auf der Landstraße begegnet, begrüßen sie sich mit einem:

„Guten Tag!“

„Kunden?“ fragt dann der eine Theil.

„Kellner,“ entgegnet der andere Theil, und die Zugehörigkeit beider Theile zur großen reisenden Bettlerzunft ist damit festgestellt.

„Welche Religion?“ fragen sie sich dann gegenseitig und meinen damit, welches Geschäft Jeder treibe.

Da ist nun der Eine ein „Sonnenschmied“ (Klempner), der Andere ein „Elementarfärber“ (Brauer), der Dritte ein „Schwarzkünstler“ (Schornsteinfeger), viele Andere sind „Galgenposamentierer“ (Seiler), „Herumtreiber“ (Böttcher), „Fekläppchen“ (Tuchmacher), „Katzhoffer“ (Fleischers, „Licht- und Dichtmacher“ (Glaser) und „Piependreher“ (Cigarrenmacher), lauter Namen, bei denen der Humor Gevatter stand.

Nun folgt eine Ausfrage nach den Dörfern („Kaffs“) bis zur nächsten Stadt. Dann werden Erfahrungen ausgetauscht über die Orte und Distrikte, wo es „heiß“ ist, das heißt wo die Polizei sehr wachsam und scharf ist; ob die Stadt gut oder „warm“ ist; ob die „Trauten“ (Meister) Geschenke geben; ob Ortsgeschenke

[461]

Eingeregnet!
Nach dem Oelgemälde von R. Genzmer.

[462] ausgetheilt werden; ob es dort Vereine gegen Hausbettelei giebt; welches die besten Herbergen sind, und was der Dinge mehr. Dann trennt sich der Haufen wieder mit Handschlag und einem „Lebe wohl, Kunde“ und seht im Einzelnen seine Wanderschaft fort. Dabei gehen aber immer zwei bis drei zusammen.

Die Wanderschaftsgenossen halten gute Cameradschaft; alles erfochtene Geld kommt in eine gemeinschaftliche Casse und wird dann redlich getheilt. Kommt der Trupp in ein Dorf, so wird zunächst möglichst unbefangen Erkundigung eingezogen, ob der „Deckel“ (Gensd’arm), auch „Klengners Karl“ genannt, da ist. Ist die Luft rein, so wird nunmehr der „Kaff mitgenommen“ (abgebettelt). Kein Bauer wird „liegen“ gelassen, nur die kleinen „Winden“ (Häuser) bleiben verschont. Vor Allem aber werden der Pfarrer („Gallach“) und Schulmeister („Schallach“) in Angriff genommen.

Das erste Augenmerk richtet sich auf das Einheimsen der Magenbedürfnisse, Brod („Hanf“), Käse („Leiche“), Kaffee. Ist der Vagabondenbeutel genügend damit versehen, so wird nun um Geld („Draht“) gefochten, um zum Frühstück den nöthigen Schnaps („Sauf“) zu haben. Ist das Dorf durchgefochten und hat eine nennenswerthe Beute geliefert, so wird nunmehr im Freien, hinter demselben, Halt gemacht und Frühstück gehalten. In den Städten wird die Taktik in so weit geändert, als da jeder allein auf die Fahrt geht, da das Doppeltgehen leicht Aufsehen erregen würde und das Terrain so auch leichter beherrscht wird. Es giebt Vaganten, welche nur in den Städten fechten und es nicht für der Mühe Werth erachten, die „Kaffs“ abzuklappen, während andere wieder ihren Wirkungskreis nur auf das platte Land beschränken.

Die beste Zeit für den armen Reisenden ist natürlich der Sommer. Da wird bei einigermaßen günstiger Witterung „Platte gerissen“, das heißt im Freien übernachtet, um das Nachtquartier zu sparen, und der „Rauscher“ (das Strohlager) ist in dieser Zeit in den Herbergen oft besser, als das beste Bett („Sänftling“). Abends giebt es „Rundlinge“ (Kartoffeln) nebst „Schwimmling“ (Häring), und an Brod („Hanf“) ist auch kein Mangel. Ist Heu- oder Kartoffelernte, so wird wohl auch eine Zeit lang gearbeitet, schon um Arbeitsscheine zu erhalten. Da giebt es auch gewisse allgemeine Arbeitsplätze. So treffen in dem bereits erwähnten baierischen Orte Spalt, dem Centralpunkte des Hopfenbaues, die „Kunden“ aus allen Gegenden zusammen und geben sich dort ein durch die reelle Arbeit des Hopfenabblättlens geschütztes Rendezvous. Ueberhaupt gilt nach unserm Gewährsmanne, einem Cidevant-Kunden, dessen auf eigene Erfahrungen gestützten Angaben[1] wir hier folgen, der deutsche Süden, besonders Baiern und Württemberg, als das Eldorado der wandernden Reisenden, weil da der Lebensunterhalt billiger ist und die Leute gutmüthiger sind, als im deutschen Norden. Der Altbaier und der Tiroler verleugnet auch dem Vagabonden gegenüber seinen alten Zug der Gastfreundschaft nicht. Nur der Mecklenburger Landmann und der Bauer der Marschen steht mit seiner guten Kost, seinen Schinken und Eiern, bei den Herren der Landstraße noch in gutem Rufe, wobei freilich die unwirthliche Lüneburger Haide mit in den Kauf genommen werden muß.

