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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[429]

No. 27.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

„Wußte Gregor um die That Deines Vaters?“ fragte Anna leise.

„Nein,“ erwiderte Raimund, „wenigstens hat er nie volle Gewißheit darüber erhalten, aber er mit seiner Menschenkenntniß verstand es besser als jeder Andere, in der Vergangenheit zu lesen. Erinnerst Du Dich jenes Tages, wo er mit seiner Anklage zwischen uns trat? Ich schwieg damals, selbst auf Deine angstvolle Frage, denn ich konnte mich nicht für unschuldig erklären und wollte mich nicht schuldig bekennen vor diesem Richter, und meine Bitte um ein Alleinsein mit Dir wurde ja versagt. Noch an demselben Abende erschien Vilmut bei mir im Schlosse und erklärte mir, er habe als Vormund gehandelt, der die Zukunft seines Mündels schützen müsse, jetzt komme er als Priester und fordere mich auf, mein Gewissen durch eine Beichte zu entlasten, die nur der Priester hören werde.“

„Und Du verweigertest ihm die Beichte?“

„Ja. Vor dem Manne, der mir soeben mein ganzes Glück entrissen und vernichtet hatte, konnte ich mein Haupt nicht demuthsvoll in den Staub beugen, um mich seinem Richterspruch zu unterwerfen, vor ihm konnte ich meinen todten Vater nicht anklagen, denn Alles in mir gährte auf in Haß und Feindschaft gegen ihn. Ich erwiderte ihm, daß ich mich auf Gnade und Ungnade nur dem höchsten Richter da oben übergebe. Da sah er mich an mit jenem Eisesblick, den Du ja kennst, und sagte:

‚So hat der Priester nichts mehr bei Ihnen zu schaffen, Herr von Werdenfels – bis Sie sich anders besinnen. Bedenken Sie, daß ich Ihnen den Weg zur Versöhnung geöffnet habe und daß Sie ihn sich selbst verschließen, denn Ihr Schweigen giebt mir die Gewißheit dessen, was ich bisher nur ahnte. Ich werde warten, bis Sie freiwillig kommen, um das zu gewähren, was Sie mir heute weigern!‘

Er hat vergebens gewartet, und ich verfiel seinem Bann!“

Anna widersprach nicht, sie wußte am besten, wie Gregor damals auf sie eingestürmt war, als er entdeckte, daß seine Schutzbefohlene die Braut des nunmehrigen Herrn von Werdenfels war, und daß die Verlobung nur mit Rücksicht auf den plötzlichen Tod des Vaters noch geheim gehalten wurde.

Das Sturmgeläut tönte fort. Die Glocken, die so oft zum Segen gerufen, sie riefen jetzt in höchster Noth nach einer Hülfe, die nicht erschien. Die dumpfen, schweren Klänge drangen wie flehend und mahnend zu dem Schloßberge empor, zu dem Schloßherrn, der finster in den strömenden Regen hinausblickte, er wollte den Ruf nicht verstehen.

Da vernahm man plötzlich ein donnerähnliches Krachen, so laut und furchtbar, daß es selbst das Brüllen des Stromes übertönte. Es klang, als sei das halbe Dorf eingestürzt.

„Gott im Himmel, das war die Brücke!“ rief Anna auffahrend. „Sie wankte schon gestern, sie ist gewiß den Fluthen erlegen!“

Raimund drückte heftig auf die Klingel.

„Schicken Sie nach dem Schloßberge hinaus,“ befahl er dem eintretenden Diener. „Man soll sehen, ob die Brücke noch steht! Ich will sofort Nachricht haben.“

„Laß uns nach dem Erker hinaufgehen,“ bat die junge Frau, während der Diener sich eiligst entfernte. Von dort übersieht man das Dorf und den Lauf des Flusses.“

Raimund machte eine abwehrende Bewegung.

„Nein, nein! Ich mag nichts sehen von der Zerstörung, der ich doch nicht Einhalt thun kann.“

„Oder vielmehr Du willst nichts davon sehen, weil der Anblick Dich gewaltsam zur Hülfe anrufen würde.“

„Zur Hülfe für diese Menschen? Nein, Anna! Du weißt nicht, was sie mir alles angethan haben. Sogar ihren Kindern haben sie Haß und Feindschaft gegen mich gelehrt, sogar die Kleinen wurden gezwungen, sich von mir zu wenden. Als ich das letzte Mal inmitten der Werdenfelser war und der feige, heimtückische Stoß meinen armen Emir traf, da habe ich es mir gelobt, daß es zu Ende sein soll zwischen mir und ihnen. Sie tragen jetzt nur die Schuld ihrer eigenen Verblendung. Warum stießen sie die Hülfe zurück, die ich ihnen bot? Mögen sie jetzt ihrem Schicksal verfallen!“

Die Härte war dem Manne wohl zu verzeihen, den man auf das Aeußerste gebracht hatte, und doch klangen die Worte nicht hart, es lag etwas darin wie unruhige Abwehr, wie geheimer Kampf mit sich selber – und dieselbe Unruhe verrieth sich auch in der Hast, mit welcher der Freiherr jetzt auf- und abzuschreiten begann, als wolle er seinen eigenen Gedanken entfliehen.

Da trat der Haushofmeister ein, der draußen dem Diener begegnet war, er brachte bereits die verlangte Nachricht und näherte sich mit schreckensbleichem Gesicht seinem Herrn.

Die Brücke ist soeben eingestürzt, gnädiger Herr. Wir sahen es vom Erker aus, und vor einer halben Stunde ist auch die Bachmühle zusammengebrochen.“

„Und die Bewohner?“ fragte Anna angstvoll.

[430] „Der Müller und die Seinigen sind noch rechtzeitig in das Dorf geflüchtet, aber dort wird ja auch jeden Augenblick das Schlimmste erwartet. Man giebt die Hoffnung auf, da all die Rettungsarbeiten umsonst sind.“

Der Freiherr erwiderte nichts, er begann nur heftiger auf- und niederzuschreiten.

Der Haushofmeister schickte einen bittenden Blick zu Frau von Hertenstein hinüber, dann begann er von Neuem zögernd:

„Ich wollte nach den Befehlen des gnädigen Herrn fragen, wenn – wenn das Aeußerste eintritt. Es flüchtet bereits Alles, und die Menschen schleppen mit sich, was sie von ihrem Hab’ und Gut nur tragen können. Der Schloßberg ist ihre einzige Zuflucht, aber die Weiber und die kleinen Kinder in dem strömenden Regen –“

„Oeffnen Sie die Meierei und die unteren Räume des Schlosses,“ befahl Raimund mit sichtlicher Ueberwindung. „Was die Menschlichkeit verlangt, werde ich nicht versagen.“

Der Haushofmeister ging und im Zimmer trat jetzt Schweigen ein. Raimund vermied es, dem Blicke Anna’s zu begegnen, er wußte, was dieser Blick von ihm forderte, obgleich sie kein Wort sprach.

Das Sturmgeläut war verstummt, und auch in dem Regen trat eine augenblickliche Pause ein, man vernahm nichts als das Toben des Flusses, das immer lauter anschwoll. Vielleicht hatten die Dorfbewohner wirklich die Rettungsarbeiten aufgegeben und dachten nur noch an Flucht.

Schon nach wenigen Minuten wurde die Thür wieder geöffnet und der Diener brachte ein zusammengelegtes Blatt, das er dem Freiherrn übergab.

„Von dem jungen Herrn Baron! Er hat soeben einen Boten heraufgesendet.“

Es war ein Blatt, welches Paul aus seinem Notizbuche gerissen hatte. Es enthielt nur wenige mit Bleistift geschriebene Zeilen:

„Die Brücke ist fortgerissen und die Flut steigt noch fortwährend, in einer Stunde muß sie das Dorf erreicht haben. Ich habe die Flüchtenden angewiesen, sich auf den Schloßberg zu retten, ich weiß, Du wirst den Unglücklichen diese Zuflucht nicht versagen. Sie retten nur das Leben – denn Werdenfels ist verloren!“

Raimund hatte gelesen und übergab das Blatt jetzt stumm der jungen Frau, die es gleichfalls überflog.

„Werdenfels ist verloren!“ wiederholte Anna. „Nun, Raimund –?“

Er sah sie an, die Augen Beider begegneten sich einen Moment lang, dann strich der Freiherr mit der Hand über die Stirn, als wolle er dort etwas auslöschen, und richtete sich wie mit einem plötzlichen Entschlusse auf.

„Meinen Mantel!“ rief er dem Diener zu. „Schnell! Ich will in das Dorf hinunter!“

„Gott sei Dank! Ich wußte es ja!“ brach Anna aus, indem sie ihm beide Hände entgegenstreckte.

Er zog die Hände an seine Lippen, aber seine Stimme hatte einen düsteren Klang, als er antwortete:

„Was hoffst Du denn? Kann ich, ein Einzelner, die Gefahr abwenden?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte die junge Frau mit einem tiefen Athemzuge, „aber mir ist, als müßtest Du es können. Jedenfalls begleite ich Dich.“

„Bei diesem Unwetter? Bleibe zurück, Anna, ich bitte Dich.“

„Nein. Du hast es erkannt, wo Dein Platz jetzt ist, und der meinige ist an Deiner Seite. Ich gehe mit Dir!“

„So komm!“ sagte Raimund entschlossen, indem er den Arm um sie legte. „Wir wollen sie in der Noth nicht allein lassen!“ –

Werdenfels lag bekanntlich in der Oeffnung des Thales, aus dem der Bergstrom hervorbrach, es war die erste Ortschaft, die er auf seinem Wege fand, und also am meisten gefährdet. Droben im Gebirge konnte sich die entfesselte Fluth nur gegen Felsen und Wälder werfen, und die riesigen Steine, die entwurzelten Bäume, welche sie mit sich führte, zeigten, wie unheilvoll sie dort gewüthet hatte, hier begann ihre Zerstörung an den Menschenwerken.

Die große massive Brücke oberhalb Werdenfels, die bisher noch jedem Hochwasser Widerstand geleistet hatte, war das erste Opfer geworden. Von den mächtigen gemauerten Pfeilern standen nur noch zwei, die, geborsten und wankend, jeden Augenblick dem Anpralle der Wogen zu erliegen drohten, und auf ihnen lag, wie Splitter zusammengebrochen, ein Theil des Balkenwerkes, alles Andere hatte das Wasser mit sich genommen.

Die Bergstraße, welche hier in das Thal mündete, war vollständig zerrissen, eine kleine Waldung der Gemeinde, die anfangs noch einigen Schutz gewährte, niedergeworfen und überfluthet. Wie dürre Reiser waren die grünen Tannen geknickt und fortgeschleudert, und über ein Chaos von Baumstämmen, Schlamm und Steinen stürzte das Wasser hinweg.

Die Bachmühle war verschwunden, über die Trümmerstätte schäumte der Bach, sonst ein schmales murmelndes Wässerchen, das sich wie ein blinkendes Silberband an den Schloßberg schmiegte, jetzt ein tosender Fluß, welcher sich weiter unten in den Strom stürzte.

Den furchtbarsten Anblick aber bot der Strom selbst, der seine bläulich grünen Wellen sonst so lustig zu Thal führte. Jetzt wälzte er sich dahin wie eine riesige braungelbe Schlange, brüllend und schäumend, und auf seinem Wege lag das Verderben!

Hoch auf spritzten die dunklen Wogen, die in wilder Flucht dahinjagten. Felsblöcke, Bäume, Balkentrümmer tauchten bald empor aus dem rasenden Wirbel, bald verschwanden sie wieder darin, oder sie warfen sich mit wüthender Gewalt gegen die Ufer, und das nachstürzende Erdreich erweiterte immer mehr den unheilvollen Lauf, während die Steine auf dem Grunde rollten und krachten, als würden Hunderte von Schüssen abgefeuert. Dieser Fluth konnte nichts widerstehen; was sie überhaupt erreichte, das war auch dem Untergange geweiht.

Im Dorfe herrschte eine furchtbare Aufregung. Man hatte im Vertrauen darauf, daß bisher noch jedes Hochwasser glücklich vorübergegangen war, dem Wachsen des Stromes mit ziemlicher Ruhe zugesehen. Erst die letzte Nacht hatte den Sorglosen die Nähe und Größe der Gefahr gezeigt, und jetzt freilich stürzte Alles zur Hülfe herbei. Wer nur die Arme regen konnte, der setzte auch seine vollste Kraft ein, vom reichsten Bauer an, dessen Hof auf dem Spiele stand, bis herab zum ärmsten Tagelöhner, der seine elende Habe vertheidigte, sogar die Frauen halfen, so viel sie konnten, sie waren ja Alle gleich gefährdet.

Seit Tagesanbruch rangen die Menschen verzweiflungsvoll mit dem entfesselten Elemente, und bis gegen Mittag schien es auch, als werde es möglich sein, das Dorf zu halten, aber mit jeder Stunde, wo der Tag sich abwärts neigte, schwand die Hoffnung mehr. Und all die Hunderte, die da in Angst und Hast arbeiteten, daß ihnen der Schweiß von der Stirn rann, hatten nur einen Gedanken, der sich bald in lautem Jammer, bald in dumpfem Grolle Luft machte:

„Hätten wir jetzt die Dämme!“

Diese Schutzdämme, die man mit Haß und Hohn zurückgewiesen hatte, weil es der Felsenecker war, der sie aufführen wollte, sie wären die Rettung des Dorfes gewesen, jetzt schützten sie nur das Gebiet des Schloßherrn allein. Das Schloß freilich stand sicher auf seiner Höhe, aber der Park, die weiten Gärten und die ganzen Werdenfels’schen Besitzungen dort in der Thalsenkung wären verloren gewesen ohne diesen Schutz.

Sie lagen oberhalb des Dorfes und waren dem ersten Anprall der Wogen preisgegeben, dort mußte der Strom zuerst einbrechen. Aber der alte Freiherr hatte nicht umsonst die ganze Ausdehnung des Parkes mit den Mauern umzogen, die mit ihrem Rasen und ihren Gesträuchen so malerisch erschienen, als seien sie nur ein Schmuck der Gärten, jetzt trotzten sie wie eine Festung dem andringenden Feinde. Zischend und schäumend, aber ohnmächtig schlug die Fluth an diese Steinwände; was hinter ihnen lag, das war sicher geborgen.

Hätte das Dorf wenigstens die hohen Erdwälle gehabt, mit denen der Gutsherr es einstweilen vor einer nahen Gefahr schützen wollte! Es wäre nicht allzu schwer gewesen, die schon vorhandenen Dämme zu sichern und zu halten; sie in wenigen Stunden zu schaffen erwies sich als ein Ding der Unmöglichkeit, und dennoch wurde es versucht.

Was nur von Bäumen in der Nähe war, fiel unter der Axt, Steine wurden herbeigerollt, Erde herangeschleppt und aus [431] dem allen ein Schutzwall improvisirt, um wenigstens die am meisten bedrohten Uferstellen zu sichern, aber vergebens. Wie ein nimmersattes Raubthier verschlang die Fluth alles, was ihr wehren sollte, und brüllte nur um so lauter nach ihrem Raub.

Mehr als zwölf Stunden hatten die Dorfbewohner muthig ausgeharrt bei den Rettungsarbeiten, jetzt aber sanken ihnen mit der Hoffnung auch Muth und Kraft und mit der höher steigenden Flut rückte das Verderben immer näher. Nur Einer konnte und wollte noch immer nicht an das Unabwendbare glauben – der Pfarrer.

Er war der Erste am Platze gewesen, als die Gefahr hereinbrach, und wich und wankte nicht von den bedrohten Punkten. Wenn die Kräftigsten erschöpft zusammenbrachen und einander ablösen mußten, schien er allein keine Ermüdung zu kennen, keiner Erholung zu bedürfen. Er setzte seine ganze Autorität ein, um die Leute, die anfangs in kopfloser Angst durcheinander rannten, zur Ordnung und zur planmäßigen Arbeit zu zwingen. Er befahl, ordnete, feuerte an, wo es noth that, und man gehorchte ihm auch, aber es war nicht mehr der alte Gehorsam, nicht mehr die einstige ehrfurchtsvolle Unterordnung unter seinen Willen.

Die Leute waren irre geworden an ihrem Priester. Er hatte es ihnen feierlich zugesagt, das Unglück werde nicht kommen, wenn sie nur vertrauten, und sie glaubten seinen Worten wie dem Evangelium selbst – und nun kam das Unglück doch! Der Felsenecker hatte Recht gehabt, als er sie davor schützen wollte, und der Pfarrer, der das nicht duldete, war schuld an ihrem Verderben.

Vilmut fühlte dies Urtheil, wenn auch kein Wort des Vorwurfs gegen ihn laut wurde. Er las es in den finsteren Blicken, in dem grollenden Schweigen der Männer, er hörte es in den lauten Jammerrufen, mit denen man die schützenden Dämme herbeiwünschte und die eigene Verblendung beklagte, und er wußte doch am besten, daß die ganze Gemeinde nur ein willenloses Werkzeug in seiner Hand gewesen war.

„Wo Menschenarme den Elementen wehren können, da heißt es Gott herausfordern, wenn man diese Arme zurückhält, und das hast Du gethan!“

Diese Worte, die Anna ihm einst zugerufen, hallten jetzt fort und fort in Gregor’s Seele wider. Er stand fest und aufrecht wie sonst und zeigte die gewohnte Selbstbeherrschung, aber die Todtenblässe seiner Züge, die erloschene klanglose Stimme verriethen, wie es in seinem Inneren aussah.

Er hatte Wind gesäet, er erntete jetzt Sturm, und die Hunderte, deren Wohl und Wehe er vermessen auf sich genommen, aus Haß gegen einen Einzigen, sie forderten jetzt ihre Rettung von ihm.

