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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[73]

Ledige Kinder.
Erzählung aus dem oberbairischen Gebirg.
Von Herman v. Schmid.
(Fortsetzung.)

Lenz war über diese Wendung, über die ihm so kalt entgegentretende maßlose Kühnheit so ergriffen, daß er sich wie gelähmt vorkam und nicht gleich wußte, wie er an dem frechen Gaste sein Hausrecht zu üben vermöge.

„Und wenn Du wissen willst, was ich Deinem Vater gesagt hab: das kannst Du jeden Augenblick erfahren,“ setzte der Krämer mit höhnischem Auflachen hinzu. „Jetzt braucht’s kein Geheimniß mehr. Du hast doch gehört, was ich Deinem Vater vor seinem End’ für einen Antrag gemacht hab’? Damit Du aber siehst, wie gut ich’s mit Dir mein’, sag’ ich’s noch ’mal auch zu Dir: Nimm meine Tochter, heirath’ meine Philomena, und Alles soll gut, Alles vergeben und vergessen sein, und wir sind die besten Freund’.“

Lenz antwortete nicht; er kehrte ihm verächtlich den Rücken und riß die Stubenthür auf.

„Hinaus!“ rief er, losbrechend. „Da hat der Zimmermann ein Loch gelassen. Hinaus, wenn ich mich nicht vergreifen soll an Euch …!“

„Das ist recht, daß Du die Thür aufmachst,“ sagte der Krämer. „Es handelt sich nur um die Frage, wer hinausspaziert. Wer meinst Du denn eigentlich, daß Du bist? Du glaubst wohl, jetzt, weil der Alte seinen letzten Schnaufer gethan hat, Du bist der Erbe und der Herr aus dem Kogelhof? – Du bist der gar Niemand! Nichts als ein Knecht, ein Bettelbub’, den ich jeden Augenblick aus dem Haus’ jagen kann.“

Der Krämer hatte immer lauter geschrieen sodaß die ohnehin in der Nähe befindlichen Bewohner und Genossen des Hauses herbeigeeilt waren und nun durch die offene Thür neugierige Zeugen des traurigen Auftrittes wurden, der sich an der kaum kalt gewordenen Leiche ihres alten Herrn abzuspielen begann.

„Kommt’s nur Alle her!“ fuhr der Krämer fort. „Ihr müßt’s Alle doch einmal erfahren. Der Lenz ist wohl der Sohn vom alten Kogelhofer, aber der ist mit seiner Mutter nicht verheirathet gewesen, wie der Bub’ zur Welt gekommen ist, und die Mutter ist gestorben, ehe er sie hat heirathen können. Er ist also ein lediges Kind und hat nicht mehr Recht auf den Hof, als ein Spatz auf dem Schwanz davontragen kann! Alles mit einander gehört den nächsten Freunden, und der nächste Gefreundte bin ich.“

Ein Gemurmel ging durch die Menge, die sich immer vergrößerte. Mit Sturmesgeschwindigkeit hatte sich die Kunde von dem plötzlichen Tode des Kogelhofers in den nächsten Orten und Höfen verbreitet und aus denselben und von den Feldern weg die Leute herbeigerufen, um sich von dem Unglaublichen zu überzeugen und noch Unglaublicheres zu vernehmen.

Auch der Vorsteher war darunter und Viele von denen, die noch gestern dem Feste beigewohnt hatten und nun den Ort der Freude über Nacht in einen Ort der Trübsal und der Verwirrung verkehrt sahen.

Obwohl noch Niemand etwas Anderes wußte, als die einseitige Behauptung des Krämers, die offenbar zu seinen eigenen Gunsten gesprochen war, so waren doch die Meisten nur zu sehr geneigt, seinen Worten Glauben zu schenken. Das Ungewöhnliche wird von der Menge immer am liebsten geglaubt, zumal wenn es einem Reichen oder Mächtigen zum Nachtheil gereicht, dem man es wohl gönnt, daß es auch ihm nicht erspart bleibe, die Bitterkeiten des Lebens zu kosten. Gar mancher unter den Anwesenden fühlte sich von Schadenfreude gekitzelt, daß auf dem Kogelhof auch einmal das Unglück eingekehrt war; andere erkannten darin eine Bestätigung des alten Spruches, daß Hochmuth vor dem Fall komme, und auch an solchen fehlte es nicht, die dem übermüthigen Lenz eine tüchtige Lehre vollauf gönnten.

Ein Gerichtsdiener traf ein, im Auftrage des Landrichters, der in der Nachbarschaft ein Geschäft besorgte und von dem plötzlichen Todesfall gehört hatte. Er brachte einen Befehl desselben, die Leiche bis zu seiner Ankunft unberührt liegen zu lassen.

In Lenzens Natur mußte etwas vom Wesen seines Vaters liegen: das Blut drängte sich ihm fortwährend wie betäubend gegen den Kopf; sein Gemüthszustaud spottete vollends aller Beschreibung. Er wußte nicht, was er dem Krämer erwidern sollte; die Beschuldigung war auf ihn hereingestürzt, wie ein vom Dach auf den arglos Vorübergehenden herabfallender Stein, und der einzige Mund, der Klarheit zu schaffen vermocht hätte, war geschlossen auf immer. Lange Zeit saß er brütend, während es ihm im Kopfe sauste und brauste, als ob er sich unter einem Wasserfall befinde; wie willenlos ließ er sich endlich von Philomena aus der Stube geleiten, um sich in der frischen Luft zu erholen. Er hörte nicht Alles, was um ihn her gesprochen wurde, aber was er hörte, wäre zu anderer Zeit hinreichend gewesen, daß er sich auf die Spötter und Tadler gestürzt und sie mit seinen Fäusten zurecht gewiesen hätte.

Es litt ihn indessen nicht lange im Freien, aber bis zu [74] seiner Rückkehr wußte der Krämer die Zeit wohl auszunützen, um die große Neuigkeit, die er gebracht, zu erklären und vollkommen begreiflich zu machen. Manche erinnerten sich jetzt ganz genau, daß der Kogelhofer früher in einer andern Gegend im Flachland ansässig gewesen, daß er vor nicht ganz zwanzig Jahren auf den Kogelhof, den er gekauft hatte, gezogen sei, daß er allein, ohne Frau, wie er sagte als Wittwer, gekommen war und einen kleinen Knaben mitgebracht hatte, den er für seinen Sohn ausgegeben. Niemand hatte damals daran gezweifelt; Niemand hatte für nothwendig gefunden, über die Verhältnisse eines so wohlhabenden und ordentlichen Mannes weitere Erkundigungen einzuziehen: demnach konnte das, was der Krämer behauptete, wahr sein; mindestens konnte Niemand das Gegentheil beweisen.

„Ich bin zu selbiger Zeit noch ein junger Bursch gewesen,“ sagte der Vorsteher wie erklärend, „aber ich weiß noch Alles, wie wenn's gestern gewesen wäre. Wenn die Mutter schon gestorben gewesen ist, hat sie der Kogelhofer nimmer heirathen können – dann beißt die Maus keinen Faden ab; dann ist der Lenz wirklich ein lediges Kind; dann gehört ihm der Hof nicht.“

Die Ankunft des Landrichters vereinigte die ganze Versammlung. Auch Lenz kam in's Zimmer zurück; er war jetzt gefaßt genug, um dem Beamten mit Ruhe entgegenzutreten. Zu seinem Entsetzen vernahm er aus dem Munde desselben die volle Bestätigung der schrecklichen Nachricht, daß er mit Einem Schlage einer reichen Erbschaft beraubt und einer jener Menschen war, die er noch Tags vorher selber als anrüchig, als nicht makelfrei bezeichnet. Ein wackeres unschuldiges Mädchen hatte er deshalb gekränkt! Neben den todten Vater stellte sich ihm Nannei's Bild, und er mußte alle Kraft zusammennehmen, als er auch des Pechler Kaspar gewahr wurde und derselbe sich die herbe Genugthuung nicht versagen konnte, im Vorübergehen ihm auf die Schulter zu klopfen und zuzuflüstern: „Hab' ich's nicht gesagt, Lenz, Du wirst auch noch lernen, klein beigeben?“

Der Beamte hatte eben die Herstellung der Heereslisten für den Jahrgang beendet und war dabei durch Anfrage eines auswärtigen Pfarramtes nach einem in dortigen Tauflisten eingetragenen Knaben, eben nach Lenz, auf die Umstände bei dessen Geburt aufmerksam geworden. Er hatte sich vorgenommen, bei nächster Gelegenheit mit dem Kogelhofer über die Sache zu sprechen und sie zu ordnen – die Gelegenheit wäre nun allerdings gegeben gewesen, aber wie die Ordnung herbeigeführt werden könnte, war nicht mehr abzusehen. Lenz sei, sagte er, wie die Sache liege, in dem Augenblicke, in welchem der Tod des Vaters eintrat, nicht dessen rechter Sohn gewesen; ein anderer Nachkomme sei nicht vorhanden, daher sei derselbe ohne Hinterlassung von Blut- und Notherben verstorben, und der Rücklaß gehe an die Seitenverwandten über, unter denen allerdings, so viel ihm vorläufig bekannt, der Herr Kaufmann Rab, Firma Rab und Geier, als nächster und ausschließender Erbe erscheine. Er äußerte sein Bedauern mit dem plötzlich arm gewordenen Sohn eines reichen Bauern und über die unbegreifliche und echt bauernhafte Sorglosigkeit und Säumniß des Verstorbenen, der so lange gezögert hatte, die Angelegenheit zu ordnen, bis sie nicht mehr geordnet werden konnte. Er sprach zugleich die Hoffnung aus, daß der Erbe wohl Gründen der Billigkeit statt geben und sich zu einem Vergleich herbeilassen werde, der beide Theile befriedige.

„Jeden Augenblick, Gnaden Herr Landrichter!“ rief der Krämer, der begierig die Gelegenheit ergriff, seinen Edelmuth und seine Uneigennützigkeit zu zeigen. „Ich hab' ihm schon einen Vorschlag gemacht, der unter Brüdern nicht schöner lauten könnt'. Er braucht nur Ja zu sagen.“

Lenz sah Aller Augen auf sich gerichtet: er konnte nicht mehr daran zweifeln, daß der grausame Umsturz seines Schicksals wirklich eingetreten war, und wenn er auch die Möglichkeit desselben noch nicht begriffen, war er doch desto entschlossener, der unerbittlichen Wirklichkeit Stand zu halten und all den neugierigen und theilnahmslosen Zuschauern die Freude, ihn gedemüthigt zu sehen, nicht zu gewähren.

„Wenn's Gnaden Herr Landrichter auch bestätigen,“ sagte er mit ziemlicher Festigkeit, „dann muß ich's wohl glauben, daß ich so ein unglücklicher Mensch, ein lediges Kind bin, und werd' mich dreinfinden müssen, wenn ich's auch nicht versteh', wie mein guter Vater nie was davon gesagt hat. Mit dem Vergleich aber ist es nichts; den macht mir der Herr nur zum Spott. Also,“ schloß er, gegen den Beamten gewendet, „hab' ich gar nichts, ich hab' gar kein Recht an den Hof?“

„Nichts,“ erwiderte der Beamte. „Das Gesetz giebt Dir nur Anspruch auf Unterhalt während des kindlichen Alters, den Du wohl empfangen haben wirst. Für Deine Dienstleistungen im Hause gebührt Dir eine Entschädigung.“

„Dank' schön, Gnaden Herr Landrichter!“ sagte Lenz. „Ich hab' mich nicht für einen Knecht gehalten und bin nicht als Knecht gehalten worden; ich kann kein' Lohn annehmen wie ein Knecht. ... Nachher möcht' ich nur um mein G'wand bitten, und daß Gnaden Herr Landrichter erlauben, weil ich doch Soldat werden muß und keinen Mann mehr stellen kann, daß ich gleich einrücken dürft'. Nachher mach' Platz, Gesindel!“ fuhr er fort, als der Landrichter keine Einwendung vorbrachte. „Auseinander, damit ich nicht Einen von Euch nehm' und die Andern damit niederschlag'!“

Er stürzte hinaus. – –

Während so die Ereignisse auf dem Kogelhof in wenigen Stunden das Obere zu unterst gekehrt hatten, war Nannei auf ihrer Wanderung in das Dorf gekommen, wo die Pfarrkirche und um sie herum der Friedhof lag, der sie seit den Entdeckungen der letzten Nacht so nahe anging. Sie hatte sich auf dem Friedhofe in einem Gebüsche verborgen gehalten, bis der gewöhnliche Frühgottesdienst zu Ende war; sie wußte, daß dann der Ort einsam war, und brauchte nicht zu fürchten, Jemandem zu begegnen, der sie allenfalls angeredet und ausgefragt haben würde. Als sie dann in ihrem Verstecke gesehen, wie der Pfarrer seinen Weg zum Pfarrhofe eingeschlagen und auch der Meßner ihm bald gefolgt war, ward es leer und stille auf der Ruhestätte der Todten; nur noch hier und da stand an einem der Kreuze mit verbleichender Inschrift ein altes Mütterchen, das zu Hause keine Arbeit mehr versäumte und an den Gräbern der mit ihr jung Gewesenen ein Vaterunser sprach, sich über die Zeit der Wiedervereinigung mit ihnen nach seiner Art Gedanken machte und dann, zwischen Erinnerung und Hoffnung, endlicher Vergangenheit und unendlicher Zukunft getheilt, dem Austragskämmerchen zuhinkte, das für sie das Vorgemach des eigenen Grabes bildete.

Endlich hatte sich das Fallgitter des Eingangs hinter dem letzten Besucher geschlossen; nichts war mehr hörbar, als der schwere, eintönige Gang der Thurmuhr; nichts regte sich, als ein lustiges Grasmückenpaar, das neben dem Beinhaus in der Ecke auf dem weißen Rosenbusch genistet hatte, vor welchem Nannei aufschluchzend in's Knie sank. Hier also, unter ihr, unter dem dicht verwachsenen Rasen war ein Herz vermodert, das ihr so nahe angehörte, wie kein anderes hienieden – das Herz einer Mutter, die sie nicht gesehen, von der sie nichts gewußt hatte und auch nichts wissen sollte, bis sie einst Alles von ihr selbst erfahren würde: einst, in dem so sehnlich gehofften, so unerschüttert geglaubten Jenseits! Der Gedanke erfüllte ihr ganzes Innere mit unsäglicher Wehmuth, um so inniger, als ja auch sie im Begriffe stand, eine Wanderung anzutreten, deren Ziele und Wege ihr unbekannt waren gleich jenen der Armen, die jedenfalls nicht das Glück unter den Rasenboden zu ihren Füßen gebettet hatte. Sie saß, nachdem sie sich thränenlos geweint hatte, in dem hohen Grase nieder, pflückte einige der weißen Rosen, die noch spärlich an dem Strauch zerstreut waren, und versuchte ihre Geschicklichkeit, einen Kranz daraus zu winden, den sie in die Zweige hing.

Sie zählte die Schläge nicht, mit welchen allmählich eine Viertelstunde um die andere im Vorüberschweben an die Glocke streifte; sie hatte ja nichts zu versäumen. Noch früh genug konnte sie an den nächsten Bahnhof kommen und von dort die Hauptstadt erreichen, in deren Menschenfluth sie sich und ihre traurige Geschichte zu verbergen gedachte. Wie das geschehen könne und werde, war der Gedanke, der sie nächst diesem beschäftigte – eigentlich nicht ein Gedanke, sondern eine Fülle von solchen, die wie Fäden eines verworrenen Gespinnstes sich kreuzten.

Der Meßner ging wieder vorüber, ohne auf sie zu achten; er stieg zum Mittagsläuten auf den Thurm. Als die Töne verhallt waren und der Mann zurückkam, schreckte sie aus ihrem Brüten und wollte aufbrechen. Gleichwohl mußte sie noch verweilen, denn der Meßner hielt draußen hart unter der Kirchenmauer an, und so sehr ihn daheim die Mittagssuppe locken mochte, so schien doch das, was ihn zum Verweilen zwang, noch lockender zu sein.

[75] Es war das Gespräch mit einem ihm begegnenden Manne, welches so nahe bei Nannei geführt wurde, daß sie jedes Wort verstehen mußte: der Mann brachte die Kunde von dem, was in den wenigen Stunden seit ihrer Flucht sich auf dem Kogelhofe ereignet hatte.

Halb aufgerichtet, lauschte sie immer eifriger – sie wußte nicht, ob sie träume oder ob draußen ein Wahnsinniger erzähle. Der alte Kogelhofer, bei und mit dem sie so lange gelebt, bei dem sie eigentlich herangewachsen, der immer so gut mit ihr gewesen – er sollte plötzlich nicht mehr unter den Lebenden weilen! Der schöne Kogelhof sollte in fremde Hände kommen! Lenz, der trotz aller Wildheit doch ein herzensguter Mensch war, sollte aus dem Hause, das er schon für sein Eigenthum angesehen, gleich ihr verdrängt, sollte gleich ihr mit einem Makel behaftet werden, den nichts, nichts wieder abzuwaschen im Stande war! Es war für den ersten Augenblick so unbegreiflich wie schrecklich. Was sollte aus dem verbannten Burschen werden, der, wenn auch ein tüchtiger Arbeiter, sich doch schon als Herrn geglaubt und gefühlt hatte, wenn er nun sein Brod mit seiner Hände Arbeit um Lohn und als Knecht verdienen sollte?

