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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[625]

No. 38. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Mit Aufbietung aller Kraft raffte die Baronin sich auf und warf einen wilden Blick um sich, als halle das entscheidende schreckliche Wort ihr immer noch von allen Wänden entgegen und raune aus jeder Ecke, um sie von dem Boden zu scheuchen, der keinen Raum mehr für sie hatte. Ihre Kniee wankten, aber sie schleppte sich durch das Atelier, schlug den Vorhang zurück und trat in den Wintergarten.

Der Springbrunnen plätscherte, und die Sonnenfunken, die durch das engmaschige Netz der verschränkten Zweige und Blätter hereindrangen, tanzten auf der glänzenden Wasserkuppel und rollten in jedem Tropfen als leuchtende Goldperlen in das Bassin.

Dieses monotone Rieseln und Murmeln inmitten der stummen, stillen Pflanzenwelt, dicht neben dem Raume, in welchem eben noch zwei Menschenstimmen in aufgestürmter Leidenschaft einen erbitterten Kampf ausgefochten, war von dämonisch bezwingender Wirkung.

Sie starrte auf die Wasserfläche, die sich in zitternder Unruhe bewegte und doch in die Schranken des Bassins gebannt blieb.... Wie, wenn der Abfluß des Wassers plötzlich gehindert würde? Vor ihrem Geiste hob sich der Spiegel da höher und höher, als steige ein Haupt unter dichtem Silberschleier empor; die Schleierfalten dehnten und weiteten sich – es stieg über den Steinrand und setzte einen schwach auftappenden Fuß auf den Asphaltboden und schlüpfte weiter und weiter. Und die Silberschleppe floß nach, unerschöpflich sich ausbreitend, um plötzlich eng geduckt unter dem Velourvorhang hinzukriechen – hei, wie der Mosaikboden drüben zu glitzern begann, wie es da unten an den Wänden, in den Ecken lebendig wurde! Papierbogen, große, starre, mit Skizzen bedeckte, und alle die verhaßten Gesichter auf der gespannten Leinwand legten sich breit und schaukelnd auf die silberwogende Schleppe; die hingebreiteten Panther- und Bärenfelle wurden leise gehoben, als sollten sie sich wieder über den Rücken ihrer früheren Bewohner schmiegen; von den Postamenten und Säulenstümpfen rollten die Ibisse, die Vasen mit Cacteen; selbst die schweren Schränke und Credenzen an den Wänden schwankten, als rüttelten und schüttelten grobe Hände an ihren geschnörkelten Beinen, und all das blinkende Geschirr, die Kannen und Becher, die venetianischen Gläser und Spiegel stürzten klirrend und schmetternd von den Kanten.... Alles das sah sie im Geiste: ein halb unterdrückter, wilder Jubelschrei zitterte durch den Wintergarten, und wie mit einem festen Entschlusse lief die lange gebückte Frauengestalt hinaus und durch die Platanenallee; in das heftige Rauschen ihres Seidengewandes mischte sich das Gemurmel der Lippen, die immer und immer wieder „Haß, Haß!“ vor sich hinsagten.




39.

Bald nachher hörte man in der Beletage das Gelärm eilig und geschäftig durch einander rennender Menschen. Was „die Gnädige“ an Koffern besaß, wurde in den großen Saal getragen, und dort stand die Stiftsdame und dirigirte und commandirte in ihrer energischen Art. Ihre Wangen brannten, und in den dunklen, strengen Augen glomm ein befremdliches Licht, ein Licht wie Fiebergluth, aber jeder ihrer Befehle „hatte Hand und Fuß“, wie die Leute sagten, Verwirrung und Ueberstürzung konnten bei ihr niemals aufkommen.

Seltsam, diesmal wurde das ganze Silberzeug, der gesammte Inhalt der Schränke, welche die Hauswäsche enthielten, bis auf die kleinste Theeserviette herab, in den Koffern mitgeschleppt, ja, man nahm sogar Bilder, Nippes und Albums von den Wänden und Tischen und packte sie ein. Das ließ ja auf eine jahrelange Abwesenheit der Herrschaft schließen; und zu alle dem Räthselhaften hatte Fräulein von Riedt auch noch an den Sachwalter der Baronin, der nur um einige Bahnstationen entfernt lebte, telegraphirt, daß er ungesäumt kommen möge, und der Bediente Robert meinte, die Gnädige müsse zu der Reise viel Geld nöthig haben – deshalb werde wohl der Advocat in den Schillingshof citirt.

Das Alles sagte Mamsell Birkner in der Kinderstube zu Hannchen und Deborah, und Donna Mercedes hörte es drüben in ihrem Schlafzimmer. Also die Reise war unumstößlich festgestellt. Er ging hinaus, um neuen Ruhm zu ernten, und die Frau, die sein künstlerisches Wirken mißachtete, hatte es durchgesetzt, ihn zu begleiten. Das Bild, das ausgestellt werden sollte, war ihr ein Gräuel, und dennoch trat sie starrköpfig an die Seite dessen, der es geschaffen, um verbissenen Grolles den Triumph der Meisterschöpfung mit anzusehen.

Noch vor Wochen würde Donna Mercedes mit Genugthuung die Nemesis begrüßt haben, welche die Geldheirath an dem Künstler räche – heute aber durchwogte sie ein heißer, leidenschaftlicher Schmerz, und sie grollte dem blinden Geschick, das einen edlen männlichen Geist mit einem niedrig gesinnten Weibe an eine Kette geschmiedet. [626] Ihn sah sie nicht wieder, und sie durfte das auch nicht wünschen, weil sie ihrer Fassung und Selbstbeherrschung den blauen, ehrlichen durchdringenden Augen gegenüber nicht sicher war. Aber sein letztes, sein Lieblingswerk, die greise Hugenottin, mußte sie noch einmal sehen, ehe es, in die dunkle Haft der Kiste eingeschlossen, seinen Triumphzug in die Welt begann.

Inzwischen war es Abend geworden. Die letzten Gluthstreifen der Abendsonne waren längst auf den Berggipfeln verglommen; dafür floß die blaßgoldene Lichtfluth des Vollmondes fast tageshell vom Himmel und ließ es nicht dunkel werden auf Erden. Vollbeleuchtet, wie in Silber getrieben, ragte die reliefgeschmückte Gartenfronte des Säulenhauses in die flimmernden Lüfte; auf dem kleinen raschen Bach, der die Wiesen durchrauschte, hüpften und sprühten Lichtfunken, als zöge ein juwelenglitzerndes Elfenvolk die Wasserstraße entlang, und das weiße Atelier stand glanzüberströmt.

Donna Mercedes ging scheuen Schrittes durch die Boscage und quer über die Wiesen; in dem weichen Gras versank unhörbar ihr Fuß. Hannchen hatte zwar gesagt, daß Baron Schilling fortgeritten sei – er that das häufig in schönen Mondscheinnächten – und die Gnädige habe sich seit Nachmittag in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, um dem wüsten Lärme des Einpackens aus dem Wege zu gehen. Der Gärtner war auch längst durch den Vorgarten nach dem Bierhause gegangen, und nur in der Stube über den Ställen brannte ein einsames Licht; der Stallknecht mußte zu Hause sein, aber der war Donna Mercedes noch nie im Garten begegnet. Sie durfte also hoffen, nicht beobachtet zu werden; und doch erschrak sie über jeden Kiesel, der unter ihren Füßen knirschte, als gehe sie auf Diebeswegen.

In der Nähe des Ateliers horchte sie plötzlich befremdet auf; dort vom Wintergarten klang ein Rauschen und Plätschern herüber, als stürze ein Waldbach von einer Höhe herab; sie brauchte nicht mehr zu befürchten, daß man ihre eiligen Schritte auf dem Kiesplatz höre – das Geräusch verschlang jeden andern Laut.

Der Mondschein fiel hell durch das unverhüllte Glasdach; beim Näherkommen sah sie die Gloxiniengruppen, die Magnolien- und Orangenblüthen aufleuchten – sie hätte jede einzelne Zacke der gefiederten, an die Glaswand gedrückten Farrenwedel nachzeichnen können, aber sie sah auch, daß alle Fontainen sprangen. Das schwirrte und zischte und flog silberfunkelnd, wie von hartgespannten Bogen abgeschnellt, zwischen den Palmenkronen und Drachenbäumen, unermüdlich und scheinbar immer stärker anschwellend, als seien die Wasseradern der Tiefe zum Bersten gefüllt. Cascadenartig stürzte sich das Wasser über den Steinrand des großen Bassins; einige der kleinen Steinmulden, aus denen vereinzelte Strahlen steil aufstiegen, strömten gleichfalls über.

Donna Mercedes stand einen Augenblick erschrocken an der Glasthür, die sie verschlossen fand. Die Abzugsröhren des Wasserwerkes mußten verstopft sein. Schon schwamm der größte Theil des Asphaltbodens, und die unten aufgestellten Blumentöpfe rollten umgerissen durch einander.

Die Thür nach dem Atelier stand weit offen; der Velourvorhang war zurückgezogen, und weder eine erhöhte Schwelle noch die kleinste Stufe trennte die Mosaik des Malersaales von dem Fußboden des Wintergartens. Auf dem musivischen Boden aber standen und lagen viel kostbare Gegenstände der Alterthumsammlung, und Skizzen und angefangene Bilder von Baron Schilling’s eigener Hand lehnten an den Wänden. Das Alles war verloren, wenn das Wasser heranschwemmte.

Sie eilte nach der Thür, die direct aus dem Garten in das Atelier führte – auch sie wich nicht unter ihrer rüttelnden Hand, aber die dort, hinter welcher die Treppe in den Oberbau stieg, zeigte einen klaffenden Spalt; sie stieß dieselbe zurück und flog die Stufen hinauf. Nur schwach erhellte das schräg hereinfallende Mondlicht einen engen, dumpfen Vorplatz, auf den eine einzige Thür mündete; Donna Mercedes öffnete auch diese und eilte durch Baron Schilling’s Vorzimmer.... „Die Gnädige“ hatte Recht gehabt, es war schwül, erdrückend schwül in diesem niedrigen Raume, in welchen sich der Herr des Schillingshofes freiwillig verbannt hatte, um der prüden Schwester seines verstorbenen Freundes willen, die mit ihm nicht unter einem Dache wohnen wollte.

Dort hing die Gobelingardine, die das Zimmer vom Arbeitslocal des Künstlers schied. Donna Mercedes schob sie mit hastigen Händen zur Seite und trat hinaus auf die Gallerie.

In voller Mondbeleuchtung lag das mächtige Viereck des Ateliers unter ihr, himmelweit verschieden von dem farbenglühenden Gesammtbild, das sie in dem lebendigen Goldglanze der Nachmittagssonne gesehen – blaß und schemenhaft.

Hier oben sah man den Wintergarten sich hinter der Glaswand hinbreiten; es war als ob die herrlichen Pflanzerbilder des Meeresbodens unter dem grünlichen Wasser heraufdämmerten. Der brausende Lärm der entfesselten Springbrunnen klang stark herüber, und drunten durch die Thüröffnung kam es hereingeschwemmt, in breiter Straße laufend und vereinzelte lange, silberne Zacken gleich tastenden Fühlern vorstreckend.

Das Alles mit einem Blicke umfassend, wandte sich Donna Mercedes nach der Wendeltreppe, um hinabzueilen – da schlug ein Lachen an ihr Ohr, ein halb unterdrücktes und doch frohlockendes Auflachen. Unwillkürlich fuhr sie zurück – ein tiefes Grauen überschlich ihr tapferes Herz. Wem gehörte diese wunderliche, hochklingende Stimme? War ein Kind da unten, oder lachte ein Wahnwitziger?

Sie bog sich über das Geländer und sah hinab. Wohin der Mond schien, war kein lebendes Wesen zu sehen; nur da auf den untern Treppenstufen, im tiefen Dunkel der Ecke, hockte ein zusammengekauerter Gegenstand – ein hingeworfenes Bündel sei es, meinte Donna Mercedes beim ersten Hinsehen. Aber je breiter und rascher das Wasser über die Steinmosaik hinschoß, desto lebendiger wurde es in der Treppenecke, und plötzlich reckte es sich empor und sprang in die helle Mondlichtfluth hinein. Es war ein Weib – die Frau aus der Beletage, die Herrin des Schillingshofes.

Sie schien in der dunklen Ecke auf das Herankommen des Wassers gewartet zu haben, und nun lief sie an den Wänden hin und warf die hingelehnten Bilder um; sie schleuderte die Schriften, die Bücher und Skizzenmappen von den Tischen klatschend auf den Steinboden nieder, und schließlich an den großen, runden Tisch tretend, der in der Nähe der Staffelei stand, nahm sie das Dolchmesser auf, mit welchem Baron Schilling neulich das Bild aus dem Rahmen geschnitten.

Mit hochgehobenem Arme ließ sie die glänzende Klinge im Mondlicht blitzen. Ihre starken blonden Haare sanken ihr vom Kopfe und fielen über den Rücken hinab; das beachtete sie nicht; wohl aber bemühte sie sich, mit der linken Hand die grauseidene Schleppe aufzuraffen, um sie vor dem Naßwerden zu schützen, denn das Wasser netzte ihr bereits die Füße.

So stand sie einen Moment zwischen dem Tisch und der Staffelei, den Blick auf das Bild gerichtet, das morgen in die Welt hinausgehen sollte.

„Ueber das Gesicht hin, bis in die schamlose Brust hinein – dann wird er erst wissen, was Haß ist, was Haß vermag“ – murmelte sie vor sich hin, aber ihre Worte wurden verstanden.

Donna Mercedes war lautlos die Treppe hinabgeschlüpft und stand hinter ihr, und in dem Augenblick, wo sie den langen, hagern Leib schlangenhaft hinüberwarf, um mit raschen Dolchschnitten die rührende Mädchengestalt neben der Matrone zu zerfetzen, wurde sie erfaßt und zurückgerissen.

Aber Donna Mercedes hatte diese Gegnerin unterschätzt. In dem meist müde vorgebeugten Körper wohnte eine stets verleugnete, fast männliche Kraft. Im ersten entsetzensvollen Schrecken brach die Baronin allerdings in sich zusammen; wilden Blickes warf sie den Kopf herum nach dem unbekannten Wesen, das sie mit weichen, aber kräftigen Armen umschnürte, dann aber stieß sie ein lautes Hohngelächter aus, als sie das zarte, mädchenhafte Gesicht hinter sich erblickte.

„Ah, die Pflanzerprinzessin! Was haben Sie hier zu suchen in eines verheiratheten Mannes Wohnung, keusche Donna?“

Mit einem jähen, elastischen Aufspringen versuchte sie zunächst sich von ihrer Feindin loszumachen – ihr rechter Arm rang sich frei, und nun strebte sie abermals wie eine Rasende nach dem Bilde hin und stieß wiederholt nach der Leinwand.

Donna Mercedes mühte sich, ihr das Messer zu entreißen – es war unmöglich. Sie verletzte sich selbst die Hand und fühlte, wie ihr die Schneide tief in das Fleisch ging und gleich darauf das Blut heiß über den hochgehobenen Arm den Ellenbogen hinunterströmte.

Verzweiflungsvoll rief sie nach Hülfe. Ihre volle, klingende Stimme hallte von den Steinwänden wider.

[627] „Lassen Sie mich!“ keuchte die Baronin in einem Gemisch von Wuth und namenlosem Schrecken, als draußen zuerst an der Thür des Glashauses und dann am anderen Eingang in das Atelier heftig gepocht und gerüttelt wurde. Allein Donna Mercedes bot ihre erlahmenden Kräfte auf, um die Elende festzuhalten, die im Davonstürzen noch mit einer einzigen Bewegung ihre Absicht ausführen konnte. Und so wiederholte sie unter fortgesetztem Ringen den Ruf: „Hierher!“ bis droben der Gobelinvorhang weggeschleudert wurde und Menschen auf die Gallerie herausstürzten.

Der Stallbursche war der Erste, der die Treppe herablief; ihm folgte die Majorin auf dem Fuße.

„Nehmen Sie ihr den Dolch! Das Bild ist gefährdet,“ rief Donna Mercedes dem Burschen zu. In demselben Augenblick flog die Waffe klirrend auf die Steine – die Baronin hatte sie selbst von sich geschleudert.

Halb schwankend vor Erschöpfung ließ Donna Mercedes ihre Gefangene nunmehr frei. Aber alle Angst und Anstrengung hatten ihr die Geistesgegenwart nicht zu rauben vermocht – der Untergebene durfte nicht ahnen, daß Bosheit all das Unheil in Atelier und Glashaus angerichtet.

