Zum Jubeltage des „Reichsfechtmeisters“

Textdaten
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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: Zum Jubeltage des „Reichsfechtmeisters“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 790–793
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Zum Jubeltage des „Reichsfechtmeisters“.


Als der kleine Detmold im Rückzugsjahr Neunundvierzig „kurzweiliger Reichsminister“ war, benutzte er seine hohe Stellung auch dazu, seinen Freund, den Pastor und Senior Bödeker zu Hannover, in des Handwerksburschenwortes verwegenster Bedeutung zum „Reichsfechtmeister“ zu ernennen. Dies erzählt der alte Herr selbst in seiner jüngsten Schrift: „Fünfzig Dienstjahre bei der Marktgemeine zu Hannover. Eine Denk- und Dankschrift, zugleich Vermächtniß von Hermann Wilhelm Bödeker, Past. prim. und Senior minist. Preis zehn Groschen und mehr, behuf Minderung der Schulden des Schwesternhauses.“

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Senior Bödeker als „Reichsfechtmeister“.
Nach einer Zeichnung von Karl Grote in Hannover.

[792] Zur Feier der beiden Ehrentage, des 27. November, an welchem Bödeker vor fünfzig Jahren zum Collaborator an der Marktkirche gewählt, und des 15. Januar 1874, an welchem Tage er in sein Amt eingeführt wurde, haben sämmtliche Prediger und Kirchenvorsteher Hannovers einen allgemeinen Aufruf erlassen, welcher zu Beisteuern zu einem Festgeschenk im Geiste des Jubilars auffordert; der Zweck desselben ist, das Schwesternhaus, welches Bödeker im Jahre 1848 für fünfzig alte bürgerliche Damen mit vierzigtausend Thalern gestiftet, von den noch darauf haftenden Schulden (zwanzigtausend Thaler), für deren Tilgung der greise Senior noch alljährlich von Haus zu Haus wandert, möglichst zu befreien und dadurch den Fortbestand dieser wohlthätigen Anstalt für immer zu sichern.

Dieser Feier schließt sich auch die Gartenlaube an, indem sie den ehrwürdigen Mann auf diesem alljährlichen Sammelgang und damit zugleich in seiner beneidenswerthen Würde als „Reichsfechtmeister“ bildlich darstellt.

Der Artikel zum Portrait Bödeker’s, mit welchem Dr. Wilhelm Schröder vor zehn Jahren[1] das „Genie im Wohltun“ der großen Gartenlaubengemeinde vorstellte, bringt uns den ganzen Mann als Menschen, Theologen und Bürger so klar und vollständig zur Anschauung, daß es heute fast genügen könnte, einfach darauf hinzuweisen. Da kommt nun aber der Jubilar selbst und läßt uns in sein Leben zurückblicken bis in die Tage der Kindheit und hebt den Vorhang vor einer Reihe stiller Thaten des Herzens, so daß wir seine Jubelschrift doch nicht unbenutzt lassen dürfen. Wenn freilich Manches von Dem, was wir hier mittheilen, durch die Tageszeitungen früher den Weg zu unseren Lesern findet, als diese Nummer der Gartenlaube, so dürfen sie dazu nicht scheel sehen; sie haben wenigstens den Vortheil, Das dauernd zu besitzen, was in der Tagespresse nur rasch an ihnen vorübereilt.