Der Winter ist die schwerste Zeit für unseren armen Reisenden. Hier kommt der Mangel in der bittersten Gestalt zu ihm. Da geht ihm mit der Kälte auch der Humor aus, und die Noth treibt ihn dann oft der sonst so geflissentlich gemiedenen Polizei freiwillig in die Arme, und das verhaßte Gefängniß, „Kittchen“ muß ihm Obdach und Nahrung geben.

Auch der Humor fehlt dem Vagabondenleben nicht. Er prägt sich schon in der Sprache aus, ebenso in den Spitznamen, welche die einzelnen hervorragenden Kunden in den Kreisen ihrer Genossen führen. Er tritt zu Tage in den schauspielerischen Gesten und der kunstvollen Mimik, mit welchen der Einzelne seinen Bittgang begleitet. Er ruft dem zur Arretur Gekommenen ermunternd zu:

„Hat Dich auch der Putz (der Polizist) am Kragen,
Kunde, darfst doch nicht verzagen.“

Freilich kommt dieser Humor manchmal arg in’s Gedränge. So in dem Falle, als ein alter Kunde bei einem Dorfpfarrer mit frommer Miene und kläglichen Ausdrücken um ein abgelegtes Hemd bat, und ihm auf einmal die Worte entgegentönten:

„Lieber Kunde, ‚der Kohl‘ (die Rede) war gut, aber der ‚Gallach‘ (Pfarrer) hippt nicht.“

Der Pfarrer war nämlich früher Anstaltsgeistlicher gewesen und hatte dabei Gelegenheit gehabt, die Gaunersprache zu lernen und sich mit den Kniffen der Kundschaft bekannt zu machen. Der verblüffte Staudenbettler nahm hierauf schleunigst Reißaus. Der Humor prägt sich auch in der Fopplust aus, welche sich nicht blos unter den eigenen Genossen, sondern gegenüber den feindlichen Mächten der Polizei geltend macht. So erging es jenem Mecklenburger Landhusar gar eigen. Am Raine der Landstraße trifft er zwei Kunden im bequemen dolce far niente. Da sie keinen genügenden Ausweis haben, arretirt er sie, ist aber mitleidig genug, den Einen, welcher ganz contract ist und lahme Füße hat, auf sein Pferd zu heben, auf dem er gebrochen und wie eine halbe Leiche herabhängt, indeß sein Gesell mit dem Husaren nebenher geht. Als die Karawane in dir Nähe eines Waldes kommt, reckt der vermeintliche Kranke sich plötzlich auf und beginnt das Pferd in Trab zu setzen. Der überraschte Gensd’arm läuft im Galopp hinterdrein und vergißt dabei ganz den fußgängerischen Collegen des Ausreißers. Dieser läuft querfeldein in den Wald, und der Reiter schwingt sich, nachdem er einen tüchtigen Vorsprung erhalten, vom Pferde, auch er eilt mit flinkem Fuße dem schützenden Walde zu. Dahin kann der gefoppte Landhusar den wieder brüderlich Vereinten mit seinem Rosse nicht folgen. Grollend und fluchend reitet er heim, indeß die beiden Durchbrenner lachend und jodelnd davonziehen.

Dahin gehört auch die Geschichte von dem bettelnden Schornsteinfeger, der den ihn beobachtenden Gensd’arm dadurch täuscht, daß er in zehn Läden einkehrt und immer für einen Pfennig Stecknadeln kauft. Derlei lustige Vagabondenstreiche à la Robert und Bertram bilden denn Abends in den Herbergen das Hauptthema der Unterhaltung.

Die Herbergen (Pennen) haben wesentlich mit dazu beigetragen, das Vagabondenthum wach zu erhalten. Sie sind, wie es in den angeführten Berichten heißt, die Sammel- und Berathungsorte der Stromer; sie bilden die Stamm- und Hauptquartiere, von wo die ganze Gegend abgeklopft wird. Abends kehrt man mit der erworbenen Beute heim; die Victualien werden in Spirituosen umgesetzt und die baaren Pfennige verjubelt. Die Herberge, heißt es an einer anderen Stelle, ist die Hochschule des moralischen Herunterkommens und die Durchgangspforte zum Gefängniß. Dort werden namentlich junge Leute von solider Anlage mit in das Compagniegeschäft gezogen und ihnen im Fechten genauer Unterricht gegeben. Dort liegen nicht selten, oft von den Herbergsvätern selbst geführt, vollständige Orts- und Namensverzeichnisse aus, worin die Namen und Wohnungen der Geber verzeichnet sind.