Wie ihre Gedanken ergänzend, fuhr jenseits der Mauer der Erzähler fort: „Es schadet ihm eigentlich nichts, dem Lenz; der hochmüthige Bursch' soll nur auch lernen, was es heißt, selber arbeiten und selber verdienen. Er kann's jetzt gleich ernsthaft probiren; er muß ja ohnehin einrücken und in die Caserne, denn mit dem Einstandsmann ist's nichts mehr. Da wird's schmale Bissen geben, wenn er nicht ein tüchtiges Spendirgeld hat, und ich glaub' nicht, daß der Krämer viel spendirt haben wird, der heißt nicht umsonst 'Rab und Geier'.“

„Wo ist denn der Lenz jetzt?“ fragte die Stimme des Meßners entgegen, und der Erzähler antwortete:

„Wo wird er sein? Es heißt, er sei gleich aus dem Haus fort und in die weite Welt. Er hätt' von seinem todten Vater Abschied genommen und hätt' ihn um Verzeihung gebeten, daß er ihn nicht zu Grabe geleiten könnt' – er könnt' unmöglich den Leuten noch 'mal unter die Augen treten. Er wird halt schon auf dem Weg nach München sein.“

Die Männer trennten sich, und bald verhallten ihre Schritte in der einsamen Dorfgasse. Nannei horchte, bis der letzte Laut verklungen war; dann, auf den Knieen liegend, zog sie ein Päckchen aus der Rocktasche hervor, welches ihre in ein altes Zeitungsblatt gewickelte Baarschaft enthielt – ein beträchtliches Sümmchen, das für den Fleiß und die Sparsamkeit des Mädchens das glänzendste Zeugniß gab. Rasch war das Geld getheilt, das Blatt durchgerissen und jede Hälfte gesondert eingewickelt.

Nannei's Entschluß war gefaßt.

Jetzt, nachdem sie den Tod des Kogelhofers erfahren, vermochte sie nicht die Gegend zu verlassen, ohne mit ihrem dankbaren und gewiß leidtragenden Herzen hinter der Bahre drein gegangen zu sein – jetzt war sie gezwungen, einige Tage zu verweilen und bei ihrem Pflegevater Herberge zu suchen. Sie hatte ihr ganzes Herz voll Groll gegen Lenz aus dem Kogelhofe und noch aus der Pechlerhütte mit fortgetragen; jetzt war davon keine Spur mehr in ihr vorhanden – jetzt war Alles vergeben und vergessen, jetzt war ja auch er arm und unglücklich wie sie.

Am liebsten hätte sie ihm selbst gesagt, daß sie ihm nicht mehr zürne, aber sie fühlte zugleich: das ging nicht an. Für sie war, wie sie zu ihrem Pflegevater gesagt, Lenz nicht mehr auf der Welt – er brauchte auch nicht zu erfahren, wie sie über ihn dachte; es war ihm ja doch nichts daran gelegen gewesen. Aber wenn sie etwas für ihn thun konnte, um ihm im ersten Augenblick aus der Verlegenheit zu helfen, so war das gewiß nichts Unrechtes.

Sie verließ den Kirchhof und schlug einen weniger betretenen Feldweg ein, der sie am schnellsten in die Umgebung des Kogelhofes brachte. Sie maß an der eigenen Empfindung ab, daß Lenz kaum Lust haben würde in der Nähe zu bleiben und sich unter den Leuten sehen zu lassen; sie vermuthete daher, daß er sich wohl irgendwo verborgen habe, bis Abend und Dunkelheit ihm ein unbemerktes Entkommen möglich machen würden.

Bald war ein Höhepunkt erreicht, von welchem aus der Kogelhof und die ganze Hochflur, auf der er stand, zu übersehen war. Wie schön war der Anblick! Wie prachtvoll der Kogel von der untergehenden Sonne beleuchtet, daß er wie ein hoch aufloderndes Freudenfeuer aussah! Wie ruhig und still lag der friedliche Einödhof da! Und aus dem Kamin des schweigenden Hauses stieg eine leichte Rauchwolke auf, als würde darin zur vertrauten häuslichen Mahlzeit gerüstet, und doch lag in dem Hause die Leiche eines wackern Mannes, mit welchem das Glück aus der noch gestern so freudenreichen Heimstatt gewichen war!

Indem sie ihre Blicke nach allen Richtungen umherschweifen ließ, hätte sie beinahe vor Schrecken und Ueberraschung laut aufgeschrieen: auf einer Waldblöße, in die sie hineinsehen konnte, war ein Mann im Grase stehen geblieben, der erst bedenklich um sich sah, dann sich unter einer großen Buche zu Boden warf und das Gesicht in den Armen verbarg, während der Hut neben ihn auf dem Boden rollte.

„Er ist es,“ flüsterte sie, gleich als ob er sie hören könnte, obwohl er eine Viertelstunde von ihr entfernt sein mochte.

Der nächste Augenblick fand sie schon auf dem Wege, um die Waldblöße zu erreichen und den Gesuchten, wie ein Jäger ein Wild, unmerklich und von fern einzukreisen.

Bald waren es nur noch wenige Schritte, die sie von ihm trennten; hohes Haselgebüsch deckte sie vor ihm. Lenz regte sich nicht; er schien in einem Zustande, der an vollständige Erschöpfung und Betäubung grenzte.

Mit angehaltenem Athem kam sie auf dem weichen, moosigen Waldrand lautlos näher und ließ ihr Päckchen in den Hut des Schläfers gleiten.

Sie schlich zurück. Da – fast wäre sie vor Schreck in die Kniee gesunken: ein Rabe, der auf dem Buchenwipfel gesessen, hatte sich raschelnd erhoben und schwebte mit klatschendem Flügelschlag in die Abenddämmerung hinaus.

Der Schläfer regte sich nicht.




3. G'radaus.

Der frisch aufgeschüttete Hügel hatte sich über dem alten Kogelhofer geschlossen, und aus der Kirche verkündete die ernst-feierliche Musik, daß auch das Traueramt bereits seinem Ende nahe. Sonst wurde diese Kunst beim ländlichen Gottesdienste in höchst einfacher Weise geübt: ein paar Mädchen oder Kinder sangen zur Orgel die hergebrachten einfachen Choräle; beim Begräbniß eines so reichen Mannes aber, wie des Bauers vom Kogelhofe, hatte auch der Schullehrer ein Uebriges gethan. Nicht minder hatte der Krämer von Tölz als muthmaßlicher Erbe demselben aufgetragen, es ja nicht an Pomp und Pracht fehlen zu lassen: denn Alles sollte sehen und mit Händen greifen, wie dankbar er gegen den Verstorbenen und wie unbegründet all das Gerede sei, welches die Leute sich nicht nehmen ließen, daß der unerwartet frühzeitige Tod eigentlich in Folge eines Wortwechsels eingetreten sei, den Beide mit einander gehabt. So hatte der Lehrer, der zugleich Meßner, Kirchendiener, Orgelspieler und Chorregent war, sich nicht mit den wenigen künstlerischen Kräften des Dorfes begnügt, sondern aus dem nahen Marktflecken die Hornisten und Posaunenbläser kommen lassen, welche beim „Dies irae“ und „Libera“ ihre Instrumente so mächtig ertönen ließen, daß die Herzen aller Hörer wie vor einem wirklichen Conterfei des jüngsten Tages in der tiefsten Tiefe erbebten.

Eben erbrauste die Schlußcadenz der Orgel in das letzte Amen des Pfarrers; die Thurmglocken, die bis dahin geschwiegen, fingen wieder an sich zu bewegen und verkündeten den Beginn des Umgangs, welcher bei Leichenfeierlichkeiten sich aus der Kirche und um dieselbe zum frischen Grabe bewegte, um an demselben noch einmal für die ewige Ruhe des Heimgegangenen zu beten und bis zur Errichtung eines ordentlichen Denkmals ein buntfarbiges Holzkreuz auf den Hügel zu setzen.

Das Hauptthor der Kirche öffnete sich; eine mächtige schwarze Fahne mit weißem Kreuze tauchte, sich senkend, unter demselben hervor, zu beiden Seiten von großen Stangenlaternen umgeben, in denen trübe rothe Kerzen brannten; hinter deren Trägern schritt ein Knabe im weißen Chorrock, mit einem großen Crucifix, worauf dann die psalmodirenden Geistlichen, die zur Erhöhung der Feierlichkeit aus der Nachbarschaft geladen waren, mit den Hornisten und Posaunenbläsern folgten. An sie schloß sich der Pfarrer im Rauchmantel, und an diesen wieder ein Theil der weiblichen Dorfjugend, durchweg in tiefstem Schwarz. In Mitten derselben gingen einige ebenso gekleidete

[76] Jungfrauen, welche das bunt bemalte Holzkreuz und die Flitterkronen aus buntem Papier, Rauschgold und künstlichen Blumen trugen, welche auf den Sarg gelegt, dann aber in der Kirche, meist im Eingang des Thurmes, wo die Glockenseile herabhängen, aufbewahrt werden, bis sie zerfallen, wie bis dahin wohl auch meist die Erinnerung an Den zerfallen ist, dem sie das Geleit gegeben. Die nächsten Angehörigen oder Verwandten schlossen den geordneten Zug; dahinter drängte ziemlich willkürlich die ganze übrige trauernde Gemeinde.

Auch Nannei hatte, ihrem Vorsatz gemäß, dem Begräbniß-Gottesdienst beigewohnt. Die Erinnerung an die erst vor so kurzer Zeit erlittene Demüthigung war aber so lebhaft in ihr, daß sie sich in der Kirche alle Mühe gab, nicht aufzufallen; sie drückte sich ängstlich in einen Winkel unter der Empore und vergrub die verweinten Augen in das Gebetbuch, damit sie ja nicht gesehen oder gar erkannt werden sollte.

Sie war allein. Ihr Pflegevater, der Pechler Kaspar, fehlte bei der Feierlichkeit, wohl weil er eines Anzuges entbehrte, wie er zu einem solchen Anlaß schicklich war.

Auch nachher war das Mädchen bestrebt, dem Gedränge und den Augen der Menge zu entgehen, und hatte sich daher bei Beginn des Zuges durch eine Seitenthür in's Freie geflüchtet. Sie wollte noch einen Besuch an dem Grabe mit dem weißen Rosenstrauche machen, zu welchem sie auf einem Nebenwege unbeachtet zu kommen hoffte – war es doch der abgelegenste Theil des Kirchhofes, wo sich derselbe nebst dem Beinhause befand. Diesmal aber hatte sie trotz aller Klugheit falsch gerechnet; denn der Zug kam ihr auf seinem Wege um die Kirche unmittelbar entgegen. Sie mußte, um auszuweichen, seitwärts zwischen die Gräberreihen treten, und als der Zug, immer breiter werdend, auf dem schmalen Kirchenwege nicht mehr Raum genug hatte, befand sie sich, ohne zu wissen wie, mitten unter den Leuten, und zwar gerade mitten unter den schwarzgekleideten Jungfrauen mit dem Kreuz und den Todtenkronen.

Die im Zuge Dahinschreitenden hatten alle die Rosenkränze um die Hand geschlungen und sagten mit lauter, kreischender Stimme die Litanei her, indem ein Vorbeter die Gebete vorsprach, in welche sie dann Alle antwortend einfielen. Schon nach wenigen Augenblicken verrieth einige Schwankung in dem gleichmäßige Tonfall der Betenden, daß etwas geschehen sein mußte, was die Aufmerksamkeit derselben ablenkte; es währte nicht lange, bis sich in die heiligen Worte sehr weltlich klingende Ausrufungen des Unwillens mischten. Durch den plötzlich eingetretenen Todesfall war auch die Kunde von allem Uebrigen, was sich im Zusammenhang mit dem königlichen Besuche auf dem Kogelhofe zugetragen, überallhin auf Windesflügeln wie Unkrautsamen ausgestreut worden und hatte nicht verfehlt, das günstigste Erdreich zu finden; und wenn man schon wegen der Geschichte mit dem Blumenbusche Nannei des Hochmuths beschuldigte, war dieses in noch höherem Grade der Fall, als man von ihrem plötzlichen und heimlichen Dienstaustritt erfuhr, der offenbar mit dem Vorausgegangenen im Zusammenhange stand. Die jetzige Begegnung aber steigerte die ungünstige Stimmung gegen das arme Mädchen zum Aeußersten, denn es lag nahe, in dieser Anwesenheit Nannei's beim Begräbnisse nur eine trotzige Fortsetzung ihres Benehmens zu erkennen.

„Was ist denn das? Wie kommt denn die daher? Wie untersteht sich denn das Leut, unter die Klagjungfrauen zu gehen?“ waren die bald immer vernehmlicher klingenden Einschaltungen zwischen den Bitten des „Vater unser“, und der Zug drohte in's Stocken zu gerathen. Der unweit des Pfarrers einherschreitende Gemeindevorsteher ward jedoch des Vorgangs kaum gewahr, als er auch schon den Grund desselben entdeckte und so eilig wie möglich sich durch die Trauernden drängte, um ihn zu beseitigen.

Im vollen Bewußtsein seiner Amtswürde, mit einem Kopfe, der gleich dem eines Truthahns glühte, sprang er auf Nannei zu und hatte sie im Nu am Arm gefaßt und bei Seite gerissen, daß der Zug seinen Weg fortsetzen konnte; Nannei, die in ihrer Verwirrung ganz unbehülflich dagestanden, war gegen die Kirchenwand getaumelt und hielt sich an einem Kreuze fest.

„Mußt Du Dich g'rad' in den Weg stellen? Was hast Du hier zu thun?“ schrie der Vorsteher mit unterdrückter Stimme, aber noch immer laut genug, daß alle Umstehenden es wohl hören konnten. „Willst Du uns auch da noch Unfrieden machen?“

Das Unerwartete hatte Nannei einen Augenblick außer Fassung gebracht. Anrede und Benehmen des Vorstandes gaben ihr dieselbe zurück. Sie richtete sich gegen ihn auf, und durch die Thränen, die ihr Auge umflorten, traf ihn ein so kräftiger Blick, wie er Lenz getroffen hatte bei der entscheidenden Begebenheit in der Festtenne.

„Warum soll ich nicht da sein?“ fragte sie fest. „Ich mein', ich hab' wohl ein Recht dazu. Es ist nur meine Schuldigkeit, daß ich dem braven Mann die letzte Ehre erweise, der mir schier wie ein Vater gewesen ist und bei dem ich aufgewachsen bin.“

„Ja, und dem Du davon gelaufen bist noch vor seinem Hinende!“ entgegnete der Vorsteher spöttisch. „Ich kann mir denken, was das für eine Betrübniß sein muß. Aber es ist mir ganz recht, daß ich Dich antreffe; als Vorsteher habe ich ohnehin noch ein Wört'l mit Dir zu reden. Bei uns ist es nicht der Brauch, aus dem Dienst zu laufen, ohne daß man vorher aufsagt zur rechten Zeit. Ich werde es dem Gemeindediener sagen, daß er Dich packt und auf das Landgericht führt.“

„Da werde ich mich auch zu verantworten wissen,“ entgegnete Nannei, deren Festigkeit und Schnellkraft immer mehr emporstrebte, je mehr man sie zu beugen versuchte. „Ich habe ein gutes Gewissen und fürchte mich vor keinem Menschen, und wenn er noch zehn solche Pfennige im Knopfloch hätte wie Ihr. Ich laufe Euch nicht davon; wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es lange gekonnt, und wer mich sucht, der kann mich finden. Ihr wißt, wo ich daheim bin: in der Hütte des Pechler Kaspar, da bin ich zu treffen.“

Der Vorsteher schien unschlüssig, was er beginnen sollte. Wohl hatte sich bereits der größte Theil des Zuges weiter bewegt und war um die Kirche verschwunden; das Verstummen des Gesanges zeigte auch, daß die Feier beendet war – dennoch war eine ansehnliche Anzahl Neugieriger zurückgeblieben, die sehen wollten, welchen Ausgang das so unfeierliche Nachspiel haben werde. Ein einfacher Rückzug erschien dem Vorsteher als eine Beeinträchtigung seiner Würde, und für eine Fortsetzung seiner Thätigkeit mochte ihm der Ort und wohl auch der Anlaß nicht besonders geeignet scheinen. Zum Glück wurde er seiner Zweifel durch einen Zwischenfall enthoben.

(Fortsetzung folgt.)




Friedrich Kreyssig.
Ein Lebensbild von Fritz Wernick.

Zur Classe derjenigen Berühmtheiten, welche durch unablässige, eifervolle Arbeit, durch treues Festhalten hoher Ideale, durch begeistertes Streben nach der Erreichung eines erhabenen Lebenszieles sich den Boden zu erobern hatten, auf dem sie dann weithin durch Anregung und Lehre, durch Wort und Schrift für die Entwickelung des nationalen Lebens Bedeutung gewannen, gehört Friedrich Kreyssig, der am 20. December des vergangenen Jahres mitten aus einer an Erfolgen reichen Thätigkeit als Schulmann, als Schriftsteller und Redner durch den Tod abgerufen wurde. Kreyssig’s Leben ist, fast von Kindheit an, ein harter, heißer Kampf mit dem Schicksal gewesen, in dem der Verstorbene immer Sieger geblieben ist, der seine Elasticität gesteigert, seinen Geist geschärft, seine Arbeitskraft unglaublich gestärkt, der nun indeß auch bittere Stunden bereitet, ihn um das ruhige, behagliche Lebensglück gebracht hat, das der Entschlafene immer ersehnt, immer in der Ferne vor sich gesehen, ohne es jemals erreichen zu können: ein armer Mann, von dessen Reichthum viele tausend Andere Schätze gesammelt haben. Ein Trost, eine Hülfe, eine Zuflucht versagte ihm niemals: die Arbeit! In ihr hat er Alles gefunden; zu ihr zog er sich zurück, wenn das Leben ihn arg umwetterte, im Hause, im Berufe, in der Oeffentlichkeit.