Wie bei so vielen hervorragenden Männern begegnen wir auch bei Bödeker der erhebenden Erscheinung, daß seine ersten und liebsten Erinnerungen sich an seine Mutter knüpfen und deren zum Theil recht originelle Erziehungsmethoden. Sehr eigenthümlich zum Exempel war das mütterliche Verfahren gegen unbegründete üble Laune. „Mürrische Kinder sind krank, und kranke Kinder müssen Arznei haben,“ hieß es, und so wurde eine Medicinflasche mit großer Etiquette aus der Anrichte geholt, in welcher sich ein Gemisch von Lakritzen, Wienerwasser, Kamillen und Krauseminze befand. Wohl oder übel mußte ein Löffel voll hinabgeschluckt und zu Bett gegangen werden – und ohne Grund stellte sich niemals wieder üble Laune ein. Ein noch schärferes Mittel wehrte der Naschhaftigkeit, die allerdings bei neun eigenen (sechs Knaben und drei Mädchen) und fünf Kostkindern des Hauses gründlich curirt werden mußte. Waren etwa Kirschen, Erdbeeren oder dergleichen abhanden gekommen und sämmtliche junge Mäuler hatten sich für unschuldig erklärt, so befahl die Mutter, die Brechweinflasche herbeizuholen und Jedem einen Eßlöffel voll zu verabreichen. Da war’s denn sicher, daß der Uebelthäter alsbald hervortrat, um freiwillig sich und die Genossen vor dieser Procedur zu schützen.

Auch diejenige Eigenschaft, welche den Mann zu dem großen Wohlthäter machte, als den wir ihn verehren, die Herzensgüte, führt der treue Sohn auf die unvergeßliche Mutter zurück, weil sie den Keim in der Kinderbrust so schön zu pflegen verstanden. „Zu dieser Herzensgüte,“ erzählt er, „glaube ich eben so sehr erzogen worden zu sein, wie ich sie als Erbschaft überkommen habe; denn oft, wenn ich als fünfjähriger Knabe Mittags zwölf Uhr mich an den Tisch stellte – bis zum neunten oder zehnten Jahre erhielten wir nicht den Brettstuhl der Erwachsenen – und das Gebet gesprochen war, sagte die Mutter: ‚Hermann, während Dein Essen sich abkühlt, kannst Du der Hirtenfrau Kabermann etwas zu essen bringen.‘ Der Mann war als Kuhhirt seit fünf Uhr nach der Weide und die Frau lag lahm im Bette. Ich holte also den blauen irdenen Henkeltopf aus der Küche, ließ einfüllen und wanderte zu der Kranken, wo ich mich noch erinnere, daß ich mich auf die Fußspitzen stellen mußte, um die hölzerne Thürklinke zu heben und in die Wohnstube zu gelangen.“ Es gehört wohl auch hierher, daß er, schon Secundaner des Rathsgymnasiums zu Osnabrück, seiner Vaterstadt, monatelang einer bettlägerigen alten Magd der Familie regelmäßig nach der Nachmittagsschule in ihrer Leidenskammer eine Stunde lang vorlas – Alles zur Freude seiner guten Mutter.

Aber auch vom Vater erbte er unschätzbare Seelengüter. Herr Johann Jacob Bödeker, Succentor (Gehülfe des Cantors) und erster Lehrer zu St. Katharinen in Osnabrück, war ein Mann von dreiunddreißig Jahren, als ihm seine Gattin, Maria Elisabeth, des Tabaksfabrikanten Russel Tochter, am fünfzehnten Mai 1799 als drittes Kind den Hermann gebar, und dieser preist es ihm noch in seiner goldenen Jubelschrift nach, daß er dem Vater die ihm eigenthümliche Energie und den sehr werthvollen Humor verdanke. Von beiden erzählt Bödeker hübsche Proben, u. A.: „Als Anno 1808 seine mit achtzig Kindern überkommene Schule sich auf hundertundfünfzig vermehrt hatte und ein größeres Local nöthig wurde, schaffte er trotz der Kriegszeit und bei natürlichem Mangel magistratlicher Hülfe binnen vier Wochen zweitausend Thaler an und baute selbst das jetzt noch bestehende große Schulhaus. Zu dessen Einweihung bat er sich in einer Sitzung des Magistrats und der Geistlichkeit Posaunenbegleitung aus. Der Superintendent meinte, das sei sehr theatralisch, der Bürgermeister aber genehmigte den Wunsch des Schulhalters wegen der bei der Sache angewandten Mühe – und die Stadtpfeifer wurden befohlen.“ Wegen seines durchfahrenden Wesens nannte man ihn den „Bonaparte“; der Superintendent sagte freilich einmal: „Der Schulmeister ist ein grober Kerl!“ – aber doch hielt er ihn so hoch, daß er oft den Wunsch aussprach: „Ich wollte, daß alle meine sechs Söhne (jedenfalls solche) Schulmeister würden!“