Der Priester wagte es nicht mehr, sie auf den Schutz des Himmels zu verweisen, wie es sein Amt gebot, denn er wagte selbst nicht mehr, diesem Schutze zu vertrauen – er fühlte das nahende Strafgericht.

In der allgemeinen Aufregung war das Erscheinen des jungen Baron Werdenfels kaum bemerkt worden, und er fand auch keine Gelegenheit mehr zum Eingreifen. Er nahm nur eine kurze Rücksprache mit dem Gemeindevorsteher, der zaghaft fragte, ob im schlimmsten Falle die obdachlos Gewordenen eine Zuflucht im Schlosse finden würden. Paul sagte das im Namen seines Onkels zu und sandte sofort einen Boten hinauf zu Raimund, er selbst aber blieb und sah mit beklommenem Herzen den letzten ohnmächtigen Anstrengungen zu, mit denen Werdenfels um seine Existenz rang.

„Es geht nicht länger!“ sagte Rainer, indem er die Arme sinken ließ. „Wir zwingen es nicht. Laßt uns wenigstens das Vieh retten und was wir sonst fortbringen können, so lange die Häuser noch stehen. Kommt!“

Er warf die Schaufel hin, mit der er bisher gearbeitet hatte, und wandte sich zum Gehen, aber Vilmut vertrat ihm den Weg.

„Bleibt!“ rief er halb befehlend, halb bittend und mit fliegendem Athem. „Wir dürfen nicht weichen, dürfen das Dorf nicht preisgeben! Verliert den Muth nicht, dann wird und muß die Rettung noch möglich sein.“

Rainer lachte bitter auf.

„Da müßt’ ein Wunder geschehen. Und wenn wir darauf warten wollen, gehen wir vollends zu Grund. – Da geht der Wall hin, an dem wir so lange gebaut haben, nichts hält mehr!“

Er hatte Recht, soeben wich das Erdreich an der bedrohten Uferstelle und riß die Schutzwehr, die man mühsam geschaffen, mit sich in die Tiefe. Polternd stürzten die Baumstämme zusammen, und die Fluth trieb ihr Spiel mit den schweren Feldsteinen, als seien es leichte Kiesel.

Vilmut ergriff die Schaufel, die der Bauer von sich geworfen hatte, und gab selbst das Beispiel zur Fortsetzung der Arbeit.

„Schließt den Bruch!“ rief er wie außer sich. „Haltet aus, um Gotteswillen! Wenn das Wasser hier hereinbricht, ist das Dorf verloren!“

„Nun Hochwürden, Sie verlieren ja nichts dabei!“ sagte Rainer mit herbem Vorwurf. „Ihr Pfarrhaus wird wieder aufgebaut von der Regierung oder von dem Felsenecker, denn einen Pfarrer muß er ja doch in Werdenfels haben. Aber unsere Häuser, die wird er nicht wieder aufrichten, wir müssen uns selbst helfen. Hätten wir es nur damals gethan, als er uns die Dämme bauen wollte, aber da trauten wir Ihnen – und jetzt müssen wir es büßen!“

Es war der erste Vorwurf, der sich gegen den Pfarrer erhob, aber es bedurfte nur dieses ersten Wortes, um all den Groll zu entfesseln, der schon seit Stunden in den verzweifelten Menschen wüthete. Klagen, Vorwürfe, selbst vereinzelte Drohungen wurden laut: das Unglück löste die Bande des Gehorsams, der langgewohnten Ehrfurcht, im Angesichte der Gefahr lernten die Leute urtheilen, sie forderten zum ersten Male Rechenschaft von ihrem Priester, dem sie bisher blindlings vertraut hatten.

Vilmut machte noch einen letzten Versuch, die Männer zum Bleiben und Ausharren zu bewegen. Seine ganze Energie flammte wieder empor, als er sich den Weichenden in den Weg warf und abwechselnd befahl und beschwor, aber vergebens. Seine Stimme und seine Worte, die sonst das Orakel des Dorfes waren, verhallten jetzt ungehört. Die Leute folgten sämmtlich dem Beispiele Rainer’s, sie warfen die Werkzeuge hin und stürzten fort, um wenigstens einen Theil ihrer Habe noch zu retten.

Gregor blieb allein zurück. Er sah das hereinbrechende Verderben, er hörte die Rufe der fliehenden Menge, die ihn als ihren Verderber anklagte. Zu seinen Füßen zischte die Fluth, sie züngelte immer weiter hinein in das geborstene Ufer und riß Scholle auf Scholle von dem wankenden Boden, es wehrte ihr ja Niemand mehr. Und dabei stürmten fort und fort die Glocken und alle Dörfer in der Runde gaben das Nothzeichen schauerlich zurück.

Da endlich versagte die eiserne Kraft des Mannes, die ihn bisher aufrecht erhalten hatte. Er sank auf die Kniee nieder und streckte die krampfhaft gefalteten Hände zum Himmel empor und wie ein Aufschrei der Todesangst brach es aus seiner Brust hervor:

„Gott im Himmel, laß es die Unglücklichen nicht büßen, was ich verschuldete! Nimm mein Leben, wirf mich der Fluth zum Opfer hin, aber rette das Dorf, rette die Menschen, ich ertrage es nicht, sie vor meinen Augen verderben zu sehen. Thue ein Wunder und sende uns einen Retter, einen Helfer in unserer Noth!“

Aber nur der Regen strömte nieder von dem schwer bewölkten Himmel, nur das Toben des Stromes gab die Antwort auf das Gebet der Verzweiflung, und dazwischen tönten die Angstrufe und der Jammer der Flüchtenden, die schon auf dem Wege zum Dorfe waren.

Da auf einmal verstummten jene Rufe, die Flucht stockte plötzlich, die wildbewegte Menge stand wie festgebannt, sie erkannte den Freiherrn von Werdenfels, der ihr am Eingange des Dorfes entgegentrat, und an seiner Seite Frau von Hertenstein.

Raimund’s Erscheinung wirkte selbst in diesem Augenblicke, wo alle Bande der Ordnung sich lösten, ja vielleicht wirkte sie gerade deshalb am meisten. Da stand der Felsenecker, der das Dorf hatte retten wollen, und dem man dafür mit dem Sturze gelohnt hatte, dessen Mal er noch auf der Stirn trug. Kam er, um sich zu weiden an dem Unglück? War es vielleicht seine Rache, die es heraufbeschworen hatte, oder – kam er, um zu retten? Einen Moment lang verharrte Alles in athemlosem Schweigen.

„Zurück!“ rief der Freiherr mit jener vollen, mächtigen Stimme, die man nur zu gut von der letzten Begegnung her kannte. [432] „Was wollt Ihr hier im Dorfe? Dort am Ufer ist die Gefahr, dort ist unser Platz!“

„Das Ufer bricht!“ tönte es von allen Seiten. „Das Wasser kommt! Es steigt immer höher!“

„So muß ihm ein Ausweg geschafft werden! Haltet an mit der unsinnigen Flucht und folgt mir! Noch giebt es ein Mittel zur Rettung, ich werde es Euch zeigen!“

Rettung! Das Wort fuhr wie ein elektrischer Schlag durch die Menge. Hatte dieser Werdenfels denn wirklich übernatürliche Macht, daß er Rettung verhieß, wo Alles schon verloren war? Gleichviel, er war da und wollte helfen, also mußte er es auch wohl können.

Keinem Anderen wäre es gelungen, die vor Angst halb wahnsinnigen Menschen zum Stehen und zur Besonnenheit zu bringen, aber der Aberglaube, der sich oft drohend gegen den Freiherrn gerichtet hatte, wurde jetzt sein mächtigster Bundesgenosse, ihm glaubte man, und folglich gehorchte man auch.

Es blieb kein Einziger zurück, als er jetzt mit Anna nach dem Ufer schritt.

Paul hatte sich sofort seinem Onkel angeschlossen, ebenso der Verwalter Feldberg, der sich gleichfalls hier befand. Sie gelangten zu der Stelle, wo noch vor wenigen Minuten so fieberhaft und so vergeblich gearbeitet worden war, und plötzlich standen sich Werdenfels und Gregor Vilmut gegenüber.

Einige Secunden lang blickten sich die Beiden schweigend an. Der harte Vorwurf auf Raimund’s Lippen erstarb, als er seinem Gegner in das Auge sah, denn er las die Todesqual darin. Dieser Tag hatte ihn gerächt an seinem unerbittlichen Richter, und ohne ein Wort der Anklage wandte er sich ab und trat an das Ufer.

Auch Anna hatte ihren Vetter nicht wieder gesehen seit jener Stunde, wo sie nach Werdenfels eilte. Sie stand jetzt an seiner Seite, und sich zu ihm neigend, sagte sie leise:

„Fasse Muth, Gregor! Raimund wird helfen!“

Vilmut sah sie nicht an, sein starrer Blick war einzig auf die wachsende Fluth gerichtet, während er dumpf, mit halb gebrochener Stimme erwiderte:

„Kann er ein Wunder thun?“

„Es giebt Wunder, die auch Menschen vollbringen können, wenn ihnen eine Erleuchtung von oben kommt!“ sagte die junge Frau ernst. „Sieh die Männer dort – sie glauben alle an ihn!“

Vilmut ließ einen langen düsteren Blick über die Menge hingleiten, die den Freiherrn umdrängte. Aller Augen hingen an seinem Antlitz, an seinen Lippen, Alle harrten in angstvoller Erwartung, was er beginnen werde. Der Gebannte, Geächtete, er war jetzt der einzige Hort, auf den man noch vertraute, und der einst so allmächtige Priester stand allein, verlassen, gemieden. Das Loos, das er so lange seinem Feinde bereitet hatte, fiel jetzt auf ihn.

Raimund hatte jahrelang in der Einsamkeit des Hochgebirges gelebt, er kannte dies Steigen der Wildwasser im Frühlinge und wußte ihren Lauf zu deuten. Seine Stirn ward immer finsterer, als er die Gefahr abschätzte und die Möglichkeiten erwog, denn seine Erfahrung sagte ihm, daß der Strom, der schon weit über seine Ufer fluthete, in höchstens einer halben Stunde das Dorf erreichen mußte. Noch einen Blick warf er hinüber nach den hochragenden Baumwipfeln seiner Gärten, dann richtete er sich entschlossen auf und deutete nach dem Parke hinüber.

„Reißt die Mauern dort ein!“

Niemand antwortete und Niemand regte sich, um zu gehorchen. Die Leute verstanden im ersten Augenblicke gar nicht den Befehl, nur Vilmut allein begriff, und in seinen Zügen stritten Unglaube und aufflammende Hoffnung, als er rief:

„Herr von Werdenfels, was wollen Sie thun?“

„Dem Wasser einen Weg schaffen, damit es vom Dorfe abgelenkt wird. Es giebt kein anderes Mittel.“

„Raimund, um Gotteswillen, bedenke die Folgen!“ rief Paul, der neben ihm stand. „Es handelt sich nicht um die Gärten allein. Deine sämmtlichen Besitzungen, die dort in der Thalniederung liegen –“

„Sind verloren – ich weiß es! Reißt die Mauern ein!“

Der Befehl wurde mit voller Energie wiederholt, und jetzt endlich fingen auch die Bauern an zu begreifen, welches Opfer ihnen gebracht wurde, jetzt sahen auch sie den Weg zur Rettung. In einem Nu waren die noch am Boden liegenden Werkzeuge aufgerafft und Alle wollten sich gegen die Mauern stürzen, als die Stimme des Freiherrn sie zurückhielt:

„Halt! Erst ordnet Euch, damit Ihr einander nicht hindert. Rainer, Ihr führt die Hälfte der Leute nach dem Park und greift von innen den Wall an, gerade in der Mitte, dort, wo die hohe Tanne aufragt; Ihr Anderen beginnt hier draußen die Arbeit, ich werde sie selbst leiten! Feldberg, benachrichtigen Sie den Gärtner! Er soll mit seiner Familie sofort nach dem Schlosse flüchten, sein Haus ist das einzige Gebäude dort, das nicht auf der Höhe liegt. Paul, Du eilst nach dem Schlosse und läßt aus unseren Jagdvorräthen Pulver herbeischaffen! Ich fürchte, die Werkzeuge werden nicht genügen, wir werden sprengen müssen. – Und nun an die Arbeit, denn es thut Eile Noth!“

Es bedurfte der Ermuthigung nicht; die kurze, klare Art des Befehlens, die nichts übersah und nichts vergaß, imponirte den Leuten ungemein, sie gehorchten augenblicklich. Selbst der wilde Rainer fügte sich unbedingt der Autorität des Mannes, den er beinahe gemordet hatte. Er verschwand schleunigst mit seiner Schaar hinter den Parkthoren, und während Paul und Feldberg nach dem Schlosse eilten, ordnete Werdenfels die Zurückgebliebenen.

Es war nicht möglich, den Mauern von außen beizukommen, denn das Wasser warf sich bereits dagegen, man mußte sie von den beiden Endpunkten her ersteigen, und nun begann eine wahre Ameisenarbeit an den hohen und breiten Wällen. Mit Hacken, Spaten, Schaufeln, mit allen Werkzeugen, die nur zur Hand waren, wurden sie angegriffen, Schlag auf Schlag dröhnte gegen die Steinwand und hunderte von kräftigen Armen arbeiteten an ihrer Zerstörung.

Aber die Mauern, die geschaffen waren, dem entfesselten Bergstrom Widerstand zu leisten, ergaben sich nicht so leicht den Menschenarmen. Die mächtigen Quadern, die seit mehr als zwanzig Jahren mit dem Erdreich und den Baumwurzeln verwachsen waren, schienen eisenfest zusammengekittet, sie waren nicht zum Weichen zu bringen. Jeder Stein mußte einzeln losgerissen werden, aber das ging so langsam, so unendlich langsam, und das Wasser stieg reißend schnell.

(Fortsetzung folgt.)




Das deutsche Reichswaisenhaus in Lahr.

Das Städtchen Lahr in Baden ist wohl allen Lesern der „Gartenlaube“ – wenigstens dem Namen nach – bekannt, nicht sowohl wegen seiner geographischen Bedeutung und großen Einwohnerzahl, als vielmehr durch die hervorragenden Erzeugnisse seiner Industrie und seines Gewerbfleißes. Wer kennt z. B. nicht sein berühmtes Kind, den Kalender des „Lahrer Hinkenden Boten“, der in Hunderttausenden von Exemplaren alljährlich hinauswandert in alle Welt, soweit die deutsche Zunge klingt, und dem auch der Gedanke des deutschen Reichswaisenhauses seine Entstehung und seine Ausführung verdankt?

Daß der Wahlspruch des „Hinkenden“:

„Viele Wenig machen ein Viel,
Vereinte Kräfte führen zum Ziel!“

und seine Standreden für das Werk der Barmherzigkeit so überraschende Erfolge haben und es so bald dem Ziele nahe bringen würden, das konnte freilich Niemand ahnen, wenn auch der biedere Kalendermann in seinem Streben der Menschenliebe früher schon manch Gutes und Schönes vollbracht hatte.

Wir erinnern hier nur an seine Erzählung in dem Kalender von 1869: „Wie der liebe Gott heutzutage Wunder macht“, durch die er in seiner unvergleichlich volksthümlichen warmen Sprache die Herzen seiner Leser so ergriff, daß Tausende von Gulden zusammenflossen und der Noth einer armen zahlreichen Bahnwärterfamilie, die ihren braven Ernährer durch einen erschütternden Unglücksfall verloren hatte, ein Ende gemacht werden konnte.

[433]

Die Reichsfechtmeisterei und das Reichswaisenhaus in Lahr.
1 und 2 die Herausgeber des „Hinkenden Boten“. 3 Reichsoberfechtmeister Nadermann. 4 Die Druckerei des „Hinkenden Boten“. 5 Marktstraße und Rathhaus in Lahr. 6 Das Reichswaisenhaus. 7 Ruine Hohengeroldseck. 8 „Villa Jamm“ im Stadtpark zu Lahr.

[434] Wir erinnern an seine Eisenbahngeschichten: „Bahnwart Martin“ im 1863er Kalender und „Ein Tag aus dem Leben eines Locomotivführers“ im 1868er Kalender, in welchen er den Eisenbahnbediensteten, denen vorzugsweise das Leben und die Gesundheit von Tausenden anvertraut ist, Bilder aufopfernder Pflichttreue zur Nacheiferung vorführt.

Doch nun zum Reichswaisenhause!

Es war im Sommer 1876, als Albert Bürklin seinem Verleger Schauenburg eine „Kalender-Standrede“ einsandte, worin zur Sammlung von Cigarrenspitzen aufgefordert wurde, aus deren Erlös armen Waisen Weihnachtsfreuden bereitet werden sollten. Der Verleger machte dazu den Vorschlag, außer Cigarrenspitzen auch Pfennige zu sammeln, beides nach Lahr zu senden und den Sammelertrag für ein Waisenhaus zu bestimmen. Darauf schrieb Bürklin für den 1877er „Hinkenden Boten“ seinen Ausatz „Viele Wenig machen ein Viel“ und gab damit die erste Anregung zur Gründung eines deutschen Reichswaisenhauses in Lahr. „Reichswaisenhaus“ nannte er es, weil dazu die Gaben aus ganz Deutschland stießen und auch Waisen aus dem ganzen deutschen Reiche darin Aufnahme finden sollten.