„Ich wünschte lebhaft,“ schreibt unser Gewährsmann, „Sie könnten sich einmal eine solche Fremdenstube in den Herbergen ansehen, die oft nichts weniger ist als eine Stube. Hier sitzen auf Bänken und Stühlen umher gleichzeitig wohl an die vierzig Mann; der Eine ohne Stiefeln (‚Trittchens‘), der Andere ohne Mütze, wieder ein Anderer mit zerrissenen Beinkleidern und die meisten mit defecten Röcken (‚Wolmuth‘). Viele haben gar kein Hemd an, nur Wenige eine Weste (‚Kreuzspanne‘), aber alle wenig oder gar kein Geld. Was jedoch Keinem fehlt, das ist die Schnapsflasche.“

Der eine Theil vertreibt sich die Zeit mit Kartenspiel, der andere mit frivolen Späßen und der Mittheilung von Bettlerfahrten. Viele sind schon wochenlang hier, so lange das Fechtgeld vorhält; nur ein Theil davon hat Nachts über ein Bett zu verfügen, die meisten sind auf „Bankarbeit“ angewiesen, das heißt sie schlafen in der Wirthsstube auf Tischen und Bänken. Der Herbergswirth, von den Gästen kurzweg „Boos“ genannt, herrscht in dem Reiche wie ein König. Er versteht nicht blos die Kunden [463] gut zu unterhalten, sondern vor Allem auch ihnen das Geld aus der Tasche zu locken, sobald er nur spürt, daß solches vorhanden ist. Faule Fechter jagt er frühzeitig auf die Fahrt, das heißt zum Bettelngehen. Er weiß sich auch nöthigenfalls mit der an der Küchenwand hängenden Peitsche Respect zu verschaffen. Daneben ist er den Gästen vielfach bei dem Vertriebe erfochtener Sachen behülflich und weiß dabei für sich immer ein gutes Verdienst herauszuschlagen.

Viele dieser Herbergswirthe geben neuerdings sogar gedruckte Empfehlungskarten ihres „Hôtels“ den Reisenden zur Verbreitung mit, in denen namentlich nicht verfehlt wird, auf den „guten Nordhäuser“ aufmerksam zu machen. Auch empfehlen sich die Wirtschaften unter einander, und man hat bei verhafteten Landstreichern, außer einer Anzahl jener gedruckten Empfehlungskarten, förmliche Reiserouten aufgefunden.

In einem nächsten Artikel werden wir uns mit den Ursachen dieser modernen Landplage und den Mitteln zu deren Abwehr und Erdrückung beschäftigen.




Blätter und Blüthen.

Vermißte (Neue Folge). Wir wiederholen hier die schon mehrfach ausgesprochene Bitte, daß diejenigen, welche von ihren vermißten Angehörigen Kunde erlangt haben, uns sofort davon Nachricht geben, damit wir den so vielfach beanspruchten Raum unseres Blattes nicht zu vergeblichen Aufrufen verschwenden müssen.

1) Hermann August Paul Schütz, Seemann aus Berlin. 1845 geboren, ging 1863 über Stettin zur See, kam auf dem Schiffe „John Watt“ Februar 1865 nach St. Helena. Die letzte briefliche Nachricht von ihm datirt vom 26. April 1865 aus Hallmouth. Seitdem verschollen.

2) Im November 1869 brachte der Eisenbahnsecretär W. Felix, damals in Saarbrücken, seinen achtzehnjährigen Sohn Heinrich Felix, welcher Seemann werden wollte, nach Hamburg, wo derselbe als Schiffsjunge auf den Dreimastschooner „Ernst“, Capitain Jacobsen, kam. Nach einer zweiten Fahrt mit diesem Schiffe nach Valparaiso verließ er dasselbe und fuhr seitdem auf chilenischen, nordamerikanischen und englischen Schiffen und schrieb von verschiedenen See-Orten, zuletzt, am 20. März 1877, von Capstadt aus, von wo er mit dem Schiffe „Caernarvon Castle“ nach London zurückkehrte und am 10. Oktober 1877 ausgemustert wurde. Letztere Nachricht erhielten die Eltern durch das deutsche Generalconsulat in London. Seitdem ist Felix verschollen.

3) Vor acht Jahren verließ der Matrose Theodor Georg Becker Hamburg auf einem nach Südamerika segelnden Schiffe. 1877 erhielt sein Vater die Nachricht, daß sein Sohn gefangen gehalten werde; auf Veranlassung der deutschen Regierung wieder frei gegeben, schrieb er, daß er heimkehren wollte. Seine damalige Adresse lautete: „Sennor Carlos Weiss para entregar à Teodoro Becker. Las Flores, Republica Argentina.“ Alle unter dieser Adresse abgesandten Briefe blieben bis jetzt erfolglos.