[77] In der Provinz Ostpreußen auf dem Gute Gottesgabe bei Mohrungen, war Kreyssig’s Vater Verwalter, als dieser geboren wurde. Zwar hat der Vater sich um die Erziehung des Knaben wenig kümmern können, dieser aber, aufgeweckt, lebhaft, anstellig und praktisch, wußte sich überall in der Wirthschaft nützlich zu machen. Er begleitete die Leute in Feld und Wald, lebte in und mit der Natur, half mit, wo er konnte. Seine Freude an der Natur, seinen scharfen Blick für alle Erscheinungen in derselben, seine fröhliche Wanderlust – all dies hat jene Kinderzeit in ihm geweckt. Gewiß hat das Leben in der Natur aber auch beigetragen, die hervorragendsten Gaben in ihm zu entwickeln, denen er später so Vieles danken sollte: den weiten Horizont seines Anschauens und Denkens, die leichte, bestimmte Erfassung aller Verhältnisse, das schnelle, selten irrende Urtheil.

Friedrich Kreyssig.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Das fröhliche Land- und Waldleben endete, als der Vater sich genöthigt sah, an die Zukunft des Knaben zu denken, und ihn deshalb seinem Schwager, dem Seminardirector Kawerau in Jenkau, anvertraute. Mit diesem kam Kreyssig nach Königsberg, um daselbst zum Volksschullehrer ausgebildet zu werden. Das war hart für den lebhaften, hochstrebenden Geist, aber ohne Nutzen für ihn sind diese Jahre nicht gewesen. In der strengen Schule ist sein Geist pädagogisch erzogen worden; er hat das Handwerk seines Berufes, das auch in diesem den goldenen Boden bildet, kennen gelernt. Der neunzehnjährige Seminarist erhielt dann nach bestandener Prüfung die magere Versorgung in einer Elementarschule nahe der russischen Grenze. Ein gewöhnlicher Mensch wäre da in dem engen Kreise seiner Berufspflichten, in dem bescheidenen Leben dieser Träger der Massenbildung aufgegangen wie Hunderte und Tausende. Zu solchen Naturen gehörte Kreyssig indessen nicht. Er hatte Königsberg, die Universität gesehen, hatte erkannt, daß seine begrenzte Ausbildung ihm ewig eine Schranke ziehen, ihn hindern müsse, das Höchste in seinem Berufe zu erreichen. Dagegen revoltirte Geist und Temperament. Das Blut kochte in seinen Adern, und wie der Löwe gegen das Eisen des Käfigs, empörte er sich gegen die unerträglichen Fesseln, die ihn hier in enges Berufsleben bannten. Eifrige Beschäftigung mit der Wissenschaft, Selbststudien, die seine Nächte füllten, waren weit entfernt, ihn zu befriedigen; sie vermehrten noch den Drang, diese Fesseln zu sprengen. Das geschah. Er, der sonst so Pflichtgetreue, brach den Bann, verließ die masurische Dorfschule ohne einen Groschen in der Tasche und wanderte, glücklich wie ein dem Tode Entsprungener, nach Königsberg. Hier gab er Privatstunden am Tage und arbeitete für sich während der Nacht. In kaum zwei Jahren ward das Ziel erreicht, der Jüngling reif für die Universität befunden.

Diese Jahre mögen die gewaltige Arbeitskraft, die Energie des Willens, die Sicherheit des Vollbringens in Kreyssig erzogen und ausgebildet haben, die Jeder bewundern mußte, der jemals zu ihm in näheren Beziehungen gestanden hat. Das Leben setzte die Erziehung des Einundzwanzigjährigen nun nach anderer Richtung hin fort. Der Student, der Burschenschafter stand bald im Mittelpunkte des akademischen Lebens. Er hat das Arbeiten niemals gering geachtet, auch jetzt sich nicht dem süßen Taumel hingegeben, hat in den meisten Fächern, in alten und neuen Sprachen, in den historischen Wissenschaften, in der Religion etc. die Berechtigung zum Unterricht in den obersten Classen des Gymnasiums erworben. Dennoch wurde das Studentenleben gründlich genossen und mit den Commilitonen, zu denen von Keudell, unser Botschafter in Rom, Hobrecht, der ehemalige Finanzminister, Ferdinand Gregorovius, Julian Schmidt, Rudolf Gottschall gehörten, geistig und bei frohen Gelagen verkehrt. Der Fechtboden, die Reitbahn wurden nicht vernachlässigt, und wenn bei Festen und Versammlungen, bei feierlichen Anlässen und Ansprachen durch zündende Rede gewirkt werden sollte, so wurde damit gewiß meist Kreyssig betraut.

Die Mittel zum Leben mußten auch jetzt noch erworben werden. Der alte Graf Lehndorf-Steinort betraute den jungen Studenten mit der Aufsicht und Unterweisung seiner Söhne, die das Königsberger Gymnasium besuchten. Er wohnte mit diesen zusammen, begleitete sie während der Ferien hinaus auf Schloß Steinort, an die waldigen Ufer des Spirdingsees. Hier schwelgte der Jüngling nach langer Entbehrung wieder in Naturgenüssen. An die Ritte und Wanderungen durch die Forste, an das ungezwungene Landleben hat er noch bis zuletzt mit hoher Freude gedacht. Graf Lehndorf, der bekannte Adjutant und Günstling des Kaisers Wilhelm, gehörte damals zu Kreyssig’s Zöglingen.

Das Schicksal schien diesem jetzt Alles gewähren zu wollen, was ihm erwünscht erscheinen konnte. Er war gern gesehen in den Kreisen der Professoren und verkehrte viel in deren Häusern. Besonders liebte der alte Lobeck den geistesverwandten Schüler und zeichnete ihn vielfach aus. Lobeck, selbst kinderlos, hatte zwei Pflegetöchter, und die jüngere ward später Kreyssig's Gattin. Durch scharfen Verstand, treffendes, wenn auch oft bitteres Urtheil, gewandte, schlagfertige Rede, geistige Lebhaftigkeit mag sie den jungen, zum ersten Mal in Damengesellschaft verkehrenden Mann gefesselt haben. Sein bis zum Ungestüm lebhafter Sinn, sein überreiches, reges Gedankenleben, seine warme enthusiastische Natur hätte vielleicht weniger eine kritisch angelegte Lebensgefährtin bedurft, als ein sorgsames Hausmütterchen, das den Lärm und die Störungen des Alltagslebens von ihm fern gehalten, ihm Haus und Umgebung behaglich gemacht hätte. Und doch wird man kaum bestreiten dürfen, daß auch das Zusammenleben mit einer solchen Frau anregend und belebend aus manche seiner Fähigkeiten, auf seine Arbeits- und Erwerbskraft gewirkt hat.

Daß sein Geschick den Rastlosen zu ewigem Kämpfen und Ringen bestimmt, zeigt wieder die Berufung des fünfundzwanzigjährigen Lehrers an eine Realschule, zuerst nach Wehlau, bald darauf nach Elbing. Wieder waren da die höchsten Ziele, wenn nicht ihm, so doch seinen Schülern, durch eine Schranke verschlossen. Gekämpft und gerungen mußte da werden in Wort und Schrift, mit Energie, aber lange ohne Erfolg, um den Realschulabiturienten den Besuch der Universitäten zu eröffnen. [78] Kreyssig hat stets in der ersten Reihe dieser Streiter gestanden, hat bewiesen, daß der Geist nicht nur durch die alten Sprachen geschult, erzogen und zu höherem Studium tüchtig gemacht werde, sondern daß Mathematik, Naturwissenschaft und neuere Sprachen dies ebenfalls vermögen. Durch die That hat er es bewiesen, durch Erziehung von Schülern, die heute noch dankbar erkennen, daß sein Unterricht sie denken gelehrt, ihnen die Grundlage zur Erreichung der höchsten geistigen Ziele gegeben.

Als Lehrer mag Kreyssig nur von Wenigen übertroffen worden sein. Die Gesammtheit seiner Fähigkeiten, sein Wissen nicht nur, sondern auch seine Begeisterungsfähigkeit, seine geistige Schwungkraft, die Weite seines Blicks, sein klares, logisches Denken und die seltene Begabung, jedem Stoffe plastische Gestalt zu verleihen, ihn als ein Ganzes zu formen und so den Schülern faßlich darzubieten, rüsteten ihn dazu aus. Nichts von Pedanterie, kein Pochen auf Buchstabenwissen war ihm eigen. Die geistige Kraft der Schüler zu erwecken, ihre Köpfe zu klären, sie für das Lernen zu begeistern, aus Knaben selbstdenkende Männer zu machen, das verstand er meisterhaft.

Seinen älteren Schülern stand er nahe wie ein Freund. Wenn er während der Sommerzeit mit seiner Prima die bewaldeten Bergreviere tagelang durchstreifte, so ward für die verlorene Halbtagslection des Sonnabends reichlich Ersatz geboten durch geistvolle Unterhaltung, durch jenen werthvollen Unterricht, den er in seinen ersten Lebensjahren empfangen hatte: durch Erkennung der Natur, durch Darlegung ihrer Kräfte, ihrer Reize. Vierundzwanzig Jahre hindurch hat Kreyssig in Elbing die Jugend nicht nur unterrichtet, sondern auch erzogen, zu sich emporgehoben. Was aus dem verschiedenartigen Menschenmaterial zu entwickeln und menschlich herauszubilden war, das hat er geschaffen. Und wie hier, so hängen heute in Kassel, in Frankfurt am Main, wo er unter schwierigen Verhältnissen gearbeitet, die ehemaligen Schüler mit treuer Liebe an ihm, dem sie die innere Befreiung, die geistige Selbstständigkeit verdanken.

Groß ist die Schaar dieser ehemaligen Schüler, aber dieselben sind nicht die Einzigen, die von Kreyssig's seltener Lehrfähigkeit Nutzen gezogen haben. Wo er weilte, in Elbing, in Kassel, in Frankfurt am Main, hing an ihm eine Gemeinde von Freunden, die ihm mehr danken, als sie vielleicht selbst wissen. Alle die oben genannten Eigenschaften, besonders die lebhafte Phantasie, auch wenn dieselbe ihre Flüge manchmal schrankenlos ausdehnte und dadurch Manchen irre machte, der den Mann nicht genau kannte, wirkten mächtig auf die Umgebung. Verschlossenheit, Rückhalt, dünkelhafte Schulweisheit waren dem lebhaften Manne fremd. Er gab Alles, was er hatte, und gab es in einer Form, die fesseln und hinreißen mußte.

Im Jahre 1869 ging Kreyssig nach Kassel, 1871 nach Frankfurt am Main, der Altpreuße in die neuen Provinzen, um aus kleinen Anfängen, unter erschwerenden Umständen, mit einem Lehrerpersonal, das an das preußische Schulwesen, an die preußische Strammheit nicht gewöhnt sein konnte, höhere Lehranstalten zu begründen. Kreyssig war selbst keiner von den reglementsmäßig Strammen, Gedrillten unter den Schulmännern, aber er freute sich dieser Aufgabe um so mehr, je mehr sie seine Energie, seine Elasticität, seine staunenswerthe Arbeitskraft herausforderte, und er hat sie mit dem Aufgebote dieser seiner geistigen Kräfte glänzend gelöst. Schwerer wurde dies in Frankfurt, als in Kassel. In Frankfurt fand er ein System von Schulen, die einer Privatgesellschaft gehörten, eine Handels-, eine Gewerbeschule und eine noch in den Anfängen befindliche Bürgerschule, kein geschlossenes Lehrerpersonal, sondern zum Theil Kräfte, die nur für einzelne Stunden Vertrag mit der Anstalt geschlossen hatten, kurz Zustände, die man in Preußen nicht kannte. Freilich fand er zugleich den redlichen Willen der Bürgerschaft vor, aus ihrer Schule etwas Tüchtiges zu schaffen. Und das hat Kreyssig ihnen geleistet. Die Schulen sind vor wenigen Jahren an die Stadt übergegangen, und der neue Director hat sie verschmolzen, umgestaltet und zu einer Realschule erster Ordnung organisirt. Er war fast am Ziele. Nach langem Ringen und Kämpfen, nicht nur nach oben hin, sondern auch gegen einige Strömungen innerhalb der Bürgerschaft, wurde das Recht der Entlassung zur Universität bewilligt; nächste Ostern wird die Schule zum ersten Male von diesem Rechte Gebrauch machen; der Schöpfer und Organisator hat das nicht mehr erleben sollen.

Das eigentliche Werden und Wirken des Verstorbenen, die Entwickelung und Gestaltung seiner geistigen Individualität ruht in den vierundzwanzig Jahren seines Aufenthaltes in Elbing. Oft hat er dieses Fernsein von dem Mittelpunkte geistigen Lebens als ein hartes Schicksal beklagt, aber wohl nicht mit vollem Rechte. Ein so lebhaft sprudelnder Kopf, ein so heißblütiger Gelehrter, ein so scharf kritisirender Geist, ein so hinreißender, zündender Redner wäre dort sofort in die Bande einer Coterie, einer literarischen und politischen Clique gekommen, und solche Einschnürungen in bestimmte Programme, in schriftstellerische Verbände mit ausgesprochener Tendenz waren dem in absoluter geistiger Freiheit Erzogenen unerträglich. Er hätte es nicht aushalten können innerhalb derselben, und außerhalb, neben denselben stehend, noch weniger. In Elbing gehörte er ganz sich selbst und dem Kreise seiner zu ihm aufblickenden, von ihm lernenden Freunde an. Das erhielt ihn selbstständig und gab ihm doch die menschliche Umgebung, deren er bedurfte. Seine größten Arbeiten, die drei Bände „Shakespeare-Vorträge“, die „Abhandlungen über hervorragende Persönlichkeiten der französischen Literatur- und Culturgeschichte“, vielleicht sein allerbestes Buch, dann die „Vorträge über Faust“ sind hier entstanden und von dem damals noch ziemlich Unbekannten in die Welt geschickt worden. Man hat die Bücher beurtheilt, nicht den Mann, der sie geschrieben, und daß diese Urtheile nahezu einstimmig in hohem Maße anerkennend ausfielen, mag der Verfasser zum Theil seiner selbstständigen Stellung außerhalb der Coterie zu danken haben, andernfalls hätten die Einen ihn sicher in den Himmel gehoben, die Andern zerfleischt, und beides ging ihm arg an die Nerven.

Blieb Kreyssig in Elbing vor den angedeuteten Gefahren bewahrt, so strömten ihm dort andrerseits Anregungen in Fülle zu. Eine kleine Stadt gestattet es ihren hervorragenden Bürgern nicht, ihre Kräfte gemeinsamen Zwecken zu versagen. Wer viel hat, von dem wird da viel gefordert. Wenn Kreyssig mit bewundernswürdiger Vielseitigkeit und nie versagender Kraft fast gleichzeitig als Redner, Schriftsteller, Politiker und Lehrer hat erfolgreich thätig sein können, so hat er das nicht zum kleinsten Theil in den engen Verhältnissen Elbings gelernt. Hier mußte er immerwährend herhalten, und schöne werthvolle Früchte sind aus diesem Treiben und Drängen erwachsen. Wenn man die Jubiläen Schiller's und Shakespeare's, das Andenken Uhland's feierte, wenn Vorstellungen für die deutsche Flotte veranstaltet, Fahnen geweiht, zum Feste einziehende Sänger begrüßt, Sammlungen für Schleswig-Holstein veranstaltet wurden – eine zündende Rede Kreyssig's gab Allem Inhalt und Bedeutung; um sie gruppirte sich das ganze Programm; die Anderen hatten es leicht, wenn er die Menge hingerissen und in Begeisterung versetzt hatte. Die Gabe des Wortes besaß der Verstorbene wie selten Einer. Mochte er augenblicklich angeregt oder lange vorbereitet sein, immer stand der Gedanke dem Ausdruck, der Ausdruck dem Gedanken zur Verfügung, immer strahlte die Rede schöne Wärme, edle Begeisterung aus. Elegante Aeußerlichkeit, kühles Maßhalten durfte man nicht erwarten. Hingerissen, gefesselt, in die richtige Stimmung versetzt hat Kreyssig seine Zuhörer aber immer, über welchen Gegenstand er auch sprechen mochte. Seine Arbeiten über Shakespeare, die französische Literatur, Justus Möser, Faust sind aus solchen Vorträgen hervorgegangen.

Was in dieser Beziehung in Elbing begonnen, ward später in Kassel und Frankfurt fortgesetzt. Süd- und Westdeutschland erwies sich als der günstige Boden für solche Thätigkeit. Seinen Ruhm in den großen Kreisen des deutschen Volkes hat der Entschlafene vielleicht mehr noch diesen Vorträgen, als seinen schriftstellerischen Arbeiten zu danken. Freilich gehörten körperliche und geistige Kräfte, wie er sie besaß, dazu, um neben den aufreibenden Pflichten und Beschwerden des Amtes noch weite Reisen zu machen, öffentlich zu sprechen und in der nächsten Nacht heimzukehren. Eingeladen von Gesellschaften, Vereinen, größeren Verbindungen ist Kreyssig nach Hamburg, Köln, Elberfeld, nach Augsburg, Chemnitz, Leipzig, nach Kassel, Darmstadt, Mainz gegangen, um über literarhistorische, politische und culturgeschichtliche Stoffe zu sprechen. Er gehörte zu den beliebtesten Vortragsrednern Deutschlands, und das dankte er nicht nur seinem umfassenden Wissen, der Macht seines Wortes, sondern ebenso der geistigen Frische, der hinreißenden Begeisterung, der gedanklichen Klarheit, die ihn selbst dem bescheidenen Fassungsvermögen verständlich machte.