Der Grundgedanke war: „Das Waisenhaus soll eine Zufluchtsstätte werden für arme Waisen von allen Konfessionen, von allen Parteien. In ihm sollen verlassene unglückliche Kinder Liebe, Pflege und Erziehung finden. Fremd jedem Religions-, jedem Parteihader, kennt es nur Liebe und Barmherzigkeit.“

Auch in den weiteren Jahrgängen seines Kalenders hat der „Hinkende“ für diesen wohlthätigen Zweck gewirkt, indem er die Bildung von Vereinen empfahl und zur Sammlung von Flaschenkapseln, Patronenhülsen etc., überhaupt zur Sammlung von Dingen aufforderte, die bisher als werthlos betrachtet wurden, die aber in ihrer Masse einen großen Werth darstellen.

Der Gedanke des „Hinkenden“ begegnete einer überaus erfreulichen Theilnahme, und weit über die deutschen Grenzen, ja weit über die Grenzen Europas hinaus wurden Beiträge gesammelt und nach Lahr eingesendet. Im October 1880 beschloß eine Gesellschaft wackerer Männer in Magdeburg, genannt der „Stadtfelder Pfeifenclub“, durch Sammlung freiwilliger Beiträge aller Art, und zwar „nur aus Kreisen fröhlicher Leute“, das Unternehmen des „Hinkenden“ zu unterstützen, und nannte sich nach dem Muster der damals schon bestehenden Mannheimer und Ludwigshafener Fechtschulen „Deutsche Reichsoberfechtschule“ unter dem Vorsitz des Reichsoberfechtmeisters Heinrich Nadermann. Der erste Reichsfechtmeister aber, der sein Lebenlang in ähnlichem Sinne für die Errichtung wohlthätiger Anstalten gewirkt und gefochten, war der wackere Pastor und Senior Bödeker in Hannover, den die „Gartenlaube“ (1873, S. 790) zuerst mit diesem Titel beehrt und gefeiert hat. Es wurde nun ein Aufruf zur Gründung ähnlicher Vereine erlassen, und das Beispiel der Magdeburger fand begeisterten Anklang. In ganz Deutschland bildeten sich Schwestervereine: „Fechtschulen zum Zweck der Errichtung eines deutschen Reichswaisenhauses in Lahr“, und eifrig wurde gefochten.

Heute hat Deutschland über 13,000 Fechtschulen mit mehr als einer Viertelmillion Fechtschülern und Fechtschülerinnen, die in der kurzen Zeit die ansehnliche Summe von über 100,000 Mark erfochten haben, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, daß gerade die Heimathstadt der „Gartenlaube“, Leipzig, durch den dortigen wackeren Fechtschulverband in ganz hervorragendem Maße zu diesen bedeutenden Erfolgen beigetragen hat. Namhafte Beiträge gelangten auch unmittelbar an den „Hinkenden“, so namentlich aus der weiten Welt – wie kürzlich erst wieder 400 Mark aus Montevideo, 150 Mark aus Chefoo in China vom dortigen deutschen Whistelub – wackere Männer, die auch in fernen Landen der Heimath gedenken und die eine wahrhaft rührende Sympathie für das vaterländische Unternehmen bekunden.

Nach solchen Erfolgen konnte bald daran gedacht werden, und es bot sich Gelegenheit dazu, ein Besitzthum zu erwerben, das für den schönen Zweck wie geschaffen schien. Durch den Tod des Besitzers wurde das Gut „Altvater“ bei Lahr verkäuflich, und die Erben des verstorbenen Rentners Fallenstein traten dasselbe zu dieser wohlthätigen Bestimmung um so lieber ab, da sich auf dem Gute die letzte Ruhestätte ihrer Eltern befindet, die sie damit dem Schutze des Waisenhauses anvertrauten.

Das Anwesen, eine Viertelstunde nordöstlich von Lahr entfernt, am Abhange des Berges Altvater in reizender gesunder Lage, mit ausgedehnten Gebäulichkeiten, einem über 100 Fuß langen, massiv von Sandstein gebauten Heerenhause, 13 Morgen Park, Gärten, Wiesen, Ackerfeld und Weinbergen – ein Landsitz, wie weit und breit ein schönerer nicht zu erschauen, ist um die mäßige Summe von 40,000 Mark von der Verwaltung des Reichswaisenhausfonds erstanden.

Vor und längs dem Herrenhause, das unser Bild zeigt, dehnt sich eine 30 Fuß breite, von einer massiven, etwa 30 Fuß hohen Quadermauer gestützte Terrasse mit Blumenbeeten, Bassin und Springbrunnen aus, zu beiden Seiten mit prächtigen Kastanienbäumen bepflanzt; am Fuße der Terrasse liegt ein Gemüsegarten mit Rebenstöcken, Obstbäumen, Spargelbeet und Spalieranlagen.

Von hier aus bietet sich dem entzückten Auge ein großartiges Panorama dar: rechts der Abhang des Altvater, das Rheinthal, unterbrochen vom Schutterlindenberg, dahinter die gerade in dieser Gegend interessante Vogesenkette, in der Mitte die langgestreckte Stadt mit ihren drei Kirchen und vielen Gärten, die Schutter und waldgekrönte Schwarzwaldberge, links das Schutterthal mit der prächtigen Ruine Hohengeroldseck – ein Anblick, der jedem Besucher unvergeßlich bleibt.

Hinter dem Hofe beginnt, aufsteigend und nach rechts verlaufend, vom höhern Stadtwald durch eine Wand und einen Fahrweg geschieden, der Park mit seinen mannigfachen und zum Theil sehr seltenen Bäumen, von gut gepflegten schattigen Fußwegen, theils auch von Treppenaufgängen durchzogen, da ein lauschig-stilles Plätzchen mit Ruhebank, dort einen zur Erholung einladenden Pavillon mit Ausblick in die reizende Umgebung bietend. Eine gewölbte, die ziemlich breite Schlucht daselbst überdeckende Brücke führt an das Ende der freundlichen Anlagen. Rechts und links schließen sich an den Park die Wiesen an, auch ein Blumengarten mit Treibhaus, und an diese Aecker und Weinberge. Das ganze Gut ist terrassenförmig angelegt und wird, bis es seiner eigentlichen Bestimmung übergeben werden kann, von seinem bisherigen Verwalter in schönstem Stande erhalten.

Unser Bild zeigt, um die Ansicht des Reichswaisenhauses gruppirt, die Portraits der drei verdienstvollen Männer um das Werk: die Herausgeber des „Hinkenden Boten“, Albert Bürklin und Moritz Schauenburg, darunter das Bild des Reichsoberfechtmeisters Nadermann; die Druckerei des „Hinkenden“ - die bedeutendste Buchdruckerei und Verlagshandlung in Baden mit 20 Buchdruck- und lithographischen Schnellpressen und einem Personal von 200 Arbeitern; das altehrwürdige Rathaus in der Marktstraße, die auf hohem Bergkegel in der Ferne thronende Ruine Hohengeroldseck, und die Jamm’sche Villa im Stadtpark (Villa und Park sind ein Vermächtniß des vor mehreren Jahren verstorbenen Millionärs C. W. Jamm). Darunter der „Hinkende“ im Schatten einer mächtigen Eiche sitzend und neugierigen Landleuten das Ereigniß vom Ankauf des Gutes Altvater verkündend. In einer gegenüber befindlichen Kindergruppe hat der Künstler die Bestimmung des Unternehmens angedeutet. Wem geht die Bitte des allerliebsten Waisenknaben nicht zu Herzen:

„Einen Pfennig nur im Jahr
Für das Waisenhaus in Lahr!“

Trotz der schönen Erfolge, welche die Reichswaisenhaussache bis jetzt aufweisen kann, ist die Arbeit doch noch nicht einmal zur Hälfte gethan. Als das zunächst Erreichbare ist die Aufnahme von hundert Waisenknaben in Aussicht genommen, wofür die vorhandenen Räume ausreichen. Um aber das Lahrer Unternehmen in diesem Umfange gegen alle Stürme und Wechselfälle sicher zu stellen, ist zum Mindesten ein Capital von 500,000 Mark erforderlich, und davon ist bis heute kaum ein Viertel vorhanden.

Es muß also noch brav gefochten und gesammelt werden, bis man sagen darf: „Das Reichswaisenhaus ist fertig!“[1] Aber nur Mut und Ausdauer, das edle Werk wird mit Hülfe der wackeren Fechtbrüder vollendet werden, trotz mannigfacher Anfeindungen und Widerwärtigkeiten, denn

„Viele Wenig machen ein Viel,
Vereinte Kräfte führen zum Ziel!“

[435]

Die Weltsprache der Seefahrer.

Wie der rüstige Wanderer fern von der Heimath sich freut, auf einsamem Pfade ein anderes menschliches Wesen zu treffen, dem er mittheilen kann, was sein Inneres soeben bewegt, dessen Auskunft er begehrt, um die ihm fremde Gegend kennen zu lernen, um zu erfahren, wo er Abends sein müdes Haupt niederlegen könne, so strebt auch der sonst so wortkarge Seemann, der gegenwärtig nur noch an wenigen Stellen des Erdenrundes in dem am Horizonte auftauchenden Schiffe einen mächtigen Piraten zu fürchten hat, bei Begegnungen mit andern auf den weiten Straßen des majestätischen Meeres Mittheilungen bald wichtigeren, bald unbedeutenderen Inhalts zu erhalten; und der erfinderische Geist der Neuzeit hat auch hier gewaltig fordernd in das Communicationsgetriebe eingegriffen und, der Natur nachahmend, die stets der einfachsten Mittel sich bedient, mit wenigen, schon aus weiter Ferne kenntlichen Zeichen eine internationale Sprache geschaffen, welche reicher an Wörtern als selbst die deutsche oder englische ist.

Wenn wir über diese Sprache, in welcher freilich bislang noch Niemand ohne stetes Nachschlagen in seinem Wörterbuche sich verständigen konnte, auch wohl nie anders sich verständigen wird, dem Binnenlande etwas erzählen wollen, so möchten wir um einen kleinen Theil jener Sympathie bitten, welche da, wo weder ein Schiff, noch die See zu sehen, am lebhaftesten vor wenigen Jahren sich bekundete, als nach der Verschmelzung preußischer und hanseatischer Farben zur schwarz-weiß-rothen Tricolore, dem Sinnbilde deutscher Kraft und deutschen Unternehmungsgeistes, die deutsche Reichsmarine endlich erstand.

Um wichtige Nachrichten, Anzeigen von Gefahr und Noth, Aufforderung zu Hülfsleistungen aus offener See oder in der Nähe der Küste einander aus der Ferne mitzutheilen, hatte sich besonders unter den Phöniciern der Neuzeit, den Engländern, nach und nach eine Art von Signalen ausgebildet, und als diese im Laufe der Zeit den Anforderungen nicht mehr genügten, wurde zuerst von Privaten, wie Marryat, Reynold, Rogers und Andern, sodann von einer durch das britische Board of Trade berufenen Commission von Sachverständigen ein besonderes Signalbuch bearbeitet, das zuerst im Jahre 1857 erschien. Nach Verhandlungen mit Frankreich führte 1864 die Regierung dieses Landes das gleichzeitig noch weiter vervollständigte Signalbuch für ihre Kriegs- und Handelsmarine ein und veranlaßte dessen Herausgabe in französischer Sprache. Bald darauf stellten beide Regierungen den übrigen Seestaaten die Annahme dieses Buches und die Veranstaltung von Uebersetzungen in die verschiedenen Landessprachen anheim, und bereitwillig gingen der damalige Norddeutsche Bund, die Vereinigten Staaten von Amerika, Brasilien, Dänemark, Griechenland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Oesterreich-Ungarn, Portugal, Rußland, Schweden und Spanien darauf ein.

Alle von diesen Ländern veranstalteten Ausgaben des Signalbuches stimmen ihrem Inhalte nach unter sich und mit der englischen und französischen Ausgabe völlig überein. So ist den Schiffen aller dieser Nationen die Möglichkeit gewährt, Fragen, Antworten, Mittheilungen etc. unter sich und mit den Signalstationen am Meeresufer durch Signale zu wechseln, auch sich gegenseitig zu erkennen zu geben, gleichviel ob der eine Theil die Sprache des andern versteht, ob sie die Ausgaben des Signalbuches in derselben oder in verschiedenen Sprachen benutzen.

Die achtzehn (respective neunzehn) verschiedenen Flaggen, durch welche viele Tausende von Wörtern, Sätzen, Zahlen etc. gegeben werden können, sind auf Fig. 1 (Seite 436) dargestellt.

Die oberhalb der andern abgebildete Flagge führt den Namen Signalbuch-Wimpel und Antwort-Wimpel, die andern bedeuten die links daneben gedruckten Buchstaben. Die Mitbenutzung der Vocalzeichen wurde absichtltch vermieden, weil dann viele Buchstabengruppen die Form wirklicher Wörter in den einzelnen Sprachen bekommen hätten. Um so viel als möglich die Signale zu vereinfachen, wurden alle Signale mit mehr als vier Flaggen gänzlich ausgeschlossen; solche mit einer Flagge werden nur in drei Fällen benutzt, als Zeichen der Bejahung (Flagge C), der Verneinung (Flagge D) und das Antwortzeichen. Es gilt als feststehende Regel, die Flaggen, aus welchen ein Signal besteht, stets gleichzeitig und an derselben Stelle unter einander aufzuhissen (aufzuziehen).

Wenn wir nun aus den achtzehn Buchstaben B, C, D, F, G, H, J, K, L, M, N, P, Q, R, S, T, V, W durch Combination Gruppen bilden wollen, deren jede anders geordnete oder andere Buchstaben enthält als alle übrigen, so werden wir finden, daß

1) Gruppen von 2 Signalbuchstaben
BC, BD, BF, BG etc. bis BT, BV, BW
CB, CD, CF, CG etc. bis CT, CV, CW
etc. bis
WB, WC, WD, WF etc. bis WS, WT, WV
im Ganzen 306 vorkommen;
2) Gruppen von 3 Signalbuchstaben
BCD, BCF, BCG etc. bis BCV, BCW
BDC, BDF, BDG etc. bis BDV, BDW
etc. bis
WVB, WVC, WVD, WVF etc. bis WVS, WVT
im Ganzen 4896 vorkommen;
3) Gruppen von 4 Signalbuchstaben
BCDF, BCDG, BCDH etc. bis BCDV, BCDW
etc. bis
WVTB, WVTC, WVTD etc. bis WVTR, WVTS
im Ganzen 73,440 vorkommen.

Es können also mit diesen 18 Flaggen 78,642 Signale gegeben werden. Mit Rücksicht auf die Zeitersparniß dienen die Gruppen von zwei Signalbuchstaben zur Bezeichnung der wichtigen und dringenden Signale, z. B. der Compaßrichtungen, der Anzeigen von Gefahr, Noth, der Aufforderung zur Hülfefeistung u. dergl. Sie bilden den ersten Abschnitt des Signalbuches; in ihm finden wir z. B. neben BC gedruckt die Bedeutung: zeigen Sie Ihre Nationalflagge! neben NM auf meinem Schiffe ist Feuer ausgebrochen. Die Gruppen von drei Signalbuchstaben, im zweiten Abschnitte des Buches, enthalten die häufig vorkommenden Signale, Mittheilungen aller Art, wie sie zwischen Schiffen gewechselt zu werden pflegen, ganze Zahlen, Bruchzahlen, Buchstaben u. dergl. BNW z. B. bedeutet: Woher kommen Sie? CMP: Sclavenschiff, HCK September, HFN der fünfundzwanzigste, JWM gesalzenes Schweinefleisch. Von den aus vier Signalbuchstaben bestehenden Gruppen sind die ersten 4000 (BCDF bis BWVT) zu Bezeichnung geographischer Namen bestimmt. BDFG bedeutet Leipzig, BRMP Cocosinseln. Die nächsten 960 Gruppen (CBDF bis CGWV) dienen zur Bezeichnung einzelner Silben, Silbentheile (die sogenannte Buchstabirtafel), z. B. CBQG bedeutet Er, WTP: N (nach dem vorherigen Abschnitte), CFMQ: St, CDKM: Ke, CDGM: Il. Mit diesen fünf Signalen wird also „Ernst Keil“ wiedergegeben.

Die nächstfolgenden 13920 Gruppen (CHBD bis GPWV) gebraucht man zur Bezeichnung der sonst noch in das Signalbuch aufgenommenen Wörter, Mittheilungen u. dergl. CLNW bedeutet: Zwieback ist nicht gut, DWPB: Langweiligkeit. Mit weisem Vorbedacht ließ man hier eine größere Zahl von Buchstabengruppen noch unbenutzt, um sie für spätere Ergänzungen des Signalbuches verfügbar zu erhalten. Andere 1440 Gruppen (GQBC bis GWVT) sind zur Bezeichnung der Schiffe der Kriegsmarine, und die letzten 53040 Gruppen (HBCD bis WVTS) zur Bezeichnung der Schiffe der Handelsmarine bestimmt, weshalb sie den Namen „Unterscheidungssignale“ führen. Jedem Staate stehen alle diese Unterscheidungssignale behufs Vertheilung auf die Schiffe seiner Flagge zur freien Verfügung. Schiffe von verschiedenen Flaggen führen daher vielfach dasselbe Unterscheidungssignal, Schiffe unter derselben Flagge aber niemals. Das Unterscheidungssignal RCDV z. B. mit der deutschen Flagge bezeichnet den Dreimasterschooner „Ernst“ aus Hamburg und ist unter diesem Zeichen im vorjährigen Handbuche für die deutsche Handelsmarine auf Seite 228 genau beschrieben; mit demselben Signale unter englischer Flagge aber kann nur ein bestimmtes Schiff, z. B. aus Glasgow, unter französischer, italienischer etc. aus Marseille, Neapel oder sonst woher bezeichnet werden, ohne daß dadurch irgendwelche Verwechselung möglich ist.