„Die Frau Baronin ist fieberkrank,“ sagte sie in gebietendem Tone zu ihm. „Eilen Sie in’s Haus zu Fräulein von Riedt!“

„Baron Schilling ist eben heimgekommen,“ antwortete die Majorin an seiner Stelle, während ihr Blick mit Schrecken, aber mit sofortigem Verständniß die ganze Situation umfaßte. Sie kam raschen Schritten über den schwimmenden Fußboden her und wich seitwärts, als die Baronin schweigend an ihr vorüberschoß, um über die Wendeltreppe zu entfliehen. „Er hat gesehen, wie wir nahe an ihm vorüber in das Haus geeilt sind, und wird wohl gleich selber da sein,“ setzte sie mit gehobener Stimme hinzu.

In diesem Augenblicke sank die Baronin mit jenem schrillen Aufschrei, den Donna Mercedes im Säulenhause schon so oft gehört, auf einer der untersten Treppenstufen zusammen und blieb regungslos liegen.

„Larifari – das ist Komödie!“ sagte die Majorin hart und trat, ohne sich umzusehen zu Donna Mercedes, die eben ihr Taschentuch in das Wasser zu ihren Füßen tauchte, um es auf die Schnittwunden in Daumen und Zeigefinger zu pressen.

Donna Mercedes schrak zusammen – unter stürmischem Herzklopfen hörte sie, wie Baron Schilling auf die Gallerie heraustrat.

„Was geht hier vor?“ rief er in der ersten schreckensvollen Ueberraschung hinab.

„Irgend ein Schuft, eine infame Canaille hat die Abzugsröhren an den Springbrunnen verstopft, gnädiger Herr,“ antwortete der Stallbursche vom Glashause herüber, wo er um das Bassin watete und eben einen großen Pfropfen zum Vorschein brachte. Er hatte bereits die Fontainen zugeschraubt; über den Rand des Bassins floß immer nach hier und da etwas Wasser klatschend auf den Boden.

Baron Schilling eilte die Stufen herab – da stieß sein Fuß an die hingesunkene Frau. Er bückte sich, befühlte ihr Kopf und Hände, und wie Jemand, der seine Vermuthung bestätigt findet, ging er schweigend von ihr weg und schritt unverweilt auf Donna Mercedes und die Majorin zu.

Mochte das falbe Licht des Mondes sein Gesicht entstellen, oder machte ihm eine furchtbare innere Bewegung das Blut stocken – er war entfärbt wie ein Todter. Er schien nicht zu bemerken, daß die Werke seiner Hand, seine Skizzen und Entwürfe und viele Lieblingsstücke seiner Sammlungen, wild durch einander geworfen, vom Wasser bespült und überschwemmt, inmitten des Ateliers lagen; er sah auch die Majorin nicht; seine Augen hingen nur mit einer Art fragenden Entsetzens an der weißen Gestalt, die von der Staffelei weggetreten war und sich bemühte, die blutbetropften Stellen ihres Kleides in den Falten zu verbergen und eine möglichst ruhige, unbefangene Haltung anzunehmen.

„Mir scheint, das Unheil vom Klostergute rückt nun auch auf den Schilling’schen Grund und Boden vor,“ rief ihm die Majorin entgegen. „Ich wollte gerade, wie jeden Abend, zu meinen Enkeln gehen, um sie in ihren Bettchen zu sehen; da hörte ich um Hülfe rufen, und der Bursch dort“ – sie zeigte nach dem Stalldiener im Glashause – „kam auch über den Weg her und folgte mir.... Es sieht schrecklich aus, wenn zwei Frauen mit einander ringen, als ginge es ums Leben – und hier hab’ ich’s gesehen, auf dieser Stelle.“ – Sie warf einen finsteren Blick nach den Treppenstufen, wo ein schnell wieder verstummendes Rascheln Leben und Bewegung verrieth. „Ich weiß nicht, was Ihrer Frau fehlt, Herr Baron,“ fügte sie hinzu. „Die liebe junge Frau da sagt, daß sie fieberkrank sei, und so etwas muß es wohl sein; denn ein Mensch mit klarem Kopfe, wenn er nicht gerade durch und durch ein Bösewicht ist, stößt und sticht doch nicht mit dem Messer – da liegt es noch,“ schaltete sie ein und berührte mit dem Fuße den Dolch – „nach solch einem Bilde, das ihm auf der, Gotteswelt nichts gethan hat.“

„Es ist unversehrt geblieben – Gott sei Dank!“ rief Donna Mercedes völlig selbstvergessen, in so erschütternd zärtlichen Tönen, als sei ihr das Liebste auf Erden gerettet worden.

War es nicht, wie wenn ein blendendes Licht in jähem Strahle niederfahre und in den blauen, tiefen Augen des Mannes fortflamme, der dastand, als traue er seinen Sinnen nicht bei diesen niegehörten, herzbewegenden Lauten? Er ergriff wortlos die Hand, die sein Werk, ein Stück seiner Seele, vertheidigt hatte unter Schmerzen, mit der rückhaltslosen Hingebung, wie es nur ein Weib vermag, das – liebt.

Sie zog hastig und erschrocken die Hand an sich. „Es ist nichts – ein kleiner Hautritz! Und glauben Sie doch ja nicht, daß es um’s Leben gegangen sei“ – sie lachte kurz, fast rauh auf, und ihre völlig verwandelte Stimme hatte eine Herbheit, als wolle sie den einen verrätherischen Augenblick bitter an sich selber rächen „Es versteht sich ja ganz von selbst, daß man Fieberkranke nicht gewähren läßt. Halten wir uns nicht auf! Sehen Sie denn nicht, daß Ihre Arbeiten im Wasser schwimmen und zu Grunde gehen, und daß vor Allem die Frau dort nach dem Säulenhause gebracht werden muß?“

Die Majorin war an die Treppe getreten. Sie rief die Baronin an; allein keine Antwort erfolgte.

„Geben Sie sich keine Mühe!“ rief Baron Schilling hinüber. „In solchen Fällen kann nur die Pflegerin, Fräulein von Riedt, helfen – ich werde sie holen.“

Er schloß die in den Garten führende Thür auf und entfernte sich rasch.

„Und jetzt gehen Sie auch!“ sagte die Majorin zu Donna Mercedes. „Es macht mir Angst, Sie in den nassen Kleidern und Schuhen zu wissen, und der Doctor muß auch her, um nach der Hand zu sehen.... Sie können ganz ruhig sein, ich stehe indessen Schildwache – an dem Bilde soll sich ganz gewiß Niemand mehr vergreifen.“

Donna Mercedes ging hinaus. Sie blieb noch einen Moment im schützenden Dunkel des Thürbogens stehen und horchte auf die eiligen Männerschritte, die immer entfernter von der Allee herüberklangen; dann suchte sie die am Klosterzaun hinlaufenden Wege auf – sie wollte heute nicht mehr gesehen sein.

In der Nähe des Säulenhauses sah sie Baron Schilling zurückkommen, Fräulein von Riedt und ein Herr folgten ihm. Die Stiftsdame hielt sich stolz und hochaufgerichtet wie immer; sie sah nicht im mindesten alterirt aus, war aber gewissenhafter Weise mit den verschiedenen Requisiten ihres Pflegeramtes, wärmenden Shawls und Medicinfläschchen, ausgerüstet....

Kaum eine Stunde nachher fuhr die Equipage der Frau Baronin vor das Säulenhaus, und die Gnädige kam, einen dichten Schleier vor dem Gesichte und auf den Arm ihres Sachwalters gestützt, in Begleitung der Stiftsdame die Treppe herab, um mit dem letzten Zuge abzureisen. Der Schillingshof war wie ausgestorben. Fräulein von Riedt hatte streng befohlen, daß sich Niemand von der Dienerschaft sehen lasse, und so lauschten nur scheue, bestürzte Gesichter aus dunklen Winkeln und Verstecken und sahen die graue Schleppe der Herrin draußen in der Säulenhalle verschwinden – sie wußten, daß die Gestrenge ging, um nie wiederzukehren.

Das war noch ein harter Kampf im Atelier gewesen. Die streitenden Stimmen hatten weit über den nachtstillen Garten hingeklungen; die hochliegende der Frau hatte sich in Vorwürfen und Verwünschungen erschöpft, und dazwischen waren die Einwürfe und Bemerkungen der markigen tönenden Männerstimme wie wuchtige Keulenschläge niedergefallen. Darauf war die Atelierthür zugeschmettert worden, daß die Wände gezittert hatten, und die lange graue Gestalt war unter den Platanen hingehuscht, wesenlos und schattenhaft wie der böse Geist, den der Sieg des Rechts aus einem lange behaupteten Seelenwinkel vertrieben.

[628] Die Fichten hinter dem Atelier mochten wohl ihre alten Häupter und Bärte geschüttelt haben. Denn so lange sie auf Schilling’schem Grund und Boden standen, hatten sie noch kein solch stürmisches Auseinandergehen zwischen Mann und Weib gesehen. Unter den Schilling’schen Quer- und Trotzköpfen war manch grimmer Haudegen gewesen, und es hatten auch Frauen da gewaltet, kraftvoll und stark an Leib und Seele, die, ihrer Hausfrauenrechte wohl bewußt, mit strenger Würde ihr Scepter getragen. Aber der Herr war Herr und Gebieter geblieben, mochte die Frau auch Truhen und Schreine voll gediegenen und klingenden Werthes und einen Namen des edelsten Klanges mitgebracht haben, und wenn einer der Eheherren auch noch so wild gepoltert, die alten Bäume des Schillingshofes wußten bis dahin nichts zu erzählen von so bösen, schneidend giftigen Worten aus Frauenmund, wie sie zu dieser schlimmen Stunde durch die Atelierfenster gedrungen waren. –

Am anderen Tag verkehrte Baron Schilling lange mit dem Sachwalter, der die Gnädige nur bis an den Wagen begleitet hatte und im Schillingshof zurückgeblieben war. Auch Mamsell Birkner, die Kundige, wurde zu der Conferenz gezogen und ihr die Reclamation alles dessen, „was dagewesen war“, übertragen.... Dann, am späten Nachmittage, trat Baron Schilling in die Parterrewohnung.

Es war gut, daß Besorgniß und Sehnsucht die Majorin gerade um diese Stunde herübergetrieben hatten; denn Donna Mercedes schrak fassungslos zusammen und blieb unbeweglich im Fensterbogen stehen, als er, dem anmeldenden Schwarzen auf dem Fuße folgend, in die Thür trat.

Er war im Reise-Anzug, und draußen hielt der Wagen, der ihn und sein Gepäck zur Bahn bringen sollte.

„Ich komme, um Frau von Valmaseda und Lucian’s Kindern mein Heim nochmals zur unumschränkten Verfügung zu stellen,“ sagte er zu der Majorin, den Stuhl, den sie ihm bot, dankend zurückweisend. „Meine gute Birkner und Hannchen werden Alles thun, um die Räume so wohnlich wie möglich herzurichten, wenn der fremde Besitz ausgeräumt sein wird.“

Wie das seltsam von seinen Lippen klang, schneidend betont, und dabei von einem sonnenhellen Aufblick begleitet!

„Ich selbst muß fort. Ich habe das niederbeugende Gefühl, als sei meine Seele verwildert im langjährigen Kampfe mit bösen Eindrücken, und bis nicht alle diese entstellenden Flecke weggespült sind, betrete ich das Haus meiner Väter nicht wieder.“

Dann trat er in die Fensternische. Er nahm Donna Mercedes’ Rechte, die auf dem Schreibtisch lag, sanft zwischen seine schönen, kräftigen Hände. Versunken war aller Groll in der Tiefe der blauglänzenden Augen, die auch heute das Feuer ausstrahlten, das gestern ein einziger Augenblick entzündet.

„Verzeihung!“ flüsterte er, über die junge Dame gebeugt. „Der ungelenke Germane ist ein plumper Stümper in der Seelenkunde gewesen – er wird das mit einer jahrelangen, einsamen Wallfahrt durch die Welt büßen.“

Und mit den Lippen leise und vorsichtig die verletzten Finger berührend, wandte er sich ab und verließ das Zimmer.




40.

Die ehemalige fürstlich Trebra’sche Villa lag der Stadt ziemlich nahe. Eine sehr belebte Chaussee mit nebenherlaufendem schönem Promenadenweg durchschnitt diesen weit hingestreckten Zipfel des Parkes – es herrschte da steter Verkehr. Tiefer hinein wurde es stiller und stiller; man hörte die scheuen Goldfasane durch das Dickicht huschen; Rehe äßten arglos auf den Lichtungen, und die Schatten der dichtgeschaarten, laubschwellenden Waldwipfel wurden so intensiv, daß eine feuchte Kühle über die Wege wehte – ein wahrer Lebensodem für die riesigen Farren, das wuchernde Immergrün- und Epheugewirr, das ohne die emsig wehrende Menschenhand binnen Kurzem auch die schmalen Waldpfade übersponnen haben würde.

Man mußte ziemlich lange den Schlangenwindungen dieser Pfade nachgehen, ehe man die Menschennähe wieder spürte. Da und dort schob sich wohl ein kleiner Pavillon aus Baumrinde zwischen die Eichen- und Buchenäste, und Steinsitze blinkten durch das grüne Dämmern, aber in dem falben Sonnenschein, der neben dem die Laubwucht auseinanderdrängenden Pavillondach hereinfiel, regten sich nur schillernde Lacerten, und auf den Steinbänken rastete kaum ein täppisch hüpfender junger Vogel, der seinen ersten Flugversuch auf dem heimischen Brutnest gewagt hatte.

Dann aber sah man plötzlich durch auseinanderfließendes Grün helle Steinprofile und plastisch gehobene Arme, eine Marmorgruppe nach der andern; sie stiegen bergauf; winkten halbverloren aus dunklem Gebüsch von der Höhe herab, wo allmählich einzelne Säulen hervortraten, weiße blendende Marmorsäulen, immer mehr und mehr, bis sie, ebenmäßig aneinandergereiht, wie eine Riesenharfe hoch über dem Waldgründunkel zu schweben schienen – das war der Peristyl des kleinen Schlosses, welches Donna Mercedes an das niedergebrannte Vaterhaus in der südlichen Heimath erinnerte.

Drüben, jenseits des Meeres, lag die Marmorpracht in rauchgeschwärzten Trümmern unter hochaufschießendem Gestrüpp und einem Netz von Lianen, die sich von den nahen Waldbäumen herübergeschaukelt und mit gierigen Armen nach dem gestürzten Menschenwerk gegriffen hatten. Hier war es auch, als kröchen Millionen grüngefiederter Netzfäden empor, um das weißschimmernde Haus zu umstricken, zu bewältigen; allein nicht ein biegsamer Ausläufer dieser Rank- und Kletterrosenmassen durfte weiter vorrücken, als der Menschenwille gestattete. Sie schlangen sich um das Terrassengemäuer, um die Bronzegeländer, das goldschimmernde Drahtgeflecht hier und da freilassend – es war, als stürze da eine schneeweiße, dort eine rosenfarbene Cascade von Stufe zu Stufe. Seitdem die „Amerikanerin“ Herrin des Schlößchens geworden, blieb es das Ziel gar manches Waldspaziergängers. Man wollte die schöne Frau sehen, wie sie, langsam wandelnd, zwischen den Lorbeer- und Rosenbäumen hinschritt oder die Terrassen herabkam, um sich auf ihr Pferd zu schwingen.

Es waren nahezu drei Jahre verflossen, seit Donna Mercedes die Besitzung gekauft hatte, und noch war der Reiz ihrer fremdartigen Erscheinung, der Ruf ihres fabelhaften Reichthums wie ein Wunder in Aller Munde, doppelt nachhaltig, weil sie wie eine geheimnißvolle Einsiedlerin streng zurückgezogen, aber sichtlich beglückt nur mit den zwei schönen Bruderskindern und der Majorin Lucian zusammenlebte.

Die Majorin hatte ihr Wort wahr gemacht, nach welchem ihres Bleibens in dem alten Klosterhause nicht länger sein werde, als die Pflicht erheische. Sie war die alleinige Erbin des gesammten Wolfram’schen Besitzthums geblieben, da sich kein Testament ihres Bruders vorgefunden. Einige Monate nach den traurigen Ereignissen hatte sie das Klostergut verkauft und war in die „Villa Valmaseda“ übergesiedelt.