[79] Das Jahr 1848 fand Kreyssig als jungen, noch nicht dreißigjährigen Lehrer an der Elbinger Realschule. Kurz vorher hatte ihn eine Studienreise nach Paris geführt und in nahen persönlichen Verkehr mit den Männern gebracht, von denen später die Februarrevolution ausging. Um praktische Politik zu spielen, den modernen Staat aus den Ueberlieferungen der Geschichte organisch herauszuentwickeln als ein bestimmtes Einzelwesen mit bestimmten Einrichtungen und bestimmtem Charakter, dazu waren wir als Volk damals noch zu unerfahren, zu jung. Kreyssig hat allen Begeisterungsrausch mitgemacht, von dem damals die ganze Welt, nicht nur die deutsche, ergriffen war – aber nicht lange. Zu den Menschen, die immer mit dem Strome schwimmen, gehörte er durchaus nicht. Auch dem reißendsten vermochte er zu widerstehen, wenn seine Erkenntniß, sein selbstständiges Urtheil ihm dies gebot.

Den innersten Kern seines politischen Wesens bildete ein starker deutscher Patriotismus. So neigte er, bald nachdem die Stürme von 1848 vorüber gerauscht waren, zu den Altliberalen und Gothanern. weil diese den nationalen Gedanken hochhielten; so löste er sich bereits 1864 innerlich von der großen Fortschrittspartei, als er in Schleswig-Holstein wahrnahm, daß Bismarck nationale Politik zu treiben entschlossen war; so sprach er sich noch kurz vor seinem Tode aus, daß Steuer- und Handelsfragen uns nimmermehr in Opposition mit den Kräften bringen dürften, mit deren Hülfe allein der Ausbau und die Vollendung des nationalen Staates möglich sei. Der starke nationale Zug, der sein ganzes Denken und Fühlen bestimmte, hat seine außeramtliche Stellung in Frankfurt oft erschwert, die amtliche nicht gerade erleichtert. Doch hat andererseits diese bewußte, gemäßigte Politik überzeugend und fruchtbar gewirkt in den Kreisen Süd- und Westdeutschlands, mit denen er durch mannigfache Thätigkeit in Berührung kam.

So war der Mann vom Schicksale auf eine rauhe Lebensbahn gewiesen, von Kämpfen immer in Anspruch genommen, ohne ruhigen Glücksgenuß gewachsen und geworden, ohne sich jemals selbst aufzugeben, ohne jemals zu verzagen. Das harte Leben hatte seine Kraft gestählt; ein Körper, der niemals versagte, den Geist an Spannkraft fast noch übertraf, unterstützte den eisernen Willen des Mannes. Für den Verzicht auf gemächlichen Lebensgenuß konnten ihn seine Erfolge wohl entschädigen. Bis 1869, wo er Elbing verlassen hat, war es die Reihe seiner Bücher und Schriften, die ihm diesen Erfolg brachte. Sie sind früher hier bereits erwähnt worden. Sie alle zeichnet die Kunst der feinen Modellirung, der plastischen Darstellung, eine Fülle von Gedanken und originellen Gesichtspunkte aus. Nicht ausschließlich kritisch beleuchtet und zersetzt er die Gestalten der Dramen Shakespeare’s. Jede einzelne erschafft er wieder, läßt sie vor uns hintreten, losgelöst von der Umgebung, in voller, lebenswahrer Gestalt. Sein Richard der Zweite, sein Falstaff, Hamlet, Antonio sind meisterhaft entworfene und durchgeführte Charakterbilder. Ein noch vollendeteres enthalten die Abhandlungen aus der französischen Literar- und Culturgeschichte dieses Jahrhunderts. Da stellt er Napoleon den Dritten als Schriftsteller vor uns hin, dabei den ganzen Menschen mit allen Fältchen des Charakters und Wesens, mit allen Licht- und Schattenseiten dieses merkwürdigen Mannes. Später, als Kreyssig nach Kassel und dann nach Frankfurt berufen ward, hat ihm leider die Muße zu größeren schriftlichen Arbeiten gefehlt. Die Organisation der Schulen, die von allen Seiten begehrten öffentlichen Vorträge nahmen seine Zeit und Kraft völlig in Anspruch. Schmerzlich hat er diesen Verzicht stets empfunden. Mit einer größeren tüchtigen Arbeit auf dem Gebiete der Literar- und Culturgeschichte hervorzutreten, war Jahr für Jahr sein heißester Wunsch. Massenhaft häufte sich das durch die Vorträge gewonnene Material. Aber es fehlte ihm an Ruhe und Sammlung, um es zu einem einheitlichen Ganzen zu verarbeiten. Einem Verleger hatte er bereits eine große französische Literaturgeschichte zugesagt, zu deren Vollendung er nicht hat kommen sollen. So boten denn die Schule, das Lehren und Organisiren, der Unterricht, den er auch außerhalb derselben einem großen Kreise Frankfurter Damen ertheilte, und der geistige Verkehr mit guten gesinnungsverwandten Freunden ihm hauptsächlich die innere Befriedigung, deren er bedurfte.

Zum Lehrer für Schüler und Freunde war Kreyssig doch eigentlich vorzugsweise bestimmt. Auf keinem Gebiete seines mannigfachen Wirkens hat er mehr geleistet, nachhaltiger und erfolgreicher gewirkt als auf diesem. Denn da kam zu allem Wissen und Können der mächtige Reiz seiner Persönlichkeit. Er verstand es, die Menschen seiner Umgebung über sich selbst zu erheben, ihren Blicken einen weiten Horizont zu erschließen und dabei immer mitfühlender, mitgenießender Mensch zu bleiben mit allen Unebenheiten und Schwächen, die ihm anhafteten wie jedem, der sich die Ellenbogen freihält, um große Ziele zu erreichen.

Mitten in seinem vollen Wirken hat den Unermüdlichen ein schneller Tod ereilt. Eine fast vierzigjährige Berufsthätigkeit mag doch nicht ganz spurlos an seinem herculischen Körper vorübergegangen sein. Besonders die schnellen, weiten Winterreisen, welche die Vorträge nothwendig machten, die Kälte, die mangelnde Nachtruhe und das allzulange Sprechen haben seine Lungen krank gemacht. Schon vor vier Jahren wurde er von einer heftigen Entzündung derselben auf’s Krankenlager geworfen. Er hat sich vollständig erholt, aber eine gewisse Müdigkeit war zurückgeblieben. Die Sehnsucht nach behaglicher Ruhe, nach Muße für schriftstellerische Arbeiten, nach Lebensgenuß beherrschte ihn mit fast dämonischer Gewalt. Seine Schulorganisation sollte zu Ostern vollendet werden; seine Ansprüche auf Pension wurden mit dem nächsten Jahre erheblich günstiger. Immer sprach und schrieb er davon, daß er sich dann ein stilles freundliches Nest im Grünen, in heiterer Weltabgeschiedenheit bereiten und dort mit seinen Töchtern – die Gattin war vor drei Jahren gestorben – leben und arbeiten wollte. Wer ihn kannte, hat schwerlich an die Verwirklichung dieser Träume glauben können. Die Schule, das Wirken nach außen waren ihm zu sehr an’s Herz gewachsen, als daß er dieser gewohnten Thätigkeit jemals hätte entbehren können, mit wie glänzenden Farben die Phantasie ihm jene ruhige, pflichtfreie Zukunft auch ausmalte. Zu Ostern 1881 sollte dieselbe beginnen. Ein kurzes Krankenlager, eine tödtlich verlaufende Lungenentzündung hat all seinem Hoffen und Sehnen ein jähes Ende bereitet. Einer der besten Männer Deutschlands, der glänzendsten, beredtesten, kühnsten Geister, der anregendsten, liebenswürdigsten Arbeitsgenossen, der wärmsten Vaterlandsfreunde ist in ihm von der Welt geschieden.

Ueberall, wo Kreyssig gewirkt, ist die Nachricht von seinem Tode mit Bestürzung, mit erregter Theilnahme aufgenommen worden. Die Vereine und Gesellschaften weit im Lande, die sich noch kurz zuvor an seinen Vorträgen erfreut, haben den Sarg mit Lorbeeren und Palmenzweigen geschmückt; Frankfurt, Kassel, Elbing sammeln Beiträge zu Erinnerungsmalen, die in Elbing, der Stätte seines dauerndsten und erfolgreichsten Wirkens, und in Frankfurt errichtet werden sollen. Man sucht abermals dem Todten zu zollen, was man dem Lebenden schuldig geblieben ist.




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
9. „Es geht nicht.“

„Es geht nicht.“

Was geht nicht?

Alles, was wir aus Feigheit oder Trägheit nicht thun mögen; es giebt wenig Dinge, die nicht „gehen“, wenn wir ernstlich wollen, und in neunundneunzig von hundert Fällen würde man statt: „Es geht nicht“, besser sagen: „Ich will nicht“.

Unsere Sprache besitzt leider ein ganzes Lexikon bequemer Redensarten zur Beschönigung jener beiden häßlichen Fehler; es wäre eine interessante Aufgabe, sie alle zusammenzustellen: „Es geht nicht,“ „Ich kann nicht,“ „Das widersteht mir,“ „Dazu passe ich einmal nicht,“ „Ich könnte mich nicht dazu entschließen,“ „Meine Nerven vertragen es nicht,“ und wie die Ausflüchte sonst noch heißen, deren Anwendung auf unser Schaffen und Wirken ich gern ebenso sehr einschränken möchte, wie das

[80] beliebte: „Ich habe keine Zeit“, von dem wir früher einmal gesprochen haben.

Keine Frage, daß es Dinge giebt, die absolut „nicht gehen“, Aufgaben, die unausführbar sind; aber die Fälle, wo wir dieses Entschuldigungswort mit Recht gebrauchen dürfen, sind sehr selten. Das Schicksal ist nicht so blind und ungerecht, wie man gewöhnlich anzunehmen pflegt; es stellt uns nur selten einer Aufgabe gegenüber, der wir in der That nicht gewachsen sind, und in den meisten Fällen würden wir aufrichtiger sagen: „Ich bin zu feige, es zu versuchen“ oder „Ich habe keine Lust dazu“.

Auf einem Gutshofe hatte eine Magd das Unglück sich schwer zu verwunden. Sie war mit der Hand unter die Klinge der Häckselmaschine gerathen und hatte sich mehrere Finger arg beschädigt. Entsetzt standen wohl ein halb Dutzend jammernde Menschen um die Unglückliche, aber nur eine der Frauen griff beherzt zu und verband die klaffende Wunde. Von allen Seiten hörte man rufen: „O Gott, das könnte ich nicht.“

Die Einen „konnten“ kein Blut sehen, die Anderen nicht derb zugreifen, wenn sie schreien hörten, die Einzige aber, die dies Alles konnte, weil sie es wollte, war die junge zarte Hausfrau, eine eben erst genesene Wöchnerin, die gewiß das meiste Recht gehabt hätte, zu sagen: „Ich kann nicht“. Wohl biß die junge Frau die Zähne fest in ihre weißen blutlosen Lippen, aber ihre Hände zitterten nicht bei der abschreckenden Arbeit.

Wenn schwere Anforderungen an unsere körperlichen oder geistigen Kräfte gestellt werden, so haben wir uns einzig zu fragen: „Ist es zweckmäßig, ist es erforderlich, dies auszuführen?“

Heißt nach gewissenhafter Prüfung die selbstgegebene Antwort „Ja“, dann muß die Sache auch „gehen“.

Es ist bekannt, daß alle berühmten Kriegshelden, alle großen Staatsmänner, alle Heroen der Kunst und Wissenschaft das erbärmliche: „Es geht nicht“ aus ihrem Wörterbuche ausgestrichen haben. Man braucht aber kein Napoleon, Bismarck, Newton, Edison oder Darwin zu sein, um die Fessel dieses hemmenden Wortes von seinem Thun abzustreifen; auch jedem ganz gewöhnlichen Menschenkinde gelingt es bei einiger Ausdauer. Und ist es gelungen – o, wie frei fühlt man sich dann, welch stolzes Siegesbewußtsein schwellt die Brust, und welchen Segen bringt solche Thatkraft eines einzigen Menschen oft über seine ganze Umgebung!

Einer unserer bedeutendsten Geschäftsleute erzählte aus seiner Jugend: „Ich war in untergeordneter Stellung und meldete mich zu einem Buchhalterposten in einem der ersten buchhändlerischen Verlagsgeschäfte. Meine Person, meine Kenntnisse sagten dem Chef desselben zu, und schon war er nahe daran, mich zu engagiren, als er die Frage stellte: ‚Sie können doch Englisch und verstehen die doppelte Buchführung?‘ Vom Englischen hatte ich nur die Anfangsgründe gelernt und es seit Jahren nicht wieder geübt; die doppelte Buchhaltung war mir noch ganz fremd.

‚Dann geht es auch nicht, daß ich Ihnen diesen Posten gebe,‘ sagte der Herr bedauernd.

‚Geben Sie mir sechs Wochen Zeit, um Beides zu lernen!‘

‚Nein, nein, das geht nicht,‘ sagte er.

‚Es geht,‘ war meine feste Antwort. Ich erhielt die erbetene Frist zugestanden. Da habe ich denn am Tage meine Arbeit besorgt und Nachts studirt. Um früh die Arbeit nicht zu verschlafen, bin ich manche Nacht gar nicht nach Hause und zu Bett gegangen. Auf der blanken Diele des Geschäftslocales, zwei Bücher unter dem Kopfe, habe ich mich ein paar Stunden hingelegt – das war Alles. Nach sechs Wochen trat ich den Posten an und habe ihn zu des Chefs Zufriedenheit lange verwaltet, bis ich mich selbstständig machte.“

Im alltäglichen Leben bekommt man das abscheuliche „Es geht nicht“ so oft zu hören, daß es schier zum Verzweifeln ist.

„Es geht nicht“, daß man einen lieben Gast auffordert, zum Essen zu bleiben, wenn er erst eine Stunde vor Tisch eintrifft. „Es geht nicht“, daß die Magd einen Brief auf die Post trägt, an dem Tage, wo große Wäsche ist. „Es geht nicht“, daß man mit dem Frühzuge abreist, weil man da eine Stunde früher aufstehen müßte, als alle Tage. „Es geht nicht“, daß einmal Freitags gescheuert wird, statt Sonnabends, daß man bei lieben Freunden im Vorübergehen vorspricht, obgleich man nicht in Visitentoilette ist, daß man der Bonne einen heiß ersehnten Urlaub außer der Zeit bewilligt und die Kinder einen Tag allein beaufsichtigt, daß man eine Stunde früher oder später zu Mittag ißt – alle diese Dinge „gehen nicht“; um einen Grund aber, warum sie nicht gehen, würdest du vergeblich fragen.

Ein wahres Glück ist es noch zu nennen, wenn dann wenigstens Mann und Frau in ihrer Schwerfälligkeit und Pedanterie übereinstimmen; aber wehe, wenn es nur bei Einem von Beiden „nicht geht“, wenn nur die Frau es unmöglich findet, in wenigen Minuten zu einem Spaziergang gerüstet zu sein, oder nur der Mann den Weltuntergang befürchtet, wenn er einmal seinen Frühschoppen oder seine Mittagsruhe dem allgemeinen Wohle aufopfern soll: dann kann das kleine Wort „es geht nicht“ mitunter recht trübselige Folgen haben für den Frieden des Hauses. Welche Wonne aber, mit Leuten zu verkehren, bei denen Alles „geht“!

Da brauchst du dich nicht wegen einer durch Zufall verspäteten Einladung zu sorgen; wenn deine Freunde sie nur wenig Stunden vorher noch bekommen, sind sie gern bereit, ihr zu folgen; tritt in den mit ihnen getroffenen Verabredungen eine Aenderung ein – du brauchst es blos zu melden, und sofort sind sie einverstanden, sich neuen Plänen anzubequemen.

Wird in solch einem Hause ein Kind krank, so findet es die möglichst beste Pflege, die passendsten Stuben des Hauses als Krankenzimmer, den besten Arzt, der zu haben ist – kein Wunder, wenn dann auch schwere Krankheiten glücklich vorübergehen, gefährliche Epidemien ohne böse Folgen verlaufen. Beim Nachbar liegen unterdessen die armen kleinen Scharlachkranken vielleicht in einer engen, dunstigen Kammer, weil es dort „nicht angeht“, ihnen die Putzstube einzuräumen; die kranken Kinder liegen auch stundenlang allein, weil es ebenso wenig „angeht“, daß ihre Mutter bei ihnen bleibt und für diese Zeit das Hausregiment den Dienstleuten überläßt. Da könnte ja ein Stückchen Butter mehr verbraucht, oder es könnte gar eine Manschette versengt werden, wenn sie die Hausfrau nicht selbst plättet. „Das geht nicht“, beileibe nicht! Lieber sollen die kranken Kinder schlecht gewartet werden und später jahrelang an Augenentzündungen und Wassersucht leiden – „das geht.“

Es geht auch nicht, daß man den Arzt, der nun einmal im Hause wohnt, beleidigt und einen andern ruft; es geht nicht, daß man die Köchin mitten in der Nacht in die Apotheke oder um Eis schickt. So viele Dinge „gehen nicht“, und darüber muß dann oft das Schwerste, das Furchtbarste „gehen“ – man muß den Liebling in den Sarg legen, und Keiner fragt uns, ob es uns möglich ist, ihn fortzugeben. O, das Schicksal fragt nicht danach; bei dem „geht“ Alles, was es über uns Menschen beschlossen hat. Darum ist es gut, sehr gut, sich bei Zeiten daran zu gewöhnen, daß das Uhrwerk unseres Lebens nicht immer in gleicher ungestörter Regelmäßigkeit abschnurren kann.