Jedem deutschen Kauffahrteischiffe wird gleich bei seiner Eintragung in das amtliche Schiffsregister ein solches Unterscheidungs-Signal zugetheilt und in seinem Schiffs-Certificate vermerkt. So lange es nun unter deutscher Flagge fährt, behält es dieses auch [436] bei einem Wechsel seines Heimathhafens oder seiner Registerbehörde unverändert bei; und wie bei uns, so veröffentlichen auch die übrigen Staaten die amtlichen Listen ihrer Schiffe mit dem Unterscheidungs-Signal entweder als Anhang zu neuen Auflagen ihrer Signalbücher oder in besonderen Nachträgen. Der zweite Theil dieses Buches enthält wie ein Wörterbuch die Signale alphabetisch geordnet und rechts neben jedem Worte steht die zur Bezeichnung dienende Buchstabengruppe.

Fig. 1. Die Flaggen des Signalbuches für die Kauffahrteischiffe aller Nationen.

Vermöge dieses wichtigen internationalen Signalbuches ist es also möglich, daß zwei Personen verschiedener Nationen, wenn nur jede eine ihr verständliche Ausgabe des Buches besitzt, sowohl alle in dasselbe aufgenommenen Fragen, Antworten u. dergl. m., als auch solche andere Mittheilungen, welche sich aus den darin vorkommenden Satzteilen, Wörtern, Silben zusammenstellen lassen, unter einander wechseln können dadurch, daß sie die zu deren Bezeichnung dienenden Buchstabengruppen sich mittheilen.

Wünscht ein Schiff einem andern oder einer Signal-Station etwas zu signalisiren, so werden zuerst die Buchstabengruppen aufgesucht und nach diesen die Flaggen geordnet. Der Matrose, welcher dieses Amtes zu warten hat, heißt der Flaggengast. Das Kauffahrteischiff „Europa“ will auf dem atlantischen Ocean einem nach Bremen gehenden Dampfer seinen Namen mittheilen, melden, woher es kommt, wohin es geht, wie lange auf See. Es zeigt zuerst seine Nationalflagge und dicht darunter aufgehißt den Signalbuchwimpel. Der Dampfer giebt das Zeichen, daß er die Aufforderung verstanden. Jetzt zieht es an anderer Stelle die vier Flaggen QBKJ (Kauffahrteischiff „Europa“) auf, sodann, nachdem diese Gruppe herunter geholt, die nächste Gruppe BDPQ (kommt von London), dann BQGL (geht nach New-York) und endlich VWT (befindet sich zwölf Tage in See). Die nebenstehende Zeichnung (Fig. 2) möge die Flaggengruppen veranschaulichen.

Ungenaue Beobachtungen aber haben schon oft arge Mißdeutungen hervorgerufen. Ein Vollschiff ging von Glasgow nach Ostindien und in Havre wird einige Tage später von einem ankommenden Dampfer berichtet, er habe ein Schiff gesehen, das BLD (mein Schiff ist vollständig Wrack) signalisirte. Die Wache hatte die vier Flaggen BLDC (bestimmt nach Bombay) für drei gehalten und daraus den unrichtigen Inhalt sich zurecht gelegt. Erst hundert Tage später nach der Ankunft in Bombay riß das Telegramm „Alles wohl an Bord“ die Beteiligten aus ihren großen Sorgen. Hätte der Signal-Empfänger genau mit dem Fernrohre hingesehen und die nicht völlig ausgewehte Flagge C bemerkt, so mußte er zurück signalisiren QF (ich kann Ihre Flagge nicht erkennen) oder CWF (Signal nicht verstanden) und Aehnliches.

Fig. 2. Flaggengruppen.

Für solche Entfernungen, in denen nicht mehr die Farbe, sondern nur noch die Form und Stellung der Signalzeichen erkannt werden kann, bedient man sich der Fernsignale, und die Zeichen sind entweder rund, dreieckig oder viereckig. Die runden werden durch Bälle, die dreieckigen durch Wimpel, die viereckigen durch Flaggen dargestellt. Welche Farben diese Zeichen besitzen, ist an sich gleichgültig; doch sind die dunkelfarbigen die geeignetsten, weil sie am weitesten sichtbar sind. Für die Fernsignale ist der Grundsatz festgehalten, daß mindestens ein Zeichen jedes Signales ein Ball sein muß. Deshalb und weil Bälle in den Signalen mit farbigen Flaggen ganz fehlen, bildet der Ball das charakteristische Unterscheidungsmerkmal für die Fernsignale. Kein Fernsignal besteht aus mehr als drei Signalzeichen und höchstens zwei derselben sind von gleicher Form. Ein einzelner Ball vertritt die Stelle des Signalbuchwimpels und Antwortwimpels und bildet außerdem das Schlußzeichen. (Vergl. die Tabelle Fig. 3 auf Seite 437.) Mittels dieser achtzehn Buchstaben-Fernsignale kann gleichfalls jedes im Signalbuche enthaltene Signal gegeben werden, nur auf bisweilen etwas umständlichere Art; denn während ein Signal mit farbigen Flaggen auf einmal gegeben werden kann, müssen hier zu dessen Darstellung so viele einzelne Signale, als es Signalbuchstaben hat, signalisirt werden, und außerdem noch jedesmal das Schlußzeichen. Giebt man jedoch die einzelnen Fernsignale gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Schiffes, und zwar das erste im Vortop, das zweite im Großtop, das dritte im Kreuztop, das vierte an der Gaffel, so geht das Signalisiren ebenso schnell; man bedarf aber statt eines Flaggengastes deren vier. Nach allgemeiner Uebereinkunft sind solche Signale stets „von vorn nach achter“ zu geben.

Wenn Signalflaggen oder Fernsignale nicht zur Hand sind, wie z. B. bei Schiffbrüchen, in Booten etc., so können zum Signalisiren auch andere Gegenstände benutzt werden, welche eine den Fernsignalen ähnliche Form besitzen, also statt der Bälle: kugelförmige Bündel, Körbe, Hüte, statt der Wimpel: schmale Streifen Zeug, längliche Gegenstände, statt der Flaggen: viereckige Stücken [437]

Fig. 3. Die Fernsignale für die Kauffahrteischiffe aller Nationen.

Zeug, Taschentücher aber andere quadratische Formen. Sind Masten nicht vorhanden, an denen diese Gegenstände unter einander angebracht werden können, so kann man solche auch von Leuten, die neben einander stehen, zeigen lassen. Sie sind abzulesen wie eine Druckschrift von links nach rechts. So bedeutet Figur 4 „Mangel an Proviant. Hunger leidend.“

Fig. 4. Aushülfssignale.

Aehnlich den optischen Telegraphen, welche wir jetzt noch überall an Eisenbahnstationen sehen, wurden zuerst im Jahre 1862 in Frankreich auf hochgelegenen Punkten an der Küste sogenannte „Semaphoren“ (Zeichenträger) errichtet, um sowohl die Ankunft und die Bewegungen aller vom hohen Meere kommenden Fahrzeuge zu melden, als auch diesen amtliche Mittheilungen zugehen zu lassen. Schon zwei Jahre darauf wurden die „Semaphoren“ dem allgemeinen Verkehr übergeben und außerdem noch mit dem Telegraphen in Verbindung gebracht. Die anderen Länder folgten bald dieser wesentlichen Verbesserung des Signalisirens, und seit 1873 besitzt auch Deutschland die „Semaphoren“.

Der untenstehend abgebildete Apparat (Fig. 5) besteht aus einem etwa zehn Meter hohen, aufrecht stehenden Maste, an dessen Spitze sich eine Stange mit einer runden Scheibe befindet, und an dessen oberem Theile in gleichen Abständen unter einander drei gerade Arme angebracht sind. Sowohl die Stange mit der Scheibe als auch die drei Arme können in derselben Verticalhöhe um ihre Befestigungspunkte am Maste gedreht und daher in verschiedene Stellungen gegen den Mast gebracht werden. Auch der Mast selbst läßt sich um seine Axe drehen und daher stets so stellen, daß Scheibe und Arme von vorüberpassirenden Schiffen gut gesehen werden können.

Fig. 5. „Semaphoren“.

Wird nicht signalisirt, so hängen Scheibe und Arme am Mast herab und sind aus der Ferne nicht sichtbar. Soll aber signalisirt werden, so wird die Stange mit der Scheibe in die Höhe gedreht, sodaß sie gerade senkrecht über dem Maste steht. Diese Stellung ist das Vorbereitungszeichen für die „Semaphoren“-Signale, und sie wird bis zur Beendigung des Signales unverändert beibehalten. Als Antwortzeichen dient die horizontale Stellung der Stange mit der Scheibe. Zum Signalisiren bedient man sich der drei Arme und zwar so, daß jeder horizontal stehende Arm einen Ball, jeder ungefähr 45° – abwärts geneigte einen Wimpel, jeder in demselben Grade aufwärts gerichtete eine Flagge bedeutet.

Es würde also die hier abgebildete „Semaphoren“ - Stellung gleich sein der rechts daneben stehenden der Fernsignale und den Buchstaben „J“ bezeichnen, der einzeln mit folgendem Schlußzeichen gegeben andeuten soll: „Stoppen Sie,“ oder: „Drehen Sie bei. Es sind wichtige Mittheilungen zu machen.“

Die den „Semaphoren“-Stationen von Schiffen zugehenden Depeschen werden nur telegraphisch, nicht brieflich, weiter befördert und die Gebühren von dem Empfänger eingezogen. Die für die Schiffe bestimmten Depeschen jedoch können diesen Stationen sowohl brieflich als schriftlich zugehen; natürlich sind sie stets frankirt und in den Briefen liegen auch die Gebühren für die Mittheilung an das Schiff. Jeder Signalbuchstabe gilt für anderthalb Wort eines Telegrammes.

Eppdrf.
Dr. B. L.




Zwischen zwei Welten.

„Ich weiß nicht, daß noch Land besteht,
Die Wellen hier sprüh’n Schaum und Funken!
Doch Berg und Wald und Wiese – seht!
Das Alles ist im Meer versunken.“ Freiligrath.

Allmählich versank die felsige Küste Alt-Englands in den Fluthen, ein mattgrauer, mehr und mehr schwindender Streif im Nordosten des Horizonts allein zeigte den Punkt, wo die alte Welt zurückblieb.

Breit in unermeßlicher Fläche lag der Ocean hingestreckt und luftiger als durch Nordsee und Canal, in deren Fahrwasser die peinlichste Wachsamkeit von Capitain, Officieren und Mannschaft gefordert wird, zog der „Neptun“ seine Furche durch das blaue Wasser.

[438] Ueber Backbord hinaus erglänzten in weiter Ferne einige Segel, Segelschiffe, die den kräftig wehenden Nordwest zu südlichem Course benutzten, und hier und da tauchten aus den Wellentälern kleine einmastige Fahrzeuge auf, welche die Segel halb zugerefft trugen; es sind Fischerboote, die, des schuppigen Fanges gewärtig, Tage und Wochen in den Küstengewässern sich umhertreiben.

Dort voraus, im Westen, wo die Sonne, hinter leichten Schleiern verborgen, sich anschickte hinabzusteigen, dort lagerte allerdings eine dunkle Wolkenwand, nur niedrig und unbeweglich, aber finster drohend. Sie ward von der Commandobrücke aus öfters einer eingehenden Besichtigung gewürdigt, doch senkte sie den Zeiger der meteorologischen Säule in dem wetterfesten Gesicht des Capitains nicht um einen Strich.

Die alte Europa im Rücken, freie Fahrt voraus, da mag es mal hart wehen und uns tüchtig schütteln, wir besitzen eine eiserne Stirn und vertragen einen guten Puff; denn so tüchtig das Schiff, das sich in vielen heiklen Situationen bewährte, so brav und zuverlässig ist seine Besatzung, die unter des Capitains Commando seit mancher Reise steht, und Schiff, Capitain und Mannschaft gehören zu einander, wie Rumpf, Haupt und Glieder eines Körpers.

Aber die dunkle Wand stieg langsam höher, der Wind machte sich dahinter und blies mit vollen Backen in das schwere Gewölk, im Nu kam es in Begleitung von Bruder Wind herangerast und schüttete seinen Inhalt mit wolkenbruchähnlicher Gewalt über den „Neptun“ aus.

Unter den Passagieren, die, nichts ahnend, dem angenehmsten dolce far niente huldigend, auf dem Hinterdeck frische Luft und zwanglose Unterhaltung genossen, entstand ob der Regenböe großer Schrecken, dem alsbald allgemeiner Rückzug sich anreihte.

„Langsam, langsam, meine Damen – die paar Regentropfen schaden nicht, und immer rückwärts die Treppe hinabgehen, sonst giebt’s Fehltritte und Gestolper.“

Der erste Officier sprach’s, der eben bis über die Ohren in den Oelrock geknöpft an Deck kam, um sich auf die Commandobrücke zu begeben.

Auch ein ältlicher Herr mit halb ergrautem Bart und wohlwollenden Zügen rüstete sich, in’s Trockne zu kommen; aber er war Amerikaner und wußte, was sich Damen gegenüber ziemt; er wartete geduldig, bis Alles, was zur holden Weiblichkeit gerechnet werden konnte, den schützenden Hafen erreicht hatte.

„Onkelchen, bleib’ bei mir, ich möchte auf Deck bleiben!“ schmeichelte im Gewühl eine Mädchenstimme an sein Ohr, aber schier erschrocken wandte der Onkel sich zur Seite, wo ein Köpfchen, aus dessen braunen Locken das Wasser rieselte, sich an seine Schulter legte.

„Aber Kind, bei dem Wetter?“

„Gerade, well es ‚schlecht Wetter‘ giebt, will ich oben bleiben. Ja ja, Onkel Dresing, Du hast nicht umsonst Dein Nichtchen aus Deutschland mitgenommen, man fährt nicht alle Tage über das große Wasser, und wenn ich das Weltmeer durchreise, will ich auch seine Romantik kennen lernen; dazu gehört aber vor allem etwas ‚schlecht Wetter‘. Unter diesem summarischen Ausdruck versteht aber der Seemann – wie mir der hübsche ‚Stewart‘ in einer belehrenden Unterredung mitgetheilt hat – Sturm, Nebel, hohen Seegang, kurz –“

„Um Gotteswillen, hör’ auf, Kind. Kannst Du Dein romantisches Gelüst denn nicht zu Gunsten meines Rheuma bezähmen?“

„Geh nur, Onkel, geh nur! Jedesmal, wenn ein Wunsch von mir Dir quer kommt, flüchtest Du hinter Dein Rheuma, welches doch in Wiesbaden bleiben sollte. Sonst bist Du freilich der beste, aufmerksamste Onkel von der Welt.“

„Hexe, Du!“

Der braunlockige Querkopf konnte diesmal nicht zum Ziele kommen, Onkel Dresing wollte aller Liebe zum schönen Nichtchen zum Trotz nicht mit sich unterhandeln lassen.

„Nun, dann bleib’ ich allein oben,“ erklärte sie, knüpfte ein Tüchlein über das Haar und hüllte sich in den dunklen Mantel.

Hui, wie pfiff die Böe und stürmte die erregte See heran, der Regen hatte seine Wuth rasch erschöpft, desto wilder brausten die Wassermassen der Tiefe, und einige besonders hohe Wellenköpfe brachen über den Bug herein.

Noch blieb die junge Dame in der Thür des Pavillons stehen und überlegte, denn die Sonne war verschwunden und dunkler ward es von Minute zu Minute. Die Signallichter und die Compaßlampen brannten. Aber gerade draußen, wo kein schützend Dach dem Winde wehrt, mit dem Nachthimmel und der brausenden See allein – herrlicher Gedanke; also – husch, husch hinaus. Zu dem Großmast, wo man den Blick nach vorn frei hat? nein, dort gehen die Officiere stets ab und zu, man ist nicht ungestört. Aber nach hinten an dem Officier vorbei, der stumm und reglos am Compaß vor dem Ruderhause steht.

In diesem Augenblicke tönte aus dem Ruderhause, wo vier Mann das Steuer handhabten, in kurzen Unterbrechungen ein viermaliges schrilles Klingeln.

Das junge Mädchen fuhr zusammen.

„Was ist das?“ fragte sie einen vorübergehenden Matrosen.

„Das ist ein Tingeltangel,“ lautete die lakonische Antwort, und der Mann ging weiter.

Ein Tingeltangel! das ist kein salonfähiger Ausdruck, so viel weiß die junge Dame genau, ob aber die ominöse Bezeichnung einen ebenso ominösen Begriff deckt, steht außerhalb ihres Fassungsvermögens, und das verstohlene Lachen auf dem bärtigen Gesicht des Officiers, der sich auf seinen Compaß bückt, sagt auch nichts Deutliches.

Da, hinter dem Ruderhause, fand sich das ungestörte Plätzchen. Der Regen hatte nachgelassen, ebenso die Heftigkeit des Windes, aber die See ging hoch und der Dampfer arbeitete und schlingerte gewaltig. Die junge Dame schien jedoch gefeit gegen die „Krankheit“, und als nun die Mannschaft Segel setzte (der „Neptun“ trug Schoonertakelung), um das Schiff zu stützen und die heftige Bewegung desselben zu mildern, schaute sie dem Manöver gespannt zu. Wie sicher, beinahe militärisch exact bewegten sich die schlanken, schmiegsamen Gestalten der Seeleute! Durch das dämmernde Zwielicht auf Deck ward der Reiz erhöht. Und über Bord hinaus die weite gähnende Nacht. Ja, sie war wundervoll, diese Nacht auf dem Oeean. Was er wohl sagen würde, wenn er an ihrer Seite hier stände? Er, der so feines Empfinden für das Walten der Natur besaß?