4) Joseph Bell von Luzern begab sich im October des Jahres 1867 nach Argentinien, Santa Fe. Die letzten Nachrichten von ihm datiren vom October 1869; seither konnte trotz aller Nachforschungen nichts von ihm vernommen werden.

5) Wer den Aufenthalt des Graveurs Julius Hermann Bergmann weiß, wird gebeten, denselben seiner in der größten Dürftigkeit lebenden, kranken Frau in Görlitz, Pragerstraße 4, anzuzeigen, damit selbige von ihm die Erlaubniß erhalten kann, seine monatliche Pension zu erheben.

6) Eine halberblindete Wittwe sucht ihren Sohn! Derselbe, Hermann Brockel, gebürtig aus Ohlau in Schlesien, diente von 1873 bis 1876 als Unterlazarethgehülfe in Bautzen. Neujahr 1880 hat derselbe von Liegnitz in Schlesien aus zum letzten Male geschrieben. Der Vermißte ist seiner Profession nach Barbier.

7) Ein junger Deutscher, Hieronymus Brenner, der längere Zeit in Amerika lebte und vor circa einem Jahre eine Stelle in Liverpool als Kellner einnahm, kam Ende vorigen Jahres in Streit mit dem Koch des Hauses, wollte seine Kraft mit jenem messen, wurde aber bezwungen und hingeworfen und fiel so unglücklich, daß er nach wenigen Stunden starb. Ein nach Berlin an die Eltern des jungen Mannes gerichteter Brief kam als unbestellbar zurück. Der Wohnort der Eltern wird behufs Auslieferung der Hinterlassenschaft des Verstorbenen gesucht.

8) Der Bäckergeselle Anton Dettki aus Rössel in Ostpreußen, der vor einigen Jahren seine Vaterstadt verließ und seit zwei Jahren nichts mehr von sich hat hören lassen, wird gebeten, seinen Eltern Nachricht von sich zu geben, respective selbst nach Hause zu kommen. Da die Mutter schwer krank darniederliegt und der Vater sehr schwach ist, so soll er die Bäckerei seines Vaters übernehmen.

9) Der Schlossergeselle Gustav Dittmann aus Halberstadt war im Jahre 1878 bis 1879 beim Schlossermeister Herm. Sandes in Köln in Arbeit. Darauf ist er nach Ruhrort a. Rh. und dort auf einem Schlepper angestellt gewesen. Im Juli 1879 haben seine Eltern den letzten Brief von Ruhrort erhalten. Alle Nachforschungen nach ihm sind bis jetzt fruchtlos gewesen.

10) Die Wittwe Joh. Driescher in M.-Gladbach in Rheinpreußen sucht ihren Sohn, den Klempner Friedrich Wilhelm Driescher. Derselbe ist 1851 in Rheydt geboren. Sein letzter Brief datirt aus Dresden, 1875; er schreibt darin, er würde noch an demselben Tage mit seiner Braut abreisen, ohne Angabe wohin; nach Aussagen einiger seiner Freunde soll er den Vorsatz ausgesprochen haben, nach Japan auszuwandern. Seine Braut soll Adele Weisdorn heißen und Verwandte in Japan haben.

11) Der Bäckergeselle Johann Buch, geboren 1863 in Neuwied, ging im Mai 1883 auf die Wanderschaft, arbeitete zuletzt im Badischen und schickte vor einem halben Jahr seine sämmtlichen Kleider nach Hause mit dem Bemerken, daß er auf seiner Durchreise dieselben wieder in Empfang nehmen wollte. Dies ist bis jetzt noch nicht geschehen und fürchtet die arme, alte Mutter, daß ihm ein Leid zugestoßen sei.

12) Rudolf Eiberger aus Mondsee im Salzkammergute, 1853 geboren, ging nach Abdienung seiner Militärjahre zur Marine, seit 1874 verschollen.

13) Alfred Eiberger, ebenfalls aus Mondsee, 1854 geboren, war bei der Marine, wurde 1875 zur Infanterie commandirt, desertiere kurze Zeit darauf, schiffte sich in Triest auf einem Kauffahrteischiffe ein. Sein letzter Brief datirt von 1878 aus einem englischen Hafen.

14) Eduard Ender, 1830 geboren zu Warmbrunn in Schlesien, Buchhalter, begab sich October 1864 von Breslau nach Russ. Polen, um sich dort eine Existenz zu gründen. Seitdem verschollen. Seine alten, bekümmerten Eltern bitten um Nachricht.

15) Hugo Engel, geboren 1850, Seemann, wird von seinem Vater gesucht. Die letzten Nachrichten datiren vom 18. Aug. 1878 aus Cadix und theilte er damals mit, daß er auf sieben Monate von einem nach Rio Grande in Brasilien fahrenden englischen Schiffe gedungen worden sei.