Das Schicksal fragt die Wittwe, der es plötzlich den Gatten raubt, gar wenig danach, ob es denn „angeht“, daß sie fortan die Erhaltung und Erziehung einer zahlreichen Familie allein fortführt; ja, es nimmt ihr vielleicht darauf auch noch den gewohnten, bekannten Erwerb und fragt wiederum nicht, ob es denn „geht“, daß sie jetzt neue Quellen schaffen, neue Wege bahnen muß. Was will eine solche Frau beginnen, wenn sie bei jedem Schritte vorwärts zagend ausruft: „Es geht nicht“? Oder seht dort einen Landmann, der seine ganze Hoffnung auf seine reiche Ernte gesetzt hat! Böse Jahre sind vorausgegangen, die ihn gezwungen haben, Schulden zu machen. Jetzt drängen die Gläubiger – aber nur Geduld! Schon steht der Roggen in voller Blüthe, noch wenig Wochen, und die Frucht ist gereift, die drückenden Verbindlichkeiten können getilgt werden. Da erhebt sich der Mann eines Morgens vom Lager und schreitet hinaus in seine Fluren. Hell glänzt die Maisonne herab vom wolkenlosen Himmel; kein Lüftchen regt sich; die Lerchen wirbeln und schmettern hoch oben, als gäbe es nur Lust und Wonne in der Welt, und doch steht unser Landmann zwischen seinen wogenden Kornfeldern mit gerungenen Händen, mit starrem Blick, mit entsetzlich verstörten Zügen; weiß, unheimlich weiß leuchtet es ihm entgegen von allen Seiten, und das leise Rauschen der Halme klingt gleich einem Grabliede in alle seine Hoffnungen; ein starker Nachtfrost, so spät noch, so unerwartet, hat die ganze Ernte vernichtet. Ein Frost, gegen den keine Versicherung schützt, wie gegen Hagel und Feuer, und der doch eben so unbarmherzig, wie sie, in einer einzigen Nacht den ganzen reichen Segen zerstört hat.

[81] „Mein Gott, mein Gott, wie soll’s nun weiter gehen?“ klagt der so grausam Geprüfte. Heil ihm, wenn er daheim ein Weib hat, das den Spruch „Es geht nicht“ eben so wenig kennt, wie er selber! Dann werden Beide nach kurzem Ringen sich wieder aufraffen, und durch neue Anstrengung hier, Einschränkung dort, das anscheinend Unmögliche möglich machen. – Ja, ich will es Euch nur sagen: sie haben es möglich gemacht, und es ist „gegangen“. Als hätte die Natur in diesem einzigen Nachtfrost alle ihre böse Laune ausgetobt, gestaltete sich das Jahr im weiteren Verlauf so fruchtbar, daß der Schaden im Roggen durch die Fülle der übrigen Früchte und die höheren Preise nahezu aufgewogen wurde.

Ein Nachbar dieses Mannes aber, den das gleiche Schicksal betroffen, hatte gedacht: „Es geht nicht“ und sich am Morgen des 26. Mai 1866, am Morgen nach jener Unglücksnacht, das Leben genommen. Wäre er weniger schnell bei der Hand gewesen mit dem bösen „Es geht nicht“, so wäre der Segen der nachfolgenden Monate auch ihm zum Heile ausgeschlagen und, wie an dem Nachbar, hätte sich die Kraft des „Es geht doch“ auch an ihm bewährt.




Das Licht der Zukunft.[1]
Von Dr. C. Carlotta.

Um die zwölfte Stunde in der Nacht des 22. September 1878 hielt der sogenannte „Owl Train“ der New-Jersey-Southern-Eisenbahn, ein Bummelzug der schlimmsten Sorte, der nur den Localverkehr zwischen den unbedeutenden Ortschaften der Bahnstrecke vermittelt, an einem jener zierlichen Bahnhofsgebäude, durch welche sich die kleinen Eisenbahnstationen im civilisirten Osten Nordamerikas vor denen der westlichen „Wildniß“ auszeichnen. Ich war der einzige Passagier, der hier den Zug verließ, welcher gleich darauf in fahrplanmäßiger Langsamkeit seinen Weg fortsetzte. Auf dem Perron löschte der schläfrige Bahnwärter eben die letzte Lampe aus, und die Dunkelheit ringsum war eine so undurchdringliche, daß ich mich vergebens bemühte, die Wohnhäuser der kleinen Villeggiatur zu erspähen, die ich in geringer Entfernung vermuthete.

Die vollendete elektrische Zimmerlampe.
A ist die Glaskugel, aus welcher die Luft entfernt ist; sie ruht auf dem Untersatze B. F ist die kleine Kohlenfaser, welche durch feine Platinadrähte GG’ mit den Drähten EE’ verbunden ist, die durch Schrauben DD’ zur Generirmaschine führen. Der elektrische Strom, der bei D eintritt, geht durch den Draht E nach dem Platinabügel G, dann durch die Kohlenfaser F nach G’, den Draht E’ hinunter nach der Schraube D’ und von dort nach der Generirmaschine.

Vor wenigen Tagen hatte ich einem Manne, der in diesem verborgenen Winkel der Erde wohnte und den zu besuchen ich gekommen war, ein Telegramm gesendet, mit der Anfrage, wann ich ihn sprechen könne. Die Antwort lautete: „Zu jeder Stunde, bei Tag und bei Nacht.“ Allein ringsumher gewahrte ich kein Zeichen des Lebens, keine Behausung, kein Licht.

Ein leiser Zweifel, ob man mich auch auf der richtigen Station abgesetzt hatte, drängte sich mir auf.

„Ist denn dies hier Menlo Park?“ fragte ich den Bahnwärter, der sich eben anschickte, seinen Posten zu verlassen, und der meine Anwesenheit kaum bemerkt haben mochte.

„Ja, Herr,“ antwortete der Mann. „Sie wollen gewiß Professor Edison sehen, denn sonst bekommt ja hier Niemand Besuche von Fremden. Dort drüben wohnt er, hinter dem Hügel, in der großen Cottage. Gehen Sie nur den Fußweg über die Wiese! Den Professor finden Sie noch so wach wie eine Henne, wenn’s in der Sommernacht geregnet hat und sich am Morgen die Würmer tummeln.“

Er hielt seine Handlaterne hoch empor, und ich entdeckte einen schmalen, ausgetretenen Pfad, der mich in wenigen Minuten über die Wiese und dann über eine kleine grasbewachsene Anhöhe führte. Hinter derselben strahlte mir aus den vier Fenstern der oberen Etage eines zweistöckigen einfachen Hauses, das von einer breiten Veranda umgeben war, eine Fluth von Licht entgegen. Einige Augenblicke später zog ich die Glocke an der vorderen Hausthür. Ein schlanker junger Mann öffnete, aus dessen glattrasirtem Gesichte unter einer hohen, von kräftigem Haarwuchs umrahmten Stirn mich ein Paar klare, forschende Augen anblickten.

Die Aermel seiner losen Jacke und auch die seines Hemdes waren bis zu den Ellenbogen zurückgeschlagen, in der Rechten, welche deutliche Spuren der eben verlassenen Arbeit trug, hielt er eine Feile. Dies war Thomas Alvah Edison[WS 1], „der Erfinder von Menlo Park“, wie ihn Amerika nennt, seit sein Telephon uns die Antipoden so nahe gebracht hat, daß wir ihnen ein vertraulich Wörtlein in’s Ohr flüstern können.

Er hieß mich so herzlich und höflich willkommen, als hätte ich am hellen Mittag und nicht um Mitternacht sein Haus betreten. Seine Rede war schlicht und warm und dabei durchaus geschäftlich kurz; jedes Wort verrieth den amerikanischen Gentleman, der in unaufhörlicher praktischer Thätigkeit das höchste Ideal des Lebens erblickt und der stolz darauf ist, der Wissenschaft die geheimsten Kräfte abgelauscht, abgerungen und sich dienstbar gemacht zu haben.

Die Angelegenheit, die mich zu ihm geführt hatte, war schnell erledigt, und nunmehr gestattete mir der Professor den Eintritt in das Gemach der oberen Etage, dessen hellerleuchtete Fenster ich schon von Weitem erblickt hatte. Es war Edison’s Laboratorium und Werkstatt.

„Früher diente uns das Zimmer als Drawing Room,“ sagte der Professor. „Hier stand der Flügel meiner Frau –“ er deutete auf eine große Drehbank – „und dort, wo Sie auf dem Herde die Tiegel und Retorten sehen, pflegten wir unsere Abendstunden auf dem Sopha zu verplaudern. Ja, den Comfort müssen wir einstweilen entbehren, aber was thut’s? Noch gilt’s, zu schaffen; noch habe ich mein Ziel nicht erreicht; noch harrt die Welt vergeblich auf das, was ihr zwar nicht versprochen, was sie aber von mir zu erwarten scheint. Und wir schaffen’s auch wohl noch; wir sind Beide noch jung: ich ein Dreißiger und meine Frau kaum erst den Kinderschuhen entwachsen. Meine Arbeiten und meine Ideen sind immer länger als der Tag, und deshalb müssen wir oft die Nächte zu Hülfe nehmen“ – in des Professors Gedanken wie in seinen Worten bildeten er und seine Frau nur einen Begriff – „nun, über Jahr und Tag wird ein großer Theil meiner Arbeit vollendet sein, hoffe ich. Dann wollen wir uns zur Erholung eine Reise gönnen nach Ihrem schönen Deutschland, wo wir unter den Männern der Wissenschaft schon manchen Freund besitzen.“

[82] „Und welches ist das Ziel, das Sie heute schon keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht mehr machen läßt?“

„Das Licht der Zukunft!“ antwortete der Erfinder von Menlo Park mit einem Lächeln, das von der innigen Freude Zeugniß ablegte, mit welcher der bloße Gedanke an das Gelingen seines großen Werkes ihn erfüllte. „Ich werde an Sie denken, wenn es so weit ist, und Sie sollen in Deutschland von mir hören – über Jahr und Tag.“

*          *
*

Das war vor fünfzehn Monaten, und nun, da er sein großes Werk vollendet hat und „das Licht der Zukunft“ schon jetzt seiner näheren Umgebung leuchtet, hat sich der treffliche Mann wirklich seines Versprechens von damals erinnert und mich durch Zusendung einer genauen Beschreibung seiner Erfindung erfreut.

Edison’s elektrische Lampe erhält, wie unglaublich dies auch klingen mag, ihre Leuchtkraft von der Kohle eines kleinen Streifens – Cartonpapier, die ein Hauch wegblasen könnte. Durch dieses Streifchen Papierkohle wandert ein elektrischer Strom, und das Resultat ist ein helles, schönes Licht, ein Licht ohne Feuersgefahr, welches nur geringe Hitze ausstrahlt, die Luft nicht mit gesundheitsschädlichen Stoffen anfüllt und stetig, ohne zu flackern, brennt; ein Licht, welches einer Kugel von Sonnenschein vergleichbar ist. Und dieses Licht kann, wie der Erfinder behauptet, billiger hergestellt werden, als das vom billigsten Oel. Legten nicht der Phonograph, der quadruplexe Telegraph, das Kohlentelephon und verschiedene andere erstaunliche Schöpfungen von der alle Schwierigkeiten bewältigenden Schaffenskraft des Erfinders von Menlo Park beredtes Zeugniß ab, so wäre die Welt fast berechtigt, daran zu zweifeln, daß seine kühnen Behauptungen begründet seien; allein selbst diese Zweifel würden durch die Thatsache zum Schweigen gebracht, daß seit der Nacht des 1. Januar im Jahre 1880 alle Häuser der kleinen Villeggiatur an der New-Jersey-Southern-Eisenbahn mit seiner elektrischen Lampe bereits erleuchtet werden.

Bei seinen mannigfachen Versuchen das Ziel zu erreichen, an welchem er sich endlich angekommen sieht: durch Elektricität ein reines, stetig brennendes und verläßliches Licht, mindestens ebenso billig wie das durch Petroleum gewonnene, herzustellen, hatte er zwischen zwei Systemen zu wählen: dem des voltaischen Bogens, der zwischen zwei Kohlenspitzen übergeht, und dem des Glühlichtes eines ununterbrochenen Leiters. Er entschied sich für das letztere, für die seit Jahrzehnten als Leuchtobject erprobte, durch den elektrischen Strom in Weißgluth erhaltene Platinadraht-Spirale, und seine Bemühungen gingen in erster Reihe vornehmlich dahin, irgend ein Mittel zu finden, welches das Schmelzen des zunächst als Glühobject benutzten Platinadrahtes unter der intensiven Hitze des elektrischen Stromes verhindern sollte.

Zu diesem Zwecke arrangirte er eine kleine, etwa drei Zoll lange Hebelstange so, daß die durch die Hitze erzeugte Ausdehnung des glühenden Platinadrahtes über einen gewissen Grad hinaus den Hebel schloß und, indem sie dem elektrischen Strom einen neuen Durchgang verschaffte, diesen von dem weißglühenden Platina theilweise oder ganz ableitete. Wenn das letztere sich zusammenzog, was in dem Augenblicke geschah, in welchem die Hitze vermindert wurde, so nahm der Hebel seine ursprügliche Stellung wieder ein und gestattete dem elektrischen Strom wiederum, durch das Platina zu passieren. Auf diese Weise hoffte der Erfinder im Stande zu sein, den weißglühenden Platinadraht stets am Schmelzen zu verhindern, und dieses Princip beobachtete er in der Construction seiner ersten elektrischen Lampe.

Bald jedoch überzeugte sich Edison, daß die beständige Ausdehnung und der Druck auf den Hebel den Platinadraht so stark bog, daß er unzuverlässig arbeitete. Ehe der Erfinder jedoch diese Schwierigkeiten aus dem Wege räumte, begab er sich daran, andere Verbesserungen vorzunehmen und Lampen der verschiedensten Form und Art zu construiren, deren Hauptvorzüge er schließlich in seiner neuesten Erfindung vereinigt hat. Dazu gehört die neue Regulirmaschine und der Elektrometer, die sogenannte Spullampe, bei welcher das Platina in Form einer kleinen Zwirnspule gewunden, nachdem es mit einem nichtleitenden Ueberzuge bedeckt war, und die Reflectorlampe, bei welcher durch einen Reflector die Wärmestrahlen des Platinas auf einem Stück Zirkon concentrirt wurden, sodaß dieses die Leuchte bildete. Dann aber rückte der Erfinder seinem Ziele um einen bedeutenden Schritt näher, indem er präparirte Kohle mit dem Platina verband. Er ließ ein schlankes Stäbchen solcher Kohle auf dem Platinadraht ruhen, sodaß an dem Punkte ihres Zusammentreffens ein Widerstand gegen den elektrischen Strom stattfand und die Kohle in hohem Grade weißglühend wurde, während das Platina nur eine mattrothe Glühhitze erreichte. Der Druck des Kohlenstäbchens auf den Platinadraht wurde durch ein geschickt arrangirtes Gewicht hervorgebracht.

Von dieser Art Lampe stellte Edison mehr als ein Dutzend in verschiedenen Formen her, allein immer wieder ward er gezwungen, zum Platina als zu derjenigen Substanz zurückzukehren, welche sich ihm zum Weißglühen am besten zu eignen schien. Zwei Monate experimentirte er Tag und Nacht mit diesem Metalle, um schließlich zu finden, daß Platina, wie er es bisher angewendet hatte, zur Herstellung des weißglühenden Lichtes – völlig werthlos sei. Diese Entdeckung, anstatt ihn zu entmuthigen, spornte Edison zu neuen Versuchen an und befestigte seinen Entschluß, die wahre Ursache des Versagens und damit die Abhülfe zu finden. Ueber die Art, wie dies geschah, lasse ich ihn selbst sprechen.