Er war nämlich ein junger Mann mit kurzkrausem, dunklem Haar und kecken Augen im fröhlichen Antlitze. Er war seines Zeichens Landschaftsmaler, der Studien zu machen nach Nordamerika ging, welches seiner Ansicht nach dem Landschafter eine Fülle der besten Motive bot, und nach Fräulein Ida’s tiefinnerster Ueberzeugung reichte ein Claude Lorrain, oder der Andreas Achenbach, welchen der Onkel von Düsseldorf mitgenommen hatte, bei weitem nicht an die Kunsterzeugnisse seines Pinsels. Er hatte seinen Platz bei Tafel leider in einer starken Diagonale mit Fräulein Ida, und diese Stellung zweier Gestirne erlaubte kein so häufiges Verschmelzen der beiderseitigen Lichtstrahlen, wie bei der unleugbaren Attraction dieser Sterne wünschenswerth erschien.

Zwei feindliche Gestirne hatten sich in die Bahn geschoben, hüben die „Dame in Grün“, eine nicht mehr ganz frische Schönheit, die allmittäglich, nachdem sämmtliche Tischgenossen bereits Platz genommen, in meergrüner, seidener Schlepprobe hereingerauscht kam, sonst jedoch nur in grauer Regenkapuze sich zeigte, weshalb unter ihren Mitschwestern die Version verbreitet war, besagte beide Kleidungsstücke bildeten ihre ganze Garderobe; – drüben ein verwittweter Engländer, der aus den Trümmern seines häuslichen Glückes nichts gerettet zu haben schien, als einen ungezogenen, vierjährigen Jungen, welcher alle Leute mit staunenswerther Consequenz auf die Füße trat und in Puddings und Pies die unglaublichsten Verwüstungen anrichtete. Mit diesem hoffnungsvollen, liebenswürdigen Sprößling reiste der Vater umher, um – ihm eine neue Mama zu verschaffen. Wenn nicht alle Anzeichen täuschten, war das Ideal entdeckt, wenigstens konnten die starren Blicke, mit welchen Mylord Vater Fräulein Ida unausgesetzt verfolgte, nicht anders gedeutet werden, wie alle Vertreterinnen des schönen Geschlechts in traulicher Zwiesprach eifrigst versicherten.

Da hat nun das Schicksal eine Anzahl Menschen aus vieler Herren Ländern an Bord eines Dampfers zusammengefegt; fremd bis zur Stunde, lebt man mit einander, für einander, teilt Leid und Freud, freundliche und ernstliche Beziehungen entstehen, man ist in Noth und Tod auf einander angewiesen, und ein Band [439] festester Treue umschließt Alle – bis nach wenigen Tagen die verrinnenden Wellen der Zeit sie aus einander schleudern, und fremd, wie vorher, geht ein Jeder seinen Weg.

Ida stellte sich vor, wie der Schreck von der plötzlich aufspringenden Böe nachwirkte. Die Eine mühsam lesend, die Andere seekrank – und selbst von den Herren fand keiner Courage zu einer flotten Unterhaltung, sie sitzen einzeln umher, sehen die blanken Lampen in ihren Doppelringen schaukeln und hören die brausende See gegen die Schiffswandung klatschen; aber keinem fällt es ein, wie wonnig, wie großartig eine unruhige Nacht auf dem Meere sei.

Goldene Funken sprühten im Kielwasser, verschwanden blitzschnell und glitzerten an anderen Stellen auf. Das junge Mädchen beugte sich über Bord, das Funkenspiel entzückt betrachtend, doch eine Berührung wie die vom Fittich eines Nachtvogels wandte ihren Kopf zur Seite, dort stand eine Männergestalt, deren flatternder Mantel das Mädchen berührt hatte.

Es bedurfte beiderseits keines Wortes, um überzeugt zu sein, die beiden Gestirne, welche bei Tische unglücklicher Constellation halber dem Gesetze der Attraction nicht folgen konnten, seien urplötzlich in jene Nähe gerückt, wo diese Kraft ungehindert wirken könne. So dauerte es denn nicht lange, und die Beiden saßen tief drinnen in jenem Gedankenaustausch, der über die schwierigsten Fragen und Probleme des Lebens Betrachtungen anstellt, der die ernstesten Sachen in sein Bereich zieht, nur nicht die Liebe. Während aber dieser eine Punkt hartnäckig umgangen wird, schickt der beflügelte Schelm seinen Pfeil desto sicherer in die jungen Herzen ab. Halt, so weit waren die Leutchen noch lange nicht.

Die See brauste unter ihnen, und über ihren Häuptern ging der Wind, der „Neptun“ stampfte und stieß in dem hohen Seegange, daß manches Wort abgeschnitten wurde, ehe es die Lippe passirte.

Der junge Mann drückte seine Freude aus, in Fräulein Ida eine gleich empfindende Bewunderin der Natur zu finden, und sie dagegen erzählte, sie sei Onkel Dresing unendlich dankbar, daß er sie aus Deutschland mitgenommen habe. Allein, ohne Vater und Mutter stand sie, als Onkel und Tante Dresing mit ihren kleinen Mädchen und dem weißen Pinscher aus Boston herüberkamen, um in Wiesbaden für Onkels Rheuma Heilung zu suchen. Schon die Rheinfahrt sei köstlich gewesen, und in Düsseldorf gab’s so viele herrliche Bilder zu schauen, daß die Augen schier verwirrt wurden. Schöner aber als alle Bilder sei die schöne Welt selber, und eine Meerfahrt wie diese das Herrlichste von allen.

„Leicht wird der Geist und frei die Seele,“ rief sie, „ich möchte tauchen können bis zum geheimnißvollen Grunde und fliegen mit dem Sturm um die Wette gen Westen, wo unser Reiseziel.“

„Ja, in das Land der Freiheit, des Fortschritts,“ fiel der Maler ein

„Reden Sie Amerika das Wort?“ fragte die junge Dame neugierig, „ich hörte sagen, die Kunst habe keine Stätte im Lande des Dollars. Onkel Dresing will das freilich nicht gelten lassen, aber er brachte keine Gegenbeweise ein.“

„Und wäre es bis jetzt auch so, was thut’s?“ rief der junge Mann. „Nordamerika ist im Werden begriffen und wird rasch zu dem Höhepunkt des Ideals emporsteigen. Schon haben die Wissenschaften festen Fuß gefaßt in dem jungen Volke, und mächtig durchdringen sie alle Schichten der Bevölkerung. Die Wissenschaften aber sind Vorläufer der schönen Künste. Ist der Geist befriedigt, tritt das schönheitsdurstige Herz in die Schranken. Allbereits regt es sich da und dort. Nordamerika steht im Frühlicht seines Tages, in Europa aber leuchtet die goldene Abendsonne.“

„Und wir schaukeln zwischen zwei Welten auf dem unendlichen Meere,“ sagte Ida nachdenkich. „Werden wir das Land der Verheißung erreichen?“

„Ja und nochmal ja,“ rief der junge Mann feurig, seine Hand suchte einen Moment die ihre. „Am Hudson, in den Katskillbergen und den weiten Prairien des Westens werde ich dieser Stunde gedenken. Gedenken auch Sie ihrer?“

Wer weiß, wohin das Pärchen sich verirrt haben würde, wenn nicht in diesem Augenblicke ein langgezogener Ruf durch die Dunkelheit gedrungen wäre.

„Hohei, aufgepaßt, Schiff in Sicht!“ schrie eine Stimme vom Ausguck vorn auf der Back, und sofort ward es auf Deck unruhig. Aber es zeigte sich nicht jene gemessene Unruhe, welche jedem wohlberechneten Manöver vorangeht, sondern eine unstete peinliche Bewegung, die dem sicheren Hantiren der Seeleute sonst fremd ist. Zuglelch klingelte es wieder einmal schnell hinter einander neben dem Steuerrade.

„Das ist der Tingeltangel,“ flüsterte das junge Mädchen.

„Wa–a–a–s?“ fragte ihr Nachbar.

„Der Tingeltangel, ich weiß es genau,“ erwiderte Ida.

„Hat der verdammte Kerl keine Lichter außen?“ schrie es von der Commandobrücke.

„Nein, kein Licht zu sehen,“ lautete die Antwort zurück.

Daß der Capitain und erste Officier auf der Brücke die Augen durch die Gläser schier überanstrengten, um Lage und Cours des begegnenden Schiffes zu erkennen, konnten die Beiden hinter dem Heck nicht gewahren, ebenso wenig wie sie die kräftigen Flüche der beiden verantwortlichen Seemänner hörten. Nur daß etwas Außerordentliches vorgehe, daß eine Gefahr drohe, fühlten sie Beide, und ihr Athem stockte.

Wieder ein leiser Klang im Ruderhause, und die beiden Quartiermeister am Steuer gaben, unterstützt von zwei Matrosen, „Backbord Ruder hart“. Ein stummer, erwartungsvoller Augenblick, der das Blut in den Adern erstarren ließ, ein Moment, der über Sein und Nichtsein entschied, und – mit enger Kurve Steuerbord ausbiegend – entging der brave „Neptun“ der drohenden Collision. Und hohe, ja die höchste Zeit war es gewesen, denn fast streifte der Schnabel des Dampfers den Bug des pflichtvergessenen Seglers, der nun, ohne Signallaternen noch sonstige Beleuchtung zu zeigen, nahe vorbeiglitt. Seine Masten ragten in den schwarzen Nachthimmel unheimlich empor.

„Gewiß ein gottverlassener Spanier, oder gar ein verdammter Türkenhund!“ sagte ein alter Matrose, welcher über das Hinterdeck ging.

„Sagt doch, guter Freund, war die Gefahr groß?“ redete ihn der Landschafter an.

„Groß genug,“ brummte der Alte, „daß wir in fünf Minuten Alle mit einander in hundert Faden Tiefe ’nen Contretanz aufführen konnten.“

„Noch eine Frage erlaubt! Kurz ehe der Dampfer ausbog, gab es einen – einen Tingeltangel –“

„Ja, was ist ein Tingeltangel?“ fiel Fräulein Ida ein.

Der Alte schmunzelte.

„Ein Tingeltangel, meine Herrschaften ist ein telegraphisches Donnerwetter für Die, welche am Steuer stehen. Es heißt so viel, als: ‚Ihr verfluchten Kerle, wollt Ihr wohl besser auf den Cours passen; wenn Ihr nicht genauer Acht gebt, werde ich Euch mal gehörig den Kopf waschen lassen.‘ Dieses Donnerwetter kommt vom Capitain auf der Commandobrücke, und die Leute am Steuer verstehen es ganz genau. Sonst noch Befehle?“

„Nein, wir danken!“

„Na, dann geh’ ich an die Arbeit, der Wind ist herumgegangen, da müssen wir die Röhren versetzen.“

Der grauhaarige Seemann begann mit mehreren Cameraden die zahlreich auf Deck verstreut stehenden Röhren, die am andern Ende zu einer riesigen Schallmuschel geweitet schienen, zu drehen und zu wenden.

„Um Gotteswillen,“ rief Fräulein Ida, „welch neue Gefahr droht, daß die schrecklichen Rohre in Anwendung kommen müssen? O, bleiben Sie bei mir! nein, fragen Sie, was zu befürchten steht; ich eile hinunter, Tante bei den Kindern zu helfen.“

Nun that der Officier, welcher an dem großen Compaß beobachtend stand, zum ersten Mal den Mund auf.

„Aengstigen Sie sich nicht, es sind die Ventilationsröhren, die Ihnen in Salons, Kajüten und in alle vier Decks frische Luft schaffen. Der Wind hat sich gedreht, folglich müssen die Röhren auch gedreht werden, um den Wind aufzusaugen.“

„Ach so,“ kam es merkwürdig erleichtert aus der Brust des jungen Mädchens. Aber die holde Zwiesprach angesichts des nächtlichen Oceans blieb gestört, außerdem läutete eben die Glocke zum Abendessen.

Einige hundert Meilen weiter westwärts dampfte der „Neptun“. Die alte Welt und das Land der Verheißung, beide lagen in gleicher Entfernung tief unter dem Horizonte, auf dem Höhepunkte der Erdkugel schwebte der „Neptun“. Heiter strahlte die Sonne

[440]

Ball an Bord – „zwischen zwei Welten“.
Oelgemälde von Ludwig Blume. Nach einer Photographie im Verlage von F. Hanfstängl in München.

[441] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [442] vom blauen Himmel herab, heiter kicherten und koseten die schäumenden Wogen und heiter glänzten die Gesichter der Passagiere. Nach dem Diner ward es ein Raunen, ein Wispern und Flüstern unter der schönen Hälfte des Geschlechts. Gar so wonnig ist das Leben, losgelöst von den Fesseln der alten Welt, die neue hat die ihrigen noch nicht übergeworfen; so im Schweben zwischen zwei Welten, warum sollte das Leben nicht genossen werden? Der alte Aeolus schien gnädig gestimmt, breit lag er auf der Tiefe und ließ sich in den Schlaf wiegen. Alles lud zur Freude am Dasein ein.

Ida hatte mit Onkel und Tante geflüstert, dann mit der jungen Frau und mehreren jungen und älteren Schönheiten die Köpfe zusammengesteckt. Ehe jedoch das weibliche Corps den Plan gefaßt hatte, ward er durch die Ritterlichkeit des starken Geschlechts ausgeführt – eine Drehorgel erschien an Deck, ein hübscher, strammer Matrose stellte sich dazu, und heidi, nach den lustigen Melodien flogen die Paare im Tanze herum.

Onkel Dresing sieht mit tiefem Behagen das liebe Nichtchen am Arm des schmucken Landschaftsmalers; er blickt von dem Paare hinweg in die blaue, gekräuselte Weite und denk: „Mein Achenbach ist zwar unübertrefflich, doch ein Stück Poesie auf dem Ocean erleben, ist auch nicht zu verachten.“

Tante Dresing freut sich des jungfrischen Wesens und sieht in ferne Zeiten, wo ihre beiden keinen Mädchen zu eben solchen Blüthen sich entfaltet haben werden. Alles athmet Luft und Freude, nur die „Dame in Grün“ hat sich zurückgezogen, und Mylord Vater starrt melancholisch auf die Mädchengestalt, die sich so leicht am Arme des jungen Mannes wiegt; ihm scheint just der Gedanke aufzugehen, sie sei doch nicht die rechte zu seines Sprößlings Mutter.

Der schmucke Matrose an der Drehorgel allein versteht das Lächeln auf Fräulein Ida’s Gesicht. Soeben flüstert der junge Künstler das Liebeswort in ihr Ohr, welches die beiden Herzen auf ewig bindet, und ein Druck ihrer keinen Hand giebt die Antwort.

„Ich habe das schon neulich Abend gewußt, als die Beiden hinter dem Ruderhause schwatzten von Sternen und Meerjungfern und Sterben,“ denkt der junge Seemann und orgelt lustig darauf los.

Der „Neptun“ aber dampft weiter, dem Land der Verheißung entgegen.[2]

H. Pichler.




Die nationale Kochschule in London.

Von Marie Calm.

„Haben Sie denn unsere Kochschule schon gesehen?“ fragte mich eine Dame.

„Ihre Kochschule? Ich denke, die Engländerinnen beschäftigen sich nicht mit Kochen?“

„Wir haben es bisher nicht gethan, aber wir wollen es lernen.“

Ja, die Engländerinnen wollen kochen lernen! Wie man deutschen Schulunterricht in England einzuführen sucht, so will man der englischen Lady auch einige jener häuslichen Kenntnisse beibringen, durch welche die deutsche Hausfrau so berühmt ist.

Ob es gelingen wird? Ich erlaube mir daran zu zweifeln. So lange die Küche sich im Souterrain des englischen Hauses, zwei Stockwerke unter den Wohnzimmern befindet; so lange eine weiche, weiße Hand mit durchsichtigen, tadellosen Nägeln für ein unerläßliches Attribut einer Lady gilt; so lange die Köchin sich als Alleinherrscherin in ihrem unterirdischen Reiche betrachtet und jeden Eingriff in ihre Autokratie mit Kündigung bestraft – so lange werden die culinarischen Leistungen der englischen Hausfrau wohl nicht allzu bedeutend sein.

Und, kann man nicht umhin zu denken, warum sollte sie sich dafür bemühen? Warum selbst etwas thun, was eine geringere Kraft zu leisten vermag? Wer je für längere Zeit Mitglied eines englischen Hauses war, der weiß, wie behaglich es sich darin lebt, wie vortrefflich Alles eingerichtet und geordnet ist. Da hört man nichts von dem Knarren der Haushaltungsmaschine, da geschieht Alles geräuschlos und zur rechten Zeit, da steht die Mahlzeit pünktlich auf dem sorgfältig gedeckten Tisch, und die Hausfrau, unberührt vom Küchenrauch, frisch in ihrer erneuerten Toilette, braucht nicht ängstlich jedem kommenden Gerichte entgegenzusehen, ob es nicht noch in der Viertelstunde, seitdem sie die Küche verlassen, verdorben ist, ob auch alle ihre Anordnungen hinsichtlich des Servirens der Schüsseln befolgt sind. Sie kann sich freien Geistes ihren Angehörigen oder ihren Gästen widmen, denn sie weiß, die Köchin versteht ihre Arbeit – sie ist selbständig.

Dann aber – und das fällt freilich sehr in’s Gewicht – ist die englische Küche weit einfacher, als die unsere. Man verspeist im ganzen großbritannischen Königreich dieselben Roastbeefs und Hammelkeulen, dieselben ungefetteten und ungesalzenen Gemüse, dieselben Reispuddings und Rhabarberpies, zum Dessert denselben Käse, höchstens mit der Abwechslung von Chester- und Stiltoncheese, im Winter dieselben Orangen, im Sommer dieselben Erdbeeren.