16) Der Sattler Friedrich August Vogel aus Leubsdorf, der seinen Bruder am 1. Januar 1881 zum letzten Male besucht, wird von seinen Geschwistern um Nachricht gebeten.

17) Lucie Pabst. Signalement: Alter: 20 Jahre, Größe: 1,60 M., Statur: schlank, Haare: hellblond, Stirn: gewölbt, Augenbrauen: blond, Nase und Mund: gewöhnlich, Kinn: rund, Gesicht: etwas länglich. Gesichtsfarbe: gesund. Lucie Pabst, die einzige Tochter eines geachteten Bürgers von Quedlinburg, entfernte sich am Abend des 29. November gegen 8 Uhr aus der elterlichen Wohnung, um angeblich in einem Hôtel, wo das junge Mädchen zur Erlernung der Küche thätig war, sich noch mit der Anfertigung von Weihnachtsarbeiten zu beschäftigen. Lucie Pabst ist jedoch nicht m dem betreffenden Hôtel gewesen, und bis jetzt noch nicht zu ihren Eltern zurückgekehrt, auch trotz aller Nachforschungen noch Nichts über ihren etwaigen Aufenthalt ermittelt.

18) Heinrich Stammerjohann, geboren 1846, auf Grevenköper Riep bei Krempe in Holstein, reiste als Seemann von 1865 an nach Südamerika, China, Californien, Mexico, England und von da nach Rio Grande in Brasilien, von wo er 1870 zuletzt geschrieben hat. Seitdem verschollen. Seine Mutter und seine Geschwister bitten um Nachricht.

19) Am 3. Juli 1881 hat sich der Bäckerlehrling Otto Junker heimlich aus Barmen entfernt. Trotz aller Bemühungen des bekümmerten Vaters konnte bis jetzt nichts über seinen Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht werden.

20) Eine unglückliche Frau bittet die „Gartenlaube“, ihren Mann zu suchen. Derselbe, der Schriftsetzer Karl Kegler, hatte, da er an zeitweiliger Geisteskrankheit litt, acht Wochen im Irrenhaus zu Dalldorf verbracht, war dann wieder entlassen worden und zu seiner Frau zurückgekehrt. Nach vierwöchentlichem Aufenthalt in Berlin unter der Obhut derselben, verschwand er aber am 11. Februar 1882 plötzlich; es ist bis jetzt noch nicht die geringste Spur von ihm aufgefunden worden. K. ist 66 Jahre alt, von kleiner Gestalt, hat dunkelblonde mit grau vermischte Haare, dunkelblaue Augen.

21) Seit vierzehn Jahren warten die Eltern des Kaufmanns Friedr. Ferd. Robert Schlippe auf eine Nachricht von ihrem Sohn. Derselbe, 1818 geboren, lernte in Leipzig die Kaufmannschaft, verließ aber 1868 plötzlich Leipzig, um, wie er seinen Eltern schrieb, in China eine Stelle anzunehmen. Am 3. April schrieb er nochmals aus London, resp. vom Bord eines Schiffes. Seitdem fehlt jede Spur und Nachricht.

22) Der Tapezierer H. Sahlmann aus Kiel sucht seine einzige Schwester Katharine Sahlmann, geboren in Kiel, 43 Jahre alt. 1862 war sie bei einem Kaufmann in Berlin (Prinzessenstraße) angestellt, seitdem der Aufenthalt unbekannt.

23) Der Bäckergeselle Paul Alban Richter aus Zwönitz, geboren 1863, ging 1880 auf die Wanderschaft und schrieb das letzte Mal an seine Eltern Ende April 1880 aus Schlesien. Seit dieser Zeit ist der Mann verschollen. Die tief betrübten Eltern, welche beide noch leben, erwarten sehnsüchtig Auskunft über den Vermißten und setzen ihre letzte Hoffnung auf die „Gartenlaube“.

24) Adolf Rahn, geboren 1865 zu Mohrin bei Königsberg, welcher zuletzt als Knecht in Krukow in Mecklenburg gedient hat, wird von seiner bekümmerten Mutter aufgefordert, Nachricht zu senden.

25) „August Off! Der Du vor zwanzig Jahren nach Rio gingst, gieb Deiner alten achtzigjährigen, allein noch lebenden Mutter, die täglich Deiner gedenkt, ein Lebenszeichen! Dorothea Off.“ Die Adresse der bittenden Greisin theilt die „Gartenlaube“ mit.

26) Hans Jacob Nommensen, geboren auf der Hallig Gröde, Provinz Schleswig Holstein, 1848, ist, nachdem er in der deutschen Marine als Einjähriger gedient, 1872 als Matrose mit einem Hamburger Schiff „Atalanta“ nach Hongkong abgegangen. Unsicheren Nachrichten zufolge, sollte er in Hongkong bei einem Hamburger Namens Peter Schmidt logirt haben, dann an Bord eines anderen Schiffes, welches an der chinesischen [464] Küste fuhr, gegangen sein. Alle von den alten Eltern angestellten Nachforschungen blieben resultatlos.