„Ich habe gefunden,“ so schreibt er mir, „daß, wenn dem Schmelzen nahe Platten oder Drähte von Platina mehrere Stunden lang einer hohen Temperatur in der Luft ausgesetzt werden, indem ein elektrischer Strom durch sie hindurchgeht und sie sich dann abkühlen, das Metall unter dem Mikroskop eine Unzahl kleiner Sprünge zeigt, von denen viele fast die Mitte des Drahtes erreichen. Ich habe ferner entdeckt, daß, im Gegensatze zu der vorgefaßten Meinung, Platina an Gewicht verliert, schon wenn es der Hitze einer gewöhnlichen Kerzenflamme ausgesetzt wird, daß selbst erhitzte Luft diesen Verlust an Gewicht verursacht, und daß dieser Verlust so bedeutend ist, daß eine Wasserstoffflamme grünlich gefärbt erscheint. Nach einer gewissen Zeit zerbröckelt das Metall; deshalb sind Platinaplatten oder Drähte, sowie sie jetzt behandelt werden, wegen ihrer Kostspieligkeit und Unverläßlichkeit für die Herstellung des elektrischen Lichtes völlig unverwendbar. Sie können sich denken, wie schwer es mich berührte, als ich zu dieser unumstößlichen Erkenntniß gekommen war. Aber es ist mir nach unendlichen Versuchen gelungen, dadurch, daß ich den Platinadraht in eine Glaskugel einführte, aus welcher ich vermittelst der Luftpumpe alle Luft herauspumpte (durch einen luftleeren Raum also), die Schwierigkeiten zu heben und die Temperatur des Metalles zu einer fast blendenden Weißglühhitze zu erhöhen, sodaß ein Draht die Leuchtkraft von fünfundzwanzig gewöhnlichen Lichtern erhält. Der Draht, nachdem er so von allen Gasen gänzlich abgeschlossen ist, glänzt wie polirtes Silber, zeigt keine Sprünge und verliert, selbst wenn er viele Stunden lang fortwährend geglüht hat, nichts an Gewicht. Als ich zuerst die Erfindung praktisch angewendet hatte, construirte ich meine erste Platina-Vacuum-Lampe.“

Nach diesen Verbesserungen betrachtete der Erfinder das Resultat seiner Arbeit mit großer Genugthuung. Seine Ausdauer hatte die vielen auf seinem Wege sich aufthürmenden Schwierigkeiten eine nach der andern aus dem Wege geräumt. Er hatte Platina als Beleuchtungsstoff aus dem Zustande verhältnißmäßigen Unwerthes bis zu dem der Vollkommenheit erhoben. Es war ihm gelungen, einen Generator, das heißt eine Elektricität erzeugende Maschine zu schaffen welche neunzig Procent (? d. R.) von der durch die treibende Maschine zugeführten Kraft in Elektricität wieder abgab. Mit einem Worte, er glaubte, alle Hindernisse, welche dem Erfolge des Weißgluth-Lichtes entgegengetreten waren, beseitigt zu haben und nur noch einige unwesentliche Details anordnen zu müssen, um mit seiner vollkommenen Erfindung vor die Welt hinzutreten.

So standen die Dinge, als plötzlich – und zwar spielte hier, wie bei so vielen großartigen und weltbewegenden Erfindungen, der Zufall keine unwichtige Rolle – Edison eine Entdeckung machte, welche sein ganzes System im Wesentlichen veränderte und ihn einen gewaltigen Schritt vorwärts zur vollkommenen elektrischen Lampe, zur wahren Zukunftslampe, thun ließ. Eines Abends, in seinem Laboratorium sitzend und über einige der noch unvollendeten Details nachdenkend, begann [83] Edison ein Stückchen gepreßten, mit Theer untermischten Lampenrußes, zum Gebrauch für sein Telephon bestimmt, mechanisch zwischen den Fingern zu rollen. Während sich seine Gedanken noch immer mit anderen Dingen beschäftigten, drehten seine Finger das Stückchen Lampentheer hin und her, bis es zu einem dünnen Faden ausgerollt war. Zufällig fielen seine Blicke darauf, und es kam ihm der Einfall, das Fädchen dürfte, weißglühend gemacht, als Brenner gut verwendbar sein. Wenige Minuten später wurde das Experiment gemacht, und zur Freude des Erfinders ergaben sich günstige, wenn auch nicht überraschende Resultate. Weitere Versuche wurden mit veränderter Form und anderer Zusammensetzung der Substanz angestellt, und jede weitere Probe bewies, daß Edison endlich auf dem richtigen Wege sich befinde. Eine Spule mit Nähgarn lag auf dem Tische des Laboratoriums. Er schnitt ein Stückchen des Fadens ab, that es in eine Fuge zwischen zwei Eisenklammern und stellte das Ganze in den Schmelzofen. Das vorzügliche Licht, welches er dem getheerten Lampenruß abzugewinnen im Stande war, hatte ihn davon überzeugt, daß Kohlenfasern aus einem bisher noch nicht beim elektrischen Lichte angewendeten Stoffe die verborgenen Factoren sein müßten, um den Trimph des weißglühenden Lichtes zu vollenden, und diese Idee ließ ihn mit den verkohlten Ueberbleibseln des Fadens experimentiren.

Nach Verlauf einer Stunde entfernte er die eiserne, den Faden festhaltende Form aus dem Ofen und entnahm derselben die zarten Kohlenreste des Nähgarns, alles, was von demselben nach der Feuerprobe noch übrig geblieben war. Diese zarte Faser that er in eine Glasglocke und setzte damit die Drähte der Maschine, welche den elektrischen Strom erzeugt, in Verbindung, pumpte die Luft aus der Glasglocke und ließ die Electricität zuströmen.

Und siehe da! Ein herrliches Licht strahlt ihm entgegen. Er läßt einen stärkeren Strom zudringen, in der Erwartung, die schwache Faser sofort zerfließen zu sehen – doch nein! Die einzige Veränderung besteht in einem noch strahlenderen Lichte. Immer stärker läßt er den Strom wirken, aber der feine Faden bleibt ganz. Dann setzt er die ganze Kraft seiner Maschine ein und harrt gespannt der Folgen. Eine Minute oder länger scheint der zarte Faden mit der ihn durchströmenden intensiven Hitze zu kämpfen – einer Hitze, welche selbst Diamanten aufblähen würde – endlich erliegt er aber und erlischt in Dunkelheit. Der mächtige Strom hat den Faden zerstört, aber nicht ohne daß derselbe vorher die Lichtkraft von mindestens vier Gasflammen ausgeströmt hätte.

Edison beeilt sich, diese merkwürdige Faser, augenscheinlich so zart, in Wirklichkeit aber unzerstörbarer als Platina, eifrig unter dem Mikroskop zu prüfen. Er gewahrt, daß die Oberfläche derselben sehr glänzend ist, daß ihre einzelnen Theilchen dicht unter einander verwoben erscheinen und – daß die spröde Faser sich bis zu einem bemerkenswerthen Grade verhärtet hatte, nachdem sie dem elektrischen Strome ausgesetzt worden war. Tag und Nacht, kaum daß er sich Zeit zu einer ordentlichen Mahlzeit oder zur flüchtigen Ruhe gönnte, setzte nun der Erfinder seine Experimente fort, und von der Verkohlung des Fadens ging er zu Holzsplitterchen, Stroh, Papier und anderen Substanzen über, welche bis dahin für solchen Zweck noch nie verwendet worden waren. Das Resultat dieser Versuche erwies als die zur Verkohlung und zur Ausstrahlung eines weißglühenden Lichtes bestgeeignete Substanz Papier von der Dicke einer starken Visitenkarte, aber selbst das dünnere lieferte befriedigende Resultate. Die wunderbare Leuchtkraft, die Stetigkeit, Verläßlichkeit und Schmelzbarkeit der Kohlenfaser waren jedoch nicht die einzigen Elemente der neuen Entdeckung, welche das Herz Edison’s mit wahrer Freude erfüllten: vielmehr krönte seinen Triumph, daß hier das Element eines gehörigen und gleichmäßigen Widerstandes gegen den Durchgang des elektrischen Stromes gefunden war. In der ganzen Geschichte seiner Arbeit von dem Augenblicke an, in welchem er dieselbe begann, waren seine Bemühungen hauptsächlich dahin gerichtet gewesen, dieses Element zu gewinnen, und ohne dasselbe, wären auch alle anderen Bedingungen erfüllt, alle anderen Eigenschaften im vollsten Maße vorhanden gewesen, würde der Erfolg des elektrischen weißglühenden oder vielmehr farblosen Lichtes kein vollständiger gewesen sein.

Die Papierkohle wird im Laboratorium auf folgende Weise hergestellt. Mit einer passenden Matrize werden aus einem Stück Cartonpapier Streifen in der Gestalt eines kleinen Hufeisens, etwa 2 Zoll lang und ½ Zoll breit, ausgeschnitten. Eine Anzahl dieser Streifen wird flach in eine schmiedeeiserne Form von der Größe einer Hand gelegt, nachdem sie durch Stückchen Seidenpapier von einander getrennt sind. Die Form wird dann geschlossen und in einen Ofen gebracht, wo sie bis zu 600° F. (= 333° C.) erhitzt wird. Alsdann gelangt sie in einen Schmelzofen und wird bis zur Weißgluth erhitzt, hierauf entfernt und langsam abgekühlt. Wenn dann die Form geöffnet wird, findet man die verkohlten Reste des kleinen Hufeisens aus Cartonpapier, die mit größter Vorsicht abgehoben werden müssen, damit sie nicht zusammenfallen. Diese werden nun in eine kleine Glaskugel gethan und mit den Drähten verbunden, welche zur Generirmaschine führen; aus der Kugel wird dann vermittelst der Luftpumpe die Luft entfernt und die Kugel selbst verschlossen, und die Lampe ist zum Gebrauch fertig, wie die auf S. 81 beigegebene Illustration sie zeigt.

Man wird bei der Betrachtung der Lampe bemerken, daß eine umständliche Regulirvorrichtung fehlt, wie sie durchweg bei Edison’s früheren Lampenconstructionen vorhanden ist. Alle diese Vorrichtungen, welche seine ganze Combinationsgabe so sehr in Ansprnch genommen, erwiesen sich später als überflüssig, denn Edison sah ein, daß die Electricität genau so wie das Gas durch einen Haupthahn regulirt werden kann. Vermittelst seines Systems der Verbindung der Drähte werden durch die Abdrehung einiger Brenner die anderen nicht mehr in Mitleidenschaft gezogen, als beim Auslöschen ebenso vieler Gasflammen, welche dieselbe Hauptröhre speist. Was die Einfachheit der Construction und Regulirung betrifft, so scheint die vollendete Lampe den Höhepunkt der Vollkommenheit erreicht zu haben, und Edison selbst glaubt nicht, daß dieselbe überhaupt noch vereinfacht werden kann, denn sie läßt sich complet für 25 Cents oder 1 Mark 5 Pfennig anfertigen.

Die in der Illustration dargestellte Lampe ist auf den Tisch zu stellen; für Kronleuchter und Wandcandelaber besteht sie nur aus der Vacuumkugel und der Kohlenfaser, die mit dem Candelaber verbunden werden müssen, während die Drähte der in irgend einer Centralbeleuchtungsstation abgestellten Generirmaschine zugeführt werden, welche vielleicht eine halbe englische Meile entfernt sein kann. Man führt Drähte einfach durch die Gasröhren, sodaß die einzige nothwendige Veränderung zur Benutzung einer Gasvorrichtung als Trägers elektrischer Lampen die sein würde, die Drähte durch die Gasröhren zu legen, die Brenner ab- und die elektrische Lampe an ihre Stelle zu schrauben.

Das für die elektrische Beleuchtung der großen amerikanischen Städte in Absicht genommene System wird auch demgemäß auf ein Gebiet von etwa einem Drittel jeder englischen Quadratmeile je eine Centralbeleuchtungsstation einbegreifen. Es liegt in der Absicht der Gesellschaft, welche sich zur praktischen Verwerthung der Erfindung gebildet hat und deren zum Pariwerth von 100 Dollars ausgegebene Antheilscheine bereits auf 3000 Dollars gestiegen sind, die verschiedenen Generirmaschinen einer Station, von denen jede etwa fünfzig einzelne Lampen versorgt, durch mehrere Maschinen von ungeheurer Kraft treiben zu lassen, obgleich Edison auch solche Generirmaschinen hergestellt hat, welche in irgend einem Zimmer irgend eines Hauses mit leichter Mühe angebracht und in Thätigkeit gesetzt werden können.

Auch bei Erfindung der Generirmaschinen stieß er anfangs auf die entmuthigendsten Schwierigkeiten. Sein erster Apparat hatte die Gestalt einer großen Stimmgabel, welche so construirt war, daß ihre beiden Enden mit rapider Schnelligkeit vor den Polen eines großen Magneten vibrirten. Allein diese Construction erwies sich als unpraktisch, und es nahm nahezu vierzig Tage und Nächte in Anspruch, das Richtige, Praktische zu finden. Schließlich aber gipfelten die fortgesetzten Versuche in der Herstellung eines nicht nur vollständig dem von Edison gewünschten Zwecke entsprechenden Generators – dem der Erfinder zu Ehren Faraday’s den Namen „Faradische Maschine“ beigelegt hat – sondern er stellte dadurch auch einen Motor her, der vermittelst eines einfachen an einer Kurbel zu befestigenden Riemens allerlei häusliche Arbeiten: Treiben einer Nähmaschine, Pumpen von Wasser etc. verrichten kann.

Das Problem nun, die in jedem Haushalt verbrauchte Elektricität zu messen hat Edison auf eine geniale Weise gelöst. [84]

Die spanische Post.
Nach dem Gemälde von Professor Alexander Wagner auf Holz übertragen.




Der zu diesem Zweck verwendete Apparat, der Elektrometer, besteht aus einer elektrolytischen Zelle und einer kleinen Drahtrolle, welche in einem Kasten von der halben Größe einer Gasuhr arrangirt sind; derselbe kann beliebig irgendwo im Hause angebracht werden. Die Messung des elektrischen Consums wird vorgenommen durch den Niederschlag von Kupfertheilchen auf einem kleinen Teller in der elektrolytischen Zelle, welcher durch den die Zelle passirenden elektrischen Strom hergestellt ist. In beliebigen Zwischenräumen, etwa am Ende jeden Monats, läßt der controllirende Inspector der nächsten Centralbeleuchtungsstation den Inhalt des Tellers wiegen; auf diese einfache Weise wird der Consum des Einzelnen auf’s Genaueste ermittelt. Außer den hier angeführten Einzelheiten umfaßt das System der elektrischen Beleuchtung Edisons noch eine Menge anderer Details, welche eine so außerordentliche Arbeits- und Productionskraft bedingen, daß man darüber staunen muß, wie ein einzelner Mensch in dem verhältnißmäßig kurzen Zeitraum von fünfzehn Monaten sie überhaupt bewältigen konnte. Dieses Erstaunen steigert sich jedoch zum höchsten Grade, wenn man hört, daß Edison inzwischen noch Zeit gefunden hat, andere Erfindungen herzustellen, z. B. den sechsfachen Telegraphen, einen Apparat, vermittelst dessen auf einem Draht in entgegengesetzten Richtungen sechs Telegramme zu gleicher Zeit befördert werden können, und wichtige Verbesserungen seines Telephons, welche den Werth dieser Erfindung bedeutend erhöhen. Es legt dies Zeugniß ab dafür, daß in der Person des Erfinders von Menlo Park sich Genius und angestrengter Fleiß, Erfindungsgabe und Freude am Schaffen zu einem fruchtbaren Streben vereinigen, welchem wir, als glänzendstes Resultat seiner Kraftanstreugung, das Licht der Zukunft verdanken.



[85] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.




Welche Sicherheit gewährt die gegenwärtige amtliche Fleischschau gegen Trichinose?
Von Dr. H. Baeblich.

Als vor zwei Jahrzehnten Leuckart und Virchow den Nachweis führten, daß die Muskeltrichinen durch Einwanderung in die Muskeln des Menschen gelangen, und zugleich die große Gefährlichkeit derselben für die Menschen anerkannten, fand die Entdeckung anfangs vielfachen Widerspruch, der aber nicht verhindern konnte, daß man sich nunmehr allenthalben mit dem größten Eifer um genauere Erforschung der Lebensgeschichte der Trichinen und ihres Einflusses auf die Gesundheit der Menschen bemühte. Man erkannte sehr bald, daß eine große Anzahl von Krankheitserscheinungen, welche man früher anderen Ursachen zugeschrieben, auf Einwanderung von Trichinen zurückgeführt werden müsse. Die furchtbaren Epidemien von Hettstädt und Hedersleben im Jahre 1865 – an dem letzteren Orte erkrankten 300 Personen an Trichinose, von denen 120 starben – mußten auch den Laien von der Gefahr beim Genusse trichinösen Fleisches überzeugen, und man begann größere Vorsicht beim Einkaufe und der Zubereitung des Schweinefleisches zu beobachten; die Schlächter und Fleischhändler fingen hier und da an, ihre Fleischvorräthe entweder selbst mikroskopisch zu untersuchen, oder durch Fachleute untersuchen zu lassen. Manchem Unheil ist gewiß dadurch vorgebeugt, aber die vielen Erkrankungen an Trichinose, welche trotzdem stattfanden, zeigten die Unzulänglichkeit dieses Verfahrens, und man begrüßte die Einführung einer obligatorischen Fleischschau als eine Maßregel, welche absoluten Schutz gegen

[86] Trichineneinwanderung zu gewähren im Stande sei, denn nun konnte ja kein Schweinefleisch zum Verkauf gelangen, welches nicht vorher durch eine amtlich beglaubigte Person mikroskopisch untersucht und mit dem Attest „gesund“ der Verwendung übergeben worden war. –

Leider haben wir uns in dieser Voraussetzung getäuscht gesehen; die Erkrankungen an Trichinose sind zwar seltener geworden, haben aber keineswegs ganz aufgehört, und noch manches Menschenleben fällt ihnen zum Opfer. Woran liegt das? Es mag vereinzelt vorkommen, daß die Fleischbeschauer nicht ihre Schuldigkeit thun; aber ist denn die mikroskopische Fleischschau in ihrer jetzigen Gestalt selbst bei gewissenhafter Handhabung geeignet, genügende Garantie zu gewähren?