Das ist einheitlich – freilich oft auch recht einförmig. Unsere verwöhnten Herren würden wahrscheinlich wenig damit einverstanden sein, die erste Hälfte der Woche das Roastbeef (so ausgezeichnet es auch war!) kalt zu essen, das am Sonntag warm servirt wurde, und vom Donnerstage an dieselbe Hammelkeule unwiderruflich erscheinen zu sehen – Samstags vielleicht in Gestalt eines Hachés – bis sie am Sonntag wieder von dem Roastbeef abgelöst wird. Dazwischen vielleicht einmal, wo jene nicht ausreichen, ein Fisch oder ein Huhn zur Abwechslung, begleitet von dem harmlosen Gemüse – und das Menu eines gewöhnlichen englischen Hauses und damit einer gewöhnlichen englischen Köchin ist erschöpft.

„Nein,“ sagt der Herr Geheimrath, und sieht dabei wohlgefällig an seiner gut gepflegten Gestalt hinab. „Nein, damit wäre ich allerdings nicht zufrieden. Meine gute Frau versteht sich auf die Küche, auf einige kleine Leckerbissen, für die ich ein Faible habe. Ich bin wahrlich kein Gourmand, aber die Zubereitung thut in der Kochkunst sehr viel; mit einer guten Mayonnaise kann man selbst einen alten Hahn noch genießbar machen!“

Und der Herr Geheimrath hat Recht.

Die Zubereitung thut viel und muß viel thun, wo das Material nicht so gut und das Haushaltungsgeld nicht so reichlich ist, wie in England. Der gutgespickte englische Geldbeutel – was würden unsere Hausfrauen nicht Alles leisten, wenn sie den besäßen! Indessen beruht der größere Luxus der englischen Haushaltung noch auf einem andern Grunde, der vielleicht weniger allgemein bekannt ist.

Während vier Jahren, die ich im verschiedenen englischen Familien verlebt, erinnere ich mich nicht, den respectiven Hausherrn mehr als zwei- oder dreimal Abends im Familienkreise vermißt zu haben. Wenn er ausging, geschah es stets mit seiner Frau. Dieselbe Bemerkung machte ich bei zwei in England lebenden deutschen Kaufleuten, bei denen ich kürzlich einige Monate zubrachte. Die beiden Deutschen hatten die englische Gewohnheit, den Tag nach geschlossenem Geschäfte mit ihrer Familie zu verbringen, angenommen.

Natürlich hat der Engländer auch seinen Club, in dem er seine Freunde und politischen Genossen trifft; die großen Entfernungen nöthigen ihn oft, sein Luncheon in der Stadt einzunehmen; aber die deutschen Früh- und Dämmerungsschoppen, die Billard- und Kegelessen, und wie die Mahlzeiten sonst heißen, die in den Cafés und Restaurants eingenommen werden, kennt er nicht. Die letzteren sind auch gar nicht dafür eingerichtet: man nimmt seinen Trunk, wenn man einmal einen solchen wünscht, am Schalter stehend zu sich, und erhält seinen Imbiß in einer Art Loge servirt, in welche fast überall in England die Speisezimmer parcellirt sind, um dem Gast seine Selbstständigkeit und Ungenirtheit [443] zu wahren und ihn vor der Gefahr zu hüten, mit einem ihm nicht vorgestellten und vielleicht gar nicht vorstellungswürdigen Individuum zusammen zu sitzen. Zum Vergnügen, für gesellige Zwecke besucht man die Gasthäuser nicht.

Ebenso wenig verzehrt der Engländer viel bei Ausflügen. Mit Ausnahme der Pickniks, bei denen die Theilnehmer selbst den Proviant liefern, sucht man es so einzurichten, daß man draußen keiner Mahlzeit bedarf. Es wäre auch oft schwer, eine solche zu erlangen. In den beliebtesten Touristengegenden, bei den berühmtesten An- und Aussichtspunkten kann man zwar die Photographien derselben zu kaufen bekommen, aber kein schäumendes Glas Bier wird dem durstigen Wanderer geboten, kein Duft zweifelhaften Kaffees steigt zum Himmel auf,

„Keine Frucht der süßen Aehren
Lädt zum reinen Mahl ihn ein –“

nur Natur kann da genossen werden – sonst nichts. Gewiß, das würde uns Deutschen, die wir gewohnt sind, in jedem „kühlen Grunde“, der zu romantischen Phantasien begeistert, auf jedem halbwüchsigen Berge, der auf den kühlen Grund hinabsieht, von einem einladenden Wirthshausschilde begrüßt zu werden, wenig behagen.

Ich will nun gar nicht darüber streiten, ob dies, ob jenes besser ist; nur constatiren wollte ich, als Resultat jener Einrichtungen, daß der Engländer nicht den vierten Theil von dem, was der deutsche Durchschnittsmensch außer dem Hause verzehrt, in dieser Weise verausgabt, und daß er in Folge dessen im Hause öfter ein Beefsteak essen kann, wo wir uns oft mit den aus verschiedenen Mahlzeitresten kochkunstreich zusammengesetzten „Fricandellen“ (Fleischklößchen, Fleischschnitte etc.) begnügen müssen.

Doch Pardon! Ich habe mir da wirklich eine ganz unverantwortliche Abschweifung von meinem eigentlichen Gegenstande, der Kochschule in Exhibition Road, South Kensington, London, erlaubt. Das kommt aber davon, daß der Weg von Gloucester Place, wo ich wohnte, bis zu Exhibtion Road so weit war: sechs oder sieben Stationen unterirdische Eisenbahn, dann noch zwanzig Minuten zu gehen. Endlich stehen wir vor dem Thorweg, über dem mit großen Lettern geschrieben steht:

National Training School
for Cookery.

Das ist nämlich der eigentliche, vollständige Titel der Kochschule. Das „national“ deutet an, daß es kein Privatunternehmen ist; das „training“, daß nicht nur Laien dort unterrichtet, sondern wirkliche Kochkünstlerinnen „methodisch“ dort ausgebildet werden.

Wir sehen, Mr. John Bull, trotz seiner Vorliebe für sein englisches „Roastbeef“ und sein „plain leg of mutton“, stimmt doch mit dem Herrn Geheimrath darin überein, daß die bisherige englische Küche etwas zu einförmig war. Auf seinen vielen continentalen Reisen hat er manche Schüssel kennen gelernt, die ihm sehr gut gefiel: Mrs. John Bull ist ganz seiner Ansicht, aber sie hat keine Idee, wie dergleichen zu bereiten ist, und in dem Repertoire der Köchin steht es nicht. Da nun Mr. John Bull die praktische Idee hat, daß jedes Ding gelernt werden muß, so hat er die Kochschule gegründet.

Natürlich gleich in großartigem Maßstab, wie Alles in England, und mit Sang und Klang, das heißt mit hochragenden Namen an der Spitze. Der Präsident des Unternehmens ist kein geringerer als His Grace, der Herzog von Westminster; unter den übrigen Patronatspersonen befinden sich die Prinzessin Louise und ihr Gemahl, der Marquis von Lorme, die Prinzessin Christian von Schleswig-Holstein, die Princeß Mary, Mr. und Mrs. Gladstone, ein halbes Dutzend Earls und Countesses, und eine ganze Reihe anderer berühmter Namen. Ja, auch das ausführende Committee hat einen Herzog und einen Marquis aufzuweisen, verschiedener Majors und Captains gar nicht zu gedenken; erst ganz am Ende der langen, stattlichen Liste finden sich einige weniger erhabene weibliche Namen: eine Oberinspectorin, eine Secretärin, zwei examinirende Damen und fünf Lehrerinnen.

Jedenfalls ein reiches Personal für das Unternehmen. Mit einem jenen großen Namen angemessenen Respect betrat ich also das Sprechzimmer und bat die dort weilende Secretärin, mir die Anstalt zu zeigen.

Sie führte mich zuerst in die „Demonstration-Class“, den Vortrags-Saal.

Hier fand ich etwa fünfzehn bis zwanzig junge Mädchen auf amphitheatralisch aufsteigenden Bänken sitzen, jede mit einem Heft und einer Bleifeder in der Hand. Vor ihnen stand ein Tisch, auf den die Lehrerin eben eine Casserole mit einer dampfenden Sauce hingesetzt hatte – augenscheinlich von dem kleinen Herd abgenommen, der sich hinter ihr, zum Zweck der Experimente, befand. Die Lehrerin erklärte nun den Zuhörerinnen, aus welchen Ingredienzien die Sauce bestehe, wie sie zu bereiten sei, was man thun müsse, wenn sie zu dick oder zu dünn ausfalle, kurz Alles, was sich von der Sauce überhaupt sagen ließ. Die Schülerinnen schreiben sich das Alles in ihre Hefte ein, welche nach der Stunde von der Lehrerin durchgesehen und korrigirt werden.

Dann besuchten wir die Küche, einen sehr großen Raum, von einer Bretterwand durchschnitten, in deren Mitte der enorme Herd sich befindet. In der einen Abtheilung wird die einfache Küche, in der andern die feine gelehrt. Durch den gemeinsamen Herd spart man natürlich an Feuerung.

Der Unterricht währt von zehn Uhr Morgens bis vier Uhr Nachmittags. Ich kam erst gegen drei Uhr; so war die Hauptarbeit des Tages schon vollbracht. Ich sah nur noch einige Bleche voll Gingerbread (Lebkuchen) zubereiten und überzeugte mich, daß dieselben recht gut schmeckten.

In jeder der beiden Abtheilungen fungirte eine sehr respectabel aussehende Frau als Koch-Lehrerin von sechs oder sieben Schülerinnen; mehr als zehn werden zu einer praktischen Lection nicht zugelassen.

Die letzteren waren meist Mädchen aus den mittleren und unteren Ständen, doch befanden sich auch einige Ladies darunter, mit eleganten Atlashäubchen und reich besetzten Latzschürzchen – ungefähr in dem Costüm, wie eine junge Dame auf der Bühne die Küche besorgen würde. Immerhin ist es viel, daß die sonst so sehr exclusive englische Lady sich herabläßt, eine Arbeit gemeinsam mit Mädchen zu treiben, die vielleicht später in Dienst bei ihr eintreten mögen.

Der Cursus dauert zwanzig Wochen und kostet zwanzig Guineen (420 Mark). Welche deutsche Mutter würde bei solchem Honorar ihre Tochter wohl in die Hochschule schicken? …Dafür sollen die Schülerinnen aber auch Alles gründlich lernen: von der Behandlung des Feuers, der Einrichtung der Herde, dem Reinigen des Geschirres an bis zu der Bereitung der complicirtesten Schüsseln, der Entrées, Entremets, der Gelées und Crémes. Die Krankenküche ist dabei natürlich nicht vergessen: auch bekommen die Schülerinnen, wenn sie es wünschen, Anleitung und Gelegenheit, um selbst wieder zu unterrichten – vielleicht der praktischste Theil des Unterrichts, besondere für die jungen Damen, wenn er sie befähigt, ihre Köchinnen später anzuleiten. Jedenfalls bringen sie eine reiche Sammlung von hoffentlich guten und praktischen Recepten mit nach Haus, wodurch der Speisezettel der englischen Küche erweitert und die vorhin beklagte Einförmigkeit gehoben wird.

In einem an die Küche stoßenden Zimmer waren die an dem Tage bereiteten Speisen aufgestellt: Fleischgerichte aller Art, Puddings, Pies, Mayonnaisen, Gelées. Alles sah außerordentlich hübsch und appetitlich aus; die Ausschmückung wahrhaft künstlerisch. Wenn die Speisen den Gaumen ebenso befriedigten, wie das Auge, ließen sie nichts zu wünschen übrig.

Was aber fängt man mit all diesen Herrlichkeiten an? Ich fragte meine Führerin, ob nicht eine Art Restaurant, oder ein Mittagstisch für Damen mit der Anstalt verbunden sei? Ich vergaß, daß derartige Einrichtungen in England nicht gebräuchlich sind. Meine Führerin erkärte mir das auch, indem sie hinzufügte, die Speisen ständen allerdings von Nachmittag drei Uhr an dem Publicum zum Vertauf, fänden sie aber keine Liebhaber, so sei das kein Unglück, da die Kosten des Materials durch das Honorar der Schülerinnen gedeckt würden. Ein Theil der Speisen diente außerdem zum Lunch oder Mittagsbrod für diejenigen Schülerinnen, welche zu fern wohnten, um dies Mahl zu Hause einzunehmen; sie haben einen Schilling (eine Mark) dafür zu zahlen. Auch stehe es einer Jeden frei, sich eine der Schüsseln für einen nominellen Preis zu kaufen.

„Deutsche Sparsamkeit ist das trotzdem nicht,“ dachte ich, indem ich Miene machte, mich zu verabschieden. Ob die Frau Secretärin meinen Gedanken auf meiner Stirn las? Sie bemerke freundlich, daß ich für das als Probe verzehrte Gingerbread einen Penny (zehn Pfennig) und für den Prospect zwei Pence zu zahlen habe! [444]

Memento mori!

(Mit Illustration Seite 445.)

Mittsommertag – vor seiner Schwüle
Suchst, holde Maid, du Zuflucht hier;
Des alten Friedhofs schatt’ge Kühle
Weht um die heißen Schläfen dir.

Verloren ganz in süßes Träumen
Gingst achtlos du den Pfad dahin;
Geheimes Flüstern in den Bäumen
Nahm dir gefangen Herz und Sinn.

Da plötzlich aus der Blätterwildniß
Ragt auf vor dir ein Leichenstein,
Und einer Jungfrau ernstes Bildniß
Grüßt mahnend dich im Dämmerschein.

Es überrieselt dich ein Schauer:
Dir ist’s, als öffne sich ihr Mund
Und thäte dir in herber Trauer
Das Räthsel ihres Daseins kund.

Wo heut du gehst, ist sie geschritten
Im Prunke längst verscholl’ner Tracht;
Sie hat wie du geliebt, gelitten,
Sie hat wie du geweint, gelacht.

Dereinst vor hunderten von Jahren
War sie so jung und schön wie du –
Sie sank mit ungezählten Schaaren
Wie herbstlich Laub zur Todesruh.

Nur eine winzig kurze Spanne,
Da wirst auch du wie diese sein,
Verfallen dem urew’gen Banne –
Noch aber glänzt dein Sonnenschein.

So flieh die bange Todtenklage!
Dir ist die Welt noch reich geschmückt –
Nutz’ deines Sommers flücht’ge Tage:
Beglücke – und du bist beglückt!

 Ernst Scherenberg.




Das heilig’ Dirnd’l.

Von Hermine Villinger (H. Willfried).

Vom Dorf her kam die Boten-Burgl mit dem Moidl (Marie), und sie tummelten sich nicht wenig, denn sie mußten noch vor Einbruch der Nacht über den See, und hinten, aus der Wetterseite stieg ein Gewitter auf.

„Jesses, dös donnert schon!“ rief die Frau und bekreuzte sich.

„Mein,“ grollte das Moidl und warf einen vorwurfsvollen Blick zum behängten Himmel hinauf, „wenn ma amal im Jahr mit herüber darf, gleich donnern’s droben! Ich wäre so gern noch bei der Lis’l blieb’n – die Bilder, Jesus Maria, und gar noch die farbig’n Heilig’n und die Goldschal’n, Mutter! Ich bitt’ schön, nimm mich wieder mit!“

„Dös is nix für Dich, Moidl,“ entgegnete die Frau, „Du bleibst d’heim und hüt’st ’s Vieh, ’s taugt nix, wenn die Dirnd’l in Dein’ Jahren was Anderscht’s im Kopf hab’n, als ’s Vieh.“

„Je, was kann’s halt schad’n, wenn ich an der Lis’l ehnere schöne Sach’n denk! Das möcht ich wiss’n!“

„’s bleibt nit dabei, freili, wenn’s dabei blieb! Wo aber a Dorf is, da seind a Bub’n und mit ’m Anschau’n kommt alle Sünd’ in d’ Welt – mei Gott, Moidl, wann ich’s erleb’n thät, daß D’ mer d’ Buben anschaust und –“

„Ich hab’ g’wiß kein nit ang’schaut,“ betheuerte das Moidl.

Und die Alte fuhr fort:

„Denk’ an mich – denk’ immer an mich – Dein Vater hat mich auch ang’schaut und ich ihn – wie ich aber im Elend war, hat er mich sitz’n lass’n – kein Andrer aber hat mich mehr g’nommen. O Jesses, wann ich dös biss’l Frömmigkeit nit hätt’ – ich hätt’ mich halt nimmer ausg’wußt vor Herzeleid …“

Sie waren mittlerweile unten am See angekommen, dessen Wellen ziemlich bewegt gegen das Ufer schlugen. Burgl winkte einem Schiffer zu, der von drüben kam:

„Grüß Gott, Josef, geht’s noch?“

Der Bursche schaute nach dem Moidl, das mit gesenkten Augen hinter der Mutter stand, und sagte dann nach kurzem Besinnen:

„Jo – jo.“

Er legte den Nachen an, und die Frauen stiegen ein. Als sie sich mitten auf dem See befanden, brach das Gewitter los. Die Burgl betete aus Leibeskräften ein Vaterunser um’s andere, nichts desto weniger sank sie bei jedem heftigen Donnerschlage mit der Nase beinahe bis auf ihre Kniee herab, bei welcher Gelegenheit der Josef dann immer das Moidl zu sehen bekam, das hinter der Mutter saß und sich nicht rührte.