27) Im Januar 1882 hat sich der fünfzehn Jahre alte Hermann Noe von seinem Lehrherrn, dem Bäckermeister Schwarz in Apolda, heimlich entfernt, ohne bis jetzt etwas von sich hören zu lassen, Nachrichten von oder über ihn werden durch die „Gartenlaube“ von seinen Eltern erbeten.

28) Joseph Müller, Maschinenschlosser, reiste 1870 von Werschetz in Ungarn nach Rußland, wo er in Elisabethgrad bis 1873 beschäftigt war und im Juli das letzte Mal geschrieben hat. Indirekten Nachrichten zufolge, soll J. M. sich 1876 in Kaukasien aufgehalten haben. Sein Vater bittet um Nachricht.

29) Anna Matt, geboren 1862 in Woksach, verließ 1877 ihre Mutter, um in der Schweiz eine Stelle zu suchen; nachdem sie in Zürich bis 1879 gedient, erhielt ihre Mutter einen Brief aus St. Etienne in Frankreich, wohin Anna Matt sich einer Stelle wegen begeben; da sie dieselbe nicht erhalten, so befand sie sich in der traurigsten Lage. Auf an sie gerichtete Briefe und Geldsendungen erhielt die Mutter keine Antwort. Bis jetzt ist noch keine Spur ihres Aufenthalts entdeckt worden.

30) Ende der vierziger Jahre wanderte ein gewisser Friedrich von Lueders aus Thüringen nach Amerika aus. In seiner Heimath hinterließ er einen Sohn Namens Wilhelm Lueders. Der Aufenthalt desselben wird von seinem in Amerika geborenen Bruder Robert Lueders gesucht.

31) Maria Lauer aus Essen an der Ruhr wird gebeten, ihre Adresse an ihren Bruder, Fr. Lauer, Essen, Herkulesstraße 70, einzusenden.

32) Heinrich Georg Hauck, geboren 1864 zu Stötteritz bei Leipzig, hat sich am 1. September 1882 heimlich mit seinem Arbeitsbuche entfernt. Alle Nachforschungen vergeblich. Sein besorgter Vater bittet alle, die Näheres von ihm wissen, um Nachricht.

33) Karl Moritz Lange, geboren 1862 zu Lützen, arbeitete als Stellmacher in Dresden und Meißen. 1880 wieder nach Dresden zurückgekehrt, gab er seinen Koffer seinem Onkel zum Aufbewahren und ging in die Fremde mit dem Versprechen, bald zu schreiben und seine Sachen nachkommen zu lassen. Seitdem ist alle Nachricht von ihm ausgeblieben. Seine besorgte Mutter bittet um Nachricht über ihn oder seinen Aufenthalt.

34) Robert Ziegler aus Neustadt a. d. Haardt verließ 1868 im Alter von siebenzehn Jahren die Heimath; schrieb dann einmal von Bueuos-Ayres, später noch einmal von England, darnach niemals wieder. Sein Bruder sucht ihn.




Der deutschen Burschenschaft Denkmalfest in Jena. Die „Gartenlaube“ hat in Nr. 25 ihres vorigen Jahrgangs eine Abbildung des Denkmals gebracht, welches die alten und jungen Burschenschafter der Gegenwart der Gründung und den Gründern der deutschen Burschenschaft zu Ehren auf dem Eichplatz zu Jena errichtet haben und dessen Enthüllung und Weihe an den Tagen vom 1. bis zum 3. August abermals die Gelegenheit zu einem deutschen Nationalfeste bietet, das Beachtung und Würdigung von Seiten des ganzen deutschen Volkes verdient.