Wir erinnern an einen Fall, der sich unlängst in Merseburg zugetragen hat. Es waren dort Erkrankungen an Trichinose vorgekommen, und der betreffende Fleischbeschauer stand unter der Anklage, seine Untersuchung nicht mit gehöriger Sorgfalt ausgeführt zu haben. Er hatte behauptet, das von ihm untersuchte Fleisch enthalte wirklich keine Trichinen, und eine weitere Untersuchung durch Sachverständige gefordert. Das Fleisch wurde hundert Sachverständigen des Bezirks vorgelegt und von diesen erklärten zehn das Fleisch für gesund, die andern aber fanden darin Trichinen, und die Verurtheilung des Fleischbeschauers erfolgte. Man muß zugeben, daß hier von einer Fahrlässigkeit des Fleischbeschauers keine Rede sein kann. Die Prüfung der Sachverständigen war gewiß eine sorgfältige, und man wird die Zehn, welche keine Trichinen fanden, gewiß nicht der Fahrlässigkeit beschuldigen, so gut aber wie ihnen die Trichinen entgingen, konnten sie auch dem Angeklagten entgangen sein; ja die Sache liegt für den Letzteren noch weit günstiger: die Sachverständigen hatten hier Fleisch vor sich, von dem sie wußten, daß es Trichinen enthalte, für sie handelte es sich also nur darum, dieselben zu finden; der Angeklagte aber hatte Fleisch vor sich gehabt, von dem er nicht wußte, ob es Trichinen enthalte, als er also nach sorgfältigem Suchen keine fand, konnte er mit gutem Gewissen das Fleisch für gesund erklären.

Ein anderer Fall verdient ebenfalls besondere Erwähnung. Im October vorigen Jahres berichteten mehrere Berliner Blätter über einen Trichinosis-Fall in der Pankstraße. Eine Anzahl der erkrankten Personen gelangte in’s Lazarus-Krankenhaus zur Aufnahme. Der dirigirende Arzt dieser Anstalt, Dr. Langenbuch, constatirte, daß alle Patienten von dem nämlichen Fleisch gegessen hatten, und hielt es für seine Pflicht, dem betreffenden Polizeirevier davon Anzeige zu machen. Das Fleisch, welches von einem Fleischbeschauer untersucht und für gesund erklärt war, wurde confiscirt und einer nochmaligen Untersuchung unterzogen, allein es konnten keine Trichinen darin nachgewiesen werden. Sollten nun wirklich keine darin gewesen sein? Sollte vielleicht der Arzt sich über die Krankheitssymptome getäuscht haben? O nein, nach der amtlichen Erklärung des Dr. Langenbuch hat derselbe, um seiner Sache sicher zu sein, zwei seiner Patienten harpunirt und die Trichinen in großer Anzahl und in noch uneingekapseltem Zustande nachgewiesen. Dadurch aber ist zugleich der Beweis geliefert, daß das Fleisch, in welchem eine wiederholte amtliche Untersuchung keine Trichinen nachweisen konnte, solche dennoch wirklich enthielt. Es ist mir nicht bekannt, ob das Fleisch, nachdem man jenes negative Resultat erhalten hatte, wieder freigegeben worden ist oder nicht. Im ersteren Falle hätte man auf’s Neue Menschenleben in Gefahr gesetzt, im letzteren Falle aber die indirecte amtliche Erklärung abgegeben, daß ein Fleisch, welches die amtliche Fleischschau für trichinenfrei erklärt hat, dennoch Trichinen enthalten könne, und damit zugestanden: die Fleischschau, wie sie gegenwärtig gehandhabt wird, gewährt noch keine hinlängliche Garantie gegen Trichinose. Und so ist es in der That, wie die folgenden Ausführungen darthun werden.

Für eine mikroskopische Untersuchung der in Rede stehenden Art ist in der Regel eine viel längere Zeit und eine viel größere Routine erforderlich, als von der Behörde und einem großen Theil der Mikroskopiker angenommen wird; das Quantum der Arbeit wird meistens weit unterschätzt, der Werth des Resultates aber weit überschätzt. Liegt einem Fleischbeschauer Fleisch zur Untersuchung vor, so wird er zwar nicht einen beliebigen Schnitt unter das Mikroskop bringen, sondern seine Aufmerksamkeit vorzugsweise denjenigen Muskeln zuwenden, in welchen er am ersten Trichinen zu finden erwarten darf, allein auch in solchen Muskeln sind die Trichinen nicht gleichmäßig vertheilt; sie fehlen vielleicht in einem Theile solch eines Muskels ganz, während sie in einem anderen in Massen vorhanden sind. Der Fleischbeschauer wird also, um sicher zu gehen, aus jedem Muskel nicht einen, sondern mehrere Schnitte untersuchen müssen. Das Reglement fordert, daß er fünf bestimmt bezeichnete Muskeln, und in jedem derselben 5 bis 6 Schnitte untersucht. Hat er nun gewissenhaft diese 25 bis 30 Schnitte untersucht und keine Trichinen gefunden, darf dann angenommen werden, daß keine vorhanden sind? Die Erfahrung lehrt, daß dies nicht der Fall ist. Ein in Regierungskreisen in Oppeln angestellter Versuch, welcher den Zweck hatte, festzustellen, wie weit sich eine solche Untersuchung auszudehnen habe, führte zu dem Resultate, daß in einem Fleische, von dem man wußte, daß es trichinenhaltig, erst beim fünfunddreißigsten Schnitte Trichinen gefunden wurden. Man wird nicht sagen, daß die Herren nicht hinlänglich geübt gewesen seien im mikroskopischen Sehen, weil sie 34 Schnitte vergeblich durchsuchten, ehe sie die Trichinen fanden; viele andere Versuche dieser Art haben zu ähnlichen Resultaten geführt. Ich selbst habe im Verein mit Freunden, welche sämmtlich gute Uebung im Mikroskopiren haben, mehrfach ähnliche Versuche angestellt, und wir haben von einem Fleische, von dem wir wußten, daß es Trichinen enthalte, häufig 20, ja 25 Schnitte durchsucht, ehe wir Trichinen fanden. Es geht daraus hervor, daß der Fleischbeschauer, wenn seine Arbeit irgend eine Garantie gewähren soll, jedesmal mindestens bis 30 bis 35 Schnitte mikroskopisch gewissenhaft untersuchen muß. Rechnet man für jeden Schnitt auch nur 5 Minuten Zeit – und so viel ist, wie wir gleich sehen werden, mindestens erforderlich – so ist zu einer einzigen Untersuchung eine Zeit von 2½ bis 3 Stunden erforderlich. Es wird aber schwerlich ein Fleischbeschauer in der Lage sein, so viel Zeit auf eine Untersuchung zu verwenden. Aber selbst wenn dies auch geschähe, so würde er doch nicht sicher sein können, daß das Fleisch trichinenfrei ist; er könnte dessen nur dann sicher sein, wenn er die Gewißheit hätte, daß er auch wirklich alle Theile der unter das Mikroskop gebrachten Schnitte gesehen hat. Eine solche Gewißheit aber ist bei der gegenwärtig üblichen Methode der Untersuchung sehr schwer, wenn nicht unmöglich zu erreichen.

Aus der vorjährigen Berliner Gewerbe-Ausstellung war von einer Firma (Franz Schmidt u. Haensch) ein Apparat ausgestellt, welcher den Zweck hat, jeden Mikroskopiker von dem Grade seiner Fertigkeit im mikroskopischen Sehen zu unterrichten und ihm damit zu zeigen, wie viel ihm einerseits durch Uebung noch zu erreichen übrig sei, und andererseits, wie viel Arbeitszeit er aufzuwenden habe, um sicher zu sein, alle Theile eines gegebenen Objectes wirklich gesehen zu haben. Der Apparat ist ein sehr einfacher: es ist eine Glastafel, auf welcher sich auf einer Fläche von einem Quadratzoll verstreut die Ziffern von 1 bis 700 befinden, sodaß jede Zahl also ungefähr den Raum von einem Quadratmillimeter einnimmt. Die Proben mit diesem Apparat haben nun ergeben, daß bei fünfzigfacher Vergrößerung ein sehr geübtes Auge von den 700 gesuchten Feldern nach 30 bis 40 Minuten noch 200 vermißt. Das heißt also: wäre das Object ein Stück Fleisch, so würde man, selbst wenn man 30 bis 40 Minuten lang dasselbe sorgfältig durchsucht hätte, nicht sicher sein, mehr als Dreiviertel desselben wirklich gesehen zu haben. Gesetzt, es wäre dies ein Schnitt, welcher Trichinen enthält, so könnten, da in einem Quadratmillimeter Fläche 10 bis 15 Trichinen sein können, sich in dem Schnitte 2000 bis 3000 Trichinen befinden, ohne daß man eine einzige gesehen hat. Ein ungeübtes Auge wird noch viel weniger von der Fläche sehen.

Ein großer Fehler, welcher von weniger Geübten bei mikroskopischen Untersuchungen häufig gemacht wird, ist der, daß eine zu starke Vergrößerung benutzt wird; es geschieht dies in der vollständig irrthümlichen Voraussetzung, daß man bei stärkerer Vergrößerung auch mehr sehe. Je stärker die Vergrößerung ist, desto kleiner ist das Gesichtsfeld, desto geringer also auch die Wahrscheinlichkeit, ein Object in allen seinen Theilen zu sehen. Gesetzt man hätte bei einer fünfundzwanzigfachen (Linear-) Vergrößerung gerade den hundertsten Theil des Objects im Gesichtsfelde, so müßte man, um das ganze Object zu übersehen, hunderte mal das Gesichtsfeld wechseln, wendet man aber eine fünfzigfache [87] Vergrößerung an, so hat man nur den vierhundertsten Theil des Objects im Gesichtsfelde, muß also, um alle Theile zu übersehen, vierhundertmal das Gesichtsfeld wechseln; daß in diesem Falle viel leichter ein Stück des Objects ausgelassen wird, ist wohl selbstverständlich. Der oben erwähnte Prüfungsapparat liefert hierfür den directen Beweis. Ein geübter Mikroskopiker wird bei Anwendung einer zweihundertfünfzigfachen Vergrößerung von jenen 700 Ziffern volle 75 Procent vermissen, also überhaupt nur 210 Ziffern sehen. Natürlich wird man bei einer Fleischuntersuchung eine solche Vergrößerung nicht anwenden, aber auch die im Reglement in Aussicht genommene hundertfache Vergrößerung ist noch zu stark; über eine dreißig- bis fünfzigfache Vergrößerung sollte man nicht hinausgehen, da hier schon 331/3 Procent des Objects verloren gehen. Die Fachmikroskopiker geben freilich nicht immer zu, daß ihrem geübten Auge so viel vom Object entgeht; ich kann diesen Herren nur rathen, sich durch den Versuch mit jenem Prüfungstäfelchen zu überzeugen; sie werden alsdann zugestehen müssen, daß eine Fleischuntersuchung, welche sie mit aller Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit ausgeführt haben, weit entfernt ist, volle Sicherheit zu gewähren.

Diesem für Leben und Gesundheit so gefährlichen Uebel aber kann in sehr einfacher Weise abgeholfen werden, und zwar durch eine Vorrichtung, welche an mehreren auf der Berliner Gewerbeausstellung befindlichen Mikroskopen angebracht war: eine Schlittenvorrichtung, mittelst deren man bequem jeden Theil des Objects ohne Auslassung in das Gesichtsfeld des Mikroskops bringen kann. Den Berliner Optikerfirmen Teschner und Schmidt u. Haensch, deren Verbesserungen patentirt worden sind, ist es namentlich gelungen, dem Objecttisch eine Einrichtung zu geben, die für die Fleischschau von unberechenbarem Werthe ist. Bei beiden besteht die Einrichtung darin, daß das Object vor dem Objectiv so vorbeibewegt wird, daß alle Theile des ersteren nach der Reihe das Gesichtsfeld passiren müssen. Bei der Teschner’schen Vorrichtung wird die Verschiebung mit freier Hand bewirkt, bei der Schmidt und Haensch’schen Einrichtung durch Triebe. Durchsucht man unter Anwendung dieser Vorrichtung, die sich übrigens an jedem Mikroskop leicht anbringen läßt, das Prüfungstäfelchen so entgeht einem auch nicht eine einzige der 700 Ziffern.

Durch Einführung dieser Einrichtung bei allen zur Fleischschau bestimmten Mikroskopen würde schon sehr viel erreicht werden, aber noch nicht Alles; es muß dem Fleischbeschauer auch Zeit gegeben werden, seine Untersuchung gewissenhaft durchzuführen. Es wird häufig und am häufigsten von geübten Mikroskopikern behauptet, eine solche Fleischuntersuchung erfordere nicht mehr Zeit als 10 bis 15 Minuten, ja Viele verwenden kaum diese Zeit darauf und können es unter den gegenwärtigen Verhältnissen auch nicht. Wir können uns aber durch folgende Betrachtung überzeugen, wie unzulänglich jene Zeit ist, selbst bei Benutzung der oben beschriebenen Verbesserung. Die zu untersuchenden 25 bis 30 Schnitte nehmen etwa die Fläche von zusammen 1 Quadratzoll ein. Bei Anwendung einer fünfzigfachen Vergrößerung erhält also diese Fläche eine Ausdehnung von 2500 Quadratzoll oder 17 Quadratfuß; sie erscheint somit ungefähr so groß, wie ein Bogen der „Vossischen Zeitung“ oder der „Times“. Diese Fläche passirt nun Zeile für Zeile vor dem Objectiv vorbei; die Aufgabe des Mikroskopikers ist dabei ungefähr die eines Correctors einer solchen Zeitung: er hat zu forschen, ob sich auf der Fläche von 17 Quadratfuß irgend eine Trichine zeige, wie der Corrector auf dem Zeitungsbogen zu forschen hat, ob sich irgendwo ein Druckfehler befinde. Nun wird doch Niemand es für möglich halten, einen solchen Zeitungsbogen in 10 bis 15 Minuten genau durchzusehen, das heißt Zeile für Zeile zu lesen und Buchstaben für Buchstaben anzusehen! Ebenso wenig kann der Fleischbeschauer seine Aufgabe in 10 bis 15 Minuten lösen; es sind hierzu, wie ich vielfach erprobt habe, bei Anwendung der Schmidt und Haensch'schen Schlittenvorrichtung für den geübten Mikroskopiker mindestens 40, für den weniger geübten 50 Minuten erforderlich; die Untersuchung der 300,000 Schweine, welche jährlich in Berlin geschlachtet werden, erfordert also im Ganzen 200,000 bis 250,000 Arbeitsstunden. Rechnen wir den Arbeitstag eines Fleischbeschauers zu 7 Stunden – denn mehr dürfen wir seinen Augen wohl nicht zumuthen – und das Jahr zu 300 Arbeitstagen, so würden für Berlin etwa 100 Fleischbeschauer nöthig sein, um die Arbeit zu bewältigen. Die Zahl der Fleischbeschauer ist nun allerdings wirklich vorhanden, aber sie sind bei weitem nicht in der Lage, täglich 7 Stunden auf die Fleischschau zu verwenden, sondern vielmehr darauf angewiesen, noch einen Erwerb daneben zu betreiben, oder vielmehr die Fleischschau nur als Nebensache zu betrachten. Diesem Uebelstande muß ebenfalls abgeholfen werden. Soll die Fleischschau dem Publicum volle Garantie gewähren, so genügt es noch nicht, die Mikroskope mit den neuesten Verbesserungen zu versehen; es ist auch nöthig, daß man die Fleischbeschauer so besoldet, wie es eine sorgfältige Untersuchung erheischt, damit sie nicht genöthigt sind, sich bei der Arbeit zu überhasten. Ich würde es auch nicht für überflüssig halten, wenn die anzustellenden Beamten vorher sorgfältig auf ihre Fertigkeit im mikroskopischen Sehen geprüft würden, sei es nun mittelst des oben beschriebenen Prüfungstäfelchens oder einer andern ebenso zuverlässigen Methode. Wessen Auge nicht fähig ist, bestimmten Anforderungen zu entsprechen, der werde nicht angestellt, mag ihn auch sonst sein Beruf für dieses Amt noch so sehr geeignet erscheinen lassen; denn es handelt sich hier um Gesundheit und Leben der civilisirten Menschheit.




Blätter und Blüthen.


Spanische Staatspost-Freuden. (Mit Abbildung S. 84 und 85.) Das spanische Eisenbahnnetz hat schon eine ziemliche Kilometeranzahl aufzuweisen, und auch die Hauptstädte sind fast alle mittelst Locomotiven zu erreichen. Dennoch kann es dem Touristen, den auch andere Landespunkte, als die großen, von europäischer Cultur schon ziemlich verdorbenen Städte anzuziehen vermögen, recht oft passiren, eins der Vehikel benutzen zu müssen, die man in Spanien mit dem hochtrabenden Namen einer „Staatspost“ belegt. Hat er einmal diese Folterkammer bestiegen und seinen Sitz in der Berlina, im Inferio, in der Rotonda oder gar auf der Banquetta, wie alle diese verschiedenen Marterplätze heißen, genommen, so kann man ihm mit Dante zurufen: „Laß die Hoffnung draußen!“ – denn vom Abgange aus dem Posthofe beginnen seine Leiden, die, in riesigen Proportionen sich steigernd, zuletzt den Delinquenten entweder zu einem gelinden Wahnsinn oder, was vielleicht besser ist, zum Stumpfsinn bringen.

