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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[277]

No. 17. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Es war sehr schwül geworden. Am südlichen Himmel stieg eine schiefergraue Gewitterwand auf; sie rückte allmählich wie mit bleierner Schwere vor; Linie um Linie erstickte das glanzvolle Abendlicht hinter ihr, und in die Häuser sank ein immer tieferes Dämmern, als bräche eine frühe Nacht herein.

Drunten im Vorderhofe herrschte jetzt beruhigende Stille. Das große Thor war geschlossen; seine Wölbung sah aus wie bekränzt durch die Kleebüschel, die das bröckelnde, zerklüftete Mauerwerk vom hochbeladenen Fuder weg an sich gerissen. Auch das Rasseln des Mauerpförtchens schwieg, nachdem der letzte, verspätete, kleine Kunde mit seinem ängstlich behüteten Milchtopf das Klostergut verlassen hatte. Vor dem Hühnerstall lag der Riegel; die Pfauen und Truthühner hockten auf ihren Stangen unter niederem Dach, und nur auf dem Rande des Brunnentrogs flatterten noch badelüsterne Tauben.

In der Platanenallee des Schillingshofes rührte und regte sich auch kein Leben mehr; alle farbenbunte und blinkende Ausstattung der eisernen Möbel war fortgeräumt, und die Baumhalle erhob sich mit ihren unbewegten Wipfeln und den regelmäßig aufsteigenden Stämmen wie aus dunklem Stein geschnitten unter den hochgethürmten Gewitterwolken. Von den blühenden Bosquets her aber wogte der Duft über die epheubewachsene Mauer in den Klosterhof, der in alten Zeiten, da noch die Mönche auf den Steinbänken unter den Linden saßen, auch ein undurchdringliches Dickicht von Heckenrosen, Weißdorn und Flieder, voll singender und brütender Vögel, in seinen tiefen, geschützten Ecken beherbergt hatte.

Eine Viertelstunde um die andere verging, und noch wanderte Felix, wartend im Giebelzimmer auf und ab. War es wohl je so grabesstill im alten Klosterhause gewesen, wie jetzt, wo er mit schwerbeklommenem Herzen und hämmernden Schläfen auf ein Lebenszeichen horchte. Wieder trat er an das offene Fenster und sah in die Abenddämmerung hinaus – da, endlich kam es die Treppe herauf, über den Vorsaal her. Die Thür wurde geöffnet, und der Luftzug hob leise das Lockenhaar an der Schläfe des jungen Mannes, aber er wandte sich nicht um; er zögerte, in das zürnende Gesicht seiner Mutter zu sehen.

Ein schwaches Rauschen, als streife ein Vogel mit flatterndem Flügel an den Wänden hin, huschte hinter ihm über die Dielen; der Luftzug brachte plötzlich einen köstlichen Rosenhauch mit – dann legten sich sammetweich und kühl, wie Blumenblätter, zarte Finger auf die heißen Augen des Aufhorchenden, und – ein lähmender Schrecken machte ihn vom Wirbel bis zur Sohle erstarren – „Lucile!“ stieß er schwach, wie mit verlechzender Kehle hervor.

Im Nu waren seine Augen befreit, und das reizendste Elfenkind, das je die Welt gesehen, hing wie ein Kobold lachend an seinem Halse, hinter der Thür aber, die sich eben schloß, sah er noch das schmunzelnde, breite Gesicht der Stallnymphe verschwinden – sie hatte „den Besuch“ heraufgeführt.

„Um Gotteswillen, Lucile, was hast Du gethan!“ rief er außer sich.

Die weichen Mädchenarme glitten augenblicklich von seinem Nacken, und das liebliche Gesichtsoval der jungen Dame verlängerte sich in namenloser Betretenheit – sie sah ihn mit halb erschrockenen, halb bösen Augen an.

„Was ich gethan habe?“ wiederholte sie trotzig und schmollend. „Echappirt bin ich. Ist das so schlimm?“

Er schwieg und horchte angstvoll nach dem Vorsaal hin – jetzt durfte seine strenge Mutter nicht kommen. Ihm war, als sei sein Kleinod, sein Abgott in eine Löwengrube gestürzt.

„Ich bitte Dich, Felix, stehe nicht da, als sei Dir die Butter vom Brode gefallen!“ sagte Lucile ungeduldig und zog mit einem heftigen Ruck das gelockerte Strohhütchen fester in die Stirn. „Bah, der Spaß ist verunglückt, wie ich sehe – ich hatte mir das amüsanter gedacht. Meinetwegen –“ sie zuckte nachlässig die Achseln – „ich kann auch wieder gehen, wenn ich dem gestrengen Herrn nicht gelegen komme.“

„Nein, o nein!“ rief der junge Mann, und jetzt zog er das Mädchen stürmisch an sein Herz und bedeckte ihr zartes Gesichtchen mit leidenschaftlichen Küssen.

„Puh!“ schüttelte sie sich und entschlüpfte ihm lachend und geschmeidig. Sie warf Hut und Taschentuch auf den Tisch und schleuderte eine lange über den Busen gefallene Locke in den Nacken zurück. „So, nun bist Du wieder vernünftig, Schatz,“ sagte sie. „Gestern hättest Du bei uns sein sollen – na, das Durcheinander! Du machst Dir keinen Begriff. Mama telegraphirte, sie habe sich den Fuß vertreten, müsse deshalb ihr Gastspiel abbrechen, und die Intendanz gestatte, daß ich an ihrer Stelle nächsten Montag die Gisella in den ‚Willi’s’ tanze; ich solle sofort abreisen. Ich saß gerade auf dem Balcon und knabberte mit dem Kakadu allerhand Gutes aus der Bonbonnière, die Du mir mitgebracht hast – ich sage Dir, wie eine zerplatzende Bombe fiel das Telegramm in’s Haus – die Jungfern, die Bedienten, [278] das Küchenpersonal, Alles wimmelte wie ein Ameisenhaufen durch einander.“

Ihre Schilderung gipfelte in einem kurzen, melodischen Auflachen, während sie die goldene Uhr wieder befestigte, die sie bei einer ihrer lebhaften Gesten unabsichtlich aus dem Gürtel gerissen hatte.

„Ich wünschte nur, Du hättest die Großmama gesehen,“ fuhr sie fort. „Sie hat wieder die Neuralgie im linken Beine und sitzt wie festgenagelt im Fauteuil ... Du weißt, sie hat so einen großen, altadeligen Blick, der furchtbar imponirend ist, und wenn sie von ihrer Familie, den längst vermoderten Marquis Rougerole, anfängt, da wird mir immer himmelangst. Sie zählte richtig wieder alle die Henris und Gastons, die sich immer in der Erde umdrehen müssen, der Reihe nach an den Finger her, stampfte erbost mit dem gesunden Fuße auf, und sagte, die Mama sei nicht recht klug, daß sie mich – nämlich den letzten Sproß der alten Ahnenreihe – mit dem dummen Ding, der Kammerjungfer Minna, allein in die Welt hineinreisen lasse – na, so sehr Unrecht hatte sie nicht.“ Lucile kicherte schelmisch in sich hinein. Bei jeder ihrer unbeschreiblich graziösen Bewegungen klirrten die kostbaren Armbänder an ihren Handgelenken; das silbergraue Taffetkleid rauschte in jeder Falte, und der starke Rosenduft, der ihrer Erscheinung entströmte, hatte längst den Veilchenhauch des Wäscheschrankes unterdrückt.

Jetzt sah sie flüchtig prüfend mit den großen Augensternen, in denen helles Braun mit einem feurig schillernden Grün fortwährend um die Herrschaft stritt, zu dem jungen Mann empor. Er stand, die Hand auf den Tisch gestemmt, wie in stummer Verzückung da. Der augenblicklichen, unheildrohenden Situation und dem altfränkisch ausgestatteten Raum, welcher das Zimmer seiner tödtlich beleidigten Mutter war, im Geiste vollkommen entrückt, sah und hörte er nur das thaufrische, quecksilberige Geschöpfchen, auf dessen volllockigem Scheitel die Grazien ihren ganzen Feenzauber ausgeschüttet. Sie las die trunkene Zärtlichkeit in seinen Blicken und warf sich an seine Brust.

„Närrischer Felix Du!“ sagte sie und zupfte ihn neckend am Ohr. „Was hattest Du nur vorhin, als ich ankam? Und ich kam so stolz, weil ich den gloriosen Gedanke gehabt hatte, durchzubrennen. Und gar so leicht war das durchaus nicht, mußt Du wissen. Ich habe nun einmal von Mama her in Blut und Nerven von meinem tollen Kopf an bis in die allerkleinste Zehe hinab das prickelnde Verlangen, zu schweben, zu gaukeln, und zwar am allerliebsten vor tausend Augen und tausend bärtigen Lippen, die ‚Bravo!’ rufen bis zur Athemlosigkeit – und das sprach auch mit, Schatz – mehr als Du denkst.“

Mit einer schlangengewandten Biegung ihres schlanken Leibes entschlüpfte sie ihm wieder; seine starken, blonden Brauen hatten sich plötzlich finster zusammengezogen. Sie lachte und strich mit der Hand glättend darüber hin. „Großmama schalt wohl über das Telegramm,“ fuhr sie rasch, den fatalen Eindruck verwischend, fort; „aber sie befahl doch sogleich, daß im Eßsalon vor ihren Augen gepackt werde – o du Gerechter – war das eine Wirthschaft! Minna und Großmama’s alte, sauertöpfische Kammerjungfer schleppten die halbe Garderobekammer herbei, und es dauerte nicht lange, da verschwand die Großmama sammt ihrem Fauteuil hinter einem ganzen Berg von Gazeröcke, und ich sah nur noch manchmal die citronengelbe Schleife auf ihrer Haube wackeln, wenn sie schalt und commandirte. Ach, Felix, es prickelte mir unsäglich verführerisch in den Fußspitzen, bei all den flimmernden Theaterherrlichkeiten, die Mama allmählich für mich angeschafft hat, und als das Costüm der Gisella gebracht wurde – ein hinreißendes Costüm, sage ich Dir – da – da traten mir die Thränen in die Augen. Na, sei nur ruhig – was will ich denn machen? Ich stecke ja bis über beide Ohren in der fabelhaft dummen Liebe zu Dir, und da verschluckte ich denn auch tapfer meine Thränen und lachte heimlich über ‚Madame Lazare née de Rougerole’, die gerade in dem Augenblicke zu meiner Jungfer sagte: ,Minna, daß Sie sich nicht etwa unterstehen, auf den Bahnhöfen familiär neben Fräulein Fournier herzugehen! Sie haben sich hinter ihr zu halten, und in Wien wird nicht ausgeplaudert, daß Sie die einzige Reisebegleitung gewesen sind – das bitte ich mir aus!“ Ha, ha, ha – in Wien! Bei mir stand es bereits bombenfest, daß ich – zu meinem Schatz gehen würde.... Und da hast Du mich nun, Felix! – Minna sitzt mit Koffern und Schachteln im Hôtel, zwischen Weinen und Lachen und hat schreckliche Angst vor Mama und Großmama – willst Du sie nicht holen lassen?“

Er schrak in sich hinein, als bräche die Zimmerdecke über ihm zusammen – da war die schreckensvolle Wirklichkeit wieder. „Nein, hierher darf sie nicht kommen,“ versetzte er gepreßt; „und auch Du kannst nicht dableiben, Lucile.“

Jetzt erst sah sie sich um und schlug kichernd die Hände zusammen.

„Ach, das ist kostbar, Du bist wohl in die Leinenkammer Deiner Mutter gerathen?“ rief sie und zeigte nach dem offenen Wäscheschrank. „Aufrichtig gestanden, für immer möchte ich auch um keinen Preis hier bleiben,“ setzte sie nach einer weiteren Musterung hinzu; sie schüttelte sich, während ihr scheuer Blick an dem tiefen Thürbogen hinglitt, in welchem bereits intensive Finsterniß lagerte. „Ich fürchtete mich zu Tode, sage ich Dir. Wenn Du mir vom Klostergute gesprochen hast, dann mußte ich immer an Marmorsäulen, mächtige Bogengänge und Springbrunnen im Klosterhofe denken. Und nun führt mich der Lohndiener vor dieses scheußliche Nest und besteht darauf, daß es das Klostergut sei – ich habe mich beinahe mit ihm gezankt. Ach Gott, und das Entrée! Ich fiel um ein Haar über ein paar Eimer, die im Wege standen, ein kleines Kind schrie und krähte wie ein Hähnchen – wohl das hoffnungsvolle, kleine Wolfrämchen? Die ganze Hausflur roch nach gebratenem Speck – puh, Speck! Und nun gar das Prachtstück, das mich heraufgeführt hat und, wie mir scheint, Portier, Lakai und Hausjungfer in einer Person ist! Sie grinste mich verständnißinnig an und patschte mir gönnerhaft den Rücken – oh!“

In ihre glänzend weiße Stirn gruben sich ein paar leichte Falten der Besorgniß, während sie halb ängstlich, halb drollig hinzufügte:

„So viel weiß ich nun, Felix – Mama und Großmama dürfen nie hierher kommen. Das gäb’ einen gräßlichen Skandal, und die unglücklichen Rougerole’s müßten sich en tour in ihren Särgen umdrehen.“

„Beruhige Dich, Lucile! Mama und Großmama werden nie in diese Verlegenheit kommen,“ entgegnete der junge Mann schwerathmend. „Komm jetzt! Auch wir wollen gehen –“

„Wie, noch diese Abend?“ unterbrach sie ihn mit großen Augen. „Ohne Deiner Mama –“

„Meine Mutter ist nicht darauf eingerichtet, einen Gast wie Dich zu empfangen.“

„Aber, mein Gott, ich bin ja doch nicht so anspruchsvoll. Du sagst selbst immer, ich äße und nippte wie ein Vögelchen – freilich, für Speckeier danke ich. Aber Frau Wagner, unsere alte Köchin, behauptet stets, ein wenig Mayonnaise ober Aspic oder dergleichen, was ich so sehr gern nasche, müsse immer in einem anständigen Speiseschrank zu finden sein.“

Er preßte die Lippen fest auf einander, und ohne ein Wort zu erwidern, nahm er das Strohhütchen von dem Tische und drückte es sanft und vorsichtig auf das braune Gelock des jungen Mädchens.