Wenn Robert Keil seine Schilderung des neuen Denkmals mit den Worten einleitet: „Die Geschichte der Burschenschaft gehört für alle Zeit zu den glänzendsten Blättern der deutschen Geschichte,“ so hat er eine unumstößliche Wahrheit ausgesprochen, an welcher alle mäkelnden Einwendungen aus gegnerischen Lagern nichts ändern können. Es ist und bleibt Geschichte, daß die mannhafte, in den Befreiungskriegen gestählte akademische Jugend es war, daß Lützow’s Kämpfer und Ritter des Eisernen Kreuzes es waren, welche zuerst in Jena aus den alten Studentenverbindungen den neuen Bund schufen, um den Vaterlandsgedanken, der 1813 endlich das ganze deutsche Volk erfüllt und zu Siegen und Ehren geführt hatte, nun auch in dem damals verrohrten und zerrissenen Studentenleben zur Geltung zu bringen und es dadurch zu veredeln. So entstand die „Burschenschaft“, und „Freiheit, Ehre, Vaterland“ ward ihr Wahlspruch. Aus den Burschen erwuchsen Männer, welche den Vaterlandsgedanken, das Streben nach Deutschlands Einheit und Macht, Freiheit und Ehre, wieder in das Volk übertrugen, in welchem Bundestag und Souveräuetätseifer ihn nach Möglichkeit erdrückt hatten. Und das deutsche Volk war dankbar. Schon in den Bewegungen nach der Julirevolution erhob es die Studentenfahne der Burschenschaft als deutsche Fahne: das Jahr 1848 aber pflanzte sie als Fahne des deutschen Reichs auf den Bundespalast, auf alle Fürstenschlösser und Rathhäuser Deutschlands. Unter der schwarz-roth-goldenen Fahne tagte das erste deutsche Parlament, unter ihr erfocht die junge deutsche Flotte ihren ersten Sieg, unter ihr schwur das deutsche Volk auf seine Reichsverfassung –, und als die Reaktion sie wieder herabriß und zertrat, erreichte sie ihre höchste Ehre: sie ward die Fahne des deutschen Geistes und vereinigte am Tage des Schiller-Festes alle Deutschen rings um die ganze Erde zu einer Nation ohne Gleichen. Und wenn auch, als endlich, im Heldenjahr 1870, der Vaterlandsgedanke gesiegt, das Reich die Einheit und seinen Kaiser zugleich errungen hatte, ein anderes Banner das des deutschen Reiches ward: die Fahne des deutschen Geistes ist die alte geblieben! Unter ihr wird heute in Oesterreich der schwerste Kampf gekämpft; nicht blos der österreichisch-deutsche Burschenschafter, das ganze deutsche Volk im alten deutschen Kaiserreich an der Donau erhebt sie als Symbol der Treue, mit welcher es sein deutsches Wesen vertheidigt gegen unerhörte Angriffe und die äußerste Gefahr der Unterdrückung in alten deutschen Heimstätten.

Ein Studentenbund, dessen Fahne eine solche Vergangenheit und Gegenwart aufzuweisen hat, ist keine vorübergehende Erscheinung: die Burschenschaft hat ihren Ehrenplatz in der deutschen Geschichte und wird ihn behalten.

Darum darf aber auch ein Fest der Burschenschaft, das ihre Gründung und ihre ersten Begründer feiert, Anspruch auf allgemeine Theilnahme im Vaterlands- und freiheitstreuen Theil der Nation erheben, und eben darum sprechen wir die Einladung des Jenaischen Festcomités auch in der „Gartenlaube“ aus, die seit ihrem Bestehen jeder Zeit das treue Organ der Burschenschaft war.

Das Fest beginnt am 1. August 1883 Abends mit der Begrüßung der Gäste im Paradies bei Jena. Am 2. August: Morgenfeier an Scheidler’s Grab, dann Festzug, hierauf Festrede (von Robert Keil) und Enthüllung des Denkmals; am Abend Festcommers auf dem Marktplatz von Jena. Am 3. August Volksfest auf dem Forst. Das specielle Festprogramm und Festzeichen wird in Jena gegen fünf Mark Feststeuer ausgehändigt. Anmeldungen und Anliegen jeder Art richtet man an den Burschenschaftlichen Festausschuß zu Jena.

Die Worte, mit welchen 1817 zum Wartburgfeste aufgefordert wurde, sie mögen abermals allen Genossen und Freunden der Burschenschaft zugerufen sein:

„Frisch auf! Frisch auf zur Burschenfahrt,
Ihr Jungen und ihr Alten!
Wir wollen hier nach unserer Art
Den großen Festtag halten!“

Wir freuen uns, mit der obigen Hinweisung auf die Tage dieses Festes zugleich die auf eine Schrift verbinden zu können, welche, wenn auch schon früher erschienen, jetzt in zweiter Auflage und als Festschrift zu dieser Enthüllungsfeier neu bearbeitet wurde. Das Buch hieß in erster Auflage: „Die Gründung der Burschenschaft in Jena. Von Robert und Richard Keil“ – die zweite Auflage hat den Zusatz: neu bearbeitet von Robert Keil“.

Wie vereinsamt kommt uns heute dieser Name vor, den wir in allen burschenschaftlichen Werken der beiden Brüder nur mit dem Anderen verbunden sahen! Der Andere ist todt. „Ein deutscher Burschenschafter“ ist die Ueberschrift des Nachrufs, den ihm, dem treuen Bruder, die „Gartenlaube“ in Nr. 12 des Jahres 1880 widmete. Wir erachten es als unsere Pflicht, gerade vor diesem Feste, für dessen Ermöglichung Richard Keil so begeistert gearbeitet, an den Dahingeschiedenen zu erinnern. Sein Geist lebt noch in dem Buche, das nun sein Bruder allein veröffentlichen mußte, und so wird auch sein Andenken so treu bewahrt bleiben, wie er selbst sein Leben lang der Sache der Burschenschaft ergeben war. (Das Werk ist in Friedr. Mauke’s Verlag [E. Schenk] in Jena erschienen.)