Wiederum einen Blick in die häuslichen Sitten jener Zeit eröffnet es, wenn wir erfahren, daß Bödeker erst, als er am 21. October 1817 die Universität Göttingen bezog, zum ersten Male mit Socken ausgerüstet wurde, weil „diese so wenig wie Halstücher, Handschuhe und Mützen in unserem Stande während der Knabenjahre getragen wurden“. Am Abende zuvor hatte er seinen Vater die Hand darauf geben müssen, sich nicht eher zu verloben, als bis er Pastor wäre.

Bödeker hatte sich als Jüngling auch körperlich tüchtig ausgebildet, namentlich Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Schießen, Tanzen, aber auch Satteln und Säumen gelernt, denn Reiten war seine Lieblingspassion. Noch als Student kaufte er sich von seinen Ersparnissen ein Pferd für zehn Thaler, ja, er gesteht sogar, daß vielleicht die dunkle Vorstellung, daß er als Landpfarrer ein Ackerpferd auch als Reitpferd würde halten können, ihn zur Wahl des geistlichen Amtes bestimmt habe. Eine solche Landpfarrei aber war nichts weniger, als das Ziel des Vaters für den Sohn; verwies er es doch der demüthigen Mutter, wenn sie nur von ihren künftigen Besuchen auf einer „Landpfarre“ sprach; „ein schlechter Corporal,“ pflegte er dann zu sagen, „der nicht denkt General zu werden!“ – und zu der Mutter gewandt sagte er in damals auch in gebildeten Familien noch gebräuchlichem Plattdeutsch: „Worüm sall he nich Stadtpastor weren können?“

Und er wurde es; aber selbst zur Concurrenzpredigt um das Collaboratoramt an der Marktkirche in Hannover am 19. November 1823 ritt er, und zwar auf seiner für fünfzehn Thaler gekauften hellbraunen Stute. Bei Northeim kam er an einem Acker vorbei, auf welchem ein Bauer pflügte. Er bot ihm die Tageszeit und veranlaßte ihn dadurch, sich zu ihm hinzuwenden. „Liese! Liese! Bist du’s denn?“ rief der Mann plötzlich, ebenso froh überrascht, als gerührt. Und richtig! Die Liese wieherte, legte den Kopf auf seine Schulter und ließ sich liebkosen. Er hatte den Mann angetroffen, der mit der späterhin als „Absetzer“ verkauften Liese den französischen Feldzug durchgemacht und sie auch in der Schlacht von Waterloo als hannoverscher Husar geritten hatte. „Wie wir uns da alle Drei gefreut haben!“ setzt Bödeker selbst gerührt hinzu.

Mit der selbstständigen Stellung als Stadtpastor, zu welchem er schon im März 1825 erhoben wurde, beginnt Bödeker’s selbstgewählter Beruf als Wohlthäter seiner Mitmenschen in und außerhalb seiner Gemeinde. Wie er sich die Lebensfrische erhalten, die den greisen Mann noch heute beglückt, haben wir in der Anmerkung zu unserm Artikel von 1863, Seite 110, bereits erzählt. Bödeker schreibt letztern Gewinn seinen tagtäglichen Morgenpromenaden zum Frühstück im Kaffeehause zum Listerthurme [793] in dem zweitausend Morgen großen Stadtwalde von Hannover zu. Als einen Lohn für seine Standhaftigkeit in der Leitung und Erhaltung seines „Norddeutschen Morgenpromenadenbeförderungsvereins“ preist er es, daß er, schon den Siebenzigern nahe, an einem Festtage neben seiner Hauptpredigt noch dreizehn Reden halten und doch noch an einem Festmahle, das aus Anlaß der letzten, einer Traurede, stattfand, theilnehmen konnte.