„Nun, wie Du willst,“ sagte sie achselzuckend und steckte den Hut mit einer goldenen Nadel fest. „Gehen wir in das Hôtel?“

„Nein. Ich bringe Dich in den Schillingshof zu unserem Freunde, dem Baron Arnold.“

„O, das ist mir sehr lieb, das freut mich, Felix. Der nette Baron Schilling. Ich bin ihm gut! Werde ich auch seine junge Frau sehen? Ich sterbe vor Neugier, ob sie schön ist – das ist mir nämlich stets die Hauptsache, mußt Du wissen.“

Bei den letzten Worten hob sie ihre Gestalt, so hoch sie konnte, auf den Zehen, um in dem zwischen den Fenstern hängenden winzig kleinen Spiegel zu prüfen, ob der Hut „anständig“ sitze, aber lachend, mit einer schüttelnden Handbewegung, gab sie den Versuch auf.

„Großmama hat den Papa der jungen Baronin, den alten Herrn von Steinbrück in Coblenz, gut gekannt,“ plauderte sie weiter, „sie behauptet, er habe seine einzige Tochter im Kloster erziehen lassen.“

„Die Großmama hat Recht,“ sagte er und zog ihr den Schleier über das Gesicht. Die Arabesken und Ranken der schwarzen Spitze ließen kaum an einigen klaren Stellen die weiße Sammethaut [279] Lucile’s durchscheinen; nur die Augen, diese groß aufgeschlagenen, schillernden Sterne, blitzten wie Steingefunkel durch einen schmalen Streifen dünnen Spitzengrundes.

„So, nun wären wir fertig,“ sagte sie und griff nach ihrem Taschentuch.

Felix reichte ihr den Arm.

„Liebes Herz,“ bat er, unter der Thürwölbung den Schritt anhaltend, mit gedämpfter Stimme, „sprich nicht, so lange wir im Hause sind, und gehe möglichst geräuschlos die Treppe hinab!“

„Aber, mein Gott, weshalb denn? Wir sind doch keine Spitzbuben?“ fragte sie verwundert. „Ach, das kleine Kind ist wohl krank?“

„Nicht krank, aber sehr schwachnervig.“

„Ah, ich verstehe.“

Sie traten hinaus auf den Vorsaal. In dem jungen Mann wogte ein nicht zu beschreibender Aufruhr. Seine Hände ballten sich wie im Krampfe, und der fieberhaft angstvolle Wunsch: „Nur keine Begegnung zwischen ihr und meiner Mutter!“ wurde mit jedem Schritt weiter in die dräuende Tiefe hinab immer mehr zur inbrünstigen, gen Himmel gerichteten Bitte.




6.

Ein tiefes Dämmern war hereingebrochen. Drunten in der Hausflur mußte schon die Wandlampe brennen – ein blasser Schein lief die Treppenwand herauf; er genügte gerade, um die Holzfiguren des Geländers in’s Grauenhafte zu verzerren, den weiten, schwarzen Schlund eines ausgedienten Kamins und die Wölbung einer offenen Thür zu zeigen, die in den unergründlich dunklen Bodenraum eines Hintergebändes führte und an welcher die Hinabsteigenden vorüber mußten.

„Um Gotteswillen, Felix, wie hältst Du es hier in dieser Hexenküche auch nur für eine Stunde aus?“ flüsterte Lucile, die Augen furchtsam schließend, dicht an seinem Ohr.

Er drückte beschwichtigend ihren Arm fest an sich. Sein elastischer Tritt war fast ebenso leicht, wie die huschenden Füßchen seiner Begleiterin, und doch seufzten die Stufenbretter in schreckhafter Weise und geriethen in schütternde Bewegung. Zu seiner großen Beruhigung aber sah der junge Mann sehr bald durch das Geländer, daß die erleuchtete Hausflur vollkommen leer war, und keine der Thüren offen stand – nur noch wenige Augenblicke, und er war aus der herzbeklemmenden Situation erlöst.

In diesem Moment des heimlichen Aufathmens sprang plötzlich ein dunkler Körper tigerartig aus der unbeleuchtete Ecke der unteren Treppenwendung und schoß mit einem riesigen Satz dicht neben Lucile hin, um lautlos im oberen Stockwerk zu verschwinden – es war der verhaßte große Kater, der in seinem Lieblingswinkel eine Abendsiesta gehalten hatte.

Das junge Mädchen stieß einen gellenden Schrei aus, riß sich von ihrem Begleiter los und lief wie toll die Treppe hinab.

Sofort öffneten sich verschiedene Thüren. Aus der einen trat die Amme, den kleinen Veit im Arme; durch die breite Spalte der Küchenthür guckten die Köpfe zweier Mägde, und auf der Schwelle der „Amtsstube“ stand die Majorin, vollbeleuchtet von der schräg gegenüber hängenden Wandlampe.

„Was giebt’s?“ fragte sie in ihrem gewohnten kurzen, herrischen Ton, ohne die Thürstufe zu verlassen.

Felix war der jungen Dame nachgesprungen und hielt die an allen Gliedern Zitternde in den Armen. „Beruhige Dich, Lucile! Wie magst Du Dich über eine harmlose Katze dermaßen erschrecken!“

„O – eine Katze? Wer’s glaubt!“ stammelte sie, Zorn und halbverschluckte Thränen in der Stimme. „Dieses entsetzliche, alte Klosternest! Mönchsseelen sind’s, die in den Ecken hocken und Einem den Tod einjagen.“

Die Mägde kicherten, und die Amme kam ungenirt herbei, um sich die furchtsame Dame näher anzusehen, die den alten Hauskater für ein Mönchsgespenst hielt. Diese dreiste Ungehörigkeit, die auch die anderen Mägde ermuthigte, aus der Küche zu treten, war nicht zu dulden. Die Majorin verließ die Schwelle, durchmaß mit raschen, festen Schritten die Hausflur, schob die erschrockenen Mägde in die Küche hinein und schloß hinter ihnen die Thür.

„Und Sie gehen augenblicklich in die Schlafstube zurück, wo Ihr Platz ist, Trine!“ gebot sie, und die widerstrebende, frech stehenbleibende Person ohne Weiteres mit kraftvollen Händen an den breiten Schultern fassend, dirigirte sie dieselbe nach dem verlassenen Zimmer.

Die Hausflur war leer.

„Und nun mache dem Skandal ein Ende!“ sagte die Majorin zu ihrem Sohne und zeigte gebieterisch nach dem Ausgang.

Jetzt erst sah er, wie ihr todtenbleiches Gesicht in Grimm und Schmerz förmlich versteinert war – dieser Anblick erschütterte ihn in tiefster Seele.

„Mama!“ rief er in flehender Bitte.

„Wie, Felix, ist das Deine Mama?“ fragte Lucile, sich erstaunt aus seinem Arm windend, und blickte mit großen Augen zu der Frau empor, die, ein so prachtvolles Haardiadem über der weißen Stirn, so modern und elegant gekleidet, in imposanter Schönheit neben dem Sohne stand. „Geh, ich bin böse, Felix! Du hast mir nie gesagt, daß Du eine so wunderhübsche Mama hast. Ich habe Sie mir nie anders, als mit krummem Rücken und einer großen Haube auf dem Kopfe denken können, Madame.“ Sie lachte lustig auf – das Mönchsgespenst war vergessen. „O, wie ganz anders sehen Sie aus! So präsentable, so sehr stolz und vornehm! Und da hat mir Felix weißmachen wollen, Sie seien durchaus nicht dazu angethan, einen Gast wie mich zu empfangen.“

„Er hat die stricte Wahrheit gesagt, Fräulein,“ versetzte die Majorin mit eisiger Kälte, und sich gemessen abwendend, sagte sie mit einer leichten, aber bedeutungsvollen Neigung des Kopfes nach der jungen Dame hin zu ihrem Sohne:

„Die beste Illustration zu meinen heutigen Aussprüchen! Als mir der ungebetene Besuch in meinem Zimmer angezeigt wurde, da kam mir der lebhafte Wunsch, von meinem guten Recht in nicht sehr sanfter Weise Gebrauch zu machen. Aber ich sagte mir, daß einem Manne von Ehre, der auf Wahrung der Frauenwürde und Reputation hält, von selbst die Augen aufgehen würden bei einer so beispiellosen Dreistigkeit. Hoffentlich bist Du für immer geheilt. Jetzt gehe! Und kömmst Du allein zu mir zurück, dann – soll Alles – vergeben und vergessen sein.“

Die letzte Sätze sprach sie mit erhobener Stimme, und in den strengen Befehlston mischte sich ein Klang, den Felix noch nie von diesen Lippen gehört hatte, die Bitte eines angstzitternden Mutterherzens.

Während sie sprach, hatte Lucile vergeblich versucht, den Schleier zurückzuschlagen – die große, goldene Hutnadel hatte ihn gefaßt, er lag festgespannt über dem Gesicht; sie fühlte das brennende Verlangen, der imponirenden Frau mit dem bitterernsten Gesicht zu zeigen, wie schön sie sei. Bei diesen Bemühungen hörte sie anfänglich nur mit halbem Ohr auf das, was die Majorin sagte – ein Verständniß dafür hätte sie aber auch bei ungetheilter Aufmerksamkeit absolut nicht gehabt. Sie, die Gefeierte, Vergötterte, um die sich die aristokratischen Gäste im eleganten Salon der Mama huldigend drängten, sie, das Schooßkind des Glückes, auf dessen Wink die Dienerschaft flog, das daheim unter einem rosa atlassenen Betthimmel schlief, sie hätte sich doch nicht träumen lassen, daß sie hier in dieser nie gesehenen spießbürgerlichen Umgebung eine Niederlage erlitte, wie sie demüthigender nicht gedacht werden konnte. Bei den letzten mit so großem Nachdruck gesprochenen Worten der Majorin aber fuhr sie plötzlich empor; ihre Hände sanken an dem widerspänstigen Schleier nieder; sie schob ihren Arm in den ihres Begleiters und schmiegte sich weich und geschmeidig wie ein schmeichelndes Kätzchen an seine hohe Gestalt.

„Was hat denn mein armer Felix verbrochen, daß Sie von Vergeben und Vergessen sprechen?“ fragte sie. „Und allein soll er wiederkommen? Das geht nicht, Madame. Er führt mich jetzt in den Schillingshof, und dort, in dem wildfremden Hause, kann er mich doch unmöglich allein lassen – das werde Sie einsehen.“ Der ganze Uebermuth, der in ihrem frischen, heißen Blut schäumte, das unzerstörbare Selbstbewußtsein des von der Natur mit kostbaren Gaben überschütteten Menschenkindes sprachen aus der graziös trotzigen Geberde, mit der sie in diesem Augenblick den reizenden Lockenkopf hob. „Ich erlaube es ihm auch gar nicht, müssen Sie wissen, und es bleibt ihm auch keine Zeit. Wir werden uns sofort trauen lassen, wo und in welcher Kirche, [280] ob hier, oder in England – gleichviel! Es muß eben sofort geschehen, weil wir uns um jeden Preis der Mama gleich als Mann und Frau vorstellen müssen – dann hat ihr Einspruch keine Macht mehr.“

Ein rauhes Auflachen ließ sie zusammenschrecken. Sie hatte bis dahin den Rath nicht bemerkt, der in dem tiefdämmernden Amtszimmer, unweit der offenen Thür gestanden und die Vorgänge in der Hausflur mit gespanntem Interesse verfolgt hatte. Nun war er um einen Schritt näher in den hellen Lampenschein getreten; den linken Fuß vorgestreckt, die Arme untergeschlagen und den Ausdruck des verhallenden Hohngelächters noch auf dem schmalen, geistreichen Gesicht, stand der schlanke, hochgebaute Mann in diabolischer Ueberlegenheit an der Schwelle, als mache er sich lustig über die Narrheit der ganzen Welt.

Lucile klammerte sich fester an den Arm des jungen Mannes. „Ach, Felix, komm, wir wollen gehen!“ drängte sie mit ängstlich klagender Stimme vorwärts, aber die Majorin streckte ihr zurückweisend den Arm entgegen. Diese Bewegung war eine vollkommen ruhige, gebieterische, wenn auch der unnatürlich flimmernde Glanz der weitgeöffneten Augen von einem gewaltigen inneren Sturm zeugte.