Der Nordamerikanische Turnerbund. Wo immer Deutsche sich in der Fremde niedergelassen haben, da ist auch das deutsche Lied und das deutsche Turnwesen mit ihnen gezogen; in den Vereinigten Staaten haben sich beide den Bürgerbrief erworben und sich zur vollsten Geltung gebracht. Als der Secessionskrieg ausbrach, zählten die deutschen Turner zu den Ersten, die zur Erhaltung der Union und zur Aufhebung der Negersclaverei zu den Waffen griffen. Vor uns liegt nun der letzte, vom 1. Mai 1882 bis 1. Mai 1883 datirende „Jahresbericht des Vororts des Nordamerikanischen Turnerbundes“, und wir glauben im Sinne unserer alten Freunde zu handeln, wenn wir aus diesem Berichte einzelne Punkte in der „Gartenlaube“, die stets gern in den Kreisen deutsch-amerikanischer Turner gelesen wird, veröffentlichen. – Im Jahre 1883 gehörten zum Nordamerikanischen Turnerbund folgende 28 größere Bezirke: New-York, Indiana, St. Louis, Neu-England, Wisconsin, Chicago, Südöstlicher Bezirk, Philadelphia, New-Jersey, Central New-Nork, Pittsburg, Missouri Balley-Bezirk, Minnesota, Oberer Mississippi-Bezirk, Rocky Mountain-Bezirk, New-Orleans, Central Illinois, Pacific-Bezirk, Nordwestlicher Bezirk, Connecticut, Nord-Indiana, Süd-Atlantischer Bezirk, Lake Eric-Bezirk, Long Island, West-New-York, Ohio, Oberer Missouri-Bezirk und Central Michigan. Aus dieser Liste erhellt, daß sich das deutsche Turnwesen so ziemlich über das ganze weite Gebiet der Vereinigten Staaten ausgebreitet hat, von den Küsten des Atlantischen Oceans bis zum Stillen Meer und von den Canadischen Seen bis zum Golf von Mexico. Die Zahl der Mitglieder des Turnerbundes war im Januar dieses Jahres 17,537; davon waren 13,918 Bürger der Vereinigten Staaten: 224 Fechter, 236 Schützen und 1252 Sänger. Turnschüler gab es 10,312, Turnschülerinnen 3,186, Turnlehrer 111. Der Werth des Turnerbesitzthums belief sich zu der gedachten Zeit auf 2,038,179 Dollars, das schuldenfreie Vermögen betrug 1,371,551 Dollars. Auch auf geistigem Gebiete war man verhältnißmäßig nicht unthätig; eine ganze Anzahl von Vorlesungen und Vorträgen wurde veranstaltet, und die Bibliotheken wiesen 36,706 Bücher auf. Fast alle Bezirke haben Tag-, Abend- und Sonntagsschulen eingerichtet. In der Stadt Milwaukee besteht ein Turnlehrerseminar. An der Spitze des Turnerbundes steht ein aus neun Mitgliedern bestehender Vorort; das Organ des Bundes ist die „Turnzeitung“.
Rudolf Doehn.




Inhalt: Gebannt und erlöst. Von E. Werner (Fortsetzung), S. 449. – Deutschlands merkwürdige Bäume. 3. Der Luther Baum bei Worms. Mit Illustration der Luther-Ulme, gezeichnet von Rudolf Cronau, S. 452. – Carrara und seine Marmor Industrie. Von P. R. Martini, S. 455. Dazu die Illustrationen: Ansicht von Carrara, S. 456; In den Marmorbrüchen von Carrara, S. 457. – Der „arme Reisende". Beiträge zur Geschichte des Vagabondenthums und der Mittel zu seiner Abwehr. Von Fr. Helbig, I. S. 459. – Blätter und Blüthen: Vermißte (Neue Folge), S. 463. – Der deutschen Burschenschaft Denkmalfest in Jena, S. 464. – Der Nordamerikanische Turnerbund, S. 464.


Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Im Redactionsbureau der „Gartenlaube“ erschien vor einiger Zeit ein äußerlich sehr herabgekommener junger Mann, der dringend um Errettung aus der Noth bat, in die er unverschuldet gerathen sei. Er war Kaufmann, aus guter Familie, aber durch Stellenlosigkeit so weit gebracht, daß er, um das Leben zu fristen, zum Vagabondenthum hinabsank. Mit Kleidern und Geld so weit versehen, daß er in einem anständigen Gasthause Aufnahme finden konnte, schilderte er uns in einem Aufsatze seine Erlebnisse und Erfahrungen während seiner Stromerzeit, und diese Niederschrift ist es, die wir unserem verehrten Mitarbeiter, dem Verfasser obiger Artikel, zur Verfügung stellten. Das dem jungen Manne für seine schriftlichen Mittheilungen gewährte Honorar setzte ihn in den Stand, wieder ein neues, besseres Leben anzufangen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Dn