Thränen hatten in ihren Augen gezittert, als sie, das Klostergut verlassend, sich gesagt hatte, daß nun auch seine Zeit gekommen war, denn sie wußte, daß der neue Besitzer beabsichtige, das zusammensinkende Mönchswerk bis auf den Grundstein niederzureißen. Mit Wehmuth hörte sie, als sie schied, das Rollen und Rasseln der kleinen Pforte, das jeden wichtige Schritt, fast jedes Ereigniß ihres Lebens begleitet, ihren Gang zur Confirmation, zur Trauung, ihre Rückkehr aus der Welt – die Flucht des verstoßenen Sohnes, den letzten Weg des „verunglückten“ Bruders.

Es war ein schweres Scheiden gewesen, aber schon nach wenigen Monaten hatte Donna Mercedes mit stiller Freude beobachtet, wie der Blick der Majorin heller, der gramvolle, tiefgehende Ton ihrer Stimme weicher geworden war, wie die Augen aufstrahlten, wenn die schönen Enkel in fröhlichem Spiel mit Pirat um sie herumtollten.

Auch nach der Arbeit, die ihr früher so oft über verborgene Seelenschmerzen hinweggeholfen, hatte sie gegriffen und trotz aller Bitten ihrer Gefährtin, nun nach einem so harten, arbeitsvollen Leben zu ruhen, das Regiment über die Wirthschaft, über das Dienstpersonal im Hause in die Hand genommen. Alles beugte sich willig und ehrerbietig unter das Scepter der rüstigen Matrone, das streng, aber zu Gedeihen und Wohlfahrt Aller gehandhabt wurde. Und was sie einst in Selbstüberhebung und Eigendünkel finster zurückgewiesen, die Liebe Anderer, das genoß sie jetzt in vollem Maße, und ihr so lange unterdrücktes Herz erquickte sich daran. Donna Mercedes brachte ihr die Zärtlichkeit einer Tochter entgegen, und Einer draußen in der Welt, der einst als Kind unter ihren Augen drüben auf dem Parterre des Schillingshofes mit ihrem Knaben gespielt, der ihm ein treuer Freund bis in den Tod hinein gewesen, er war ihrem Herzen nahe getreten, als sei er ein Bruder dessen, der jenseits des Meeres unter der Erde schlief.

[629]

Eine süße Last.
Nach dem Gemälde von L. Collak. Mit Benutzung einer italienischen Photographie auf Holz übertragen.

[630] Baron Schilling hatte nahezu zwei Jahre in Skandinavien verweilt. Es schien, als wolle er nicht einen Athemzug deutscher Luft schöpfen, so lange noch lösend an der Kette gefeilt wurde, welche zwei Menschen in unglückseliger Ehe an einander gefesselt hatte. Was die Baronin an Grimm und glühendem Rachedurst im Herzen aufgespeichert, es war bei diesen widerwärtigen Auseinandersetzungen zum Austrag gekommen. Vor Allem hatte sie ihm mit Aufgebot aller Mittel doch noch den Schillingshof zu entreißen gesucht und war dabei von mancher Seite her kräftig unterstützt worden, weil man den durch die Schillings „usurpirten“, ehemals klösterlichen Besitz wieder in die Hand der Kirche zurückzuleiten wünschte. Aber das war nicht geglückt. Die verbrieften Zahlungen, die Baron Schilling seit Jahren zur Tilgung der Steinbrück’schen Hypothek auf seinem Vaterhause geleistet, waren der feste Wall, an welchem die geistlichen Bestrebungen zersplitterten.

Und nach langem, erbittertem Kampfe war endlich auch die Stunde gekommen, in welcher er sich sagen durfte, daß er frei sei. „Die Seele, die einst durch Habsucht und Ueberredungskunst irregeleitet und dem heiligsten Beruf entrissen worden, sei reuig heimgeflüchtet aus dem sündhaften Treiben der Welt,“ hatte es in der letzten Zuschrift gelautet. Mit der Baronin zugleich hatte Fräulein von Riedt den Schleier genommen, nachdem sie die große Aufgabe gelöst, welche sie sich gestellt gehabt: das entflohene und geraubte „Lamm“ mit all seinen weltlichen Gütern in die „eigentliche Heimath“ zurückzuführen. Ihr, der Strengen, Unerbittlichen, der fanatisch Gläubigen, winkte die Aebtissinnenglorie in nicht gar weiter Ferne, wie einmüthig angenommen wurde.

Baron Schilling war schon in den ersten Tagen nach seiner Abreise mit der Majorin in Correspondenz getreten – er wolle einen heimleitenden Faden draußen in den großen Irrgängen des Welttreibens festhalten, hatte er geschrieben. Anfänglich war die alte Frau auch eine wackere, pünktliche Berichterstatterin gewesen, aber allmählich hatten unaufschiebbare häusliche Geschäfte, auch hier und da ein Unwohlsein der Kinder oft mehrtägige Stockungen veranlaßt, und da hatte sich dann Donna Mercedes gezwungen gesehen, die stets sehnsüchtig erwarteten Nachrichten zu geben.... Es war wirklich seltsam, daß die Majorin eine Wandlung gar nicht zu bemerken schien, die sich nach und nach vollzog. Zuerst wurde ihr pünktlich jeder Brief aus Schweden und Norwegen zum Durchlesen vorgelegt; später nahm Donna Mercedes die Gewohnheit an, halbe Seiten des Geschriebenen wegbiegend, die „Großmama“ nur die auf die allgemeinen Familienverhältnisse bezügliche Stelle lesen zu lassen, und schließlich bekam die alte Frau gar keinen der Briefe mehr zu Gesicht, und Donna Mercedes erzählte nur noch unter stetem Farbenwechsel, stockend und mit fast scheuer Stimmung, was – die Großmama eben wissen sollte.

Inzwischen hatte Baron Schilling als Künstler neue Lorbeeren geerntet. Das durch die weibliche Rachsucht bedrohte Bild hatte großes Aufsehen gemacht und war, wie verlautete, von einem New-Yorker Nabob um einen exorbitanten Preis angekauft worden. Er sei im Einheimsen neuer Motive bienenfleißig gewesen, hatte der Baron einmal geschrieben und baldige Rückkehr in Aussicht gestellt. Allein gerade um diese Zeit war der deutsch-französische Krieg ausgebrochen. Mehrere Wochen waren die Nachrichten aus Scandinavien ausgeblieben, bis ein Brief aus Frankreich meldete, daß „der germanische Zorn“ den Heimreisenden auf den feindlichen [WS 1] Boden getrieben habe und daß er sich nicht gestatten dürfte, in der Heimath glücklich zu sein, während deutsche Krieger draußen kämpften.

Seit dieser Nachricht war es gewesen, als stehe eine schwarze Wolke über der Villa Valmaseda und schaue düster und dräuend in die Fenster. Man sah Donna Mercedes nur noch lächeln, wenn ein halb zerknitterter Feldpostbrief oder eine mit Bleistiftzügen bedeckte Karte einliefen. Wenn aber der Telegraph die Nachricht von einer stattgehabten Schlacht brachte, dann warf sie sich auf ihr Pferd und jagte wild hinein in die Einsamkeit, in Sturm und Wetter, oft mit triefenden Kleidern auf dem abgehetzten treuen Thier heimkehrend. Dann litt sie sichtlich Qualen der angstvollen Ungewißheit, aber ihre Lippen blieben geschlossen – Niemand konnte sich rühmen, durch irgend ein verrätherisch entschlüpftes Wort die Vorgänge in dieser stolzen Frauenseele belauscht zu haben.

Aber nun war auch diese bittere Zeit überwunden. Der deutsche Nationalkrieg war ruhmvoll beendet. Es wurde frühlingshell in den angstbefreiten Herzen – die Friedensbotschaft und der junge Lenz zogen, innig umschlungen, jubelnd über die deutsche Erde hin und weckten aufjauchzende Echos aller Orten.

Auch über der Villa Valmaseda blaute der Himmel längst wieder. Sie hatte just ihre schönste Zeit. Im Parke sangen die Drosseln, flötete der Pirol; unter dem Laubdom der Waldpartien schwamm noch junggrünes Maienlicht, und schon brachen die Kletterrosen zu Tausenden auf. Von Licht und Farbenglanz überschüttet, stand das Haus auf seinen Terrassen; die Menschen gingen mit hellen Augen umher, und es lag etwas wie Hoffnungsfreudigkeit in der Luft, wenn auch ein Schatten sich eingeschlichen hatte, der mit all dem aufsprießenden Leben traurig contrastirte.

Vor mehreren Monaten war ein Brief aus Petersburg an Donna Mercedes eingelaufen. Lucile hatte nach fast dreijährigem Schweigen geschrieben, daß sie „merkwürdiger Weise“, in Folge eines Katarrhs, ein „ganz dummes, abscheuliches Lungenbluten“ gehabt habe. Der Arzt bestehe hartnäckig darauf, daß sie – selbstverständlich nur für einige Wochen – ihren russischen Triumphzug unterbreche und sich in anderer Luft pflege und erhole, und da sei sie gesonnen, diese unfreiwilligen Ferien „diesmal“ bei ihren Kindern zuzubringen. Donna Mercedes möge ihr aber Geld schicken, da sie augenblicklich nicht bei Casse sei und verschiedene Kleinigkeiten vor ihrer Abreise zu berichtigen habe.

Und sie war gekommen, „so fatiguirt von der langweiligen Reise“, daß man sie aus dem Wagen in ihr Zimmer hatte tragen müssen. Der Kranken gegenüber, die augenscheinlich nur noch wenige Schritte zum Grabe hatte, verbiß die Majorin ihren unsäglichen Widerwillen und ihren heftig wieder aufgerüttelten Mutterschmerz, und auch Donna Mercedes bot alle innere Kraft auf, um geduldig, mit sanfter Güte dem letzten Willen ihres Bruders auch nach dieser Seite hin gerecht zu werden. Beide Frauen berührten mit keinem Wort die Vergangenheit; desto mehr sprach sie, „der vergötterte Liebling der ganze civilisirten Welt“, von ihren Triumphen, ihren Genüssen, in der unumstößlichen Ueberzeugung, daß sie in wenigen Wochen wieder hinausfliegen werde aus der „urlangweiligen Villa“, die wie verwunschen in einer vergessenen Weltecke liege, und nicht einmal zwei, drei neue, amüsante Menschengesichter zur Theestunde herbeizulocken vermöge.


(Schluß folgt.)


Die elektrische Eisenbahn der Berliner Gewerbe-Ausstellung,

als Beispiel der elektrischen Kraft-Uebertragung.

Von den mancherlei Sehenswürdigkeiten der Berliner Gewerbe-Ausstellung des Jahres 1879 wird keine vom großen Publicum mehr bewundert, als die sogenannte elektrische Eisenbahn von Siemens und Halske, die ohne sichtbare Zugkraft den ungefähr dreihundert Meter langen, in sich selbst zurückkehrenden, schmalspurigen Schienenweg mit gewöhnlich neunzehn Personen in zwei Minuten – der Schnelligkeit gewöhnlicher Pferdebahnwagen – zurücklegt. Sie fährt nämlich regelmäßig nur an bestimmten Tagesstunden, und da ist dann der Andrang groß genug, um gewöhnlich alle Plätze auszuverkaufen, da jeder Besucher sich gern einmal von der unsichtbaren Macht befördern läßt, welche die Meisten anstaunen, ohne ihr Wirken zu begreifen. Das allgemeine Staunen wird besonders durch den Umstand erregt, daß die Locomotive, welche den Zugführer trägt, außer dem Hebel zum beliebigen Anhalten des Zuges keinerlei Bewegungsmechanismus sehen läßt, sodaß sie nicht viel anders aussieht, als die drei an einandergeketteten Personenwagen, die mit ihren im Rücken zusammenstoßenden Bänken aus einiger Entfernung in ihrer Gesammtheit genau den Eindruck machen, als ob die Plattform eines gewöhnlichen Omnibus oder Pferdebahnwagens auf niedrige Räder [631] gesetzt worden wäre. Fahrer und Zuschauer lächeln sich halb verlegen an, weil man erstens keinen vernünftigen Zweck für die Fahrt angeben, zweitens von einem besonderen Vergnügen dabei nicht sprechen kann, und drittens durch das Mitfahren ebenso wenig klüger wird, wie durch das Zuschauen. Aber nicht für alle Menschen wächst das Interesse an einer Sache mit dem Verständniß derselben. Die Meisten finden nur das ihnen Unbegreifliche interessant.

Am stärksten irren übrigens Diejenigen – und das ist die große Mehrzahl – welche glauben, die berühmte Firma habe hierin eine neue Erfindung vorgeführt. Es handelt sich dabei höchstens um die Anwendung untergeordneter neuer Constructionen, und was der Sache ein größeres Interesse verleiht, ist lediglich die Vorführung eines neuen Principes, dem einsichtsvolle Ingenieure eine große Zukunft zuschreiben, nämlich des Principes der elektrischen Kraftübertragung. Die Dampfmaschine, welche unsere Locomotive treibt, steht in der allgemeinen Maschinenhalle, und die von ihr erzeugte mechanische Kraft wird durch eine sogenannte dynamoelektrische Maschine in Elektricität verwandelt, die man ohne erheblichen Verlust beliebig weit fortleiten kann. Sie tritt durch die Schienen und die Laufräder in die Locomotive und kehrt von da durch eine aufrechte Mittelschiene, in einem mithin auf jedem Punkte der Bahn durch die Locomotive selbst geschlossenen Kreislaufe zu ihrem Ausgangspunkte zurück. Dieser Strom wird nun in der Locomotive durch Erzeugung starker Elektro-Magnete, welche die Räder bewegen, in mechanische Kraft zurückverwandelt und treibt das Gefährt auf diese Weise. Sobald der Strom unterbrochen wird, steht die Maschine oder kann durch Vermehrung der Reibung alsbald zum Stehen gebracht werden. Da man seit dreißig Jahren Hunderte von Maschinen erbaut hat, welche das Problem der Rückverwandelung elektrischer Kraft in mechanische mehr oder weniger vollkommen, das heißt mit dem mindesten Kraftverlust lösen, so interessirt uns auch das Wie dieser Rückverwandelung hier gar nicht – das Princip ist Alles, die Ausführung nichts; sie giebt in ihrer gesuchten Einfachheit nicht einmal dem Zeichner Stoff zu einem dankbaren Bilde.

Was ist es nun, was diese elektrische Eisenbahn zu einem dennoch höchst interessanten Schaustücke macht? Glaubt man vielleicht, später den Eisenbahnbetrieb in dieser Weise zu vereinfachen? Man erzählte allerdings, ein begeisterter Ingenieur habe sofort in der verschiedensten Herren Ländern Patente zur Erbauung elektrischer Eisenbahnen nachgesucht, allein ein solches Gesuch beruhte jedenfalls auf Selbsttäuschung; bei der vielfachen Kraftverwandelung, erstens der Hitze in mechanische Kraft, der mechanischen in elektrische und der Rückverwandelung, geht so viele Kraft verloren, daß ein solcher Betrieb nicht sehr vortheilhaft sein würde, obgleich eine Locomotive weniger vortheilhaft arbeitet, als eine stehende Dampfmaschine. Es giebt aber Arbeiten, bei denen eine nur einigermaßen zweckmäßige Kraftübertragung von außerordentlichem Werthe ist. So z. B. würde bei der Bohrung (und vielleicht selbst beim Durchfahren) langer Eisenbahntunnels der Locomotivendampf sehr lästig werden und die ohnehin schlechte Luft noch mehr verderben. Man hat deshalb bei den Tunnelbohrungen und bei manchen Bergwerksarbeiten die außen erzeugte mechanische Kraft in Form zusammengepreßter Luft durch Röhren in das Erdinnere geleitet und dadurch den vierfachen Vortheil erzielt, erstens billige Wasserkraft verwenden zu können, zweitens die Luft durch den Betrieb einer innen aufgestellten Maschine nicht zu verschlechtern, im Gegentheil drittens mit frischer Luft versorgt zu werden und viertens Abkühlung zu erhalten, denn die Luft, deren Hervortreten die Bohrer treibt, kühlt sich durch ihre Ausdehnung bedeutend ab; sie bindet Wärme. In ähnlicher Weise wie hier die Luft, benutzt man das Wasser als Kraftübertragungsmittel in den sogenannten Wassermotoren für das Kleingewerbe, indem man den Druck in den Wasserleitungen großer Städte dazu verwendet, kleine Maschinen, gleichsam Familienwassermühlen, treiben zu lassen. Ein sehr schlechtes Kraftübertragungsmittel auf größere Entfernungen ist der Dampf, weil er auch bei der besten Einhüllung unterwegs zu viel Wärme verliert, und nur bei gleichzeitiger Centralheizung einer Stadt, wie z. B. zu Lockport in Nordamerika („Gartenlaube“ 1878, Seite 472), kann eine solche Uebertragungsweise vortheilhaft sein.