„Ich möchte nur das Eine wissen,“ sagte sie kurz und gepreßt, als koste es sie namenlose Ueberwindung, das Mädchen anzureden, „sind Sie im Ernste so harmlos, zu denken, es stehe einzig und allein Madame Fournier die Macht zu, Einspruch zu thun?“

„Aber ich bitte Sie – wem denn sonst?“ rief die junge Dame wie aus den Wolken gefallen. „Papa und Mama sind in aller Form geschieden; Herr Fournier hat auch nicht das allermindeste Anrecht mehr an mich. Ich würde ihm auch nicht gehorchen; er verdient es nicht – er hat eines Tages Mama heimlich verlassen.“

„Classische Bühnen-Naivetät!“ scholl es sarkastisch vom Amtszimmer her, während die Majorin sich abwandte, als habe ihr das zierliche, sylphenhafte Wesen mit der zarten Hand einen Faustschlag in das Gesicht versetzt.

„Vergieb, Mama, und – lebe wohl!“ sagte Felix in bebenden Tönen, aber auch mit voller Entschlossenheit, um dem Auftritte, der auf einen furchtbaren Zusammenstoß hinauszulaufen drohte, ein rasches Ende zu machen.

„Also direct in die Ehe, Herr Referendar?“ lachte der Rath herüber.

Fortsetzung folgt.




Album der Poesien.
Lerchenlied. (Mit Bild, Seite 281.)

Hoch im blauen Himmelsrund
Laut die Lerche singt,
Was bei Nacht vom Blumenmund
Auf den Wiesen klingt.

5
Was sie sprach, die Elfenschaar,

Die im Tanz sich schwang,
Jubelnd macht es offenbar
Froher Lerchensang.

Weiße Wolke lauscht dem Lied,

10
Lauscht der Melodei

Und die weiße Wolke zieht
Langsam nur vorbei.

Und der Wand’rer unten geht
Langsam nur vorbei. –

15
Singe, singe, Lenzprophet,

Deine Melodei!
 Emil Rittershaus.




Zur Geschichte der Socialdemokratie.
Von Franz Mehring.
1. Einleitung.

Die „Gartenlaube“ ertheilt mir einen ebenso ehrenden und verlockenden, wie schwierigen und verwickelten Auftrag, wenn sie mich auffordert, ihrem weiten Leserkreise auf dem Hintergrunde der europäischen ein durchsichtiges und klares Bild der deutschen Socialdemokratie zu entwerfen. Wer, dem Lärm des Tages sich verschließend, den tieferen Zusammenhang der modernen Arbeiterbewegung zu erfassen sucht, wird in ihr das große Räthsel des neunzehnten Jahrhunderts erkennen, das unheimliche Fragezeichen, welches über allen Gütern der modernen Cultur schwebt. Kein Jahrhundert der Weltgeschichte hat eine gewaltigere und tiefere Krise um Sein oder Nichtsein der lebenden Geschlechter hervorgerufen. Denn gegen alles, was menschlichem Denken und Fühlen heilig ist in Ehe und Familie, Kirche und Staat, Kunst und Wissenschaft, stürmen finstere Mächte der Tiefe zum erbarmungslosen Vernichtungskampfe empor, und noch kennen wir nicht den Zauberspruch, welcher die dunkeln Gewalten bändigt und bannt. Das innere Geflecht eines so verworrenen Problems in allen seinen Verzweigungen aufzudecken, reichen dicke Bände nicht hin; ein Versuch, in wenigen Spalten mit sichern und starken Strichen wenigstens die Grundzüge dieses Gemäldes zu zeichnen, muß deshalb von vornherein um die Nachsicht des Lesers bitten. –

Der Socialismus ist so alt, wie die bürgerliche Gesellschaft. Bei der natürlichen Ungleichheit der Menschen hat es noch keine gemeinsame Ordnung gegeben, deren einzelne Glieder und Schichten unter völlig gleichen Verhältnissen gelebt hätten. Immer gab es Unterschiede mehr oder minder schroffer Art, Unterschiede, welche anfangs wesentlich in der natürlichen Ungleichheit der einzelnen Individuen wurzelten, aber bei der weiteren Entwickelung der gesellschaftlichen Verhältnisse häufig dazu führten, den Guten und Starken schwerer zu treffen, als den Schlechten und Schwachen. Irdische Weisheit hat das Glück noch nicht zu zwingen vermocht, immer mit der Tugend, oder das Elend, niemals mit dem Verdienste zu wandeln.

Solche vermeintliche oder wirkliche Härten haben von jeher die Sehnsucht nach einer besseren Welt schon unter dieser Sonne erweckt, gleichermaßen in erhabenen Geistern, welche schmerzlich die Beschränktheit alles menschlichen Lebens empfanden, wie in niedrigen Naturen, die ihre begehrlichen Hände nach unverdienten Preisen erhoben. So erklärt sich die befremdliche Erscheinung, daß die reinste Tugend und die roheste Sinnlichkeit, die edelsten Herzen und die gemeinsten Seelen sich in socialistischen Träumen zu begegnen pflegen. Die socialistischen Bewegungen aller Zeiten gleichen jener sagenhaften Hunnenschlacht welche Kaulbach in seinem berühmte Gemälde verewigt hat; in den Wolkenhöhen der Gedankenwelt tost die Geisterfehde, während ein rasender Kampf den irdischen Boden mit Leichen und Trümmern bedeckt. Wenig gräuelvollere Scenen weisen die Blätter der Geschichte auf, als die Sclavenaufstände des Alterthums und die Bauernkriege des Mittelalters, aber ein größter, griechischer Denker, Platon in seinen Büchern über den Staat, erbaute den ersten socialistischen Idealstaat; aus dem versinkenden Schutte der antiken Welt erhob sich der ideale Communismus der ersten Christengemeinden als froher Bote einer weltweiten Zukunft, und in den Tagen des „Armen Conrad“ veröffentlichte Thomas Morus, der edle Kanzler Heinrich’s des Achten von England, sein „Nirgendheim“, seine „Utopia“, deren Name seitdem sprüchwörtlich geworden ist für alle Träume von unerreichbarem Menschenglück. –

Naturgemäß werden socialistische Regungen am nachhaltigsten und stärksten hervortreten, wenn einerseits ein hoher Begriff von der rechtlichen Gleichheit aller Menschen in den Gemüthern lebt, während in den gesellschaftlichen Zuständen schroff die thatsächliche Ungleichheit hervortritt. Mit einer Schärfe, wie nie zuvor, trafen beide Momente in der großen Revolution von 1789 zusammen, und seitdem wurde der Socialismus eine Weltmacht. Die politischen Gedanken der Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit,

[281]

Ein Lenzprophet.
Originalzeichnung von Emil Schmidt in Hamburg.

[282] einen echten und wahren Kern tragend unter einer dichten Hülle von phrasenhaftem Wust, erweckten in den Massen überschwängliche Hoffnungen, während ihre socialen Gedanken, die freie Entfesselung der wirthschaftlichen Kräfte, die Befreiung der Arbeit und des Besitzes von allen mittelalterlichen Fesseln, vielfach ein Massenelend hervorriefen. Nicht zwar, als ob diese Gedanken nicht einen ungeheuren Fortschritt in der menschheitlichen Entwickelung darstellten, aber die uralte, weltgeschichtliche Erfahrung, daß der Eintritt in neue Culturepochen regelmäßig mit endlosen Wirren eines langen Uebergangsstadiums erkauft werden muß, bewährte sich auch diesmal, und zwar in um so höherem Grade, je gewaltiger der eingetretene Umschwung war.

Nichts thörichter, als die eherne Nothwendigkeit von 1789 zu verkennen um der Gräuel von 1793 willen. Es wäre dasselbe, wie wenn man die deutsche Reformation wegen der Wiedertäuferwirthschaft in Münster verleugnen wollte. Unsere conservativen Parteien stehen ebenso ganz und voll auf dem Boden der großen Revolution, wie die liberale, ja in gewissem Sinne hat sie jenen größere Segnungen gebracht, als diese. Sie schuf den freien Bauernstand, eine ebenso conservative wie gesunde Schicht der heutigen Gesellschaft, während sie auf industriellem Gebiete zwar eine ungeheure Entwickelung hervorrief, aber zugleich auflösend und zersetzend wirkte. Erst von nun ab vermochte sich die große Industrie, welche seit dem beginnenden Welthandel im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts langsam entstanden war, frei zu entwickeln; sie überschüttete das menschliche Geschlecht mit unendlichen Schätzen, aber sie gestaltete auch härter, schroffer, verletzender denn je zuvor den Gegensatz in den Eigenthumsverhältnissen, indem sie den Stand der besitzlosen Lohnarbeiter hervorrief. Er wuchs empor aus hörigen Leuten, aus Gesellen und Lehrlingen, zu einem nicht unerheblichen Theile auch aus kleinen Besitzern und Handwerkern, die in dem wirtschaftlichen Wettkampfe mit der großen Industrie unterlagen. Er entbehrte allen Zwanges, aber auch aller Wohlthaten der mittelalterlichen Rechtsordnungen. Ihn fest und sicher einzufügen in die organische Gestaltung des modernen Culturstaats, ist der innerste Kern der socialen Frage, welche das neunzehnte Jahrhundert zu lösen hat, auf dem Wege allmählicher und schrittweiser Bahnen, in Zeiträumen, welche sich heute noch nicht absehen lassen, denn in solcher Weltwende zähle Jahrzehnte kaum wie Tage.

Kein ehrlicher Geschichtsforscher kann und wird die entsetzlichen Uebelstände leugnen, welche die Entwickelung der großen Industrie häufig über breite Schichten des Arbeiterstandes gebracht hat. Sie traten am ersten und heftigsten in den Ländern auf, in denen jene Entwickelung sich am schnellsten und umfassendsten vollzog, in Frankreich und in England. Und naturgemäß wurden diese Länder die Geburtsstätte des modernen Socialismus. Er ähnelte früheren Bewegungen gleicher Tendenz zunächst darin, daß er in phantastische Einbildungen schwelgte und daß er in zwiespältiger Form auftrat: edle Geister und schwärmerische Menschenfreunde erbarmten sich des große Elends, und in den leidenden Massen regten sich wilde Gedanken des Umsturzes. Aber er unterschied sich mehr und mehr grundtief von seinen Vorläufern dadurch, daß er die utopische Form abzustreifen, mit allem Rüstzeug der modernen Wissenschaft eine neue Welt zu erbauen suchte, und daß er die Bewegung der Geister und der Massen zu einheitlicher Wirksamkeit verschmolz. Dieser Umwandelungs- und Verjüngungsproceß erweckte ihm neue und nie geahnte Kräfte.

Der erste namhafte Socialist unseres Jahrhunderts war einem der älteste Adelsgeschlechte entsprossen. Henri de Saint-Simon warf 1819 die Frage auf, ob es für Frankreich nachtheiliger sein würde, wenn das Land plötzlich die ganze königliche Familie, den ganzen Hofstaat, den ganzen höheren Clerus, die ganze höhere Beamtenwelt, kurzum seine dreitausend hochgestellten Personen, oder aber seine dreitausend größten Gelehrten und Arbeiter verlieren würde. Er entschied sich dafür, daß der letztgedachte Verlust unendlich schwerer wiegen würde, da zwar jene, aber nicht diese Stellen sehr leicht auszufüllen wären, und er folgerte, daß der Arbeit nicht die letzte, sondern die erste Stelle in der Gesellschaft gebühre. In dem bizarren Vergleiche, der an sich mehr scherz- als ernsthaft genommen werden muß, lag ein bewußter Zweifel an der Gerechtigkeit der bestehenden Eigentumsordnung, der sich nach und nach klarer entwickelte. An dieser Stelle würde es natürlich zu weit führen, alle socialistischen Schulen in Frankreich auch nur in den schattenhaftesten Strichen zu zeichnen; in dieser bunten und mannigfaltigen Gesellschaft bewegten sich phantastische Schwärmer, wie Cabet und Fourier, zuchtlose Poeten, wie Sue, kritisch-zersetzende Naturen, wie Proudhon, durch und neben einander. Es kann sich nur darum handeln, zu zeigen, wie die dunkle Vorstellung Saint Simon’s, der niemals die bestehende Einrichtung angegriffen oder einen Versuch zu praktischer Agitation gemacht, oder auch nur ein Mittel zur Verwirklichung seiner Schlußfolgerung angegeben hat, eine politische Macht wurde.

Seine Schüler, namentlich Bazard, thaten eine großen Schritt über ihn hinaus, indem sie als die eigentliche Quelle der ungerechten Gütervertheilung das Erbrecht der Blutsverwandtschaft bezeichneten und demgemäß ein Erbrecht des Verdienstes forderten, das will sagen, den Heimfall der Hinterlassenschaften an den Staat, dessen Rechtsschutz überhaupt erst ein Eigenthum ermögliche, wie er es auch erwerben und erhalten helfe. Damit hatte der socialistische Gedanke politische Form angenommen; die Staatsgewalt wurde als Retterin und Richterin in den socialen Wirren ausgerufen. Allein noch fehlte die praktische Handhabe; die Saint-Simonisten erörterten ihr sociales Heilmittel rein philosophisch, und indem ihre gemäßigte Mitglieder sich auf die Forderung progressiver Erbschaftssteuern und die Aufhebung des Erbrechts nur in den entfernteren Verwandtschaftsgraden beschränkte, verließen sie sogar den streng socialistischen Boden, denn eine Reform des Erbrechts in dem angedeuteten Sinne kann sehr wohl auch von Vertretern der bürgerlichen Oekonomie erwogen werden.