Als sie endlich ganz durchnäßt drüben anlangten, war es so stockfinster geworden, daß man den Weg vor sich nicht sehen konnte. Der führte dicht am See hin und dann steil empor, immer am Wasser entlang.

„Erbarmnuß Gottes,“ jammerte die Burgl, „da kenn’ ich mich ja selbst nit aus – heiliger Josef, steh uns bei!“

„No,“ meinte der Bursche, „ich glaub’, da kann ich schon besser aushelfen, halt Dich nur fest an mir, Burgl, und das Moidl soll sich auch halt’n –“

„Das Moidl halt sich an mir,“ fiel ihm aber die Alte in’s Wort.

Und so gingen sie zusammen den stockdunklen Weg entlang, dicht neben dem rauschenden See hin. Und so oft der Blitz diesen beleuchtete, flog die Burgl mit einem Angstschrei rechts gegen die Felswand, den Josef und das Moidl mit sich ziehend, sodaß sie allemal eine ganze Weile brauchten, bis sie wieder auf den Beinen standen. Da fluchte dann der Josef recht nach Herzenslust, indeß die Alte alle Heiligen des Himmels um ihren Beistand anrief.

Als sie von dem freien Weg in den Wald einbogen, in dem es so unheimlich krachte und dröhnte, da wurde der Burgl noch banger zu Muthe, und sie wollte durchaus in der heiligen Josef-Capelle, die da am Waldesrande stand, liegen bleiben, um im Schutze des Heiligen zu sein. Aber der Josef riß sie mit sich fort:

„Wenn’s eini schlag’n will, so schlagt’s halt eini, da kann kein Heiliger nix dagegen!“

„O Du gottvergessener Bub,“ klagte die Frau und humpelte an seiner Seite weiter, „Du red’st uns g’wiß in’s Unglück!“

„Sei doch a biss’l gescheidt, Burgl,“ meinte der Josef, tüchtig ausschreitend, „wenn D’ naß bist bis auf d’ Haut, so hilft all’s Bet’n nix, aber a trock’nes G’wand’l.“

Dagegen ließ sich nun eigentlich nichts einwenden, wenigstens sprach die Burgl nicht weiter, und so kamen sie ohne ferneren Aufenthalt droben in der kleinen Hütte an.

Die Burgl suchte in der Tasche.

„No, Josef,“ sagte sie, „Du verdienst schon was Bess’res, als ich Dir halt geb’n kann –“

„Ich nehm’ nix nit, Burgl,“ unterbrach er sie, „’s freut mich, wenn ich auch amal hab’ können Ein’ a Lieb’s thun, bin so a biss’l viel ’rumg’stoß’n word’n in der Welt, da woaß mer, wie’s thut.“

„Dann vergelt’s Gott, Josef!“

„Gut’ Nacht,“ sagte er.

„Gut’ Nacht,“ sagte auch das Moidl.

„Sakra –“ fluchte der Bursche und wandte sich noch einmal nach der Hütte um, „jetzt woaß ich, bei Gott, nit amal, was dös Moidl für Augen hat!“

Drinnen in der Hütte aber sagte das Moidl zur Mutter:

„Mei Gott, is dös a treuherziger Bub, a guter –“

„Moidl,“ rief die Burgl, „was hab’ ich D’ g’sagt – woher kommt all’s Elend der Welt?“

„Ich woaß schon, Mutter,“ erwiderte das Moidl mit großer Zuversicht, „ang’schaut hab’ ich ihn jo auch nit, aber hör’n hab’ ich ihn doch müss’n, d’ Ohren kann Keiner nit zumach’n.“ –

Am andern Morgen saß das Moidl droben auf der Alm und hütete das Vieh, aber es hatte noch ganz andere Dinge im

[445]

Memento mori!
Originalzeichnung von Wilhelm Ritter.

[446] Kopfe als selbiges. Es saß im Gras an die Braune gelehnt, die behaglich wiederkäuete, und sah gar fröhlich hinauf zum Himmel, mit dem’s eben in einer Unterhaltung begriffen war. Denn, daß das Moidl mit seinem Herrgott und allen lieben Heiligen im besten Einvernehmen stand, war so natürlich – mit wem hätte es sich denn sonst unterhalten sollen? Freilich konnt’s auch vorkommen, daß es die Bewohner des Himmels recht derb ausschalt, wenn sie zum Beispiel nicht besser aufpaßten und sich eine Kuh verlaufen hatte, oder wenn ihm, dem Moidl, sonst ein Malheur zugestoßen war, das die droben recht gut hätten verhüten können. Am besten aber stand’s mit dem heiligen Josef, der nicht weit von der Alm sein Capellchen hatte und dessen hellfarbiges Gewand weit durch die Hecken und Baumäste leuchtete. Für den band’s auch heut einen prachtvollen Strauß von Alpenrosen; es war hoch droben gewesen, sie zu holen. Von Zeit zu Zeit wollte die Braune nach den schönen Blumen haschen, die in Moidl’s Schooß ausgebreitet lagen, aber dann bekam sie jedesmal Eins auf die Nase.

„Ja, freili. für Dich sein die Ros’n, dumm’s Viech !“

Als der Strauß fertig war, lief das Moidl damit hinab zur Capelle.

„Schau,“ sagte sie und hielt dem heiligen Josef die Blumen unter die Nase, „so a schönen hast lang nit g’habt; ich will aber auch was Richtiges dafür.“

Und sie legte die Blumen zu den Füßen des Heiligen nieder, kniete auf die Erde, faltete die Hände und hub an:

„Du woaßt, morgen is Sonntag – da geh’ ich zur Kirch’n – schau. mach’ daß der Josef zu mer kommt – ich thu’ ihn nit anschau’n, g’wiß nit, aber ’s ist gar so a treuherziger Bub, so a guter, und ich hör’n für’s Leben gern red’n. Acht Tag’ kriegst so a Strauß, wennst mich erhörst – hast mer ja sonst all’mal den Will’n than, wenn’s Vieh oder d’ Mutter krank war, no mei, thu’ mer den G’fall’nl“

Sie erhob sich und sah den Heiligen mit ein Paar so schelmischen Augen an, daß es gut war, daß er von Holz war, denn sonst wär er sicherlich um den Verstand gekommen.

Dann eilte sie, ein paar Jodler über den See sendend, zurück zu ihrem Vieh.

Und der Sonntag kam, und das Moidl konnte nicht fertig werden mit seinen Zöpfen; endlich aber ging’s doch neben der Mutter einher, hinab in’s Dorf. Bei der Capelle des heiligen Josef blieb’s einen Augenblick stehen und sagte, indem es ihm einen verständnißinnigen Blick von der Seite zuwarf:

„Vergiß nit drauf, ich bitt’ schön!“

Vor der Kirche stand der Josef mit den andern Burschen.

„Jesses nein,“ dachte er, als das Moidl fein ehrbar neben der Mutter die Gasse einher schritt, „dös Dirnd’l is zum Anbeiß’n, und wann’s mich nur a klein Biss’l anschaut, so bandl’ ich mit ’m an und wann mer d’ Burgl d’ Aug’n auskratzt.“

Aber das Moidl schaute nicht auf, obwohl ihm das Herz zum Zerspringen klopfte. Sündigen wollte es nicht und vom Aufschauen kam die Sünde, und dann war’s voller Vertrauen, der heilige Josef wußte, was er zu thun hatte.

Als nun die Kirche aus war und das Moidl neben der Mutter in’s Freie trat und halt immer noch die Augen auf das Fürtuch geschlagen hatte, da stieg dem Josef der Kamm und er sagte zu sich selbst:

„Wannst nit magst, so mag ich auch nit, dumm’s Dirndl, dumm’s.“

Und er steckte die Hände in die Hosentaschen und schritt pfeifend davon.

Die andern Burschen aber hatten das Moidl auch gesehen und der Weber-Hannes rückte plötzlich seine Mütze zurecht, indem er vor sich hin brummte:

„No mei, dö Dirn’ wird alleweil saubrer!“

Und er trat zu der Botin und sagte, nach dem Moidl schielend:

„Grüß’ Gatt, Burgl, ich hab’ Dich lang nit g’seh’n.“

„Du Nazzi, Du,“ gab sie ihm zur Antwort, „wo hast Du denn d’ Augen – der Weg führt mich doch alle Tag’ durch’s Ort!“

Das Moidl war beim Nahen des Burschen leise zusammengefahren, nachdem er jedoch den Mund aufgethan hatte, kamen ihm schier gar die Thränen.

„’s ist nit der Recht’,“ seufzte es, „und ich hab’ doch so ’bet’ – so ’bei’ – und dö schönst’n Blumen hab’ ich ihm g’holt!“

Es hörte gar nicht, wie die Mutter den Weber-Hannes abfertigte, so vertieft war’s in seinen Groll.

Als sie auf dem Rückwege bei der Capelle des heiligen Josef ankamen, hielt die Mutter das Moidl, das sehr eilte, am Arme fest und meinte:

„Laß uns eins bet’n.“

„Ich nit,“ erwiderte die Dirne und warf einen verächtlichen Blick auf den Heiligen.

„Ja,“ rief die Mutter, „dös möcht’ ich doch wiss’n, Du magst nit bet’n, Moidl?“

Dieses wandte sich zum Gehen.

„Dös verstehst nit, Mutter, wir hab’n was z’samm’n.“

Die Mutter schüttelte den Kopf, betete zwei Vaterunser statt einem und sagte zum Schluß, indem sie nach dem davoneilenden Moidl deutete:

„Schalt, nimm’s nit so genau, ’s is halt noch so jung.“

Aber so jung das Moidl auch war, so kräftig und so nachhaltig konnt’s zürnen. Es saß den ganzen Nachmittag vor der Hütte, die Lippen fest zusammengepreßt, und ignorirte den Himmel vollständig, indem es ununterbrochen vor sich hinstarrte.

„A Schand is ’s“ – stieß es von Zeit zu Zeit aus – „nit amal a paar Wört’ln – und dö schönen Blumen, die ich auf der höchsten Spitz’n g’holt hab’ – da kann mer halt bald sag’n: zu ein’m Ohr ’nein und zum andern ’naus, aber wart’ nur – wart’ nur.“

Mit dem Abend zog wieder ein Wetter über den See; es regnete und stürmte. Das Moidl saß noch immer vor der Hütte. Plötzlich schien ihm eine Idee gekommen zu sein, denn es sprang auf und flog wie von Sinnen den Weg hinab zur Capelle. Den Rock hatte es über dem Haupte zusammen geschlagen, das rosige, zornige Gesichtchen sah daraus hervor und weissagte nichts Gutes.

Und nun trat es in die Capelle, warf den Rock zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und hob ohne langes Besinnen die ziemlich große Statue des heiligen Josef’s vom Altar. Vorsichtig trug’s dieselbe hinaus und stellte sie in den Regen.

„So, nun kannst halt auch amal fühl’n, wie’s thut.“

Und damit ließ das Moidl den Heiligen stehen.

Die Nacht brach ein; das Moidl wälzte sich auf seinem Lager und konnte nicht einschlafen. So oft es blitzte, fuhr es mit dem Kopf unter die Decke; es hatte die unklare Empfindung, als ab die im Himmel nicht sonderlich erbaut seien von seinem Thun und Treiben. Aber Strafe mußte sein.

„Auf der höchst’n Spitz’n hab’ ich dö Blumen g’holt,“ beruhigte es immer wieder sein Gewissen.

Mitternacht war darüber, das Moidle war endlich doch eingeschlafen – nun fuhr es aber plötzlich in die Höhe, ein greller Blitz erhellte die Stube, ein furchtbarer Donnerschlag folgte.

„Jesus Maria!“ schrie das Moidl auf, „der heilige Josef!“

Und es fuhr in seinen Rock und lief hinaus, barfuß, das lange blonde Haar aufgelöst, während die Mutter, die sich eines festen Schlafes erfreute, mit dem Grollen des Donners um die Wette schnarchte.

Das Moidl eilte, als ob es Flügel hätte, durch die finstere Nacht hinab zur Capelle des heiligen Josef. Gerade als die Dirne athemlos vor derselben ankam, erhellte der Blitz auf einen Augenblick die Finsterniß. Der Heilige lag auf der Erde. Zitternd richtete ihn das Moidl auf. Da kam wieder ein Blitz, und es zeigte sich, daß die Statue den Kopf verloren hatte. Nun kannte des Moidls Verzweiflung keine Grenzen. Sie warf sich auf die Kniee und umschlang das durch die Nässe klebrig gewordene Gewand des Heiligen.

„O Du lieber, heiliger Josef“ – stammelte sie – „dös hab’ ich nit g’wollt – dös ganz g’wiß nit – ich will ja gern zu d’ heilig’n Schwestern geh’n – nur dös nit – mei Gott – mei Gott!“

Aber so oft sie auch in ihrer Verzweiflung aufblickte, es geschah kein Wunder, der Kopf blieb auf der Erde liegen. Sie hob ihn endlich auf, drückte ihn gegen ihr thränennasses Antlitz und küßte ihn unzählige Male vor Reu’ und Herzeleid. Dann versuchte sie das Haupt auf dem Rumpfe zu befestigen, indem sie [447] unaufhörlich betete und dem Heiligen das Blaue vom Himmel versprach, wenn er nur wieder halten wolle.

Unter dieser Beschäftigung war allmählich der Morgen herein gebrochen. Mit unsäglicher Geduld hatte es das Moidl glücklich so weit gebracht, daß der Heilige sammt seinem Kopfe wieder auf seinem alten Platze drinnen in der Capelle stand. Nach einem inbrünstigen, unendlich reumüthigen Gebete erhob sich das Moidl und trat den Heimweg an. Die Sonne stieg gerade aus dem Osten, als das Moidl aus der Lichtung der Bäume heraustrat, von wo der Weg abwärts zum Dorfe und ebenso hinaus zum Berge führte. Da stand’s nun, verweint, vom Sonnengolde umflossen, in der Hand den Lilienstengel des heiligen Josef, den das arme Kind in der Verwirrung und Verzweiflung vergessen hatte, dem Heiligen zurückzustellen. Den Weg vom Dorfe her aber kamen die Holzmacher und mit ihnen der Josef, der sie übergefahren hatte und sie ein Stück Weges heraufbegleitete, blos um vielleicht dem dummen Dirndl, dem Moidl zu begegnen, auf das er einen solchen Zorn hatte, daß er die ganze Nacht über kein Aug’ hatte zubringen können. Und die Männer bogen um die Ecke, gerade als das Moidl mit seinem Lilienstengel aus dem Gebüsche trat. Und sieh! der kleinste Bub, der vorauslief, riß blitzschnell die Mütze vom Kopfe und schrie, ganz von Ehrfurcht und heiliger Scheu durchdrungen:

„Jesus Maria, a heilig’s Dirnd’l!“

Das Moidl aber ließ seinen Lilienstengel in namenlosem Schrecke zur Erde fallen und floh, beide Hände vor das Antlitz schlagend, den Weg hinauf zur Hütte. Die Männer kamen näher, lachend dem fliehenden Mädchen nachschauend.

„Mein Seel,“ brummte Einer von ihnen und bückte sich zur Erde, „is dös nit dem heilig’n Josef sein Lilienstengerl?“

Sie trugen ihn in die Capelle; diese erzitterte natürlich unter den Tritten der Männer, und so geschah es, daß der Heilige von Neuem den Kopf verlor, der über den Fußboden hinkullerte, den Eintretenden entgegen.

„Herr, mei Gott – Jesus Maria – da schaut’s schön aus!“ schrieen sie unter einander und hoben den Kopf von der Erde auf, der schier nicht mehr zu erkennen war. „Jo, is denn dös Moidl rein verrückt – dös is jo a schieche G’schicht’, a schieche!“

Nur der Josef sprach nicht, sondern lehnte unter der Thür und schaute kopfschüttelnd seinen Namenspatron an.

„A saubers heilig’s Dirndl,“ dachte er, „thut, als könnt’s nit fünfe zähl’, und schlagt d’ Heilig’n z’samm’n!“

Die Männer waren allgemach zu einem Entschluß gekommen. Einer von ihnen nahm den Kopf an sich und winkte dann dem Josef.

„Ich will halt mit’m Herr Pfarrer red’n,“ meinte er, „der wird sich schon auswiss’n.“

Die Andern gingen zur Arbeit. Als Josef mit dem Manne unten am See ankam, saß das Moidl schon im Nachen; es war sonntäglich angezogen, kerzengerade, beinahe feierlich saß es da. Der Josef verfärbte sich ein wenig und nahm dann dem Mädchen gegenüber Platz. Nachdem er es eine Weile unablässig, halb mitleidig, halb zornig angeschaut hatte, sagte er endlich:

„No, Moidl, wo willst dann hin?“

„Zum Herr Pfarrer,“ gab’s ohne aufzublicken zur Antwort.

„Sag’, kann ich Dir dann nit helf’n?“ fragte der Bursche wieder.

„Mir kann kein Mensch nit helf’n,“ erwiderte das Moidl.

„Jo, was hast dann aber nur denkt, Moidl?“ schrie nun der Josef.

„Dös sag’ ich halt an Herr Pfarrer,“ lautete die Antwort. Darauf waren Beide still. Der Josef schaute grollend in die glitzernden Wogen; das Moidl vor sich nieder. Nach einer Stunde landeten sie drüben. Das Moidl ging rascher, als der alte Mann, der den Kopf des heiligen Josef behutsam im Taschentuche trug, und so trat’s denn auch eine gute Weile vor ihm im Pfarrhause ein. Hochwürden memorirten eben eine Predigt, aber sie nahmen’s nicht so genau damit und blickten demgemäß auch nicht eben unfreundlich auf, als die schmucke Dirne unter der Thür erschien.