Wir haben bisher der gewöhnlichsten Uebertragungsmethode nicht erwähnt, weil sie in der Regel nur auf kürzeren Entfernungen oder für ganz specielle Verhältnisse, wie z. B. bei Drahtseilbahnen in Bergwerken etc., verwendet wird, derjenigen durch Riemen, Ketten oder Drahtseile. Indessen hat man dieselbe in der Neuzeit doch in oft staunenswürdiger Weise zur Anwendung gebracht, an Orten, wo bedeutende Naturkraft nutzbar gemacht werden soll. So hat man oberhalb des Rheinfalles bei Schaffhausen das dort schon starke Gefälle des Flusses dazu benutzt, um durch einen abgeleiteten Arm kolossale Turbinen treiben zu lassen, welche die unzähligen Werkstätten dieser gewerbthätigen Stadt und Umgegend mit mechanischer Kraft versehen. Viertelstundenlang laufen die Drahtseil-Uebertragungen an dem Ufer des Rheines her, um in kurzen Entfernungen immer wieder kleine Räder zu treiben, die durch eine Welle der danebenstehenden Fabrik ihre zehn oder hundert Pferdekraft von dem Maschinenhause her übermitteln. Bei Bellegarde im Departement Ain gewinnt man durch Benutzung der Stromschnellen der Rhone und eines Nebenflusses mittelst sechs Turbinen viertausend Pferdekraft, die man über tausend Meter weit durch Drahtseile leitet, um jede Pferdekraft für nicht ganz hundert Thaler jährlich zu vermiethen. Dabei ist vorläufig nicht viel mehr als der dritte Theil der Kraft ausgenützt; man könnte, wenn sie verlangt würden, zwölftausend Pferdekraft an dieser Stelle gewinnen. Da man indessen bei solchen Drahtseilfortführungen ungefähr alle hundert Meter eine Uebertragungsstation für ein neues Seil einschalten muß, so werden solche Uebertragungen für größere Entfernungen unvortheilhaft, und nur die Fabrikstadt, die sich in unmittelbarer Nähe eines solchen Gefälles ansiedelt, kann davon Nutzen ziehen. In solchen Fällen nun wäre es vielleicht möglich, durch den elektrischen Strom die halb umsonst dargebotene Naturkraft noch weiter fortzuleiten, zumal man hierzu keiner Röhren sondern nur genügend starker Drähte oder Metallstäbe bedarf.

Seit einem Vierteljahrhundert, das heißt so lange man die Verwandlung der Naturkräfte in einander studirt hat, ist es ein Lieblingstraum der Ingenieure, die immense, ungenützt verspritzende Naturkraft der Wasserfälle den menschlichen Zwecken dienstbar zu machen, das wilde Element völlig zu zähmen und ihm womöglich alle menschliche Arbeit aufzubürden. Jeder Ingenieur beinahe, der seitdem den Niagara-Fall besucht hat, rechnete uns in irgend einem Feuilleton-Artikel irgend eines technischen oder populären Journals vor, daß hier mindestens so viel Kraft ungenutzt verloren geht, wie ganz Nordamerika brauchte, um völlig die Hände in den Schooß legen zu können. Als der Bruder des Berliner Siemens, Dr. C. William Siemens aus London, im Herbst 1876 den Niagara besuchte, prüfte er das unvermeidliche Rechenexempel nochmals durch und fand, daß der Fall dieser gewaltigen Wassermasse eine Kraftmenge erzeugte, die derjenigen von siebenzehn Millionen Pferdekräften gleichkommt, das heißt eine Kraftmenge, zu deren Erzeugung auf dem gewöhnlichen Wege circa zweihundertsechszig Millionen Tonnen Kohlen im Jahre nöthig wären, nämlich also die gesammte Kohlenmenge, die überhaupt auf der Erde producirt wird.

Ein so ungeheuerer Kraftverlust an einem einzigen Orte, der sich, wenn auch in minderem Grade, an hundert Orten der Welt wiederholt, kann einen rechtschaffenen Ingenieur zur Verzweiflung bringen, und es tröstet ihn kaum, daß solche den Naturfreunden äußerst liebe Kraftverluste meist im Hochgebirge oder an solchen Orten stattfinden, wo man die freiwerdende Kraft doch nicht verwerten könnte. Ja, wenn man sie ohne erheblichen Verlust in weite Fernen leiten könnte, bis in die Mittelpunkte der Industrie oder in die Hauptstädte des Landes! An Uebertragungen durch Drahtseile ist dabei nicht zu denken. Bei den doch nur kurzen Uebertragungen bei Schaffhausen gehen auf sechshundert Pferdekräfte bereits hundertzwanzig durch die Reibung der Drahtseile verloren, und diese nutzen sich obendrein stark ab; eine Uebertragung durch Luft- oder Wasserdruck würde beträchtliche Anlagekosten erfordern; ein Anderes wäre es, könnte man die mechanische Kraft an Ort und Stelle in Elektricität verwandeln und als solche in dicken Metallleitungen fortleiten und vertheilen.

Dr. Siemens machte sich an die Rechnung und fand, daß eine auf isolirenden Trägern ruhende Kupferstange von drei Zoll Durchmesser genügen würde, um eine tausend Pferdekräften entsprechende Elektricitätsmenge pro Stunde 48 Kilometer weit zu leiten um damit dort elektrodynamische Maschinen in Bewegung zu setzen, die eine ganze Stadt mit einem 250,000 Kerzen gleichkommenden Lichte erleuchten könnten. Ja, diese Rechnung, welche [632] Dr. Siemens im März 1877 bekannt machte, hat sich noch vielzu bescheiden erwiesen; die erwähnte Leitung würde sogar die drei-bis vierfache Elektricitätsmenge befördern und letztere einen noch bedeutend höheren als den vierfachen Lichteffect ausüben können. Die Anlagekosten der Leitung würden hoch sein, aber nur einmalige, da die Abnutzung sehr gering sein würde.

Bei der weiteren Ueberlegung dieses Planes boten die Maschinen, welche die Kraft an Ort und Stelle in Elektricität zu verwandeln hätten, keine Schwierigkeiten, wohl aber die richtige Vertheilung der Kraft auf die zahlreichen Abonnenten der Elektricität, von denen jeder eine bestimmte meßbare Menge von dem Hauptstrom müßte abgezapft erhalten können, wenn die Idee ausführbar sein soll. Auch diese Schwierigkeiten glaubt Siemens durch Vorrichtungen, die er vor einigen Monaten genau in einem wissenschaftlichen Journal beschrieben hat, überwinden zu können, sodaß eine dem Miethpreise jedes Stromzweiges entsprechende Leistung verbürgt werde könnte. Er hat am 12. Juni vorigen Jahres der königlichen Akademie zu London seinen Regulator vorgeführt, der darauf beruht, daß ein dünner, wagerechter Kupfer- oder Silberstreifen, der in seiner Mitte durch eine Feder oder ein Gewicht herabgezogen wird, den Zweigstrom ableitet. Dieser Streifen erwärmt sich genau der durchfließenden Elektricitätsmege entsprechend, und senkt sich, wenn mehr als beabsichtigt durchfließt, weil er heißer wird. Dadurch werden dann auf einfache Weise Nebenleitungen geschlossen, welche nicht nur das Zuviel wegführen, sondern auch automatisch den Strom regeln. Das vielbesprochene Problem der Vertheilung eines starken elektrischen Stromes z. B. auf viele einzelne Laternen oder Maschinen wäre sowohl auf diese wie wohl auch in mancher anderen Weise lösbar. Dieser oder ein ähnlicher Apparat würde bei einer allgemeinen elektrischen Versorgung der Zukunft die Dienste unserer Wasser- und Gasuhren vertreten, jedoch so, daß es keineswegs in der Macht des Einzelnen liegen würde, etwa so viel Elektricität zu verschwenden, wie er will, vielmehr würde ihm gegen die entsprechende Miethe nur so viel zugemessen, wie er braucht und bezahlen will.

Im Spätsommer vorigen Jahres, mehr als anderthalb Jahr nach Veröffentlichung der Siemens’schen Rechnungen, erstand zu Ansonia in den Vereinigten Staaten in der Person eines Herrn Wallace ein großer Wohlthäter der Menschheit, von dem die Zeitungen meldeten, er habe vermittelst einer von ihm erfundenen Maschine, die er Telemachon nannte, das Problem gelöst, die Kraft der Wasserfälle in die Hauptstädte zu leiten und die gesammte Stadt New-York für anderthalb Dollar pro Stunde prachtvoll mit elektrischem Lichte zu erleuchten. Das Telemachon habe bereits die Probe bestanden, und die Kraft des Naugatuckflusses, der eine Viertelstunde von Wallace’s Etablissement vorbeifließt, spende dort Licht und mechanische Kraft in einem Grade, daß Edison, der berühmte Entdecker, bei einem Besuche die Hände über dem Kopfe zusammengeschlagen und Wallace zur Lösung eines Problems beglückwünscht habe, mit dem er sich lange Jahre vergeblich beschäftigt habe.

Alle europäischen Tageszeitungen druckten pflichtschuldigst die glückverheißende amerikanische Ente schleunigst nach, und ich glaube nicht, daß irgend ein kleines verlassenes Wochenblättchen dieses Evangelium seinen Lesern schuldig geblieben ist. Leider gehört von der großen Entdeckung dem Herr Wallace gar nichts; sein Telemachon ist ein winziges Abbild der Maschinen von Schaffhausen und Bellegarde, und schon im Jahrgange 1876 erzählte die „Gartenlaube“ (S. 713) ihren Lesern, daß der ehemalige französische Finanzminister Pouyer-Quertier seine mechanischen Webereien durch elektrisches Licht erleuchte, welches von der daselbst vorhandenen überschüssigen Wasserkraft erzeugt werde.

Die Anwendung dieser kleinen Versuchsmodelle auf den Niagarafall kann Jeder in Gedanken machen, allein mit der Ausführung wird es – die Möglichkeit völlig zugegeben – noch seine Schwierigkeiten haben, und die größte dürfte immerhin bleiben, in der Nähe großer Wasserfälle die großen Städte zu entdecken, welche den Segen verwenden könnten, ohne ihn durch allzu lange Leitungen zu vermindern. Wenn sich diese Probleme verwirklichen sollen, dürfte es immerhin günstiger sein, die Fabriken in der Nähe der Wasserfälle anzulegen, statt deren Kraft weit in’s Land zu leiten, und vielleicht kommt einmal die Zeit, wo sich die Industrie, wie das im Kleinen bei Schaffhausen bereits der Fall ist, an den Lieblingszielen der Touristen sammelt.

Vorläufig wird man die elektrische Uebertragungsfähigkeit kleinerer und selbsterzeugter Kraftmengen ausnützen. So hat man z. B. in den letzten Wochen im Umkreise einer Zuckerfabrik zu Sermaize (Marne) landwirthschaftliche Arbeiten statt durch Locomobile durch eine feststehende Dampfmaschine zu verrichten gesucht, deren in Elektricität verwandelte Kraft vermittelst eines Kupferdrahtkabels 650 Meter in die Runde geführt werden konnte, um einen Pflug in Thätigkeit zu setzen, der eine Furche zog, wie sie sonst drei Pferdekräfte erforderte. Es handelte sich hier nur um vorläufige Versuche, und das Originellste war dabei, daß man eine Maschine gleicher Construction, wie diejenige, welche die Dampfkraft in Elektricität verwandelt, dazu verwendete, den Strom wieder in mechanische Kraft zurückzuverwandeln, nämlich die dynamo-elektrische Maschine von Gramme, welche indeß weniger vortheilhaft arbeitet, als die obenerwähnte Siemens’sche Maschine.

Die elektrische Eisenbahn, zu der wir nunmehr zurückkehren, hat vor manchen anderen Anlagen den Vortheil, daß sie gar keiner besonderen Leitung bedürfen würde, wenn man die beiden Schienen zur Hin- und Herleitung benutzte, wie sie andererseits das große Interesse bietet, an jeder Stelle die Leitung selbst zu schließen. Man hat sich daher gefragt, ob es wohl vortheilhaft sein würde, diese Maschine dem Straßenbahnbetrieb anzupassen. Jedenfalls hätte sie vor den Dampfstraßenwagen den Vortheil voraus, Niemand mit Dampf zu belästigen, keine Pferde scheu zu machen, unnützes Geräusch zu vermeiden, kein Wasser oder Brennmaterial aufnehmen zu müssen und leicht anhaltbar zu sein. Es fragt sich, ob diese Vortheile genügen, die etwas größeren Betriebskosten aufzuwiegen.

Bei der bisherigen Construction werden nur dreißig bis vierzig Procent der Dampfmaschinenkraft wiedererhalten. Wahrscheinlich aber würde sich dies günstiger gestalten, wenn die Schienen isolirt werden könnten, während vorläufig nur die Mittelschiene durch das Holz, auf dem sie liegt, nothdürftig isolirt ist. Dennoch functionirt die Maschine selbst bei Regenwetter. Auch ist bei der soviel besseren Leitung, die das Metall dem Strome bietet, das Berühren der Schienen nicht weiter bedenklich; man sieht beständig Erwachsene und Kinder die Schienen berühren, um sich zu elektrisiren. Dennoch geraten dünne Drähte, durch welche man die Mittelschiene mit der äußeren verbindet, in’s Glühen und können durch die Ableitung die Geschwindigkeit des Zuges erheblich vermindern. Der Umstand, daß immer nur eine einzige Locomotive die von einer dynamo-elektrischen Maschine versorgte Strecke befahren kann, würde sich durch Aufstellung mehrerer Maschinen für ebenso viele Theilstrecken heben lassen. Gleichwohl würde sich diese Art von Bahnen in der Praxis wohl nur bewähren, wenn man einen besonderen, wohl isolirbaren, ober- oder unterirdischen Schienenweg benutzen könnte. So ist sie für Kohlenförderung in manchen Bergwerken wahrscheinlich sehr brauchbar, und die elektrische Eisenbahn der Berliner Gewerbe-Ausstellung ist eigentlich für solche Zwecke construirt worden.

Carus Sterne.





Der „heilige David“.
Ein religiös-communistischer Fanatiker der neuesten Zeit.


Genaueres könnte man nur durch Solche erfahren,
          die ein Interesse haben, zu schweigen.

In einer Zeit, wo die sociale Frage im Vordergrunde des öffentlichen Interesses steht, wo sich in Staat und Gesellschaft die religiösen und confessionellen Gegensätze immer auf’s Neue gefahrdrohend zuspitzen, gewinnt das Bild eines Mannes, dessen Wirken als religiös-communistischer Agitator vorwiegend einen blos provinciellen Charakter trägt, eine psychologische Bedeutung von allgemeiner Tragweite; möge es, wie im vorliegenden Falle, auch nur den Werth einer interessanten Krankheitserscheinung haben, [633] sie wird dem Beobachter, der die Symptome der Zeit mit ärztlichem Forscherblick betrachtet, den Weg finden helfen, wie die allgemeine Krankheit zu erkennen, wie sie zu heilen sei.