Erst Louis Blanc fand jene praktische Handhabe, welche den modernen Socialismus zu einer treibenden Kraft der Weltpolitik machte. Anknüpfend an den Gedanken, daß die Staatsgewalt allein die sociale Ungleichheit beseitigen könne, forderte er 1839 in seiner berühmten Schrift über die „Organisation der Arbeit“, daß der Staat die besitzlosen Arbeiter mit den Mitteln ausrüsten müsse, um den wirthschaftlichen Wettkampf mit den besitzenden Classen zu bestehen, und hieraus ergab sich von selbst, daß behufs dieses Zwecks die Arbeiter sich in den Besitz der Staatsgewalt setzen müßten. Damit war die erste Berührung zwischen der geistigen und materiellen Bewegung des Socialismus in einem politischen Agitationsprogramm vollzogen, oder mit anderen Worten: die moderne Socialdemokratie war geschaffen.

Noch nicht zehn Jahre später stürzten die Arbeiter von Paris den Thron Louis Philipp’s; in der provisorischen Regierung der Republik saßen unter einer Mehrheit von bürgerlichen Republikanern die Socialisten Louis Blanc, Flocon und Albert, ein Arbeiter. Die schamlose Classenherrschaft einer entarteten Bourgeoisie, die entsetzliche Corruption des Bürgerkönigthums hatten der socialdemokratischen Bewegung in Frankreich eine furchtbare Kraft gegeben. Aber als nun die Arbeiter ihren Lohn von der Regierung forderten, zeigte sich schon bei der Probe die vollkommene Unfähigkeit des Socialismus, neue Organismen des gesellschaftlichen und staatliche Lebens zu schaffen. Louis Blanc setzte zwar durch, daß die provisorische Regierung in einem amtlichen Erlasse den Arbeitern ihren Unterhalt durch die Arbeit verbürgte; auch richtete er ein Arbeiterparlament im Luxembourg ein, in welchem viel kostbare Zeit verschwatzt und vertrödelt wurde, allein tatsächlich hat er nichts geleistet. Allerdings hatte er hartnäckig mit der Mehrheit der Regierung zu kämpfen; die berüchtigte Nationalwerkstätten waren nicht sein Werk, waren nicht die in seinen Schriften geforderten socialen Ateliers, sondern sie wurden, gerade um ihn zu discreditiren, von jener Mehrheit in einer Weise errichtet, welche sie binnen kurzer Frist bankerott werden lassen mußte. Das gräßliche Ende von alledem ist bekannt; im Juni erhoben sich die enttäuschten Arbeiter; zum ersten Mal wehte die rothe Fahne von den Barricaden. Eine dreitägige Straßenschlacht voll unnennbarer Gräuel bedeckte das Pflaster mit 10,000 Leichen; in diesem Blutstrome erlosch das Feuer der socialistischen Idee für viele Jahre.

Schneller und unaufhaltsamer noch, als in Frankreich, entwickelte sich die große Industrie in England, dessen meer- und weltbeherrschende Stellung ihr die günstigsten Vorbedingungen [283] sicherte. Und in gleichem Grade schrecklicher traten dort ihre unheilspendenden Schattenseiten an’s Tageslicht. Kein Zweifel, daß die industriellen Arbeiterkreise des Inselreiches während der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts die grauenvollsten Bilder der neuesten Culturgeschichte bieten. Inmitten so unsagbaren Elends erstand in dem Millionär Robert Owen die edelste und reinste Gestalt des modernen Socialismus. In seiner Fabrik zu New-Lanark in Schottland hatte er erfahren, daß seine hingebende Fürsorge ebensowohl für die materielle Hebung, wie für die geistige und sittliche Bildung seiner Arbeiter nicht nur auf diese selbst die günstigsten Wirkungen hervorbrachte, sondern auch von einer überraschenden Steigerung des Reinertrages begleitet war. Ganz England sah staunend auf diese wunderbaren Erfolge; gekrönte Häupter des Continents begrüßten in Owen einen Wohlthäter der Menschheit. Auf solche Erfahrungen gestützt, verlangte er die allmähliche Einführung von „Heimathscolonien“, die je 2- bis 3000 Menschen umfassen und in völliger Gütergemeinschaft mit gleichen Rechten aller Theilnehmer leben sollten. Der reiche Mann hat keine Kosten und Mühen gescheut, diesen communistischen Gedanken in der Gründung einzelner Colonien durchzuführen, aber alle diese Versuche sind kläglich gescheitert. Es zeigte sich schon in diesen verhältnißmäßig einfachen und kleinen Verhältnissen, daß ein Leben in Gütergemeinschaft bei allen Teilnehmern ein so ausgezeichnetes moralisches Pflichtgefühl voraussetzt, wie es sich in der großen Masse der Menschen niemals findet und finden kann, so lange Menschen eben Menschen sind. Aber die friedliche und vom lautersten Willen getragene Propaganda Owen’s ist deshalb nicht spurlos im Sande verlaufen. Das selbstlose und reine Wirken eines edlen Menschen trägt, auch wo es in die Irre geht, noch tausendfältige Frucht; Owen ist durch die idealere Richtung, welche er dem Leben und Treiben gerade der besten Arbeiter gab, ihr einflußreichster Erzieher geworden; von ihm rührt das ganze Genossenschaftswesen her, welches den arbeitenden Classen in England so reichen Segen gebracht hat.

Während dieser humane Communismus die reifsten und tüchtigsten Elemente unter den Arbeitern denken und mittelbar den richtigen Weg erkennen lehrte, tobte in den untersten Schichten die socialdemokratische Agitation. In diesem politisch geschulten Volke ließ ein schwerer Druck von selbst das Verlangen nach Vertretung im Parlamente entstehen. Als die Reformacte von 1832 zwar den Mittel-, aber nicht den Arbeiterclassen das Wahlrecht gab, bildete sich einige Jahre später in London ein Arbeiterverein, um den Arbeitern Vertretung im Parlamente zu verschaffen behufs einer neuen Ordnung der Gesellschaft in ihrem Interesse. Aus diesem Vereine ging die Volkscharte hervor, deren sechs berühmte Forderungen waren: Stimmrecht wie Wählbarkeit aller erwachsenen Männer, geheime Abstimmung, jährliche Parlamente, Diäten der Abgeordneten und gleichmäßige Wahlbezirke. Die Apostel des Vereins, welche die Arbeiterbezirke bereisten und in kürzester Frist eine ungeheure Zahl von Anhängern warben, ließen keinen Zweifel über den socialen Hintergrund dieses anscheinend rein politischen Programms. „Der Chartismus,“ predigten sie, „ist keine politische Frage, bei welcher es sich darum handelt, daß Ihr das Wahlrecht erlangt; der Chartismus ist eine Messer- und Gabelfrage, die Charte heißt gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit.“

Im Laufe eines Jahrzehnts schwoll diese chartistische Bewegung zu außerordentlicher Macht und nicht minder außerordentlicher Gefährlichkeit an. Während anfangs über die Mittel, wie das allgemeine Stimmrecht zu erlangen sei, die Meinungen getheilt waren, eine Partei der moralischen Macht und eine Partei der physischen Gewalt sich gegenüber standen, siegte wie üblich die radicale über die gemäßigte Richtung. In Volksversammlungen, welche hundert-, selbst zweimalhunderttausend Menschen zählten, wurde in der wüthendsten Sprache zu Eroberung der Charte mittelst der Waffen aufgefordert. Es kam zu blutigen Aufständen, auch zum Versuch einer allgemeinen Arbeitseinstellung. Die besitzenden Classen wurden zuletzt von der größten Besorgniß erfaßt, aber, sehr ungleich der französischen Bourgeoisie, die in allen socialen Wirren eine nachgerade sprüchwörtliche Feigheit bewährt hat, traten sie selbst für ihr Recht ein und übten sich im Gebrauche der Waffen, um eine planmäßige Empörung niederwerfen zu können. Man glaubte diese Erhebung vor der Thür, als Feargus O’ Connor, der namhafteste Führer der Chartisten, am 10. April 1848 erklärte, an der Spitze von 150,000 Mann in’s Unterhaus einziehen zu wollen, um eine angeblich von nahe an sechs Millionen Personen unterschriebene Petition um die Charte in die Volksvertretung zu tragen. Die umfassendsten Vertheidigungsmaßregeln wurden getroffen, nicht weniger als 150,000 Bürger ließen sich freiwillig als Specialconstabler einschwören, allein nur 30,000 Arbeiter folgten dem Rufe O’Connor’s, und unter solches Umständen verzichtete er auf den Zug.

Diese moralisch-politische Niederlage brach die innere Kraft des Chartismus, aber erloschen ist er nicht eher, als bis derselbe tapfere Rechtssinn, welchen das englische Bürgerthum sich als unerschütterlichen Damm den heranstürmenden Wogen des Aufruhrs entgegen stemmen ließ, auch den gerechten Beschwerden der Arbeiter abhalf. Die Schaffung einer humanen Fabrik- und Werkstätten-Gesetzgebung, die Förderung der Gewerkvereine mit ihrem System der Einigungskammern und Schiedsgerichte, die Parlamentsreform von 1867, welche den industriellen Arbeitern das Stimmrecht gab, haben den arbeitenden Classen die Möglichkeit und namentlich auch die Ueberzeugung gegeben, daß sie eine nachhaltige Hebung ihrer Lage auch auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung erreichen können. So bietet England das merkwürdige und trostreiche Schauspiel, daß das classische Land der großen Industrie und der schroff gestalteten Eigenthumsverhältnisse zugleich der unfruchtbarste Boden für die socialdemokratischen Bestrebungen ist.

Weit hinter England und Frankreich war in dem dritten maßgebenden Culturstaate der modernen Welt, war in Deutschland die politische und wirtschaftliche Entwickelung zurückgeblieben. Während die Bewegung von 1848 in jenen Ländern schon einen mehr oder minder ausgesprochen socialen Charakter trug, richtete sie sich in Deutschland wesentlich noch gegen die letzte Reste des mittelalterlichen Feudalismus. Nur in dem Rheinlande regten sich schon, begünstigt durch die hohe Entwickelung der dortigen Industrie und die französische Nachbarschaft, socialdemokratische Tendenzen, die namentlich in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ zu Köln vertreten wurden. In diesem Blatte wirkte Engels und Marx, zwei hervorragende Gelehrte; mehr in den Hintergrund trat der junge, aber nicht minder bedeutende Lassalle, der damals tief in den unsaubern Prozeß Hatzfeldt verwickelt war. Aber um wie viel die deutsche hinter der englischen und französischen Arbeiterbewegung zurückblieb, um so viel zeigten sich die deutschen Socialdemokraten ihren englischen und französischen Gesinnungsgenossen überlegen. Engels und Marx waren zugleich Führer eines internationalen „Bundes der Communisten“; als solche erließen sie kurz vor der Februarrevolution ein communistisches Manifest, in welchem die europäische Socialdemokratie des neunzehnten Jahrhunderts ihre typische Form und Gestalt gewann. Denn indem die Verfasser dieses Schriftstückes die besitzlosen Massen aufriefen nicht zur Bekämpfung einzelner, verwerflicher Einrichtungen der heutiger Zustände, sondern zum schonungslosen Vernichtungskriege gegen alle die politischen und religiösen ebenso wie die wirtschaftliche Grundlagen der modernen Gesellschaft, indem sie ferner erklärten, daß dieser Krieg nur durch Gewalt und nur durch das internationale Zusammenwirken der arbeitenden Classen aller Länder siegreich zu führen sei, und indem sie endlich als Siegespreis das Gemeineigenthum an Grund und Boden und allen Arbeitswerkzeugen hinstellten, zeigten sie sich gleichermaßen als die consequentesten und wissenschaftlich klarsten Köpfe, wie als die gefährlichsten und rücksichtslosesten Demagogen, welche die communistisch-socialistische Bewegung hervorgebracht hat. Bis auf den letzten Schatten und die letzte Spur hatte der socialistische Gedanke die phantastischen und utopistischen Nebelhüllen, die sentimentale Maske der schwärmerischen Menschenliebe abgestreift; entschlossen, fertig, klar, in der einen Hand die Brandfackel des Aufruhrs und in der andern den blanken Stahl der Wissenschaft, stellte er sich dem gesitteten Völkerleben zum Kampfe auf Leben und Tod gegenüber.

Seit Erlaß des communistischen Manifestes konnte kein Zweifel mehr herrschen, daß die Leitung der internationalen Socialdemokratie in diese deutschen Hände gefallen war. Nur der völlige Niedergang aller socialistischen Bestrebungen, der bald nach seiner Veröffentlichung erfolgte, mochte die Thatsache verbergen. Aber als im Beginn der sechsziger Jahre das Wiedererwachen [284] der Geister nach dem Todesschlafe der Reactionsepoche und die schwere Krisis des amerikanischen Secessionskrieges eine mächtige Bewegung durch die europäische Arbeiterwelt zittern ließen, ward alsbald offenbar, daß es die deutsche Erde ist, auf welcher dieser gewaltige Kampf um die höchsten Güter der Menschheit seine entscheidenden Schlachten schlagen wird.




Marpingen – wie Wunder entstehen und vergehen. Ein Culturbild aus der Gegenwart von Fridolin Hoffmann.
II. Der Kern der Erscheinung.