„No, Moidl, was giebt’s Neu’s?“ fragte der alte Herr, der nicht zu den finstern, sondern zu den fröhlichen Dienern Gottes gehörte. „Na, na, grüß’ Gott,“ rief er, da das Moidl schüchtern unter der Thür stehen blieb, „nur näher, näher!“

„Mei Gott, dös darf ich nit,“ stammelte das Mädchen. „Oes wißt’s halt nit, Hochwürd’n –“ Und sie warf einen so demüthigen, zerknirschten Blick auf den Geistlichen, daß der Josef, der hinter den Reben, welche das Fenster umgarnten, auf einer Leiter hockte, schier gar das Gleichgewicht verlor vor Freuden.

„Dös san a paar Aug’n!“ murmelte er, und in Gedanken setzte er hinzu: „Und wenn’s alle Heilig’n vom Himmel z’samm’ng’schlag’n hätt’, dös Moidl laß ich nimmer aus.“

Drinnen in der Stube ging nun die Beichte an.

„Wie ich darzu komm’n bin, Hochwürd’n, so am heilig’n Josef z’ handeln,“ schluchzte das Moidl, „dös soll’s erfahr’n – so bös hab’ ich’s freili nit g’meint, wie’s ausg’falle is – g’wiß nit – aber recht hab’ ich nit g’than und dös woaß ich. Ich hätt’ halt gern g’habt, daß – daß der Josef – der Schiffer-Josef – mit mer g’sproch’n hätt’, nach der Kirch’n, und da hab’ ich zum heilig’n Josef bet’, und Blumen hab’ ich ihm ’bracht, von der höchsten Spitz’n, und er hat doch sonst immer auf mich g’hört, wenn ich für’s Vieh oder für d’ Mutter bet’ hab’ – halt ja, Hochwürd’n, wie d’ Kirch’n aus war, is der Josef nit komm’n, und da war ich so d’rzürnt, daß ich ihn halt genommen hab’ und außi g’stellt vor d’ Capell’n. In der Nacht aber hab’ ich kein’ Ruh’ kriegt nit und wie’s Wetter schlimmer word’n is, da bin ich aufg’stand’n – und wie ich hinkomm’ – da liegt er halt da – und hat den Kopf verlor’n. Dös is mei Sünd’, Hochwürd’n.“

Das Moidl weinte bitterlich. Hochwürden aber putzten angelegentlich die Brille, indem sie sich gegen das Fenster wandten, hinter welchem sich der Josef vor Glückseligkeit das Herz mit beiden Händen hielt.

„Jetzt drauß’n auf’m See,“ dachte er, „und a Jodler, daß d’ Berg z’samm’n fall’n!“

„Aber Moidl,“ sagte endlich der Geistliche und schaute so ernsthaft wie möglich drein, „so a fromm’s, brav’s Dirndl, als Du immer warst, und jetzt kömmst mir mit so ’ner Sach’n.“

„Straft’s mich.“ sagte das Moidl, „und da is mei Verspart’s –“ sie hielt dem Pfarrer ein paar Silberstücke hin, „’s Beten, hab’ ich schon g’merkt, bringt die Sach’ in kein’ Ordnung nit, er muß halt frisch ang’strich’n werd’n, und mit’m Kopf wird der Färber-Seppl g’wiß a B’scheid wiss’n.“

Der Pfarrer nahm das Geld.

„Und Dich soll ich halt laufen lassen,“ meinte er.

Das Moidl schüttelte den Kopf:

„Ich bin schon g’straft – ich woaß nur z’gut, wo’s Unglück herkommt – d’ Mutter hat recht, wann Oans an d’ Bub’n denkt, damit fangt’s Unheil an. Ich geh’ zu den heilig’n Schwestern, Hochwürd’n.“

In diesem Augenblick trat der alte Holzmacher in die Stube und brachte den Kopf des heiligen Josef. Er wollte die Geschichte erzählen, der Geistliche winkte ihm aber zu gehen:

„Laß nur, Peter,“ sagte er, „ich woaß schon.“

Und wie er nun den Kopf des Heiligen mit den in einander geflossenen Farben zu Gesicht bekam, da überfiel ihn mit Gewalt das Lachen, und er sagte nur noch schnell zu dem Mädchen:

„Geh’ nur – geh’ heim, Moidl, wir reden noch z’samm’n.“

Kaum sah er sich allein, warf er sich in seinen Stahl und lachte Thränen, den übel zugerichteten Kopf vor sich hin haltend. Aber er lachte nicht allein, draußen lachte noch Einer mit und so laut, so kräftig, daß Hochwürden entsetzt aufschnellten und nach dem Fenster starrten, wo das Gelächter herkam.

Da streckte der Josef das Gesicht durch die Reben und rief:

„Sein’s nit bös, Hochwürden, aber ich hab’ All’s g’hört – und nun muß ich dem Moidl nach!“

Und Hochwürden waren nicht bös, sie thaten nur einen ganz schalkig-mitleidigen Blick nach dem heiligen Josef hin und meinten:

„Hast’s g’seh’n, so spiel’n die Leut’ln uns mit.“

Der Josef hatte das Moidl eingeholt.

„Du, Moidl,“ sagte er und stieß sie mit dem Ellenbogen an, „ich hab’ All’s g’hört.“

„Jesus Maria!“ stammelte sie.

„Dumm’s Dirnd’l, dazu hast doch den hellig’n Josef nit z’ bitt’n brauch’n – komm, schau mich an.“

Aber das Moidl schüttelte energisch den Kopf:

„An einer Sünd’ is grad g’nug; laß mich aus.“

Da lachte der Josef laut auf.

[448] „Du sakrisch Dirnd’l, Du!“ rief er, „willst mich anschau’n oder nit?“

Und er nahm ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und sah sie an. Sie aber stand ganz still, mit geschlossenen Augen vor ihm da, nur der kleine Mund zuckte, als wär ihr das Weinen nahe. Da ließ er sie leise los.

„Schau,“ sagte er, „jetzt hätt’ ich Dir leicht a Busserl geb’n könn’n.“

Stillschweigend ging er eine Weile neben ihr her, dann that er plötzlich einen Jodler, daß es weithin über den See tönte und von den Bergen widerhallte.

„Woaßt, was ’s Schönst’ is auf der Welt?“ sagte er und ließ den Blick voll Zärtlichkeit auf ihrem blonden Scheitel ruhen, „a so a Dirndl, dös was auf sich halt.“

Am Ufer stiegen sie in den Nachen und er ruderte sie hinüber. Es wurde nichts weiter zwischen ihnen gesprochen. Aber den beiden jungen Menschen klopfte das Herz zum Zerspringen. Drüben band der Josef seinen Nachen fest und ging dann an des Moidls Seite hinauf zum Berge. Die Burgl kniete unter der Thür der heiligen Josef-Capelle, und die Beiden hörten sie schon von Weitem lamentiren, denn man hatte ihr das Schreckliche mitgetheilt, und sie flehte nun gewiß schon über eine Stunde den Rumpf des heiligen Josef an, er möge ihrem Moidl verzeihen, es sei halt noch gar so jung.

„Schrei nit so, Mutter,“ rief ihr der Josef entgegen, „der heilig’ Josef soll schon a frisch G’wandl hab’n und auch a Kopf, dös hoaßt, wann’s Moidl mich a bissl viel gern hab’n will, sonst nit.“

„Jesus,“ schrie die Burgl und schlug die Hände zusammen, „Moidl, Moidl, was hab’ ich D’ gesagt!“

Das Mädchen drückte die Hände gegen die hochklopfende Brust:

„Ich hab’n nit ang’schaut, Mutter,“ versicherte es, „g’wiß nit.“

„Nein, Burgl, mit kein’ Blick nit,“ betheuerte der Josef, „a Köpferl hat’s wie a Nuß – aber jetzt soll’s halt nachgeb’n, ’s wär Zeit damit.“

„Ja, moanst’s denn ehrlich, Du Bub?“ fragte die Burgl, indem ihr die Thränen über die Wangen liefen, „bist denn nit stolz? – d’ ärmst Dirn vom Ort.“

„Ob’s arm is oder nit,“ unterbrach sie der Bursche, „ich hab ’s halt gern!“

Und er wandte sich zu dem zitternden, dunkelerglühenden Mädchen und sagte, indem er die Arme weit öffnete:

„Magst?“

Und sie schlug zum ersten Mal den Blick zu ihm auf, und was sie sah, das mußte ihr nicht wenig gefallen, denn sie sank weinend und lachend zugleich und mit dem Ausrufe: „O mein Gott!“ an seine Brust.




Blätter und Blüthen.

Das Ballspiel. Wer erinnert sich nicht gern seiner Jugend, der Zeit, wo ihn noch keine Sorge drückte und wo unter heiteren Spielen mit seinen Altersgenossen das Leben ungetrübt dahin glitt? Gewiß treten einem Jeden unter uns öfters jene frohen Erinnerungen vor die Seele, und namentlich dürfte in der gegenwärtigen Zeit, in der so viel über die körperliche Pflege unserer Jugend geschrieben und immer und immer wieder, und zwar mit Recht, darauf hingewiesen wird, wie hochwichtig für die gesunde Entwickelung des zukünftigen Geschlechts die Pflege von Turnspielen ist, so Mancher an die schönen Spiele im Freien zurückdenken, welche nicht wenig zur Belebung und Kräftigung seiner Gesundheit beigetragen haben, aber leider von der heranwachsenden Jugend der Gegenwart nicht mehr gekannt oder doch nicht gespielt werden, vielleicht aus dem Grunde, weil ihnen eine derartige Beschäftigung zu einfältig erscheint.

Unter allen Spielen, deren ich mich lebhaft erinnere, war keines so beliebt, als das Ballspiel in seinen verschiedenen Nuancirungen, wie Schlag-, Fuß-, Wurf-Ball u. dergl.

Aber nicht allein das interessanteste, es ist auch das älteste und das am weitesten verbreitete Spiel. – Das Wort Ball wird jetzt oft gebraucht, ohne daß man dabei an’s Ballspiel denkt. Unser Ball als Tanzvergnügen, unser Ballet erinnern fast alle Tage daran; beide Vergnügungen verdanken aber auch dem Spielball ihren Namen, denn die Einladung dazu geschah früher, anstatt wie jetzt mit Karten, durch Herumsenden eines Balles, und zwar weil wiederum das Spiel mit diesem einen Theil des Tanzes selbst ausmachte, letzterm entweder vorausging oder mit ihm verbunden war und abwechselte, wobei das Fangen des in die Höhe geworfenen Balles unter zierlichen, kunstreichen Bewegungen geschehen mußte.

Schon Homer hat eine der reizendsten Schilderungen in seiner „Odyssee“, wo sich die Tochter des Phäakenkönigs, die liebliche Nausikaa, mit ihren Gespielinnen, während die Gewänder trocknen sollen, die sie gewaschen hatten, mit dem Ballspiel belustigt.

Besonders in Italien blieb es häufig eine Unterhaltung der jungen Welt und ergötzt jetzt noch öfters manche große Stadt, indem die junge Welt den Ball schlägt, während die ältere dem fröhlichen Treiben zuschaut. Das Schlagen geschieht mit einer Art Raquet (Maglia), mit welchem der Ball aufgefangen und einem Andern zugetrieben wird, der nun, will er nicht ausgelacht sein, dasselbe in Bezug auf einen dritten thun muß. Aus Italien kam das Spiel nach einem großen Theile Europas, namentlich nach Frankreich und Deutschland und machte im siebenzehnten Jahrhundert einen Hauptgegenstand der Unterhaltung bei Hof- und anderen Festen aus. Es wurden große Häuser zu dem Zwecke angelegt, um das Spiel bei ungünstiger Witterung in dem darin befindlichen Saale, und bei schönem Wetter in dem geräumigen Hofe treiben zu können.

Ein solches z. B. entstand in Leipzig auf der Reichsstraße schon im Jahre 1624, also während des Dreißigjährigen Krieges, wozu noch 1692 ein anderes auf der Petersstraße erbaut ward. Außerdem schlugen die hohen Herrschaften den Ball auf dem Markte, oder es wurde auch eine Allee dazu bestimmt, und wenn nun zu beiden Seiten derselben im Laufe der Zeit eine Reihe Häuser entstand, so hatte sich auf ganz einfache Weise eine Straße gebildet, die ihren ursprünglichen Namen noch heute hier und da beibehalten hat. So giebt es in Altona eine der schönsten, geradesten Straßen, welche die Palmaille heißt, nicht minder in Utrecht, und ebenso hat London eine der schönsten wie der längsten, die nach dem Haymarket hinführt und Pallmallstraße genannt ist. Beide Bezeichnungen sind nichts als das ganz verdorbene italienische Ballo und Maglia, das heißt der Ball und der Schlägel, das Raquet, womit derselbe geschlagen werden soll. Statt unserer jetzigen Balletmeister gab es damals Ballmeister; denn es forderte besondere Kunst und setzte manche Regel voraus, den Ball aufzufangen oder fortzutreiben und nach einem bestimmten Punkte zu bringen.

Das Ballspiel kam aus Paris nach England, und namentlich nach London vor oder spätestens zu der Zeit Karl’s des Ersten, denn schon Jakob der Erste empfahl es als ein fürstliches Vergnügen, und noch früher, 1598, sagt ein englischer Schriftsteller, Robert Dallington, in einer Anleitung zum Reisen:

„Unter allen Exercitien in Frankreich ziehe ich keines der Paille-Maille vor, weil es guten Anlaß und Gelegenheit zur Unterhaltung gewährt, nicht anstrengend ist und einem Herrn wohlansteht.“

Um diese Zeit muß das Spiel in London noch unbekannt gewesen sein, denn er fährt gleich nachher fort:

„Ich wundere mich, daß man unter den vielen läppischen und affenmäßigen Spielen, die man aus Frankreich herübergebracht hat, nicht auch dieses in England einführte.“

In England scheint die Sitte nicht lange vorgehalten zu haben; denn eine Schrift aus dem Jahre 1670 nennt Paille-Maille ein Spiel, das früher in der langen Allee bei St. James üblich gewesen sei. Dagegen weiß man auch, daß Karl der Zweite es noch leidenschaftlich liebte, und ein Gedicht aus seiner Zeit weiß dies nicht genug zu rühmen.

Schon damals standen in der Pallmallstraße in London stattliche Gebäude hinter den Apfelbäumen, womit man die Bahn anfangs bepflanzt hatte, sowie hinter den 140 Ulmen, welche später in einer sehr anmuthigen und regelmäßigen Ordnung gepflanzt worden waren. Viele Männer, deren Namen noch heute berühmt sind, wohnten schon zu jener Zeit in der Pallmallstraße, z. B. der berühmte Arzt Sydenham. Auch der berühmte Feldherr Marlborough hatte später seinen Palast hier, und so hat sich der Name dieser Straße bis auf den heutigen Tag erhalten, ohne daß gerade viele Leute in London wohl den Ursprung desselben wissen, wie dies auch in vielen anderen Städten der Fall ist. Otto Lehmann. 




Kleiner Briefkasten.

Frl. A. W. in Bamberg. Von protestantischen Orden, wie Sie dieselben im Sinne zu haben scheinen, ist uns im deutschen Reiche nichts bekannt. Es giebt nur solche Stifte und Verbindungen, welche sich und ihre Insassen der Krankenpflege widmen. Indessen können sich in die Anstalt „Frauenschutz“ in Dresden ledige, protestantische Jungfrauen einkaufen und sich darin einer ihren Fähigkeiten entsprechenden Thätigkeit widmen, sei es nun im Stundengeben an der betreffenden Anstalt oder im Uebernehmen anderer Pflichten des Haushaltes. Wenden Sie sich um Näheres nur: „An den Vorstand des ‚Frauenschutz‘“ in Dresden-Neustadt.

Ad. in A. Eine „Anstalt zur Ausbildung weltlicher Krankenpflegerinnen in Magdeburg, Thränsberg 37b“ besteht unter der Direction des Herrn Medicinalrath Dr. Sendler daselbst.




Inhalt: Gebannt und erlöst. Von E. Werner (Fortsetzung), S. 429. – Das deutsche Reichswaisenhaus in Lahr. Von A. Guth. Mit Abbildung: Die Reichsfechtmeisterei und das Reichswaisenhaus in Lahr, S. 432. – Die Weltsprache der Seefahrer. Von Dr. B. L. Mit Abbildungen, S. 435. – Zwischen zwei Welten. Von H. Pichler. Mit Illustration: Ball an Bord – „zwischen zwei Welten“. Von Ludwig Blume, S. 437 u. 438. – Die nationale Kochschule in London. Von Marie Calm, S. 442. – Memento mori! Gedicht von Ernst Scherenberg, S. 444. Mit Illustration: von Wilhelm Ritter, S. 445. – Das heilig’ Dirnd’l. Von Hermine Villinger (H. Willfried), S. 444. – Blätter und Blüthen: Das Ballspiel. Briefkasten, S. 448.



Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Etwaige freundliche Spenden wollen unter der Adresse: „An den Reichswaisenhausfonds in Lahr in Baden“ eingesandt werden. Der Empfang wird öffentlich in der „Lahrer Zeitung“ und im „Kalender des Hinkenden Boten“ bescheinigt.
  2. Der freundliche Leser sei darauf aufmerksam gemacht, daß L. Blume-Siebert, welcher die Scene vorstehender Schilderung in seinem Bilde „An Bord“ in so anmuthiger Weise verkörperte, derselbe Künstler ist, dessen „Tänzchen mit dem Großvater“ durch die „Gartenlaube“ die weiteste Verbreitung fand.