David Lazzaretti wurde am 6. November 1834 in Arcidosso in Toscana geboren. Der Unterricht, den er in seiner Jugend genoß, war dürftig; früh genug mußte er als Fuhrmann seinem Vater Beistand leisten, dessen Geschäft es war, die hauptsächlichsten Erzeugnisse des Berges Amiata, Holz und Kohlen, auf die Märkte Toscanas zu führen. Hohen Wuchses, außerordentlich kräftig und gewaltthätig, fluchte er wie ein Heide oder, wie man eben so richtig sagen könnte, wie ein Toscaner und machte sich durch sein Auftreten einen gewissen Namen. Im Alter von 23 Jahren heirathete er gegen den Willen der Eltern des Mädchens; drei Jahre später (1860) kämpfte er als Freiwilliger in einem Reiterregiment gegen die Päpstlichen bei Castelfidardo. Seine Geschäfte als Fuhrmann gingen nach dem Kriege schlecht; er fand viele Zeit, zu lesen, und versuchte sich im Verseschreiben. Als er auf Anrathen von Freunden es aufgab, Lust- und Trauerspiele zu verfassen, warf sich sein unruhiger Geist auf das Studium der Theologie. Visionen und außerordentliche Offenbarungen blieben nicht aus; schließlich soll er wegen derselben dem Papste Pius dem Neunten vorgestellt worden sein, nachdem er vorher zwei- oder dreimal vergeblich versucht hatte, sich mit hohen Würdenträgern der Kirche in Verbindung zu setzen. Wichtig für sein späteres Auftreten wurde das zurückgezogene Leben, das er mehr als vier Monate lang in einer Einsiedelei führte, wo ihm Erscheinungen von Engeln und Heiligen seine künftige Größe enthüllten und ihm die Gabe der Weissagung verliehen. Welche Fortschritte er in der allgemeinen Bildung machte, ist schwer zu sagen. Mit der Rechtschreibung stand er noch am 18. September 1868 auf sehr gespanntem Fuße, als er von der Einsiedelei aus seine Frau aufforderte, sich zu beruhigen, die Kinder gut zu erziehen und ihm zu vertrauen. Classisch ist, wie er in jenem Briefe den Geldpunkt mit den Worten abthut: „Sieh, wie du durchkommst!“

Als der „Prophet“ – denn diesen Namen legte sich nun David Lazzaretti bei – am 8. Januar 1869 in feierlicher Abendstunde wieder nach Hause zurückkam, wurde ihm ein großer Empfang zu Theil. Er hatte einen gravitätischen Gang angenommen, erschien im unvermeidlichen langen und ungepflegten Prophetenbart und befleißigte sich einer langsamen Redeweise. Auf der Stirn trug er ein Zeichen, das ihm der heilige Petrus aufgedrückt haben sollte: zwei C, von denen eines auf den Kopf gestellt, mit dem Kreuze darüber in der Mitte. (Auch sonst war er tätowirt, was Irrenärzte und Polizeibeamte mit Interesse hören werden.)

Bauern und kleine Grundbesitzer kamen nun herbei, um von ihm Weissagungen und ascetische Reden zu vernehmen oder Rath in weltlichen Angelegenheiten einzuholen. Hauptsächlich spielt der Kampf gegen den Steuerdruck in seinen Reden eine große Rolle, und daß er hiermit sich viele Anhänger warb, erklärt sich aus den Verhältnissen der zur Provinz Grosseto im früheren Toscana gehörigen fünf Gemeinden des Berges Amiata, welche den vorzüglichsten Schauplatz der Thätigkeit des „heiligen David“ bildeten. Dieselben haben beiläufig eine Ausdehnung von 697 Quadratkilometern und zählen 28,000 Einwohner. Es herrscht dort das in Toscana übliche Halbscheidsystem, die sogenannte Mezzadria vor, wonach der Bauer die eine Hälfte des Ertrags für sich behält und die andere dem Eigenthümer abliefert. In vier Orten erhebt Provinz und Gemeinde einen mehr als doppelt so großen Zuschlag zu der hohen Gebäude- und Grundsteuer; in Arcidosso ist dieser Zuschlag zur Staatssteuer mehr als dreimal so groß. Mitte des Jahres 1869 genoß der „heilige David“ bereits des größten Ansehens bei einem ansehnlichen Theil der Bevölkerung von Arcidosso und den nächsten Dörfern. Auf dem Monte Labbro, einem sich 1194 Meter über den Meeresspiegel erhebenden Berge in der Nähe von Arcidosso, wurde auf seine Anstiftung zuerst ein kolossaler Thurm, dann eine Kirche mit Einsiedelei errichtet, ohne daß er dafür einen Pfennig ausgegeben hätte. Das exaltirte Volk arbeitete nicht nur umsonst, sondern schaffte auch das zum gottgefälligen Werke nöthige Material als freiwillige Gabe herbei, und der Bischof von Montalcino entsendete zwei Geistliche zur Verrichtung des Gottesdienstes. David verweilte ein volles Jahr unter seinen Gläubigen, welche ihm Geld- und Geldeswerth zu bringen anfingen; dann empfand er das Bedürfniß, sich „in fremden Ländern“ der Gnade, die Stimme Gottes zu vernehmen, würdig zu machen. Eines Tages aber fand er sich plötzlich, als wäre er vom Himmel gefallen, unter einer jubelnden Menge von 1500 Köpfen wieder ein und verlas, auf einem Felsen stehend, eine aufrührerische Rede. Nachdem man schon früher einen politischen Proceß gegen ihn angestrengt hatte, ohne eine Verurtheilung zu erlangen, wurde er wegen dieser Rede vor Gericht gestellt, indessen wiederum frei gesprochen. Als er hierauf Gesellschaften gründete, deren Hauptzweck nach der Ansicht den Behörden der war, ihm Geld und Ansehen ohne Mühe und Arbeit zu verschaffen, schritt man zu seiner Verhaftung. Aber nach sieben Monaten zwangsweisen Aufenthalts in Scansano, wo ihn ein hochangesehener Mann, Oberstaatsanwalt unter der Regierung des Großherzogs, in sein Haus aufnahm, wurde er abermals in Freiheit gesetzt.

Nunmehr dehnte er seine Wanderungen auf entferntere Bezirke aus, wo ihm die Erweckung des religiösen Fanatismus reiche Geschenke eintrug. Auf’s Neue verhaftet und wegen fortgesetzten Betrugs und Landstreicherei zu fünfzehn Monaten Gefängniß, zu einem Jahr polizeilicher Beaufsichtigung und zur Tragung der Kosten verurtheilt, kam er mit heiler Haut davon durch das freisprechende Erkenntniß des Appellationsgerichtes von Perugia vom 20. September 1874. Um die Kosten dieses Processes zu decken, wandte er sich an seine Freunde und Gönner und brachte eine hübsche Summe Geldes zusammen, hauptsächlich von Franzosen. Da ihm indessen die sechs Monate Untersuchungshaft seines letzten Processes Bedenken über seine Sicherheit einflößten, so begab er sich mit seiner Familie nach Frankreich, wo er seine Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, in Erziehungsanstalten that. Erst am 6. März vorigen Jahres tauchte der Apostel wieder in Monte Labbro auf; in der Zwischenzeit hatte er die Oberleitung seiner Gemeinde von der Fremde aus gehandhabt und Einiges an seiner Lehre modificirt.

Das religiöse Gesetzbuch des Propheten besteht aus nur zehn Capiteln, von denen das erste die Oberherrlichkeit des Papstes über alle Fürsten der Erde ausspricht; er wird Schiedsrichter zwischen den Völkern sein. Die Einnahmen des Staates stehen ebenso gut wie die Güter und Capitalien der Kirche zur Verfügung Seiner Heiligkeit, und die geistlichen Güter werden den alten Besitzern für Cultuszwecke zurückgegeben. Auch das politische Gesetzbuch zeichnet sich durch Kürze aus; dasselbe umfaßt dreizehn Artikel und bespricht die neue Regierungsform, die Wahl der zweiundsiebenzig Fürsten, die dem Papste, dem einzigen König von Italien, zur Seite stehen sollen, den Kriegsdienst etc.. Das Steuersystem ist prächtig ausgedacht. Mit Ausnahme der Priester, der Mönche und Nonnen, der Kinder unter zwanzig und der Greise über siebenzig Jahre sollen alle Bürger eine Personalclassensteuer von fünfzig Centesimi bis zu sechs Lire (vierzig Pfennig bis etwas weniger als fünf Mark), die Frauen galanter Weise nur die Hälfte bezahlen.

Das moralische Gesetzbuch handelt von der Erziehung der Jugend, welche den Orden anvertraut werden soll. Zu diesem Zwecke würde in jeder Gemeinde von 5000 Einwohnern ein Kloster existiren. Wenn man erwägt, daß Anno 1873 Rom allein 221 Klöster gehabt hat, so wundert man sich über die Mäßigung des clericalen Reformators. In zwölf Hauptstädten sollen unter der Aufsicht der geistlichen Obrigkeit Universitäten bestehen. Die Preßfreiheit ist selbstverständlich abgeschafft. Das bürgerliche Gesetzbuch erschöpft seine Aufgabe in zwölf Artikeln; die Wiedereinführung der amtlichen Preise der nothwendigsten Lebensbedürfnisse fehlt in diesem Zukunftsprogramm nicht.

Man glaubt gern, daß die Abfassung dieser vier Gesetzbücher nicht einmal zwei Monate in Anspruch genommen habe. 1871 forderte Lazzaretti in einer „Ein unbekannter Prophet“ benannten Weissagung den Papst, alle Monarchen und Staaten auf, seine künftige Größe anzuerkennen. Er nennt sich in dieser Schrift einen bisher noch unbekannten Fürsten, der die Fahne der Erlösung der Völker entrollen werde. Ganz genau beschreibt er die Kleidung, an welcher man den vom italienischen Apennin Herabsteigenden werde erkennen können. Dem König Victor Emanuel sagt er höchst anzügliche Dinge über seine Minister; er würde ihn um seiner Ahnen willen retten können, wenn er an seiner Seite wäre. Frankreich – von den andern Ländern wußte der gute Mann sehr wenig – solle die gottlose Bildsäule Voltaire’s zerbrechen und seine Werke in’s Feuer werfen. [634] Von den drei von Lazzaretti gegründeten Gesellschaften suchte die „der Hoffnung“ die Grundsätze des Communismus durchzuführen. Bald gehörten derselben sechszig Familien von Besitzenden an; die Zeitdauer der Gesellschaft wurde vorerst vom 1. Januar 1872 bis zum 31. December 1890 festgesetzt. Zu den Gütern der Theilhaber kamen im gemeinsamen Pacht die Grundstücke eines Gönners des Propheten. Jeder Theilhaber bekam sein Büchlein, wo die von ihm abgelieferten Producte und Gelder verzeichnet und die zum Lebensunterhalt etc. zurückgezogenen Werthe in Rechnung gestellt wurden. Die Verwaltung führte im Auftrag des Gründers ein Bruder desselben. Welchen materiellen Nutzen der Prophet aus der Leichtgläubigkeit seiner Genossen gezogen habe, dürfte schwerlich jemals genau ausgemacht werden. Thatsache ist, daß durch ihn viele Familien in’s Unglück gestürzt worden sind. Eine Frau mußte zusehen, wie ihr Mann dem Propheten oder dessen Genossenschaft 1400 ererbte Lire und die ganze Kornernte des laufenden Jahres abtrat. Der Mann ist nun im Gefängniß, und die Frau hat nichts für sich und ihre Kinder.

Am 8. März vorigen Jahres verkündete der Prophet, daß er der David Isaia’s sei, der wahre Priester. „Mit mir ist der Papst,“ sagt er emphatisch, „mit mir ist der König; die Bischöfe sind mit mir; mit mir sind die Geistlichen. Ich, ja ich, werde am 14. März nach der ungeheuer großen Stadt Italiens, nach Rom abgehen; von hier aus werde ich mich auf den Weg machen, damit sich die Prophezeiung vollende, und dann wird mich der Apennin herabsteigen sehen wie Moses vom Berge Sinai; ich werde mich unter die kriegsgeübten Völker mischen und Frieden schaffen und Gesetze und Religionsgebräuche reformiren.“ Vorerst unterblieb die Expedition. Ein Räthsel ist, warum er bald darauf, nach einem abermaligen Aufenthalt in Frankreich, sich gegen einige Dogmen des Katholicismus, namentlich gegen die Ohrenbeichte, wendet, an deren Stelle er eine öffentliche Erklärung setzte, gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen sich selbst gesündigt zu haben.

Leidenschaftlich donnert er gegen die „abscheuliche Secte der päpstlichen Abgötterei“, die er ein Ungeheuer der Hölle mit sieben Köpfen als Symbol der sieben Todsünden nannte. Die Folge dieses anticlericalen und selbst antikatholischen Auftretens war, daß der Bischof von Montalcino die Kirche mit dem Interdikt belegte, die daselbst im Ungehorsam verbleibenden Priester a divinis suspendirte und zweimal den Präfecten der Provinz und außerdem den Justizminister anging, ihm zur Ausführung seiner geistlichen Anordnungen den weltlichen Arm zu leihen. Einer der Priester unterwarf sich nach einiger Zeit in aller Regel. Die Sicherheitsbehörde hätte gern den andern in seine Heimath zurückgeschickt, aber der Prophet hielt ihn zurück, wohl wissend, wie wichtig es für ihn war, daß seine Gläubigen jeden Tag die Messe hören konnten.

Von Frankreich aus hatte er am 21. Mai vorigen Jahres an einen Vertrauten geschrieben: „Aus den zwei Hymnen, die ich Dir beischließe (die eine spielte auf die allgemeine Republik an), wirst Du verstehen, daß die Zeit nahe ist, da wir das Schlachtfeld betreten und für den größten Theil der Erde die gemeinsamen Feinde des Vaterlandes und des Glaubens besiegen müssen.“ Die Anhänger Lazzaretti’s rüsteten sich denn auch in der That zum Angriff, der am 14. August (es wurde schließlich der 18. daraus) von Arcidosso aus erfolgen sollte, um von da nach Rom zu gehen und dort mittelst eines Wunders die seit so vielen Jahren ersehnten und gepredigten Reformen durchzuführen. Zu den Vorbereitungen gehörte das Absingen revolutionärer Lieder, die Ausrufung der allgemeinen Republik mit der Vernichtung der Throne, mit dem Umsturz der bestehenden Ordnung, während geistliche Functionen aller Art dazu beitrugen, die Aufregung zu vermehren. Die Hauptanhänger, die Vertrauten waren durch förmlichen Eid zur Geheimhaltung der näheren Pläne des Propheten verpflichtet.

Vom 5. Juli bis zum verhängnißvollen Tage war der Prophet wieder in Arcidosso, und zum Unglück wurde die Verstärkung des Gensd’armerie-Postens nach dem 14. August beinahe gänzlich zurückgezogen. Am Morgen des 18. August wurde unter dem Geläute der Glocken und unter Gesang und Zuruf der erregten Menge die rothe Fahne mit dem Motto: „die Republik ist das Reich Gottes“ auf dem Thurme des Berges aufgepflanzt. Nach dem Schlusse der Messe stieg man langsam in drei Haufen, die Kinder voraus, wie in einer Procession, mit sieben wehenden Fahnen den Berg herab. Von der Brust des Propheten leuchtete das bekannte Zeichen; sein Helm war mit drei Federn geschmückt und zeigte eine Taube, die zwei Olivenzweige im Schnabel hielt. Die Kleider der Getreuen, wozu die Stoffe aus Frankreich gekommen waren, hatten einen phantastischen Schnitt, der dem Sicherheitsbeamten zur Genehmigung vorgelegt worden war. Nicht mehr als sechszig bis achtzig Individuen trugen diese Kleider, die nichts mit einer militärischen Uniform zu thun hatten. Allen anderen gab Lazzaretti ein rothes Kreuz, welches Zeichen den großen Untergang der Völker und das allgemeine Blutvergießen verkünden sollte.

Je weiter der Zug vorrückte, desto größer wurde in Arcidosso die Angst aller derjenigen, die nicht zur Secte gehörten. Die Läden schlossen sich im Nu, desgleichen die Thüren und die Fenster der Privathäuser. Die Familienväter bewaffneten sich, so gut sie konnten; die Kinder, Frauen und Greise weinten und schrieen. Der Staatsbeamte für die öffentliche Sicherheit und der Bürgermeister des Ortes gingen den Haufen entgegen, um Lazzaretti zu bewegen, daß er seine Leute zurückhalte und sich mit der Procession auf dem Gipfel des Berges begnüge, wie in den vorhergehenden Tagen. Der Prophet war diesen Vorstellungen unzugänglich; der Bürgermeister zog sich unverrichteter Dinge zurück. Der Polizeibeamte nahm seine Schörpe um und forderte Lazzaretti und seine Haufen auf, aus einander zu gehen. Der Prophet verlangte von den Carabinieri die Niederlegung der Waffen und rief dem Volke zu: „Ich bin der König. Vorwärts, Volk, vertheidigt Euch, entwaffnet sie!“ Die Carabinieri schossen in die Luft; der Prophet schlug mit seinem „Stab“ (es war ein recht dicker Stock) den Polizeibeamten, der gleichzeitig mit dreien seiner Leute von einem Hagel von Steinen überschüttet wurde, die nachweislich vom Berge mitgenommen worden waren. Die acht Carabinieri feuerten nun im Ernste auf die Masse, die allerdings keine langen Feuerwaffen, wohl aber Pistolen etc. mit Jagdmunition hatte und im Getümmel Leute aus ihrer Mitte verwundete.

Nach einem späteren Berichte hätten die Aufrührer zuerst geschossen und Gewalt gebraucht. Vier Todte und vierzehn Verwundete – das war das Ergebniß des verhängnißvollen Tages.