Die Zuchtpolizeikammer in Saarbrücken hatte bei dem sogenannten Marpinger Proceß selbstverständlich ihr Hauptaugenmerk nur darauf zu richten, ob diejenigen, welche für die angeblichen Wundererscheinungen Propaganda gemacht, in gutem Glauben gehandelt, oder mit Vorsatz unerlaubte Zwecke dabei verfolgt hatten. Die Untersuchung über die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit solcher wunderbaren Vorgänge im Allgemeinen oder speciell über ihr Geschehensein in Marpingen lag außerhalb der Aufgabe des Strafrichters. Von den an die Marpinger Wunder Glaubenden mag es aber mit rechtem Verdruß empfunden worden sein, daß ein junger Jurist, der Landgerichtsassessor Dr. Strauß, welchem auf eigenen Wunsch ein Theil des Inquisitoriums bei den drei begnadigten Kindern vom Untersuchungsrichter commissarisch übertragen worden war, eingestandenermaßen mit dem vollen Glauben an die Möglichkeit solcher himmlischer Kundgebungen nicht nur, sondern mit halbem Glauben an die Wirklichkeit im speciellen Falle an das Verhör herangetreten ist und dennoch die mitgebrachte günstige Meinung für die Aussagen der Mädchen bald verloren hat. Vor Gericht sprach er seine Ueberzeugung dahin aus: Der Kern der ganzen Sache sei eitel Trug und Lüge. Dr. Strauß ist, um dies hier einzuschalten, in der Marpingen-Saarbrücker Gegend geboren, theilweise von dortigen Geistlichen vorgebildet worden, und hat mit den meisten derselben bis zur Stunde einen freundschaftlichen Verkehr unterhalten. Einen unverdächtigeren Zeugen kann also auch der wunderseligste Katholik nicht verlangen.

Der Marpinger Schwindel begann bekanntlich am 3. Juli 1876, demselben Tage, an dem zu Lourdes die dortige Marien-Statue unter Anwesenheit von sechsunddreißig Bischöfen und zahlreichen Pilgern feierlich gekrönt wurde; von dieser bevorstehenden Feier war begreiflicher Weise schon vorher unter den rheinisch-westfälischen Katholiken, die ja auch ihr Contingent zu den Theilnehmern an derselben stellten, viel die Rede. Am 13. Juli schon rückte, um dem Besuche des Gnadenortes und damit der Ausbreitung des Schwindels zu wehren, Militär in Marpingen ein, und da dieses von der Bevölkerung nicht allzu freundlich empfangen wurde, also wohl schlimmere Widersetzlichkeiten noch zu befürchten standen, legte sich auch die Justizbehörde in’s Mittel. Am 9. November wurden die Kinder, die vorher schon durch einen am 1. October von Berlin gekommenen Criminalcommissar, Herrn von Meerscheidt-Hüllessem, verhört worden waren und vor diesem ihre wunderbarlichen Aussagen Stück für Stück widerrufen hatten, auf Beschluß des Vormundschaftsgerichts in die Prinz-Wilhelm-Mariannen-Bewahranstalt zu Saarbrücken untergebracht. Von hier kamen sie, wie wir schon gleich bemerken wollen, in ein klösterliches Erziehungshaus zu Echternach, dem durch seine närrische Springprocession am Pfingstdienstag weltberüchtigten Wallfahrtsort im Luxemburgischen, wo sie sich zur Stunde noch befinden. Am 29. November reiste Dr. Strauß mit der Margarethe Kunz, um die Wunderstätte in ihrer Gegenwart zu besichtigen, nach Marpingen, und brachte sie am zweiten Tage in die genannte, unter einem protestantischen Hausvater stehende Anstalt nach Saarbrücken zurück. Die mehrfach Genannte ist das jüngste der sämmtlich im Jahre 1868 geborenen Wunderkinder, aber auch das geweckteste und nach Allem, was jetzt vorliegt, die Anstifterin des ganzen Handels. Auf seinem Excurse mit Margarethe begann Dr. Strauß, nachdem er sich mit der Kleinen vertraut gemacht hatte, sein Inquisitorium, und sein Bericht darüber möge hier als besonders charakteristisch in ausführlicher Form Platz finden.

„Ich bin die unbefleckt Empfangene“ – sollte, wie man sich erinnert, die Erscheinung auf die Frage der Kinder geantwortet haben. „Die Kunz,“ so berichtet nun Dr. Strauß, „verneinte, zu wissen, was ‚Unbefleckte Empfängniß’ sei; dieses Wort habe sie einmal von einem Mädchen gehört oder in einem Gebetbuche gelesen. Nach einigem Umfragen aus anderen Schulfächern kam ich auf die Erscheinung. Nun erzählte sie:

‚Am 3. Juli sah ich im Härtel-Walde beim Heidelbeerpflücken einen weißen Schein, einer menschlichen Gestalt ähnlich. Sie war sitzend; die linke Hand hing herunter; die rechte lag auf der Brust. Es war wie ein Muttergottesbild. Erschreckt lief ich nach Hause und erzählte es meinen Eltern, die mir nicht glauben wollten. Als ich einmal vor die Thür trat, kam ein Mädchen zu mir und fragte mich, ob wir etwas gesehen hätten; andern Tags sollten wir wieder in den Wald gehen und sagen: wir hätten etwas gesehen und die Erscheinung habe gesagt, es solle eine Capelle gebaut und gebetet werden; wir brauchten das nicht umsonst zu thun. Auf die Frage, was wir bekämen, sagte das Mädchen: „Ja, Ihr kriegt was.“ Dieses Mädchen wohnt im Eulenwald in Marpingen; es trug eine Jacke. So wahr ist das, was ich Ihnen gesagt,’ fügte sie hinzu, ‚daß, wenn der liebe Herrgott selber vor mir stände, ich dasselbe sagen würde.’

Dann erzählte sie weiter:

,Ich ging zum zweiten Mal in den Wald, stellte Fragen, erhielt aber keine Antwort, erzählte aber doch ganz so, wie das Mädchen mir gesagt hatte. Am dritten Tage bin ich wieder hingegangen, am vierten noch einmal, bis die Soldaten kamen; da hab’ ich nichts mehr gesehen.'

Hiernach bat mich das Mädchen, von diesen Bekenntnissen seiner Mutter und dem Pastor Neureuter keine Mittheilung zu machen, denn ‚die würden sonst böse’. Als ich bei der Ankunft in Marpingen am 30. November der Mutter der Margarethe sagte, sie sei von ihrem Kinde getäuscht worden, gerieth diese in convulsivisches Zucken, schlug sich an die Stirn und rief:

,Wenn das wäre, so ist sie mein Kind nicht mehr, aber es kann nicht sein.’

Nachdem ich die Frau beruhigt hatte, forderte ich das herbeigerufene Mädchen auf, nun auch seiner Mutter zu erzählen, was es mir erzählt habe. Da barg es sich an dem Kleide der Mutter und wollte kein Wort sprechen. Ich verlangte dann Antwort über jeden einzelnen Punkt des am Tage vorher gemachten Geständnisses. Auf jede meiner Fragen nickte das Mädchen ganz deutlich, wurde aber dabei fortwährend von der Mutter mit heftigen Schmerzensausrufen unterbrochen.

,Ich will nichts mehr von Dir wissen,’ stöhnte Frau Kunz; ‚wenn Du mich und alle Welt so belogen hast, bist Du mir fremd. – Ist’s denn wirklich wahr, was Du dem Doctor gesagt hast?’

Und die Antwort war: ‚Nein, es ist nicht wahr.’

Ich stand wie versteint angesichts dieser Zweizüngigkeit, sagte aber nichts mehr, als zu dem Kinde: nun sei es offenbar, daß man ihm nichts glauben könne. Ich ging hierauf mit Mutter und Kind in den Wald, um die Oertlichkeit zu besehen. Ohne die mindeste Scham und Scheu, und ohne daß sie meinerseits eine Einwendung erfuhr, erzählte Margarethe ihre alten vor mir widerrufenen Geschichten.

,So,’ sagte ich ihr, ‚jetzt muß ich mit Dir nach dem Eulenwald gehen, wo das Mädchen war.’

Da antwortete die Achtjährige mit einem gewissen impertinenten Aplomb:

‚Da brauchen Sie auch noch hinzugehen! Das war ja Alles erlogen.’

So kehrte ich mit ihr nach Saarbrücken zurück.“

Wir schließen hieran die Mitteilung einer späteren Unterredung, die Dr. Strauß am 6. December im Mariannen-Institut mit der Margarethe hatte, weil sie eine nothwendige Ergänzung zu dem Vorstehenden bildet; denn nun gestand sie wieder, daß alle Antworten, welche sie auf ihre Fragen an die Muttergottes erhalten habe, erlogen seien.

[285] „‚Wahr ist,’ erklärte sie, daß ich am 3. Juli etwas gesehen habe; es war ein weißer Schein, und dieser hatte die Gestalt einer sitzenden Frau; ich lief erschreckt mit den Kindern, die bei mir waren, nach Haus und erzählte es. Am zweiten Tag kam ich gegen fünf Uhr in den Wald, sah aber nichts; gegen sieben und acht Uhr sah ich einen weißen Schein, etwas größer als Tags vorher.’

Ich fragte, wie groß der Schein gewesen sein; sie sagte:

‚So groß wie der Stuhl, worauf Sie sitzen.’

‚War es eine menschliche Gestalt?’

‚Nein.’

‚Sprach etwas aus dem Schein?’

,Nein; ich stellte aber Fragen an ihn und hörte auch etwas.’

‚Aber wie konntest Du erwarten, daß der Schein, der keine menschliche Gestalt hatte, Dir Antwort geben würde?’

,Ich glaubte, wenn ich fragte, würde die Gestalt sich zeigen, wie vorher; ich glaubte, es müsse so sein, und habe auch gefragt, damit die Leute es hören sollten.’

Auf die Frage: ‚Wäschen (Frauchen), wer seid Ihr?’ habe sie die Antwort gehört. ‚Unbefleckt.’ Auf die Frage: ,Was ist Euer Begehr?’ habe der Schein geantwortet: ‚Beten und fromm;’ auf die Frage: ‚Sollen wir eine Capelle bauen?’ sei bejahende Antwort erfolgt; sie habe weiter gefragt, aus welcher Quelle getrunken werden solle (außer der an der Gnadenstätte im Walde befindet sich noch ein ‚Marienborn’ im Orte selbst, bei der Kirche), da habe sie das Wort ,Owe’ (oben) vernommen, woraus sie geschlossen, daß das die obere Quelle sein solle. Am dritten Tage habe sie nur einen Schein gesehen. An diesem Tage sei ein Kranker gekommen und habe unter ihrer, der Kunz, Führung seine Hand auf den Fuß der Erscheinung gelegt. Auf meine wiederholten Fragen hat die Kunz eingestanden, der Fuß sei auch ihr nicht sichtbar gewesen; sie habe nur so gethan. Sie räumte auch ein, Rosenkränze von den Leuten angenommen, eine Weile in der Tasche behalten und sie nachher unter dem Vorgeben, daß sie mit denselben die Erscheinung angerührt, den Eigenthümern wieder eingehändigt zu haben.“

Dr. Strauß, dessen Angaben wir hiermit schließen, fungirte bei der Untersuchung als vereideter Zeuge; er ist nicht der Einzige gewesen, der die freche Verlogenheit der Kinder gründlich kennen gelernt hat; mit ihm theilen diese Erfahrung der Saarbrücker Landgerichts-Präsident Schorn, die als Untersuchungsrichter fungirenden Assessoren Remelé und Kleber, die Vorsteherin des Mariannen-Instituts und eine ältere Zimmergenossin der Margarethe in dieser Anstalt. Auch hier wurde „unter dem Bewußtsein der Allgegenwart Gottes“ und „unter Thränen“ widerrufen, dann die Widerrufe zurückgenommen und auch wieder erneut.

Als die drei Kinder einmal, Anfangs October 1876, vor dem Criminalcommissar von Meerscheidt-Hüllessem verhört wurden und Margarethe Kunz ihre Erfindungen eben Stück für Stück verleugnet hatte, postirte diese Anstifterin der Uebrigen sich vor die letzteren hin und rief ihnen zu: „Saget nur die vollständige Wahrheit!“ Sämmtlich verneinten sie jetzt, überhaupt etwas gesehen oder Fragen an die Erscheinung gestellt zu haben. Am 26. desselben Monats hörte Jemand, wie die Kinder sich über ihre Geschichten unterhielten. „Ich sage es aber nicht mehr, denn die Leute glauben es doch nicht,“ erklärte das eine, worauf das andere „Einige glauben es doch noch“ erwiderte.