Nachdem das Gefährt mit der vorschriftsmäßigen, polizeilich festgestellten Anzahl von Reisenden der verschiedensten Art und Bildung besetzt worden, rollt der sich in's Unvermeidliche fügende Passagier, zwischen Koffern, Reisetaschen, Bettzeug, Hunden, geladenen Gewehren, Kisten, Säcken mit Lebensmitteln eingekeilt und zur völligen Unregsamkeit verurtheilt, mit der Post durch die engen Gassen des Städtchens hin. Der Postwagen schaukelt in entsetzlichen Pendelschwingungen von einer Häuserseite zur andern. Die Straße ist so enge, daß allerdings ein Umfallen des hochgehenden Wagens nicht zu befürchten ist. Noch über eine hohe Brücke, und des Städtchens Weichbild ist erreicht; der Wagen kommt unter den Flüchen des Mayorals (des Kutschers) zum Stehen. Jetzt erst werden die zehn oder zwölf mit rothen, blauen, gelben Troddeln und mit Schellen reich behängten Maulthiere eigentlich angeschirrt und in Ordnung gestellt, und hier auch wird der Willkür und Habgier der Kutscher und Treiber, die sich nun außerhalb der Augenweite der ohnehin mit Blindheit geschlagenen Polizei wissen, volle Freiheit gegeben – denn es giebt noch eine Menge unbekannter, nicht reglementsmäßiger Wagenplätze, welche die nun frisch aufsitzenden Reisenden zweiter und dritter Ordnung, ohne sich um die rechtmäßigen Insassen zu kümmern, mit Hast und unter heftigen Streitigkeiten einzunehmen bestrebt sind, wobei die Deckplätze die Hauptrolle spielen. Sitzend, liegend, mit den Beinen herabbaumelnd, weiß der Spanier sich in den kleinsten und unbequemsten Raum einzufügen, aus dem höchstens ein Unfall ihn wieder herauszubringen im Stande wäre.

Der Wagen hat, ohne an Raum zugenommen zu haben, sich seit der Abfahrt aus dem Posthofe um zwei Drittel seiner In- und Aufsassen vermehrt, und in riesigem Zuge setzen sich endlich die Gespanne wieder in Bewegung.

Es ist Hochsommer. Die Landstraße ist mit einer fußhohen Decke von atomartig gepulvertem gelbem Sande belegt, der trügerisch die Unebenheiten ausgleicht, welche eine spanische Poststraße bietet. Staubwolken thürmen sich unter den Hufen der Gespanne zum Himmel auf, von einer Dichte, daß die Vorderthiere nicht mehr zu erkennen sind, und der Wagen senkt sich in die Löcher der Straße bald mit dem linken, bald mit dem rechten Rade ein. Der arme Reisende klammert sich fest an seinen Sitz an, obgleich diese Procedur ihn keinesfalls vor dem Umfallen schützen kann. Die Stöße und das Schaukeln des Vehikels sind so fürchterlich, daß der Gefolterte weder für Landschaft noch äußere Umgebung irgend ein Interesse fühlt. Doch mit außerordentlicher Ausdauer galoppiren die zehn Maulthiere, den gelben Kasten hinter sich, weiter, die Gefahren instinctmäßig umgehend und vermeidend. Und was ist zum Dank hierfür [88] das Loos der armen Thiere? Der Mayoral, welcher, auf dem Bock sitzend, die Zügel der Stangenthiere führt und zugleich eine sehr lange Peitsche mit Virtuosität zu handhaben versteht, mit der er die Ohren der Gespanne kitzelt, giebt sich alle Mühe, seine Zugthiere mit Hieben und Fußtritten zu foltern und zu animiren. Der neben den Thieren herlaufende Zagal, ein stämmiger, junger Bursche, theilt zu gleicher Zeit mit umgekehrtem Peitschenstock seine Kernhiebe aus und schont dabei weder den Rücken, noch die Weichen, noch den Kopf der Thiere, sodaß es kaum begreifbar ist, daß lebende Wesen unter solcher Behandlung nicht sofort verenden. Helfen Hiebe nicht, so sind Steinwürfe in Begleitung aller Kraftausdrücke und Fluchworte, deren ein spanischer Zagal mächtig ist, gewöhnliche Stimulirungsmittel für die überangestrengten Thiere.

Wenn die Staatskutsche ein Dorf oder einen Weiler passirt, so ist die ganze liebe Jugend männlichen und weiblichen Geschlechts darauf bedacht, den Gespannen eine halbe Stunde lang nachzulaufen und mit Knütteln, Stöcken und Steinen unbarmherzig auf die Thiere[WS 2] loszuschlagen. Stürzt eins, so wird ihm das Aufstehen mit Peitschenhieben erleichtert, und bergab, bergan ist Galopp die gewöhnliche Gangart. Daß die Thiere hierin nie nachlassen, dafür sorgt ein dritter Tyrann, der sogenannte Delantero, ein Vorreiter, dessen Amt es ist, mit Schmeichelworten oder im Nichtbeachtungsfalle mit Peitschenhieben die vorderen tonangebenden Paare stets in Athem zu halten. Wenn schon die Ausdauer der an jeder Hauptstation zu wechselnden Thiere eine bewunderungswürdige ist, so ist es noch mehr die ihrer Peiniger, welche zweitägige Reisen hin und zurück, in Staub, Hitze und beständiger Bewegung aushalten und dabei mit einer Brodkrume und einem Trunk Wasser vorlieb nehmen; denn das spanische Volk ist nüchtern, wie kein anderes. Aus der Behandlung seiner Gespanne möge man ferner keineswegs auf ein rohes Gemüth des Spaniers schließen. Im Stalle sind die Thiere seine besten Freunde, für welche er nur Schmeichelnamen, wie „mein Täubchen“, „mein Schätzchen“ hat, wie er im Dienste fast Unmögliches von ihnen verlangt, so pflegt er sie zu Hause mit aller Sorgfalt; er küßt und streichelt sie und füttert sie in aufmerksamster Weise.

Die ganze Gefährlichkeit für Leib und Leben, wie so ein spanischer Staatspostkasten sie darbietet, führt uns Professor Alexander Wagner (der Maler des in Nr. 30, 1878 vorgeführten „Römischen Stiergefechts“) in seinem vorstehend wiedergegebenen großartigen Gemälde „Die spanische Post“ in wahrhaft schwindelerregender Lebendigkeit vor Augen. Alles auf diesem mit realistischer Schärfe der Beobachtung erfaßten und mit viel künstlerischem Gestaltungsvermögen ausgeführten Gemälde trägt einen echt spanischen Charakter und illustrirt uns das Leben der dortigen Landstraße in den frischesten Farben.

Th. S.




Ernst Kossak. Es geht ein unheimlicher Zug durch die Geschichte unserer modernen deutschen Schriftstellerwelt. In ihrer vollen Lebensfrische, mitten in der Freude rüstigen Schaffens und Strebens, den Lorbeer auf der Stirn und große Entwürfe im Herzen, werden ernste wie lustige Geister von einem schwarzen Verhängniß erfaßt, unerbittlich niedergeworfen und dann auf Jahre hinaus zu einem Dasein hülfloser Abgestorbenheit verdammt, aus dem nur der Tod zu erlösen vermag. Die Ursachen dieser in erschreckenden Wiederholungen eingetretenen Fälle sind im Allgemeinen nicht schwer zu ermitteln. Das gesammte Arbeiten der geistigen Sphäre wandelt nicht mehr auf so friedlich geebneten und bequem vorgezeichneten Bahnen, wie in früheren Tagen. Während jetzt schöpferische Naturen sich umbraust und umwogt sehen von einer ruhelos in ihren Tiefen erschütterten Welt leidenschaftlicher Gegensätze und Forderungen, rang und ringt in ihrem Innern eine Welt neuen Denkens, Anschauens und Empfindens nach neuen, den starken Bewegungen des Jahrhunderts entsprechenden Formen des Ausdrucks und der Gestaltung. Das ist nicht blos Arbeit, sondern ein täglicher Kampf, der viel Herzblut aufsaugt, viel Nervenkraft verzehrt, seine Werkleute absorbirt und seine Opfer und Märtyrer verlangt. Zu ihnen gehört auch Ernst Kossak, den älteren unserer Leser als gern gesehener Mitarbeiter bekannt. Nicht erst am 3. Januar d. J., wo er für immer seine Augen schloß, ist er der Welt entrissen worden. Er war ihr schon verloren, als eine Lähmungskrankheit rettungslos seine physische und geistige Lebensfähigkeit gebrochen, ihn grausam vom Schauplatz gestoßen, die flinke und tapfere Feder ihm aus der Hand genommen hatte. So hat er noch beinahe fünfzehn Jahre wie der traurige Schatten eines Gewesenen unter den Zeitgenossen geathmet. Erst bei seinem Hinscheiden ist seiner wieder gedacht, sind wehmüthige Erinnerungen an seine Persönlichkeit und sein Verdienst in allen Denen geweckt worden, die ihn, seine Laufbahn und die denkwürdige Zeitwende gekannt, welche sein Talent zur Entfaltung gebracht hatte.

Ernst Kossak war seiner schriftstellerischen Bildung und Richtung nach recht ein Sohn jener vierziger Jahre, die bei uns so reich an bahnbrechenden Geistesthaten waren und einen so entscheidungsvollen Auf- und Umschwung unserer Literatur und Presse herbeigeführt hatten. Von jenen wissenschaftlich und dichterisch erregten Jugendkreisen Berlins, in denen ein nach Durchbruch und Bethätigung strebender Reformdrang mächtig gährte, hatte auch der junge Philologe, der zugleich ein ausgezeichneter Pianist und theoretischer Musiker war, den Sporn für seine Lebensbestimmung empfangen. Mit den literarisch aufstrebenden Genossen der Zeit theilte er das Charaktergepräge derselben: die streitbare Mannhaftigkeit des Sinnes und der Ueberzeugung, ungebundene Vornehmheit der Haltung und eine der tief bewegten Innerlichkeit entsprossene selbstlose Hingabe an ideale Zwecke. Dem heutigen Geschlechte würde es kaum gelingen, sich in die gehobenen Stimmungen jener unter dem schlimmsten Polizei- und Censurjoche lebenden Jugend zurückzudenken. Bezeichnend für Kossak aber ist es, daß er in Betreff seiner Aufgaben nicht unsicher und fehlgreifend umhertastete, er wußte von vornherein, wohin Neigung und Begabung ihn wiesen: die Zeitung wurde sein Feld, der Journalismus das Ziel seiner Absichten, und zwar jener ästhetisch-kritische Theil desselben, der denn auch bald in der politischen Presse sein souveraines Revier erhielt und unter den bekannten Strich der Zeitungen geschoben ward.

An regelmäßigen Besprechungen solcher Art hatte es auch bis dahin in den großen und einflußreichen Organen Berlins keineswegs gefehlt. Sie waren aber das unbestrittene Monopol behaglicher Stimmführer, die sich mit gemüthlicher Loyalität in den ausgetretenen Pfaden eines handwerksmäßigen Schlendrians bewegten, zu nicht geringer Schädigung des öffentlichen Geistes und Geschmackes, welcher von dieser meist ehrlich gemeinten, aber zopfigen und hausbackenen Spießbürgerkritik bestimmt und gerichtet wurde. Hier war es, wo die neu erstehende Kraft Kossak’s umwandelnd eingriff, und zwar durch ihr eigenes Beispiel. Die zusammenfassende Chronik, welche er allwöchentlich über das gesellschaftliche Leben, über Theater und sonstige Literatur- und Kunstzustände der Hauptstadt schrieb, zeigte in der sachkundigen Gründlichkeit des Inhalts, in dem eleganten Schliff des Stils und der rückhaltlosen Selbstständigkeit der Gesichtspunkte alle Merkmale einer beginnenden Verjüngung. Es war in diesen farbigen und geistsprühenden Momentbildern des kritischen Federzeichners, in diesem verstandesscharf auf den Kern dringenden, gegen aufgeputzten Moder und gleißende Schwäche sich wendenden Urtheil, in dieser Mischung stimmungsvollen Humors mit schlagendem Witz ein wirklich neuer Reiz belebender Frische, der seines Eindrucks nicht verfehlen konnte, weil er den besten Regungen der Zeit entstammte. Die Kossak’sche Chronik errang sich daher nicht blos in Berlin die allgemeine Beachtung, sie wanderte auch bald allwöchentlich von seinem Schreibtische unter den verschiedensten Ueberschriften und in den verschiedensten Gestalten durch die hervorragendsten Organe Deutschlands. Kossak’s Name wurde berühmt, seine Stimme einflußreich, seine Stellung in der Tagesliteratur glänzend.

All dieses Wirken gehörte freilich in seinen einzelnen Aeußerungen meist nur dem Augenblicke an, und schon am nächsten Tage waren dieselben mit den Zeitungsblättern verweht, in denen sie sich kundgegeben hatten. Trotzdem ging ein nachhaltiger Anstoß von ihnen aus, und es floß davon etwas Unvergängliches über in die Auffassungsweise des Publicums und in die weitere Gestaltung des ganzen Thätigkeitszweiges. Wenn man dem heutigen kritischen Feuilleton der gutgeleiteten Blätter eine culturgeschichtliche Bedeutung beimißt – und wir glauben, es hat sich diese Anerkennung erzwungen – so wird die Geschichte des deutschen Journalismus es Ernst Kossak als Verdienst anrechnen müssen, der erste wirksame Anreger und einer der würdigsten und nachdrücklichsten Vertreter dieser ansprechenden Gattung volksthümlicher Kritik gewesen zu sein. Es war das kein leichter und sorgenloser Weg. In allen Schichten des Volkes wurde Kossak eifrig gelesen, und Tausende hat er durch die Anmuth seiner Darlegungen und durch seine kaustische Satire geweckt und ergötzt. Nur die Näherstehenden aber wußten, welch ein Ernst des Studiums, der Bildung und Gesinnung, wie viel Schweiß heißer und mühsamer Arbeit hinter den burlesken und scheinbar so leicht hingeworfenen Plaudereien des brillanten Feuilletonisten lag. An den Tagen, wo er seine größeren Artikel schrieb, saß er vom frühen Morgen in seinem Zimmer eingeschlossen, kaum sich Zeit zur nothwendigsten Nahrung lassend. Erst an den Abenden begrüßte er nach vollbrachtem Werke die Seinen und wankte dann mit der treuen Gattin tief ermüdet auf einen Spaziergang oder in’s Theater. An Kampf, Sturm und Aergerniß hat es bei der Weise seiner Thätigkeit natürlich auch niemals gefehlt, und alle diese endlosen Aufregungen und Anstrengungen waren es denn auch hauptsächlich, die den heiter gearteten Schriftsteller, eine imposante Männererscheinung von gewinnender Liebenswürdigkeit der Umgangsformen, so früh aufgerieben und seinem mit wärmster Inbrunst erfaßten Berufe entzogen haben. Als die Krankheit ihn unfähig gemacht, fand sie ihn, um dessen Lob fortwährend die Angesehensten sich beworben hatten, als einen gänzlich vermögenslosen Mann, durch die Unterstützung der „Schiller-Stiftung“ und einiger Freunde fortan sein hülfloses Dasein fristend. Die übrige deutsche Welt kümmerte sich weiter nicht um ihn; erst bei seinem ehrenvollen Begräbniß ist ihm der längst verdiente Lohn anerkennenden Dankes geworden. Trauriges Symptom trauriger Zustände! – Von Kossak’s Schriften würden seine humorvollen Bilder und Typen aus dem Berliner Leben eine Gesammtausgabe verdienen. Zu seinen besten Arbeiten gehört auch der umfassende Text, den er zu den berühmten Aquarellen von der Weltreise des Malers Hildebrandt geschrieben hat.

A. Fr.




Kleiner Briefkasten.


R. B. in Z. und Andere. Sie möchten Näheres über den Maler des mit so lebhafter Begeisterung aufgenommenen Bildes „Um Nichts!“ in der letzten Nummer vorigen Jahrgangs erfahren. Hier haben Sie, was wir wissen: Ernst te Peerdt ist im November 1852 zu Tecklenburg als jüngster Sohn eines Juristen geboren, welcher gegenwärtig als Amtsgerichtsrath in Wesel angestellt ist. Er hat seine Schulbildung in Wesel, seine erste künstlerische Vorbildung in Düsseldorf genossen, wo er ein Schüler Bendemann's war. Alsdann ging er zu Piloty und Diez nach München, das er aber, weil ihm das Klima nicht zusagte, schon nach Ablauf eines Jahres wieder verließ, vollendete, nachdem er als Artillerist sein Jahr abgedient, seine Studien in Berlin, hier unter Knaus von der Historie zum Genre übergehend, und arbeitete von da ab selbstständig. Seit dem Frühjahr 1878 lebt er ständig in Italien, geht aber mit der Absicht um, sich wieder Düsseldorf zuzuwenden. Der charaktervolle Ernst, mit dem sich der begabte junge Künstler zu der jetzigen Höhe seines Wollens und Könnens heraufgearbeitet hat, bürgt für ein weiteres tüchtiges Schaffen desselben, wenn auch so glückliche Würfe, wie das Duellbild, nicht alle Tage gelingen. Uebrigens ist außer dieser Arbeit noch ein zweites Bild te Peerdt's, seine „Klostertoilette“, in weiteren Kreisen bekannt geworden.

K-b in Amsterdam. Quittung über die Liebesgaben, welche für die Nothleidenden in Oberschlesien und die Hinterbliebenen der Zwickauer Verunglückten eingegangen sind, wird von nächster Nummer ab erfolgen.


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir veröffentlichen obigen Artikel über Edison’s neue Lampe auf das empfehlende Gutachten einer naturwissenschaftlichen Autorität hin, können jedoch nicht umhin, ihm den Ausdruck unserer Reserve hinzuzufügen, um so mehr da gegenwärtig in den Blättern die Nachricht auftaucht, die als Brenner verwendeten Bügel aus Papierkohle zerfielen nach kurzem Gebrauch und Edison hätte auf diese Wahrnehmung hin die Fabrikation der neuen Lampen eingestellt. Jedenfalls hat diese neueste Erfindung des Amerikaners soviel von sich reden gemacht, daß die im Obigen mitgetheilte Geschichte derselben unsere Leser interessiren wird.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Thomas Aloah Edison
  2. Vorlage: Thüre