An der Stirn getroffen, fiel gleich im Anfang der Prophet und mit ihm der Muth und das Vertrauen seiner Anhänger, welche er durch die Zusicherung angefeuert hatte, er werde mit der flachen Hand die Flinten- und Kanonenkugeln gegen die Soldaten zurückschleudern. Nach dem blutigen Zusammentreffen verbarricadirten sich, um Verstärkung abzuwarten, die Carabinieri und die Bürger in der Caserne, beziehungsweise in ihren Wohnungen. Auch die Aufrührer zogen sich zurück; die Flucht lichtete bald ihre Reihen. Um neun Uhr Abends starb der Prophet, umgeben von einer geringen Zahl seiner Allertreuesten.

Das Aufsehen, welches die Vorkommnisse von Arcidosso erregten, war ein großes. In Italien selbst haben sich die politischen Parteien der Angelegenheit bemächtigt, und es regnete Anklagen gegen die Regierungsgewalt, welche nicht zeitig genug eingeschritten sei, um das Unglück zu verhüten.

Die interessanteste, aber auch schwierigste Seite der Frage ist die psychologisch-politische, die Frage: aus welchen Antrieben Lazzaretti handelte und ob jemand und wer die geistigen Fäden in der Hand hielt, die ihn leiteten.

Ohne über die Redaction der vier Gesetzbücher ein Urtheil zu fällen, ehe uns dieselben vollinhaltlich vorliegen, können wir doch auf Grundlage des Mitgetheilten sagen, daß die in denselben enthaltene Weisheit recht wohl aus den öffentlichen Blättern der socialistischen und clerikalen Partei zu gewinnen war. Die Clericalen thun sich etwas zugut darauf, den heiligen David rechtzeitig den Behörden denuncirt zu haben, ehe derselbe gefährlich wurde. Wir wissen, daß die Behörden seit Jahren ein Auge auf ihn hatten und ihn unschädlich zu machen suchten, und daß die Clericalen sich von ihm zurückzogen, als er einige Hauptpunkte des katholischen Glaubens angriff. Dadurch, daß die katholischen Geistlichen in Arcidosso von der Kanzel herab den Abfall Lazzaretti’s geißelten, wurde der Thatbestand sogar verdunkelt. Man glaubte mit Unrecht, ein Gezänke auf religiösem Boden vor sich zu haben, und übersah die communistische Seite. Viele aus der Gegend, welchen die communistische Richtung [635] Lazzaretti’s peinlich war, glaubten wenigstens an seine göttliche Inspiration als Religionsmann. Daß derselbe mit der clericalen Partei in Verbindung stand, wurde schon vor sieben Jahren durch in Beschlag genommene Briefe erwiesen. Einiges in dieser Beziehung ließ auch der Prophet selber dem obenerwähnten Sicherheitsbeamten gegenüber durchblicken, mit dem er gelegentlich einmal unter Aufgebung der mystischen Redeweise rein geschäftlich verkehrte. Auf den Rath einer höheren Intelligenz, gab er an, habe er in seinen Broschüren neben vielen Wahrheiten Einiges zu Gunsten der bestehenden Ordnung sagen müssen, um nicht in Ungelegenheiten zu gerathen. Er erzählte von seiner indirecten Verbindung mit Don Carlos, dessen Photographie er in einem Strohsacke verborgen hielt.

Das erste Auftreten Lazzaretti’s fällt in die Zeit nach dem unglücklichen Gefecht bei Mentana. Wie amtlich festgestellt ist, wurde 1872 der gewesene Fuhrmann von vier Franzosen, drei Geistlichen und einem Laien, und bald darauf von einer Fremden besucht, die als Abgesandte einer hohen Persönlichkeit, des Hauptes der legitimistischen Partei, galt. Dieselbe erschien als Bäuerin verkleidet mit einem Empfehlungsschreiben bei einem Domherrn in Roccalbegna, welcher Ort südöstlich von Arcidosso liegt, und ließ sich von demselben zum Propheten begleiten, der darauf bestand, den Dolmetscher zu entlassen und das Gespräch ohne Zeugen mit der Dame weiter zu führen. Die Kosten seines Aufenthalts in Frankreich bestritt, abgesehen von der Gemeinschaft in Arcidosso, die reactionäre Partei.

Die Leiter der dem Königreich Italien feindlichen Partei mögen die Leistungsfähigkeit und Bedeutung des Mannes überschätzt haben, der das ihnen angenehme Geschäft der Hetzerei gegen die bestehenden Zustände betrieb; sie mögen auch der Ansicht gewesen sein, daß er auf alle Fälle ein brauchbares Werkzeug für die Zwecke der Reaction sein könne. Das Wunderbare bleibt immer, daß Leute von Stand und Bildung, bei denen schwerlich politische Beweggründe maßgebend waren, hohe Stücke auf ihn gehalten haben. Wir denken beispielsweise an den angeführten Exoberstaatsanwalt. Daß der „heilige David“ den religiösen Fanatismus als Deckmantel vorgenommen und mit kalter Berechnung auf die Verführung der Landleute hingearbeitet habe, wird aus von ihm gemachten Aeußerungen behauptet, wonach er reich zu werden wünschte.

Die Phantasie des gewesenen Fuhrmanns war ungemein rege; in seinen Büchern ist viel die Rede von Rache, Blut und Opfer. Ueber die Größe der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, ist er sich niemals klar gewesen; denn die Kenntniß der Welt und ihrer realen Verhältnisse ging ihm ab. Blind rannte er in sein Verderben; er kehrte in der ausgesprochenen Absicht vom Ausland zurück, die Expedition zu beginnen, die keinen guten Ausgang haben konnte. Eitelkeit, in der von ihm eingeschlagenen Richtung fortzufahren und die ihm zu Theil gewordene Verehrung durch Heldenthaten zu vermehren, mag ihn mitbestimmt haben. Die partielle Narrheit des Mannes liegt zu Tage, und seine Pfiffigkeit in einzelnen Dingen scheint uns nicht damit in Widerspruch zu stehen; der Prophet war hierin ein rechter Bauer, und das Vertrauen der Landleute zu ihm wird durch seine Beschränktheit erst recht verständlich. Wer von einem toscanischen Dorfe aus die ganze Welt reformiren und speciell den Communismus einführen will, bei dem kann es im Oberstübchen nicht geheuer sein. Das Geheimnißvolle des Propheten und der Ereignisse von Arcidosso, mitten in einer civilisirten Provinz – denn die Eisenbahn befindet sich in der Nähe des Ortes – ist indessen durch kein Raisonnement wegzuschaffen, ob wir den Mann mehr von der socialen, religiösen oder politischen Seite aus betrachten.

Die sich in dem „heiligen David“ darstellende merkwürdige Verquickung der socialen und religiösen Frage wird außerhalb Italiens mehr als ein Gegenstand psychologischer Betrachtung aufgefaßt werden; in Italien, wo bekanntlich die sociale Frage bis jetzt kaum in den Städten, wohl aber auf dem Lande besteht, wird man ohne Zweifel nicht die Mahnung verkennen, welche in dem gewaltsamen Tode des Propheten, sowie in dessen ganzem Lebensgange liegt.
J. Schuhmann.




Genesung.


Wer hat es trostlos nicht empfunden,
War er im tiefsten Innern krank,
Daß er zur Heilung seiner Wunden
Umsonst am Quell der Freude trank?

Der Born, der Andre labend netzte,
Versiecht’ an seiner Lippe Rand.
Nur noch ein Becher blieb – der letzte
Zu löschen seiner Seele Brand –

Da sendet ihm der Gottheit Gnade
Die Retterin in höchster Noth;
Gebrochen folgt er ihrem Pfade
Und ihrem ernsten Pflichtgebot.

Die Arbeit ist’s – unmerklich leise
Führt sie zum Leben ihn zurück,
Bannt ihn in ihre Zauberkreise,
Weckt ihm Genesung, neues Glück.

Die Arbeit ist’s – ob für die Seinen,
Ob für sein Volk, ob für die Welt,
Ob im Gewalt’gen, ob im Kleinen –
Die ihm das Herz mit Hoffnung schwellt.

Und wie er auch, von Gram bezwungen,
In Todessehnsucht einst gebebt,
er hat den Frieden sich errungen:
Nur wer für Andre schafft, der lebt!

Ernst Scherenberg.




Ein Wochenmarkt in St. Petersburg.


Petersburg liegt, wie jedes Schulkind weiß, an dem schönen Newastrom, der die Stadt nicht nur in zwei von einander sehr verschiedene Hälften theilt, sondern auch diese mit zahllosen Seitenarmen und Canälen durchschneidet. So kommt es, daß z. B. die Schiffe, die vom waldigen Norden, vom Ladogasee her, ihre aus Brennmaterial bestehenden Ladungen auf der Newa nach der Riesenstadt bringen, wenn nicht direct vor dem Hause des Bestellers, so doch in nächster Nähe seiner Wohnung abladen können.

Der bedeutendere Theil Petersburgs liegt an der linken Seite des Stromes, denn hier stehen in ihrer wuchtigen Größe die Isaaks-Kirche, der Winterpalast; hier breiten sich die enormen Gebäulichkeiten des Senats, der Admiralität aus; dahinter liegen die bekannten, von Menschen und Gespannen wimmelnden Straßen der Marskoi, der Newski etc.. Minder bekannt ist der Theil der Stadt, der sich auf dem rechten Ufer der Newa ausbreitet, und obwohl auch hier ein reges Treiben herrscht, so hat diese Seite doch ein weit ländlicheres Gepräge als die jenseitige.

Wasilij-Ostrow (Basilius-Insel) heißt dieser ganze Stadttheil, der, von Peter dem Großen (1703) angelegt, in schnurgeraden Linien erbaut wurde. Diese Linien führen von der Hauptnewa bis an die kleine Newa und sind der Quere nach gleichfalls von geraden, sehr breiten Straßen durchzogen, die mit ihren Gärten vor den Häusern, mit ihren schattigen breiten Fußwegen einen sehr angenehmen Eindruck machen. Man erzählt, der Erbauer dieser Quadratbauten habe beabsichtigt, all diese Straßen in Canäle zu verwandeln und so im hohen Norden ein zweites Venedig entstehen zu lassen, und allerdings liegt dieser Gedanke nahe, wenn man aus der Vogelperspective einen Blick auf die enorme Wassermasse wirft, die hier eine weite Strecke Landes zu Inseln macht.

Erwähnten wir vorhin den ländlichen Anstrich von Wasilij-Ostrow, so schließt dies jedoch nicht aus, daß auch hier, namentlich am Newaquai, großartige Gebäude stehen: die Universität mit ihren reichhaltigen Sammlungen, Bibliotheken etc., die Börse, der [636] schöne Solojew’sche öffentliche Garten, die Lagerhäuser für Schiffsladungen – das Alles sind eben nicht Orte, die auf ländliche Stille schließen lassen.

Durch die Quadratbauten auf Wasilij-Ostrow entstehen weite große Höfe mit Ställen und Remisen, sodaß z. B. viele Familien im Winter ihren Bedarf an Milch im eigenen Stalle holen. Sobald im Frühling Schnee und Eis weichen, ruft der Kuhhirt am Morgen mit seinem Horn die Kühe zur Weide und führt eine ganz stattliche Heerde vor die Stadt in’s Freie.

Das Straßenleben in der Morgenstunde hat in Petersburg, wie in allen großen Städten, sein eigenes Gepräge; damit ist freilich nicht die Zeit, die wir so nennen, gemeint, denn in Rußland wird es spät Tag. Die Russen dehnen, in allen Schichten der Gesellschaft, mit besonderer Vorliebe die allabendliche Theestunde bis weit hinein in die Nacht aus, woraus folgt, daß sie nothwendig am Morgen die versäumte Schlafenszeit nachholen müssen. Geht man zwischen neun und zehn Uhr durch die Straßen, so sieht man noch zahllose Menschen, die allem Anscheine nach der arbeitenden Classe angehören, sich beim Austritt aus dem Hause bekreuzigen – ein untrüglicher Beweis dafür, daß dies ihr erster Ausgang ist. Kein rechtgläubiger Russe würde je zum ersten Male am Tage seine Schwelle überschreiten, ohne sich dabei demüthig zu verneigen und im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes seinen Weg anzutreten. Der Griechisch-katholische ist in der Erfüllung solcher Aeußerlichkeiten fast noch gewissenhafter, als der römische Katholik, und oft begreift man nicht, wie es die schwer bepackten Menschen möglich machen, vor Kirchen und Heiligenbildern das Zeichen des Kreuzes zu schlagen; sogar der Kutscher, der nur mühsam sein schnaubendes Dreigespann im Zaume hält, wird darüber seine religiösen Pflichten nicht versäumen.

Die Hauptmahlzeit findet in Rußland wie in Frankreich und England am Abend statt, sodaß Hausfrau und Dienerschaft erst spät am Tage dafür Sorge zu tragen haben. Auch die Lieferanten brauchen darum nicht zu eilen, und es mag gegen zehn Uhr sein, wenn die finnischen Milchfrauen erscheinen, die ihre vorzügliche Butter, ihren dicken Schmand und alle die verschiedenen Käsearten feilbieten; ihre zweirädrigen Karren, ihre Tillinggen mit den gedrungenen, kleinen Pferden bespannt, stehen in Reih’ und Glied auf den freien Plätzen, wo der eigentliche Markt nicht wie bei uns nur an besonderen Stunden und Tagen, sondern vom Montag Morgen bis zum Sonnabend Abend in langen Holzbaracken abgehalten wird. Ein breiter Gang führt durch diese Bretterhalle; zu beiden Seiten liegen die einzelnen Verkaufslocale, die, kaum merklich von einander getrennt, einen überraschend hübschen Anblick gewähren. Hier finden sich, in zahllosen Fächern aufgethürmt, allerhand Gemüse; in hohen Körben stehen die runden, gelben Rüben genau nach Art und Größe sortirt; ferner Spargel, Bohnen, Radieschen, Erbsen, Spinat und der hier sehr beliebte Sauerampfer.

Im nächsten Raume wird Obst, nach unseren Begriffen freilich sehr theueres, feilgeboten; diese Obstbuden verdienen besondere Beachtung, denn es ist, als ob der Nordrusse die schönen Früchte, die nicht bei ihm gedeihen, mit besonderer Vorliebe behandelte; auch die Obstläden der Stadt sind auf das Geschmackvollste hergerichtet. Was der kalte Norden nicht erzeugen kann, das wird aus den üppigen Gefilden der Krim, aus fernen Ländern hierher versandt, und so stehen neben Aepfeln, Birnen, Pflaumen, Melonen etc. Körbe voll Malagatrauben, Granatäpfel, Ananas, Bananen. Auch Beeren aller Gattungen giebt es in Massen und zu verhältnißmäßig sehr geringen Preisen, da diese in der Umgegend trefflich gedeihen. Die russische Frucht par excellence ist die Arbuse (Wassermelone), die im Hochsommer so reichlich aus den südlichen Provinzen verschickt wird, daß sie ein Engros-Handelsartikel genannt werden kann. Die Arbuse fehlt selten auf der Tafel des Reichen, und das Bettelkind, das man auf der Straße beschenkt, eilt nach dem nächsten Obststand, wo man ihm für die kleinste Kupfermünze eine schöne Scheibe der saftigen, röthlichen Frucht mit den glänzend schwarzen Kernen verabreicht.

In der folgenden Bude finden wir einen blühenden Garten mit Gelbveiglein, Rosen, Nelken, anderen schönen Blumen und grünen Gewächsen, die in russischen Häusern als Zimmerschmuck viel gepflegt werden. Nun folgt ein Raum mit Geflügel oder Eiern, Butter u. dergl. m.; so geht es fort in bunter Reihe bis an das obere Ende der Halle, wo ein klares Wasser, nur leicht überdeckt, an den Fischbuden vorüberfließt. Die Russen essen gerne Fische, wofür das besonders rege Treiben hier einen neuen Beweis liefert. Die Namen der Fische, wie Lachs, Zander, Aal, den köstlichen, geräucherten Sik, die zahllosen Variationen der Häringe, Sardellen etc. aufzuzählen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit, aber es ist ein wahres Vergnügen, an den gefüllten Butten und Kästen vorüber zu gehen. – Auch die Wildprethandlungen verdienen es, erwähnt zu werden: sie bieten eine besonders große Auswahl an Geflügel. Da giebt es Reb-, Hasel-, Schnee-, Birk-, Auerhühner in Hülle und Fülle neben all den auch uns bekannten Trabanten des Geflügelhofes; nur die Taube fehlt, da dieser Vogel dem Volke heilig ist. Bei der enormen Vermehrung der Tauben entstehen in den russischen Städten ganze Schwärme davon; vom Reichsten bis zum Aermsten ist wohl kein Russe, der nicht seine rothe Holzschale, mit Taubenfutter gefüllt, stets bei der Hand hätte. Geht man an freien Plätzen vorüber, so sieht man jeden Augenblick Geschäftsleute vor die Thür treten, um mit vollen Händen Körner auszustreuen; im Nu sind diese von der geflügelten Schaar, die sich wie eine dunkle Wolke niederläßt, aufgepickt. – Unter dem vierbeinigen Wilde ist unser beliebter Hase schwach vertreten; Freund Lampe gilt dem Russen als ein ganz schlechtes, ja fast schädliches Essen, wofür ihm aber der köstliche Rennthierbraten im Winter reichlichen Ersatz bietet.