Als die erwähnte ältere Zimmergenossin der Margarethe Kunz im Mariannen-Institut, welche das freundschaftliche Zutrauen des Mädchens gewonnen hatte, diesem das Grundlose einer von ihm behaupteten neuen Erscheinung in der genannten Anstalt gleich am folgenden Morgen auf’s Schlagendste nachwies, suchte Margarethe zuerst den Glauben an ihr Vorgeben zu erbetteln, dann, als dies nicht gelingen wollte, sagte sie: „Dir kann man nichts weiß machen. Du bist nicht so dumm, wie die dummen Herren.“ Mit „die Herren“ bezeichnet das Volk die Geistlichen. Auf die spätere Frage derselben Zimmergenossin an die Kunz, was sie denn eigentlich gesehen habe, ließ diese sich vorerst das Gelöbniß der Geheimhaltung geben und erklärte dann rund heraus. „Es war lauter Unsinn und Trug. Dich habe ich zu gern, als daß ich Dich belügen könnte.“

Die Untersuchung hat keinen Zweifel gelassen über das Senfkorn, aus welchem mit all seinem Gezweige der Lügenbaum emporwuchs, unter den die Völker zu wohnen kamen – nicht nur die Bauern und Bürger zu Tausenden, sondern auch Leute, die auf der Menschheit Höhen stehen: Erzherzog Ludwig Victor, der jüngste Bruder des Kaisers Franz Joseph von Oesterreich, die Fürstin Helene Karoline von Thurn und Taxis, Tochter des Herzogs Maximilian Joseph in Baiern, ältere Schwester der österreichischen Kaiserin, Edmund Prinz von Radziwill, Vicar zu Ostrowo etc. etc.. Auf dieses Senfkorn deutet eine vor der Vorsteherin des Mariannen-Instituts gemachte vertrauliche Aussage der Margarethe Kunz hin: sie hat in einem Buche gelesen, daß andere Leute solche Erscheinungen gehabt haben, und da kam ihr der Gedanke. „Warte, das sagst Du aber auch so einmal!“

Mögen die Reden und Widerreden der Margarethe Kunz strotzen von Lügen – dieses Eine hat sie sicher nicht erfunden. Wie wir unter den Studienköpfen in dem Atelier eines Malers oder Bildhauers sofort diejenigen herauskennen, zu welchen die lebendige Natur, ein individuelles Original, die Züge geliehen hat, so drängt sich bei der angeführten Aeußerung uns sofort die Gewißheit auf, daß wir in ihr den Embryo des ganzen Wundergebildes vor uns haben. Das Uranfängliche war eine freiwillige Lüge; die weitere Ausschmückung entwickelte sich dann theils in der Phantasie des Kindes bei dem vorwitzigen Nachforschen nach den Einzelheiten des Gesehenen, theils wurde es den „Begnadigten“ geradezu auf die Zunge gelegt. Zeugeneidlich ist erhärtet, daß die an die vorgebliche Erscheinung gerichteten Fragen: ob eine Capelle gebaut werden solle, ob diese von Holz oder von Stein sein müsse, ob Kranke geheilt würden etc., der Wortführerin Margarethe Kunz von bigotten Weibsbildern – z. B. der Lehrerin Andrée – in den Mund gegeben wurden. Auch in der Schule war von den Muttergottes-Erscheinungen an den früher genannten Orten als von ebenso vielen Manifestationen der nahen göttlichen Hülfe für die „bedrängte Kirche“ mehr als einmal die Rede gewesen.

Und trotz all diesem himmelschreienden Blödsinn, trotz erhaltener Kenntniß von den Widerrufen der Kinder verharrten Pastor Neureuter und seine benachbarten Amtsbrüder im Glauben an das ihren Heerden widerfahrene himmlische Heil, und zwar auf Grund der – „Glaubwürdigkeit der Kinder“! Erst als nach dem 2. Juli 1877 noch vierzehn andere Kinder aus Marpingen ebenfalls übernatürliche Gesichte haben wollten, da wurde es dem guten Neureuter, zu dessen Rechtfertigung selbst sein Vertheidiger Dr. J. Bachem nichts Besseres zu sagen wußte, als: man könne Niemanden darob bestrafen, daß er nicht kritisch veranlagt und seinem Posten nicht gewachsen sei, doch zu viel; Ende 1877 sagt er in einem Schriftstücke. „Mit den Concurrenzkindern ist es nichts, aber das Andere beruht auf Wahrheit; das kommt von Gott.“

Diese Concurrenzkinder, von denen drei zehn- bis elfjährige bei der öffentlichen Verhandlung am 13. März vernommen wurden, trieben die Sache in der That zu bunt selbst für die crasseste Gläubigkeit. Die ursprünglich Begnadigten warteten wenigstens ihre Besuche aus Himmel und Hölle ab, und zwar auf Erden – auch der Teufel ließ es sich nicht nehmen, ihnen zu erscheinen, wie sie ihn denn einmal auf Geheiß der gleichzeitig anwesenden Muttergottes mit einem geschwungenen Stiefel zur Thür hinausprügelten, darauf mit wurmstichigen Aepfeln warfen und zuguterletzt dem unglücklichen Beelzebub, als er über den draußen ihn durchnässenden Regen klagte, die Hohnrede zuwarfen: er möge „in die Hölle zurückfahren, da sei es trocken und warm“. Die Concurrenzkinder dagegen hatten ihre Gesichte nicht nur andauernd bis zum Vorabend und sogar bis zum Tage ihres gerichtlichen Verhörs, sondern sie stiegen auch in eigener Person hinauf in den Himmel und hinab an der Hölle vorbei. „Im Himmel,“ sagte die Concurrentin Anna Thomé, wie früher vor dem Untersuchungsrichter, so später auf Befragen des Präsidenten, „da ist es schön. Da war der liebe Gott mit langem grauem Bart und der heilige Geist und Engel und Seelen. Die Seelen waren weiß. Der heilige Geist hatte die Gestalt einer Taube; er flog oben an der goldigblauen Himmelsdecke herum. In die Hölle habe ich nur hineingesehen, als ich aus dem Himmel kam; darinnen war’s schwarz und ein großes Feuer. Eine Seele habe ich daraus erlöst, indem ich sie fragte, womit ihr zu helfen sei, und die verlangten fünf Vaterunser dann gebetet habe.“

Wen es nach Allem, was wir gesagt haben, noch gelüstet, [286] mit den Augen der Wunderkinder tiefere Einblicke in die ihnen offen stehenden Regionen zu thun, den verweisen wir auf die Broschüren der theilweise schon genannten Marpinger Apologeten N. Thoemes, F. Düke, W. Cramer, Prinz E. Radziwill und Dr. Rebbert. Mit Ausnahme des Erstgenannten sind sie sämmtlich Geistliche. Aus der Schrift des Letzterwähnten, eines ehemaligen Privatsecretärs des Bischofs Martin und nunmehrigen Professors an der theologischen Facultät zu Paderborn erfahren wir auch, daß selbst die diabolischen Einflüsse in die Marpinger Offenbarungen nur ad majorem Dei gloriam dienten. „Daß der Teufel,“ schreibt Dr. Rebbert, „auch in Marpingen für sich zu profitiren suchen würde, war von vornherein so sicher anzunehmen, daß ein mir bekannter sehr tüchtiger Theologe eben auf Teufelserscheinungen wartete, als auf eine neue Bestätigung für die Wahrheit der Muttergotteserscheinungen. Auch in Dittrichswalde haben wir ja Beides zusammen. Solches verwundert den Unterrichteten nicht. Im Gegentheil würde es uns wundern und befremden, wenn der Feind Gottes und der heiligen Jungfrau hier ruhen würde. Er sucht bei solchen Gelegenheiten Verwirrung zu stiften und für sich Beute zu machen.“ Der Caplan und Redacteur W. Cramer seinerseits schlägt alle etwa aus dem läppischen Betragen des erschienenen Beelzebub in seinen Lesern aufsteigenden Bedenken nieder mit dem einen kräftigen Satze: „Der Teufel macht ja oft dumme Geschichten“.

Als die drei ursprünglich begnadigten Mädchen – außer der oftgenannten M. Kunz die Leist und die Hubertus – einmal im Härtelwalde die ihnen zu diesem Zwecke von einer Lehrerin in den Mund gegebene Frage an die Erscheinung richteten: warum nur gerade sie des Schauens gewürdigt seien, da referirte die Kunz als Antwort der Muttergottes: „Weil sie unschuldige Kinder sind.“ Es war deshalb gewissermaßen eine Inconsequenz der Madonna, daß sie auch einigen invaliden verheiratheten Bergleuten, wie diese behaupten, sichtbar geworden ist. Aber auch das lag gewiß so im Plane der göttlichen Heilsökonomie, denn diese Bergleute spielten theilweise auch die wunderbar Geheilten und legten als solche den Grundstein für die Reputation Marpingens als Curort.

Selbstverständlich ist von den wunderbaren Heilungen, welche zu Marpingen vor sich gegangen sein sollten, bei näherer Prüfung der vom Gerichte gehörten ärztlichen Sachverständigen so gut wie nichts übrig geblieben. Schon vor der großen Verhandlung zu Saarbrücken waren Einzelne, die plötzliche Heilung in Marpingen gefunden zu haben vorgaben, gerichtlich wegen Betrugs bestraft worden, indem das Lügenhafte ihres Vorgebens, wie die gewinnsüchtige Absicht ihnen nachgewiesen werden konnte. In anderen Fällen fanden die als Sachverständige gehörten Aerzte eine vielleicht eingetretene Besserung aus natürlichen Ursachen ganz erklärlich. Von Andern, wie z. B. von den Verwandten der Gräfin Spee, bekannte man freimüthig, daß nicht einmal momentane Besserung eingetreten sei, dem inbrünstigsten Glauben und Beten zum Trotze; noch Andere waren nach der vermeintlichen Heilung oder doch Linderung ihrer Leiden denselben wieder völlig verfallen oder gar daran gestorben. Im Uebrigen aber deckte bezüglich dieser Heilungswunder der Monstre-Proceß einen wahren Rattenkönig von Lug und Trug auf. In den ersten Monaten des Schwindels füllten die Erklärungen der angeblich Geheilten täglich die frommen Blätter; diese sämmtlichen Erklärungen – bis auf eine einzige – waren von Geistlichen fabricirt und von den betreffenden „Erklärern“ nur unterzeichnet worden, ohne daß diese oft auch nur recht wußten, was darin stand!

Es hatte bei dem Marpinger Schwindel auch nicht an einem Beispiel des Strafgerichts über die Ungläubigen gefehlt. Als solches hatte ein Unfall, der die Pferde des Kaufmanns Fischer zu Ottweiler ereilte, herhalten müssen. Kaufmann Fischer, so erzählte man seinerzeit der gläubigen Welt, habe seinem Knechte befohlen, Holz im Walde zu holen. Der Knecht erwiderte, die Fuhre sei zu schwer für die vorgespannten zwei Pferde. „Dann kann ihnen die Marei von Marpingen ziehen helfen!“ habe Fischer spottend erwidert. Der Knecht erfüllte des Herrn Geheiß, und ein Pferd stürzte und verendete nach dem andern. Nun habe Fischer seinen Leuten Strafe angedroht, wenn sie von der Sache als von einem „Strafgericht“ reden würden. Bei der Section der zwei Pferde sei bei keinem derselben eine Spur von Krankheit zu finden gewesen.

Pastor Neureuter vergaß, als er die Geschichte in sein Notizbuch eintrug, nicht, dabei zu bemerken, daß Fischer Protestant sei. Das ist zwar nicht wahr, aber es machte sich doch gut. Und was war nun der Kern der Sache, wie er sich bei der öffentlichen Verhandlung documentirte? Die Pferde sind in der That gefallen, eins nach dem andern. Die Geschichte passirte am 9. Juli; am 12. Juli erst erfuhr Fischer von den Marpinger Wundern, er konnte sie also nicht schon drei Tage vorher zum Gegenstande einer spöttischen Aeußerung gemacht haben. Den Tod der Thiere hatte der Knecht verschuldet, indem er sich willkürlich an einem Orte unterwegs aufhielt und dann das Gespann übermäßig antrieb, um einige voraufgefahrene Cameraden wieder einzuholen. Der Veterinärarzt fand die Magen der Pferde geplatzt und Rückstände von grobem Kleienfutter in denselben; die heftige Anstrengung nach dieser Fütterung, dabei unzeitiges Tränken hatten bei beiden Thieren dieselben Folgen: es entwickelten sich ungewöhnlich viel Gase in ihren Verdauungswerkzeugen und zerrissen dieselben.

Die Vorbereitung des Processes hat dritthalb Jahr in Anspruch genommen, Bände von Actenstücken und Verhörprotokollen thürmten sich auf; noch in den Tagen vom 3. zum 15. März wurden 170 Zeugen verhört, aber die Welt ist nun auch im Klaren aber den Kern der Erscheinung.

Die „Civiltà cattolica“, das am besten beglaubigte der kirchlichen Preßorgane, schrieb noch am 3. November 1877: „Gott kann ja nie zulassen, daß Millionen guter Katholiken ein ganzes Jahr lang durch falsche Wunder getäuscht werden sollten.“ Angesichts der Saarbrücker Enthüllungen wird die „Civiltà cattolica“, mag sie sich äußerlich gebehrden wie sie will, innerlich doch wünschen, sie hätte „unsern Herrgott aus dem Spiel gelassen“.

Auch die „Kreuzzeitung“ meinte (im Sommer 1876) freilich, „die Marpinger Affaire könne leicht den Minister Falk stürzen“, aber die Hoffnungen der „Civiltà“ gingen doch noch viel weiter. „Mächtiger als die Armeen des Kaiser Wilhelm," so las man in ihrer Nummer vom 19. August 1876, „wird die heilige Jungfrau den Ort, welchen sie sich zur Offenbarung ihrer übernatürlichen Kraft ausgewählt hat, zu vertheidigen wissen. Das katholische Deutschland jubelt, da es sieht, daß die von ihm so hochverehrte Jungfrau ihm die Gnade erweist, es zu besuchen. Die allerheiligste Jungfrau hat eine große Aufgabe unter den Deutschen zu erfüllen, nämlich die Ketzerei und den Unglauben der Protestanten zu überwinden. ‚Besiegerin der Irrlehre und der Glaubenslosigkeit’, das ist der richtige Name für unsere liebe Frau von Marpingen.“ Sie hat ihm wenig genug Ehre gemacht!