Schwerer als die Zeit war für seine wohlthätigen Unternehmungen häufig das Geld zu beschaffen. Hier ist hervorzuheben, daß Bödeker nicht blos mit fremden Gaben waltete, sondern daß er es vermochte, aus seinen eigenen Mitteln jährlich fünf- bis sechshundert, also in dem Zeitraume von fünfzig Jahren etwa dreißigtausend Thaler zu opfern, und zwar, wie er ausdrücklich bemerkt, „ohne andere Pflichten darüber zu versäumen“.

Einem Manne, der so mit dem Beispiele vorangeht, mußte es Jedermann verzeihen, daß er gleiche Ansprüche an Opferfreudigkeit an Jeden machte, von dem er wußte, daß er auch opferfähig sei. Und bedeutende Summen bedurfte Bödeker, wenn auch nach und nach, für seine Unternehmungen, wie die Stadtschullehrerwittwencasse für die Residenz Hannover, die Marienstiftung zur Ausbildung armer Mädchen für häuslichen Dienst, das Rettungshaus in Ricklingen bei Hannover für je zwanzig bis dreißig verwahrloste Knaben, die allgemeine Volksschullehrerwittwencasse für das ganze hannoversche Land, das mehrgenannte Schwesternhaus, den Mäßigkeitsverein, den Thierschutzverein mit Pferdeschlächterei. Außer diesen und noch vielen anderen Stiftungen, deren Mitglied er ist um seiner Unterstützungen willen, erforderten Einzelunterstützungen zahlreicher verschuldeter und unverschuldeter Unglücklicher noch Tausende, und alle diese Mittel brachte der „Reichsfechtmeister“ zusammen. So weit hat er es darin gebracht, daß, wie er selbst erzählt, an öffentlichen Plätzen wie im Privatkreise, sobald er sich rührt, alle Hände nach den Portemonnaies greifen; kein Wunder, daß die Poesie noch weiter in der Anerkennung dieser Meisterschaft geht und prophezeit, daß, sobald Bödeker einst im Himmel erscheine, selbst der liebe Gott zum Portemonnaie greifen werde.

Ganz besonders muß aber betont werden, daß Bödeker nur annahm, was ihm freiwillig gespendet wurde, ohne Pressung, ohne Hinweisung auf ewige Vergeltung oder Bedeckung etwaiger Sünden; es mußte ihm entgegengetragen, freudig geopfert, oft sogar aufgedrungen werden, wenn er befürchten konnte, daß zunächst Betheiligten dadurch etwas entzogen würde. Vor den milden Stiftungen standen ihm immer und überall jedes Einzelnen eigene Angelegenheiten. Auch das ist ein Verdienst des großen Wohltäters.

In der Darlegung seiner eigenen und fremder Geldverhältnisse bei Aufzählung der langen Reihe von Wohlthaten geht Bödeker mit ebenso großer Offenheit als Ausführlichkeit bis in’s Einzelne und Kleinste zu Wege; gerade letztere ist es jedoch, die uns an der Mittheilung derselben in unserm Blatte verhindert, – aber ohne Zweifel Bödeker selbst zum größten Wohlgefallen. Denn da er den Erlös für seine Jubelschrift der Entschuldung seines Schwesternhauses widmet, so geschieht es in seinem eigenen Interesse, wenn wir unsere Leser in dieser Beziehung auf diese „Denk- und Dankschrift“ des Jubilars hinweisen, die in der Hahn’schen Hofbuchhandlung zu Hannover erschienen ist.

Einer Freude geben wir zum Schlusse noch Ausdruck: es ist die über das seltene Glück Bödeker’s, für die Thaten seiner Menschenliebe so viel Gegenliebe, für seine vielen Wohlthaten so wenig Undank erlebt zu haben, wie seine helle frohe Jubelschrift bezeugt. Möge dieser Jubel seines Herzens durch keinen Mißklang gestört werden! Das wünscht ihm zu seinem Ehrenfeste recht innig seine alte Freundin, die Gartenlaube.
Fr. Hfm.
  1. Vgl. Gartenlaube 1863, Nr. 7.