Nicht nur die Räumlichkeiten eines Petersburger Marktplatzes sind verschieden von den unserigen, auch die Art und Weise des Handelns ist eine andere als bei uns. Sobald man die „grüne Bude“ betritt, folgt der Gärtner dem Betreffenden mit einem breiten Bastkorbe, in den er Alles, was dieser wünscht, legt; erst wenn die Auswahl getroffen ist, nimmt der Verkäufer sein Rechenbrett zu Hülfe. Ein solches hat Jeder stets zur Hand, und es wäre in Rußland undenkbar, nach unserer Art im Kopfe oder auf Papier zu rechnen. Diese Rechenmaschinen, wie man sie bei uns zuweilen für Kinder hat, sind wohl Jedem bekannt. Bei der bequemen Decimalrechnung mit Kopeken und Rubeln ist ihre Anwendung leicht: die zehn Perlen auf der obersten Schnur im Brette gelten für die einzelnen Kopeken; hat der Verkäufer diese zehn Perlen für den Preis einiger Kleinigkeiten – freilich ganz geringen Wertes – nach rechts geschoben, so zieht er die ganze Reihe zurück und schiebt dafür eine Perle der zweiten Reihe, welche die Zehner darstellt, vor. Ist auf diese Weise auch die zweite Perlenreihe nach rechts gekommen, so schiebt er auch diese zurück, und die erste Perle der dritten Reihe – der Rubel, da zehnmal zehn, also hundert Kopeken den Rubel ausmachen – kommt nach rechts, bis wieder bei größeren Einkäufen die zehn einzelnen Rubel sich zurückziehen, um den Zehnern, später den Hunderten zu weichen.

So glatt geht jedoch die Sache auf dem Markte nicht vor sich, wie sie sich hier lesen läßt; schiebt der Verkäufer seine Perlen vor, so schiebt ihm der Käufer immer wieder viele derselben, oft ohne ein Wort zu sprechen, zurück; nun bricht der Händler in lebhafte Betheuerungen aus und versichert, oft auf die komischste Art, bereits den geringsten Preis gefordert zu haben. Schließlich läßt er immer bedeutend nach, denn der russische Handelsmann ist fast noch geriebener als der Jude in Geschäftssachen.

Im geschäftlichen Verkehre rechnet man stets nach Silberrubeln, doch bekommt man nie einen solchen zu sehen; und so hübsch die kleinen Zehn-, Fünfzehn- und Zwanzig-Kopekenstücke sind, so häßlich und unsauber sind die Rubelnoten. Einen harten Silberrubel, den man dann und wann in Finnland oder einer sonstigen russischen Provinz erhält, kann man getrost als seltenes Stück aufbewahren.

Während in anderen Ländern der Betrieb des Marktes zum großen Theile in den Händen der Frauen liegt, wird er hier, bis auf die Milchwirthschaft, fast ausschließlich von Männern besorgt. Auch in den Kaufläden, es sei denn in Stickgeschäften u. dergl., findet man selten Verkäuferinnen. Ueberhaupt sieht man die russischen Frauen nicht oft außerhalb ihres engsten Berufskreises thätig.

Läßt sich die reiche Russin gern bedienen, so macht es ihre Köchin genau wie sie. Nimmermehr trüge sie ihre Einkäufe selbst nach Hause, das kommt dem Verkäufer zu, der die Sachen

[637]

St. Petersburger Marktscene. Originalzeichnung von A. Baumann in Düsseldorf.

[638] sämmtlich in Spahnkörbe oder besser in Körbe von dünnem in einander verflochtenem Holze packt und durch seine Leute den Käufern zuschickt. Der Consum solcher Körbe ist enorm; beim geringsten Einkauf gehört das Transportmittel dazu, das dann in der Küche zum Anfeuern verwendet wird.

Es ist kaum nöthig hier zu erwähnen, daß eine Stadt, die, wie Petersburg, einen Umfang von vier Meilen zählt, viele Marktstellen wie die oben besprochene aufzuweisen hat. Flott gehandelt und eingekauft wird an jeder, denn ist der Russe im kurzen heißen Sommer mit einer frischen Gurke zu seinem Brode zufrieden, so erfordert das nördliche Klima im Winter eine besonders kräftige und nahrhafte Kost.




Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung.)


Man fand die Mordwaffe, im Hause des Gemordeten selbst – eine Entdeckung, zu der die Lehrlinge auf Kern’s Anfrage schüchtern den Weg gewiesen hatten. Sie kamen erst mit der Sprache heraus, als sie hörten, daß King im Gefängniß sitze und wohl nicht sobald wieder losgelassen werde. Daß ihnen King immer ein unerklärliches, unbezwingliches Grauen eingeflößt habe, versicherten Beide auf das Bestimmteste.

„Ich würde nie gewagt haben, ihn, so lange er frei war, zu verrathen,“ bekräftigte Hark.

„Nun, habt Ihr denn etwas zu verrathen?“ fragte Kern eindringlich.

Beide nickten. Aber Beide sahen sich auch jetzt noch scheu um, als ob sie argwöhnten, der Gefangene könne plötzlich mit seinen großen, kalten, grauen Augen zum Fenster hineinschauen und sich merken, was sie dem Richter gestanden.

„Nun, was denn?“ fragte Kern ermunternd.

„Ich,“ meinte Hark stockend, während sein Blick wieder nach der Thür wanderte, „ich war zuerst wach von uns Beiden, als die Margret im Hofe um Hülfe schrie. Und ich möchte darauf schwören, Herr Amtsrichter“ – hier sank seine Rede zu einem stotternden Geflüster herab – „daß ich in diesem Augenblicke eine Gestalt wie die King’s durch unsere Kammer huschen und in King’s Schlafkammer verschwinden sah.“

„Also von außen kommend?“ betonte Kern.

„Ja wohl, draußen von der Treppe her. Ich schlief aber wieder ein, weil drunten einen Augenblick Ruhe war, und meinte, ich hätte im Traume die Margret ‚Mörder’ schreien hören.“

„Nun war ich aber wach geworden,“ fuhr Barth freiwillig fort. „Und ich hörte deutlich Margret’s Stimme. Ich hörte aber auch King in seiner Kammer herumarbeiten, namentlich an der losen Diele.“

„An der losen Diele?“ fragte Kern mit einer Art von Begeisterung. „Wo ist denn die? Könnte man unter der vielleicht einen Dolch verstecken?“

Als die Lehrlinge bejahten und die Stelle zeigten, wurde die Mordwaffe gefunden. Sie paßte genau in die Lederscheide mit silbernen Beschlägen, die im Keller bei der Leiche gelegen hatte. Sie paßte auch genau in die Wunden des Unglücklichen.

„Habt Ihr denn jemals diesen Dolch bei King gesehen?“ fragte Kern die Lehrlinge, die Hausbewohner insgesammt.

Alle verneinten, auch Margret.

Der Angeklagte behauptete, als ihm der Dolch von Kern plötzlich vergehalten wurde, mit größter Ruhe und Bestimmtheit, daß ihm derselbe völlig unbekannt sei. Er leugnete mit derselben Entschiedenheit, zu wissen, auf welche Weise die Klinge über und über mit geronnenem Blute sich bedeckt habe und wie Sandkörner an die Parirstange gekommen seien. Auch in der ganzen Stadt war Niemand, der die Waffe kannte.

Das war ein Geheimniß, an dem sich der Scharfsinn des geübten Inquirenten vergeblich abmühte. Es schien, als sollte es für immer unenthüllt bleiben. Denn der einzige Mund, der darüber reden konnte, war für immer stumm. – –

In derselben Stunde, auf demselben Kirchhofe, wenige Schritte von einander, wurden Wolf und Bahring, von der ganzen Bevölkerung des Städtchens zur letzten Ruhestätte geleitet, in die Erde eingesenkt. Das furchtbare Schicksal, das über Beider letzten Lebensstunden gewaltet, kam an ihren offenen Gräbern zu ergreifendem Ausdrucke. Allgemein brachte man Beider Tod in Wechselwirkung. Bahring, so urtheilte die Volksstimme, hat ja selbst in seinen letzten Zeilen die That eingestanden; er suchte die ungetreue Geliebte in’s Herz zu treffen, indem er ihren Bräutigam mordete; dann gab er sich selbst den Tod. – Wenige wollten an King’s Schuld glauben, Wenige aber kannten auch die Schwere der Indicien, die gegen ihn zeugten; denn Kern hielt streng auf sein Amtsgeheimniß.

Den einen Einwand aber, den Alle gegen King’s Schuld erhoben, mußte der Richter selbst gelten lassen: Welches sollte bei King das Motiv der That gewesen sein? Aus welcher Absicht konnte er den Mord seines Meisters geplant, vollführt haben?

Und dennoch brachte eine höhere Hand Licht auch in dieses dunkle Räthsel.




Eines Morgens meldete der Diener dem Amtsrichter, daß Fräulein Natalie Becker ihn zu sprechen wünsche.

„Sie verzeihen, Herr Amtsrichter, wenn ich Sie störe!“ sagte sie bebend, als sie vor dem verwunderten Beamten saß, „aber mein Gewissen läßt mir keine Ruhe. Ich muß Ihnen etwas offenbaren –“

„Mein Fräulein!“ sprach Kern fast ängstlich und mitleidig, indem er ihr in die klaren Augen blickte, die eine reine, edle Seele widerzuspiegeln schienen. „Was sollte Ihnen Ihr Gewissen vorwerfen?“

„Ich fürchte, ich bin schuld – an Wolf’s Tode –“

„Sie – an Wolf’s Ermordung?“ fragte Kern. Er brauchte das Wort, das sie nicht über die Lippen gebracht hatte.

„Ja, ich, Herr Amtsrichter,“ wiederholte sie gefaßt. „Freilich ohne daß ich an dem Morde irgendwie betheiligt war – ohne daß ich nur eine Ahnung davon hatte, daß er geschehen werde.“

„Wie soll ich Sie verstehen?“

„Ich meine“ – fuhr sie eindringlich und stockend fort – „daß King seinen Meister um’s Leben gebracht hat –“

„Dieser Meinung bin ich auch, mein Fräulein – aber die Meinung reicht nicht aus. Beweise müssen erbracht werden.“

„Eben diese Beweise drängt es mich zu bieten. Sie wissen, wie die Stadt über King und mich redete. Wir sollten ein Paar sein, nur aus Trotz oder Hochmuth unser Verlöbniß in Abrede stellen. Herr Amtsrichter – ich kann heilig versichern: ich bin nie mit King verlobt gewesen.“

„Niemals?“ wiederholte Kern verwundert. „Niemals, trotz alle dem, was man gemunkelt – merkwürdig. Auch nicht so zu sagen im Stillen, Fräulein Becker, hm?“

„Auch nicht im Stillen,“ entgegnete Natalie bestimmt. „Ich bin fest überzeugt, daß King selbst die öffentliche Meinung über dieses Verhältniß immer von Neuem irre geführt hat. Er selbst wußte genau, wie ich über diesen Punkt dachte; denn er hatte sich mir zu Pfingsten erklärt, er hatte, um mein Jawort zu erhalten, mir seine Familienverhältnisse sehr rosig ausgemalt, mir versichert, daß er, als einziger weit herumgekommener Kürschner, in seiner ostpreußischen Vaterstadt eine glänzende Zukunft habe. Ich wollte ihn nicht geradezu abweisen, denn ich glaubte, er liebe mich aufrichtig, und – ich fürchtete ihn. Sein kaltes, funkelndes graues Auge hatte so etwas entsetzlich Unheimliches.“

„Und was gaben Sie ihm auf seinen Antrag zur Antwort?“

„Ich sei zu jung. Er möge noch ein paar Jahre warten.“

„Ein paar Jahre? Das war doch so gut wie ein Korb.“

„Ich sagte ihm auch noch, daß ich ihm niemals in seine ostpreußische Heimath folgen würde, da ich meine leidende Mutter nicht verlassen wolle.“

Dem Untersuchungsrichter blitzte bei diesen Worten ein Licht auf; begierig und gespannt lauschte er auf das Folgende.

„‚Inzwischen gelingt es Ihnen gewiß, hier selbstständiger Meister zu werden, Herr King,’ sagte ich ihm weiter, Herr Amtsrichter. ‚Sie sind ja so tüchtig und fleißig.’

[639] ‚Aber, Natalie!’ warf er mir ein, ‚Sie wissen selbst, wie kleinstädtisch und exclusiv die Menschen hier sind – man wird mich niemals hier mein Meisterstück machen lassen. Und wenn auch, so wird mir Wolf immer vorgezogen werden. Ich werde nie eine ordentliche Kundschaft in der Stadt erlangen, und an den Bauern ist nichts zu verdienen – das wissen Sie. Die tragen den Schafpelz des Urgroßvaters weiter.’

‚Sie kennen unsere Bürger doch nicht,’ entgegnete ich ihm, obwohl ich wußte, daß er in der Hauptsache Recht hatte. ‚Sie sind im Anfang recht spröde und mißtrauisch gegen den Fremden – das ist wahr. Aber Sie selbst haben erfahren, Herr King, wie schnell man Ihnen gut geworden ist. Und Sie gelten Allen schon als Mitbürger.’

Er erwiderte mir darauf nichts, Herr Amtsrichter. Er schüttelte nur traurig den Kopf und sann finster nach.

‚Ist es Ihr voller Ernst, Natalie, daß Sie die Stadt nicht verlassen wollen?’ fragte er dann. Und als ich seine Frage auf das Bestimmteste bejahte, entgegnete er rasch: ‚Gut. So will ich hier Meister werden. Und vielleicht dauert’s nicht einmal ein paar Jahre, Natalie.’

Damals lächelte ich im Stillen, Herr Amtsrichter, über seine verliebte Schnellfertigkeit. Sie kennen ja unser Städtchen. Ein paar Jahre kann einer allein brauchen, bis er Bürger wird, geschweige denn Meister. Und ich meinte: ein paar Jahre gewonnen, Alles gewonnen. Ich wollte mich inzwischen immer mehr von ihm zurückziehen und habe es, denk’ ich, auch bisher gethan. Ich meinte, dann werde er selbst von mir und seiner Idee, hier Meister zu werden, abstehen. Aber nun erkenne ich deutlich, daß ich mich geirrt, daß er stetig darüber gebrütet, wie er mich recht bald zu der Seinen machen könne. Ich verstehe jetzt den furchtbaren Sinn seiner Worte: ‚Vielleicht dauert’s nicht einmal ein paar Jahre, Natalie.’ Als ich die Nachricht erhielt, Wolf sei ermordet und King der muthmaßliche Mörder, da fielen mir diese Worte mit Centnerlast auf die Seele. Und deshalb bin ich hier, Herr Amtsrichter.“

Kern war sehr ernst geworden.