Die Urtheilsverkündung war am 15. März auf drei Wochen vertagt worden und erfolgte demgemäß am 5. April. Das Erkenntniß, dessen Verlesung wegen der ausführlichen Erwägungsgründe zwei Stunden in Anspruch nahm, lautet für sämmtliche Beschuldigte freisprechend; es charakterisirt die vorgeblichen Erscheinungen als „schändliche Täuschung“ und führt dann aus: an dieser Täuschung hätten die Eltern der Kinder und andere Beschuldigte Theil genommen und sie unterstützt, jedoch habe die zur Verurtheilung erforderliche böse Absicht, betrügerischen Gewinn aus dieser Täuschung zu ziehen, nicht nachgewiesen werden können. Das gerichtliche Urtheil ist in dieser Angelegenheit von keinem Gewicht mehr, nachdem die Untersuchung den moralischen Verdammungsspruch gegen die erwachsenen Theilnehmer derselben hundertfach hervorgerufen. Es war abermals ein Sieg des Lichts über die Finsterniß. Wie viel solcher Siege werden wir in Deutschland noch erringen müssen, ehe auch im Volke die Köpfe hell genug sind, um den Versuchen der Dunkelmänner widerstehen zu können? Leider ist es, wie bei den Höhen und Tiefen der Natur, so auch im Geistesleben der Menschen: die Höhen beleuchtet die Sonne bald – aber „die Nacht weicht langsam aus den Thälern“.



[287]
Die beiden Culturträger in Centralasien.


Es ist nicht unsere Absicht, hier auf die Vorgänge in Afghanistan, wie sie in den letzten Monaten durch die Zeitungen bekannt geworden, abermals zurückzukommen. Nichts liegt uns ferner. Aber bei der fortdauernden hohen Bedeutsamkeit der Ereignisse wollen wir versuchen, einige Erscheinungen, die in Land und Leuten, in Natur und Geschichte Afghanistans tief begründet sind, hervorzuheben und damit zugleich auf den sich hier abspielenden unvermeidlichen Naturproceß – Darwinscher Kampf um’s Dasein möchte man sagen – andeutend hinzuweisen.

Wie zwei drohende Wetterwolken, die verderbenschwer mit elektrischer Materie überfüllt sind, nähern sich in Centralasien Rußland und England. Früher oder später – das ist klar – werden sie an einander stoßen und sich furchtbar entladen. Ob und wann diese Entladung einem neuen Völkerleben gedeihlich werden wird, wie ein Wettersturm, der Wohnstätten niederwirft, Wälder entwurzelt und weite Strecken verheert, aber die Luft reinigt vom Pesthauch einer verderblichen Stagnation, und ferner: welchen Verlauf und welche Folgen der russische und indobritische Zusammenstoß für Centralasien, für die turkestanischen, turanischen, für die indischen Länder und Völker haben wird – dies heute vorauszusagen, liegt außer der Fähigkeit menschlicher Beurtheilung. Aber es gewährt schon hohen Reiz, die Vorbereitung und Entwickelung dieser asiatischen Vorgänge zu belauschen und die Merkmale nahe bevorstehender Wandlungen wenigstens versuchsweise zu deuten.

Die Cultur, die Civilisation der Menschheit ging bekanntlich Jahrtausende in der Richtung des Sonnenlaufes, von dem Morgenlande Asien nach dem Abendlande Europa, von hier weiter nach Amerika und endlich in vollendetem Kreise wieder nach Asien zurück. Die Vereinigten Staaten trugen abendländische Cultur nach den ältesten Culturstaaten des Morgenlandes, nach Japan und China. So wird nunmehr das Wort von dem rückläufigen Culturgange vom Abendlande zum Morgenlande zur Wahrheit, und die Aufgabe Europas ist jetzt, das älteste Festland, die Heimath aller Religionen und Culturen zu europäisiren. Russen und Briten haben seit geraumer Zeit vom Norden und Süden diese Mission übernommen und stehen nunmehr in Centralasien als Rivalen einander gegenüber.

Wie sehr verschieden sind die Mittel, Wege und Werke dieser beiden Culturträger in diesem Erdgebiet! Rußland rückt auf großen, nur von Flüssen durchschnittenen Ebenen vor; das Mutterland wächst gleichsam gegen Asien hinaus; der Zusammenhang mit der Eroberung wird nie unterbrochen. Großbritannien hat keinen Zusammenhang mit seinen fernen Besitzungen, oder es bietet ihn nur das Meer und die Herrschaft über das Meer, das vergänglichste Moment politischer Kraft. – Die Russen dehnten sich bisher unter derselben Zone aus, die sie geboren hatte. Das Klima ist dasselbe in Sibirien und den turkestanischen Steppen, wie im südlichen Rußland. Wäre Rußland diesseits des Kaukasus geblieben, wäre es nicht hinabgestiegen in die Ebene des Kur und Araxes, wo der Wein wild seine Rebe um die Ulme spinnt, wo die Früchte der Citrusarten ungeschützt reifen, wo die Seidenzucht, ja sogar der Indigobau gelingt – man könnte behaupten, das russische Reich erfreue sich mit geringen Abweichungen einer meteorologischen, klimatischen Einheit. Die Briten dagegen haben sich aus einem vor Extremen völlig geschützten Seeklima der gemäßigten Zone in das Palmenklima gewagt, wo der Europäer die senkrechten Strahlen der Sonne nicht ungestraft auf seinen Scheitel fallen läßt.

Aus diesen Ursachen folgte einfach, daß die Engländer wohl asiatische Reiche erobern, beherrschen und ausbeuten, sie aber nie bevölkern konnten. Rußland dagegen hat nicht bloß die große sibirische Ebene entdeckt, es hat sie auch zuerst der Cultur gewonnen. Wenn heute Indien den Briten entrissen würde, so bliebe von der ehemaligen Herrschaft nichts übrig, als der Raum, den sie in den Jahrbüchern der beherrschten Völker einnehmen wird. Wenn heute dagegen Sibirien sich vom Mutterlande losreißt, so wird dieser Theil asiatischer Cultur immer seinen russischen Charakter behalten, wie Nord- und Südamerika ihre europäische Abkunft nie verleugnen können.

Die Russen haben sich ferner über eine beinahe unbewohnte Welt ausgebreitet. Die Völker, die sie fanden und sich unterwarfen, waren entweder Wilde oder Hirten oder Jägervölker. Sie brachten zuerst den Ackerbau nach dem Norden und Nordosten Asiens. Jedenfalls waren sie geistig unendlich jenen Wanderstämmen überlegen, und wie es immer geschieht, wo ein stärkeres und höher geartetes Volk andere Menschenstämme berührt, die physisch und geistig tief unter ihm stehen und in minder geschlossenem gesellschaftlichem Verband leben: die stärkere Race entzieht der schwächeren die Lebensbedingungen, und das eine Geschlecht stirbt unrettbar hinweg, wenn man auch nicht sagen kann, es sterbe eines gewaltsamen Todes.

Ganz anders sind die Briten in einem der dichtest bevölkerten Reiche vorgedrungen, wo nicht blos Ackerbau, sondern auch Gartenwirthschaft und Fruchtbaumpflege herrschte. Sie stießen auf hochcultivirte Völker, die ihre eigene originelle Entwickelung hinter sich hatten, welche wenig oder nichts von der fremden Civilisation brauchen mochten, welche nur durch ihres Gleichen, nicht durch den fremden Eroberer regiert werden konnten. Und so wenig hat sich durch die britische Herrschaft in den inneren gesellschaftlichen Verhältnissen Indiens geändert, daß dort noch wie vor länger als 2000 Jahren tatsächlich die höchste Kaste herrscht, die Brahminen.

So besteht denn auch zwischen der civilisirenden Thätigkeit der Russen und derjenigen der Briten ein großer Unterschied. Jene erwerben die Welt, die sie erobern, der abendländischen christlichen Cultur; die Eroberungen dieser haben wenig oder gar nichts mit der Ausbreitung unserer Cultur zu thun. Völkerschaften, die eine originelle geistige Entwickelung hinter sich haben, gehen ihren eigenen Weg, sie können beherrscht, unterdrückt und ausgerottet, sie können auch materiell erzogen, gehoben, administrativ gepflegt werden – sittlich vermag man nichts an ihnen zu ändern. In diesem Sinne darf man wohl sagen, daß die Ausbreitung der russischen Herrschaft dauerhaft, nicht episodisch sei, wie die britischen Eroberungen, die mit Hülfe der schwankenden See ihren Anfang nahmen und mit der Wellenbeherrschung ihr Ende erreichen werden. Es ist schwer zu sagen, wer von Beiden, Russen oder Briten, hier größere Eroberungen gemacht hat. Zählen wir die Bevölkerung, die unterworfen wurde, so haben die Briten den Löwenantheil, denn sie haben seit noch nicht anderthalb Jahrhunderten im Durchschnitt jährlich fast zwei Millionen Menschen dem britischen Reiche gewonnen. Nehmen wir dagegen den Raum als Maßstab, so übertrifft die Ausdehnung der russischen Eroberung alle bisherigen Erfahrungen der Geschichte.

Bis zum Jahre 1747 erstreckte sich das persische Reich vom Fuße des Kaukasus bis zum Indusdelta. Damals war Persien noch eine asiatische Großmacht, Indien ein noch im Wachsthum begriffenes Actiengeschäft von Engländern, Rußland von ehrgeizigen Vergrößerungsinstincten nach allen Seiten ergriffen und die Türkei noch nicht zum bloßen geographischen Begriffe hinabgesunken. Von eifersüchtigem Bewachen des beiderseitigen Vorgehens, von einem Rivalisiren konnte damals nicht die Rede sein. Heute ist das Sultanreich kaum mehr ein geographischer Begriff; Persien ist aus den activen Staaten gestrichen; Rußland steht in Mittelasien mit gesicherter Position und fester politischer Tendenz; Indien ist in natürliche Grenzen abgerundet und aus einer Kaufmannscolonie ein integrirender Theil des großbritannischen Reiches unter der gemeinsamen Königin als Kaiserin geworden; in unverhohlener Eifersucht stehen die beiden Rivalen an den Grenzen des letzten Bollwerks, das sie trennt, einander gegenüber – an den Grenzen Afghanistans.

Das erste französische Kaiserreich war es, welches zuerst das Gegenüberstehen beider Mächte in Mittelasien zu einem politischen Gegensatze zupitzte; und schon damals wurde Afghanistan mit in Rücksicht genommen. Napoleon’s Eroberung Aegyptens und seine abenteuerlichen phantastischen Pläne zu einem modernen Alexanderzuge nach Indien ließen die Regierung von Britisch-Indien mit Afghanistan und Persien ein Schutzbündniß schließen, während andrerseits Napoleon nach dem Frieden zu Tilsit mit Rußland sich verbündete, um England in Indien zu bekämpfen.

„Man sprach damals zu St. Petersburg,“ erzählt Thiers, „in vertraulichen Stunden viel und häufig von einem Zug gegen die Engländer in Indien. ‚Wenn nur die große Entfernung, [288] wenn nur die Wüsten nicht wären,’ meinte der Czar, ‚und Lebensmittel für Menschen und Thiere leicht herbeigeschafft werden könnten.’ – ‚Nun,’ erwiderte der französische Gesandte Caulaincourt, der sich wenig um die Erdkunde Asiens bekümmert haben mochte, ,die russischen Truppen, welche von Irkutsk an die Ufer des Rheins gekommen sind, werden auch mit derselben Leichtigkeit zu dem Indus kommen.’“ – –

Schir Ali von Afghanistan.
Nach einer Originalphotographie auf Holz geschnitten.


Mit dem Fall Napoleon’s waren auch diese Pläne gefallen und vergessen und England vernachlässigte es gründlich, eine engere Verbindung mit Afghanistan zu gewinnen. Seitdem aber hat Rußland erst vorsichtig, dann immer dreister die Bewegung nach dem südlichen Asien begonnen, indem es zugleich die Türkei und Persien von seinen dortigen Wegen abschnitt; Kaiser Nicolaus wie Alexander der Zweite – Beide haben ihre Eroberungsgelüste mit großer Ausdauer gegen die mittelasiatischen, vom Padischah und vom persischen Khan losgelösten Fürsten gerichtet. Zuerst durch Räuberanfälle aus Turkmanien, Chiwa und Persien auf die ostasiatischen Karawanen, welche die russische Grenze zum Austausche ihrer Producte gegen europäische aufsuchen , ist Rußland bewogen worden, vom Aralsee östlich vorzudringen. Dann mischte es sich in die Prätendentenstreitigkeiten asiatischer Dynastien bis zum Hindukusch, dem Paropamisus der Alten, der immer die westliche Grenzscheide im Norden Indiens von Centralasien gewesen war. 1876 schritt es endlich zur Einverleibung von Khokan. So haben die Ereignisse zuletzt Afghanistan für Rußland und England die höchste Bedeutung gegeben, als der Barrière, welche den Zusammenstoß der beiden feindlichen Mächte zurückhalten und verhindern kann, und es lag daher seit geraumer Zeit im Interesse der Russen und Briten, die Herrscher von Afghanistan für sich und ihre Absichten zu gewinnen.

Der Hof von Kabul und Kandahar wurde der Schauplatz für das diplomatische Lügenspiel, der feile Markt für erkaufte Bündnisse und Wortbruch. Der Afghanenfürst und die räuberischen Turkmanenstämme der Nachbarschaft streckten die habgierigen Hände nach allen Richtungen, nahmen von Russen und Briten und täuschten beide. Die neuesten Vorgänge, die Flucht und der Tod Schir Ali’s, der den problematischen Muth hatte, den Briten den Fehdehandschuh hinzuwerfen, setzen wir als bekannt voraus, und geben nur in einem kurzen Nekrolog desselben ein typisches Bild eines Afghanenfürsten.