Der Gedanke berührte ihn peinlich, daß King, nach den Offenbarungen Nataliens, des Mitleids doch nicht ganz unwürdig zu sein schiene. Eine reine, tiefe Neigung zu Natalie hatte ihn beseelt; er sprach sie rückhaltlos dem Mädchen seiner Liebe aus – und fand hier doppelzüngige Antwort. Die Erfüllung seiner Hoffnung wurde an die Bedingung geknüpft, daß er sich im Städtchen selbst als Meister niederlasse. Diejenige, welche diese Bedingung gestellt, dachte gar nicht daran, falls die Bedingung erfüllt wurde, Frau Meisterin King zu werden. Bis dahin schien alle Aufrichtigkeit auf seiner Seite. Daß er nun im Stillen den furchtbaren Plan faßte, Wolf zu beseitigen, um wohl zunächst Geschäftsführer der Wittwe Wolf, dann Geschäftseigenthümer zu werden, und dadurch einige Jahre früher Natalien zu gewinnen, das war freilich entsetzlich. Die Vermischung der reinsten Gefühle und der häßlichsten Pläne in demselben Menschen erschien als ein psychologisches Räthsel. Aber immer stärker drängte sich dem Richter mit der Empfindung des Mitleids für den Verbrecher entschiedene Abneigung gegen Natalie auf, wenn er daran dachte, wie kalt mit King’s Gefühl gespielt worden war, welche grausame Enttäuschung ihn erwartet hätte, wenn ihm gelungen wäre, alle Früchte seines Verbrechens zu ernten: daß nun die Heißersehnte, um deren willen King schwere Blutschuld auf dem Gewissen trug, ihm nach Jahren ein herzloses Nein gesprochen hätte. Und das Mädchen, das so gegen King gehandelt, stand nun vor dem Richter, um den Mann, der sie geliebt, auf’s Schaffot zu liefern.

So schnell, wie Gedanken aufblitzen und verschwinden, zogen diese Erwägungen durch die Seele Kern’s.

„Sie sind jung, Fräulein Becker,“ sagte er flammenden Auges. „Aber den Werth der Wahrheit müssen Sie von Kindheit an kennen, aus der Zucht der Eltern, aus den Lehren der Schule und unseres Glaubens. Ich begreife jetzt, warum Sie vorhin von Gewissensbissen sprechen konnten. Es muß Ihnen schrecklich zu Muthe sein, wenn Sie bedenken, daß Sie mit ein wenig mehr Offenheit, mit soviel Wahrheit, wie King gerade von Ihnen verlangen konnte, diese unselige That hätten hindern können. Bitten Sie Gott um die Gnade, daß Sie dieses an Ihrem Frieden nagende Bewußtsein jemals wieder los werden!“

Damit stand er auf und verbeugte sich kurz gegen das junge Mädchen.

Auch Natalie hatte sich erhoben. Sie war bei seinen letzten Worten dunkelroth geworden, und zwei schwere Thränen rollten über ihre Wangen.

„Herr Amtsrichter, Sie thun mir unrecht,“ stammelte sie. „Ich gebe zu, ich habe King nicht Alles gesagt, was ich von ihm dachte. Vielleicht wäre der Mord Wolf’s nicht geschehen, wenn ich ganz offen gewesen wäre. Aber warum war ich es nicht, Herr Amtsrichter? Ich will Ihnen etwas sagen, was ich noch keinem Menschen gesagt: Ich war auf dem Wege, King zu lieben. Es kann sein, daß ich ihn schon liebte. Da versuchte er, sich durch Lüge und Täuschung in mein Vertrauen, in mein Herz zu stehlen, und nun wurde mein Herz kalt gegen ihn; er wurde mir immer unheimlicher und furchtbarer. Ich war auf meiner Hut; ich erwiderte seine Lügen zwar nicht mit gleicher Münze, aber ich suchte ihn hinzuhalten, um ganz und voll hinter seine wahre Natur zu kommen, hinter das Geheimniß seiner Herkunft, seiner Vergangenheit, über welche er uns Alle getäuscht hat.“

Kern blickte verwundert auf.

„Wollen Sie mich deshalb sofort verurtheilen, Herr Amtsrichter?“

„Sie erheben schwere Anschuldigungen gegen King, Fräulein Becker. Wenn Sie dieselben beweisen können, so nehme ich Alles zurück, was ich gesagt habe.“

„Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß King so bedeutete Ausgaben machte?“ fragte sie.

„Nun, er stand in sehr guten Lohnverhältnissen und soll der Sohn bemittelter Eltern sein,“ erwiderte er.

„Das Letztere, Herr Amtsrichter, ist nicht wahr, wie Sie sehen werden. Es war dies seine erste Lüge mir gegenüber.“

„Die amtlichen Mittheilungen aus seiner Heimath fehlen mir allerdings noch,“ erklärte Kern. „Woher wissen Sie, daß King’s Aussagen unwahr sind?“

„Wohin haben Sie sich gewendet, um Nachrichten über King zu erhalten, Herr Amtsrichter?“ fragte das Mädchen zurück.

„Nach Königsberg natürlich,“ antwortete Kern. „Er ist von dort her.“

„Herr Amtsrichter, Sie werden dasselbe hören, was mein Vater erfuhr, als er dort insgeheim anfragte.“

„Nun, mein Fräulein, daß die Eltern King’s todt sind und daß man sein Vermögen gerichtlich verwaltet, bis er die Volljährigkeit erlangt haben wird – das hat er uns selbst erzählt.“

„Nichts von alledem werden Sie erfahren, Herr Amtsrichter. Die Eheleute King, die in Königsberg vor Jahren gestorben sind, haben keine Kinder und kein Vermögen hinterlassen; sie waren King’s Onkel und Tante.“

„Woher wissen Sie das?“

„Haben Sie schon Briefe der Eltern King’s gesehen?“ fragte sie weiter, ohne auf die Frage Kern’s zu antworten.

„Nein. Ich habe gar nicht danach gesucht, da ich annahm, daß sie todt seien.“

„Aber Briefe von dieser Schrift werden Sie gesehen haben,“ fragte Natalie, indem sie ihm ein ungestempeltes Couvert vor Augen hielt, auf dem mit steifen, altfränkischen Schriftzügen ihr Name und Wohnort stand.

„Ja, Briefe von dieser Hand habe ich in seinem Besitze gesehen,“ bestätigte der Richter. „Er sagte, sie kämen von seinem älteren Bruder. Sie enthielten nichts Wichtiges, Familiengeplauder, Ermahnungen zum Guten.“

„Von welchem Orte waren sie datirt?“

„Sie trugen kein Datum. Das ist bei gewöhnlichen Leuten nichts Auffallendes, mein Fräulein.“

„Das kann sein,“ entgegnete sie. „Aber auffallend ist es gewiß, daß ein Sohn seine Eltern für todt ausgiebt, während sie leben, und daß er die Briefe seines Vaters als diejenigen seines Bruders bezeichnet. Und da er sich in einer Stadt als heimathsberechtigt bezeichnet, die er gar nicht kennt, so wird wohl das Weglassen des Datums auf Verabredung beruhen und das ganze Manöver King’s den Zweck verfolgt haben, seine wahre Heimath, sein Herkommen zu verheimlichen.“

„Aber was sollten seine Eltern für ein Interesse daran haben, ihn bei dieser Verheimlichung zu unterstützen?“

„Es hat lange genug gedauert, ehe ich mir eine klare Antwort [640] auf diese Frage geben konnte, Herr Amtsrichter,“ erwiderte sie. „Endlich kam mir der Einfall, daß Josua King am Ende ein Verbrechen begangen, vielleicht eine schimpfliche Strafe erlitten hätte – und daß er – ohne mir das zu sagen – mein Schicksal an das seine zu ketten versuchte. Der Gedanke empörte mich und ließ mir wochenlang keine Ruhe. Und diese furchtbare Ahnung ist jetzt bei mir zur Gewißheit geworden, Herr Amtsrichter!“

„Was wissen Sie denn, liebes Fräulein? Und durch wen?“

„Ich würde Ihnen das nicht sagen,“ erwiderte sie, indem abermals ihr Auge sich mit Thränen füllte, „wenn Sie nicht ganz dasselbe, wenn auch auf Umwegen, durch Nachforschung bei den Behörden erfahren könnten. Und vielleicht trotzdem noch nicht – aber ich bin, wie Sie sehen, vom Vater King’s ausdrücklich ermächtigt, Ihnen das mitzuteilen.“ Damit überreichte sie Kern den Brief und das äußere Postcouvert, die zu dem früher schon vorgezeigten Umschlag gehörten.

Der Poststempel wies auf einen Flecken bei Thorn hin. Der Brief selbst war an Natalie Becker, als die „Braut“ Josua King’s gerichtet. So habe Josua sie seit Pfingsten in seinen Briefen an die Eltern bezeichnet. Nun habe der Vater vom Schulzen gehört – und er habe es in der Zeitung gelesen und das Blatt dem Alten auch vorgezeigt – daß Josua wegen eines ruchlosen Mordes in Haft sei. Der arme, brave alte Mann beschwor in seiner Herzensangst die vermeintliche Braut des Sohnes, sie möchte ihm Alles sagen. Das Schlimmste sei nicht schlimmer, als die bange Zweifelsnoth, in der er mit der alten Mutter lebe. Sie hätten Alles, was ihnen Gott verliehen – es sei blutwenig gewesen – ihr Lebtag an die Kinder gewendet, vor Allem an Josua, den Begabtesten, um sie in Zucht und Sitte zu erziehen. Und Josua habe, wie sie ja wissen werde, ihnen alle Mühe so schlecht gelohnt. Kaum siebenzehn Jahre alt, habe er eine ganze Anzahl schwerer Einbrüche begangen, und sei zu drei Jahren Zuchthaus verurtheilt worden. Dann habe er ein ruheloses Wanderleben begonnen, bis er endlich in dem Städtchen Natalien’s dauernd reichliches Brod und die Liebe eines guten Mädchens gewonnen, wie er schrieb, die ihn trotz seiner drei Jahre Zuchthaus zum Manne nehmen wollte. Da endlich habe sich der Lebensabend der Eltern aufgehellt, und sie hätten zu Gott gehofft, daß ihnen die Sonne in reinem Glanze untergehen werde. Und nun diese furchtbare Botschaft! Natalie möchte ihnen nichts sagen, als die reine Wahrheit. Wenn der Sohn die alten Eltern belogen, wenn er auch dort den Weg der Lüge und Verstellung gewandelt, gar ein verruchter Mörder geworden sei, dann sei er ihr Sohn nicht mehr, dann dürfe sie diese Zeilen Allen zeigen, die an Erforschung der Wahrheit betheiligt seien.

Kern las den Brief mit tiefster Rührung. Ja, das waren die Herzensworte eines deutschen Mannes von echtestem Schrot und Korn! So schrieb die preußische Art, deren Altvordern Jahrhunderte lang den zähen, verzweifelten Kampf gegen die polnische Mißwirtschaft gekämpft, die im glorreichen Jahr Dreizehn zuerst gegen den Völkerbezwinger Napoleon sich erhoben hatten, die seit den Tagen des Freiherrn vom Stein auf freier Hufe saßen, den eigenen kargen Boden pflügten.

„Ich danke Ihnen, Fräulein Becker,“ sprach er bewegt. „Gestatten Sie mir, daß ich Ihren Zeilen an den tapferen alten Vater auch einige Zeilen zur Antwort beilege?“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Ein Jahresbericht aus Paris. Auf das segensreiche Wirken des seit Jahren in Paris bestehenden „Deutschen Hülfs-Vereins“ und die Nothwendigkeit, ihn zu unterstützen, ist von der „Gartenlaube“ schon früher hingewiesen worden. Zu unserer Freude erfahren wir, daß hierdurch dem Vereine manche Freunde gewonnen wurden, die bis dahin von seiner Existenz nichts gewußt hatten. In dem noch immer uns feindlichen Paris leben bekanntlich seit 1871 wieder sehr viele Deutsche, von denen sich ein sehr erheblicher Theil in höchst bedrängter, oft sogar in verzweifelter Lage befindet.

Der soeben erschienene Bericht über das Jahr 1878 meldet eine ganze Reihe erfreulicher Thatsachen. Aus den regelmäßigen Beiträgen seiner Mitglieder, sowie durch Zuwendungen von außerhalb hat der Verein in diesem Jahre über die Summe von etwas mehr als 30,000 Franken zu verfügen gehabt. Die Zahl der von den engeren Ausschüssen und seinen zweimaligen Wochensitzungen Unterstützten betrug 2812, und die Summe der gewährten Unterstützungen 24,655 Franken. Außerdem werden zahlreiche Kranke unterstützt und von den vier deutschen Vereinsärzten unentgeltlich in ihren Wohnungen behandelt, sowie Arme, denen es in Paris an jeder Aussicht fehlt, in die Heimath zurückgeschafft. Unter den Unterstützten befinden sich allein gegen 150 Personen über 70 Jahre, ferner zahlreiche Wittwen mit vielen Kindern, Familien, deren Ernährer seit Jahren gelähmt oder durch andere Gebrechen arbeitsunfähig ist. „Könnten unsere Landsleute,“ so heißt es in dem lesenswerthen Bericht, „einmal hineingeführt werden in die schmutzigen und engen Höfe von La Vilette und Montrouge, in so manches Zimmer, das kaum den Namen einer menschlichen Wohnung verdient, sie würden sich entsetzen über dieses Elend. Die meisten unserer deutsche Arbeiter verdienen hier durchschnittlich den Tag 3½ Franken (2 M. 80 Pf.). Davon soll eine jährliche Miethe von 180 bis 250 Franken, Nahrung und Kleidung für oft bis gegen zehn Personen bezahlt werden. Selbst wenn alle gesund sind, ist es schwer begreiflich, wie die Leute durchkommen. Was kostet nur das trockene Brod für so Viele, abgesehen von dem Elend, das bei Krankheit oder Verdienstlosigkeit eintritt!“

Unter solchen Umständen steigen daher die Anforderungen an den Verein mit jedem Jahre, sodaß er nicht alle Gesuche berücksichtigen kann. Eine Vermehrung der Vereinsmittel durch Beitritt oder sonstige Zuwendungen bleibt daher nach wie vor ein Erforderniß und eine große, vortrefflich angewendete Wohlthat. Zugleich wird von dem Ausschusse die Klage erneuert, daß so viele arbeitskräftige junge Leute ohne bestimmte Aussicht auf Arbeit nach Paris kommen, dann dem Vereine zur Last fallen und von ihm die Rückbeförderung in die Heimath beanspruchen, die er ihnen nur selten zu gewähren vermag.

Der Verein, dessen Ehrenpräsident der deutsche Botschafter Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst ist, besitzt als Reservefonds 48,000 Franken, wovon 20,000 Franken unantastbares Capital sind. Im Uebrigen floß ihm für seine Krankenpflege noch die Hälfte der Zinsen des von der deutschen Botschaft verwalteten Stiftungsfonds des Freiherrn von Diergardt für das künftige deutsche Hospital in Paris im Betrage von 6206 Franken zu. Der deutsche Kaiser gab wieder einen Jahresbeitrag von 4000, der König von Baiern einen solchen von 2000 Franken, sonst aber ist kein einziger deutscher Souverain in der Liste verzeichnet. (Unter den Wohlthätern gedenkt der Bericht auch unseres verstorbenen Ernst Keil, der Ehrenmitglied des Vereins gewesen ist.) Wir sind gewiß, daß diese Mittheilungen dem Vereine erneuerte Theilnahme gewinnen und patriotische Gemüther mit Stolz erfüllen werden im Hinblicke auf dieses erbarmungsvolle Liebeswerk deutscher Landsleute in der Fremde. Nochmals aber sei es gesagt: die Mittel des Vereins reichen nicht aus für seine Zwecke. Mögen die Zuschüsse nicht ausbleiben, derer er dringend bedarf!




Eine süße Last. (Zu dem Bilde auf Seite 629.) Vielleicht gedenkt der eine oder andere Leser im Anschauen unseres heutigen Strandbildes eines im vorigen Jahrgange dargebotenen verwandten Bildchens (S. 433): „Keine Wahl“ von Burmeister. Dort war es ein nordischer Strand, ein nordischer Himmel, nordische Leute, welche über die Leistung eines Christophorusdienstes verhandelten, und die prüde junge Frau „von der Spree oder Isar“ stand in zögernder Verlegenheit vor der Nothwendigkeit einer solchen Leistung. Diesmal grüßt die leuchtende Klarheit eines süditalienischen Himmels, süditalienische Lebenslust und Unbefangenheit aus dem Bilde, und der braune, plastisch-kräftige Fischer der neapolitanische Küste hat schwerlich lange zu warten gebraucht, ehe die Schöne, die er nunmehr zu der Küste hinauf trägt, sich seinen Armen anvertraute. Die helle Lebensfreude, jenes beneidenswerthe Erbtheil südlicher Klimate, springt über tausend Bedenklichkeiten des reflectirt nördlichen Wesens mit der reizvollen Naivetät hinweg, welche dem anmuthigen Geschöpf da droben aus dem strahlenden Gesichtchen lacht. Eine Last bildet die Schöne selbst für den kraftvollen Mann, und ohne Anstrengung ist es nicht abgegangen, aber leichtere Lasten wird er in seinem Berufe nicht oft zu tragen bekommen haben und am allerwenigsten – süßere als diese.



Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: feindichen