Dost Mohammed Khan, der Vater Schir Ali’s, hatte mehr als sechszehn Söhne und etwa noch einmal so viel Töchter. Schir Ali war der jüngere, 1825 geborene Sprosse von einer der späteren Frauen. Seine Jugend verbrachte er, wie alle afghanischen Prinzen, in Uebung der noblen Passionen und des Kriegshandwerks; seine Bildung war mäßig. Obgleich ein jüngerer Sprößling, wurde er mit Hintansetzung des älteren Bruders früh zum Nachfolger bestimmt.

Schir Ali war vor Allem Krieger und gefiel sich am meisten in der turkmanischen Reitertracht, in langem Oberrock und Pelzmütze, wie ihn unser Bild zeigt. Er war von kräftiger, gedrungener Gestalt, mit breitem Kopf und etwas länglicher Nase. Seine Gesichtszüge hatten das Gepräge von Ruhe, fast Melancholie, während sein Blick Schlauheit und Tücke verrieth. In einem Lande, wie das seinige, wo Herrschermacht und Einfluß nur durch reiche Besoldung der zahlreichen hungerigen Khane und Serdare zu bewerkstelligen ist, und wo der Feinde so viele auf ihren Posten lauern, ist es leicht erklärlich, daß er vor Allem nach Vermehrung der Geldmittel strebte. So hat er denn auch wie ein cultivirter Depossedirter und fürstlicher Durchgänger ein namhaftes Vermögen auf seiner Flucht mitgenommen. Als Kind dem Bruderneid ausgesetzt, hatte Schir Ali schon früh in der Schule der Ränke viel gelernt. Er war mißtrauisch gegen seine Umgebung, noch mehr gegen seine Brüder. Seit 1863 auf dem väterlichen Thron, hatte er einen langen ränkevollen Kampf mit seinen Brüdern zu bestehen, dem, nach siegreicher Beendigung desselben, alsbald ein neuer blutiger Intriguenkampf mit dem eigenen Sohn, nunmehrigen Nachfolger, Jakub Khan sich anschloß.

Möglich, daß Schir Ali ohne diese harten Schicksalsschläge [289] ein besserer Fürst geworden wäre, da auch ein Fall von Gutmüthigkeit und Liebe ihm nacherzählt wird. Es wird berichtet: Im Bruderkriege um die Krone standen beide ziemlich gleichen Heere einander gegenüber. Ein jüngerer Sohn Schir Ali’s befehligte die Vorhut der Truppen seines Vaters. Der Andrang des feindlichen Onkels ward unerwartet stark, und der Neffe mußte einige Schritte zurückweichen. Dieses bemerkend, stürmte der Vater auf denselben ein, schalt ihn einen Feigling und befahl ihm, den Kampf sofort zu erneuern.

Schir Ali’s letzte Lieblingsgattin.
Nach einer Originalphotographie auf Holz geschnitten.


Der Sohn stürzt sich nun mit verdoppelter Wuth auf den Gegner, trifft im Handgemenge mit dem befehligenden Onkel zusammen und fällt im tapferen Zweikampfe. Die Schlacht war für Schir Ali gewonnen, sein Thron befestigt. Doch der Tod seines Lieblings betrübte ihn so sehr, daß er in Tiefsinn verfiel, tagelang keine Speise zu sich nahm und immer den Namen seines geliebten Sohnes ausrief. Kein Wunder, wenn damals in Centralasien von seinem Wahnsinn gesprochen worden ist. Trotz dieser Zartheit des väterlichen Herzens war Schir Ali gegen seinen zweiten Sohn, Jakub Khan, ein ungerechter, barbarischer Vater.

Ehe wir von dieser seiner Eigenschaft Näheres berichten, sei zuvor bemerkt: Schir Ali lebte, wie alle orientalischen Fürsten, in Polygamie. Sein Harem zählte an dreihundert Landestöchter. Die Polygamie der Fürsten ist höchst gefährlich. Die Nachfolge wird unter einer übergroßen Zahl von Söhnen immer streitig bleiben, und für jeden der Sprößlinge werden im Palaste des Sultans Umtriebe gesponnen. Die heiligsten Bande der Familie, die Geschwisterliebe, die religiöse Verehrung des greisen Vaterhauptes und das berauschende Entzücken vor dem Augenlicht des eigenen Kindes fehlen in den asiatischen Regentenhäusern gänzlich. Die Söhne einer und derselben Mutter und noch weit mehr diejenigen von verschiedenen Müttern sind sich fremd, und schlimmer als fremd, denn sie werden im Haß gegen einander aufgezogen; der tödtlichste Feind eines asiatischen Prinzen ist stets der leibliche Bruder, nach dem Bruder aber der Vater. Daß Geschwister einander vergiften, daß Söhne ihre Väter enthaupten, Väter ihre Söhne blenden ließen, sind dort die allergewöhnlichsten Vorkommnisse; der Verwandtenmord ist sogar zur Regel geworden. Daher der häufige Wechsel der Dynastien, der häufige Uebergang vom Glanz zum tiefsten Verfall. Daß ein mohammedanisches Regentenhaus, die osmanische Dynastie, über sechstehalb Jahrhunderte sich auf dem Throne behaupten konnte, würde ein Wunder scheinen, wenn wir nicht wüßten, daß es Staatsgesetz im osmanischen Reiche ist, sobald Erben des regierenden Sultans vorhanden sind, die Brüder des Khalifen zu erwürgen, und daß die Wehmütter in dem Augenblick, wo die Tochter eines Sultans einen Knaben gebärt, mit dem ersten Schrei das Leben des Kindes ersticken. Diese grauenhafte Ordnung ist Weisheit und Erbarmen, denn es ist hier besser, daß ein Prinz stirbt, als daß seinetwegen im Aufruhr Tausende umkommen. Daß aber der politische Mord sich durch Menschlichkeitsrücksichten empfehlen läßt, beweist eben, ein wie großes sociales Uebel überhaupt die Polygamie ist. Es bedarf daher zum Umsturz eines solchen Reiches, in dem die Polygamie auf dem Throne heimisch ist, nur außerordentlich geringer Anstrengung, wenn man aus der Nachbarschaft desselben mit Geschick die politische Praxis beobachtet, wie sich die Dynastien dort zu bekriegen pflegen. Dank der Polygamie, giebt es überall im Orient für die Throne einen großen Vorrath von Prätendenten, Brüdern, Oheimen und Söhnen, welche am Nachbarhofe für den etwaigen Gebrauch gefüttert werden. Von Vaterlandsliebe, patriotischer Entsagung und Anhänglichkeit an das herrschende Geschlecht kann bei Asiaten kaum jemals die Rede sein.

So war auch die Empörung Jakub Khans gegen den Vater in den Ränken der Familie begründet. Als Schir Ali den Thron bestieg, war die Mutter des ältesten Sohnes, Jakub Khan’s, die Tochter eines Dschemschidenhäuptlings, in seiner besonderen Gunst, daher auch ihr Sohn überall in den Vordergrund trat. An so manchen harten Kämpfen seines Vaters rühmlich betheiligt, wurde er zum Thronfolger bestimmt. Später wechselte die Neigung des Emir. Von der brünetten Dschemschidentochter [290] wandte er sich zu einer Afghanin, die aber schon Mutter eines elfjährigen Sohnes, Namens Abdullah-Dschan, war. Diese zweite Favoritin, welche sich in unserm Bilde präsentirt, benutzte die Gunst ihres hohen Herrn dazu, daß derselbe ihren lieben Sohn, Abdullah-Dschan, dem bereits genannten Jakub vorzog und zum künftigen Herrscher proclamiren ließ.

Wie gewöhnlich zurückgesetzte Thronfolger, empörte sich Jakub Khan gegen seinen Vater, wurde von diesem besiegt, durch List nach Kabul berufen und in’s Gefängniß geworfen, aus dem er erst nach der Flucht des Vaters wieder frei wurde. Inzwischen ist auch der bevorzugte, aber unfähige Thronfolger, Abdullah-Dschan, gestorben, und der schlaue, entschlossene, thatkräftige und populäre Jakub Khan wieder in den Vordergrund getreten.

Charakteristisch für die afghanische Regierungsform ist die Unterhaltung des französischen Reisenden Ferrier mit Kohendil Khan, dem Herrscher von Kandahar und Bruder Dost Mohammed’s von Kabul. Der Khan, erzählt Ferrier, wurde plötzlich sehr ernst, denn ich sollte ihm das Geheimniß enthüllen, wie sich europäische Fürsten den Gehorsam ihrer Unterthanen ohne Zuflucht zu Gewaltmitteln zu erwerben wüßten. „Ich habe Güter eingezogen, die Bastonade, die Folter geben lassen, Köpfe abgeschlagen,“ rief der asiatische Monarch, „und dennoch haben die wilden Afghanen nie meinen Gesetzen gehorcht. In meinem Fürstenthum giebt es keinen Serdar – keinen! – meine Brüder, Söhne, Neffen nicht ausgenommen, der nicht mit Begierde mir die monarchische Gewalt aus der Hand ringen würde, wenn er Aussicht hätte, daß es gelänge. Hier ist Stärke das Recht, warum sollte es anders sein in Europa?“

Ferrier bemerkte, daß europäische Fürsten ihre Gewalt nicht für persönliche Zwecke gebrauchten, daß alle Regierungshandlungen vom Gesetz beherrscht und nur zum Wohle des Landes ersonnen würden.

„Aber,“ rief der Erstaunte, „was nützt die Gewalt, wenn sie nicht zu Reichthümern führt? Was ist das für eine Regierung ohne unbeschränkte Gewalt? Was ist ein König, der nicht nach Belieben einem Unterthanen die Bastonade geben und ihm den Kopf abschlagen kann?“

Das ist also die Physiognomie des Reiches, von dessen Willen einstweilen die Verhinderung eines englisch-russischen Zusammenstoßes in Mittelasien abhängt. Die Aufgabe Englands, das im Wesentlichen seine Annexionen nach dieser Seite abgeschlossen hat und nur gesicherte Grenzen anstrebt, liegt in einer Gewinnung der afghanischen Sympathien zu dem Zwecke, um die Russen fernzuhalten. Rußland auf der andern Seite kann nur die Absicht haben, Afghanistan gegen England immer auf’s Neue zum Conflict zu reizen, bis ihm das erschöpfte Land als reife Frucht in den Schooß fällt; dann unterliegt Britisch Indien bei dem hohen militärischen Werth des afghanischen Grenzgebirgs einer fortwährenden Bedrohung, welche über kurz oder lang den englischen Besitz Indiens in Frage stellen wird. Das macht das Bestreben Englands begreiflich, aus dem gegenwärtigen englisch-afghanischen Kampf den Besitz der Gebirgsgrenze herauszuschlagen.

Wir sehen mit Spannung dem einstigen Kampf zwischen Rußland und England entgegen. Dieser Kampf gleicht dem eines Elephanten mit einem Walfisch. Jeder dieser Staaten besitzt riesige Kräfte, aber jeder ist auch schwach, ja ohnmächtig, wenn er sein eigenes Terrain verläßt und das seines Gegners betritt. Jedenfalls trifft England im Bewußtsein seiner von Haus aus nicht eben günstigen Lage Vorbereitungen, welche seine Position günstiger zu gestalten geeignet sind. Es hat sich durch den letzten englisch-türkischen Vertrag nicht blos die freie Bahn zur südöstlichen Flankirung Rußlands eröffnet, es hält auch durch den Einfluß auf die Verwaltung von Anatolien und Armenien Persien im Zaum, kann englische Interessen am Euphrat und in Mesopotamien an dessen Grenze fördern und schützen, hat von beiden Seiten die Schlüssel zum Suezcanal in Händen und darf auf ein gutes Aufgebot von türkischen und ägyptischen Truppen rechnen, wo es nicht nöthig hat, englische zu verwenden. Die Lage der Dinge scheint hierdurch so geändert, daß Rußland in seinen durch Mittelasien gegen Indien gerichteten Operationen zum ersten Mal ernstlich gelähmt ist.
J. Loewenberg.




Allerlei Thiere.
Eine Plauderei von Heinrich Seidel.

Die kleinen Geschichten, welche ich hier erzählen will, haben sich nebst einer Reihe ähnlicher in meiner Familie zugetragen und verdanken ihren Ursprung der Liebhaberei für allerlei Gethier, welche, ein durchgehender Zug in meiner Familie, in meinem jüngeren Bruder Hermann zum besonderen Ausdruck gelangt ist. Da nun wohl selten ein Lieblingsthier anders als auf eine unnatürliche Weise zu Grunde geht, so hätte ich hier eine ganze Reihe von tragischen Ereignissen schildern können. Ich ziehe vor, bei nachstehender Auswahl Trauriges und Heiteres in anmuthigem Wechsel zu mischen.

Auf eine merkwürdige und noch immer nicht ganz aufgeklärte Weise kam eine weiße Maus zu Tode, welche mein jüngster Bruder Paul in seiner Kindheit zärtlich pflegte. Das hübsche Thier war äußerst zahm und wohnte in einem kleinen Holzkasten mit Drahtgitter, der auf dem geräumigen Schreibtisch meiner Brüder stand. Dieser Käfig war nie verschlossen und das zierliche Geschöpf lief den ganzen Tag auf dem Schreibtisch zwischen den Büchern herum, ohne jemals daran zu denken, seine Excursionen weiter auszudehnen. Eines Tages wurde eine wilde schwarze Maus gefangen und trotz des Protestes meiner Mutter dem kleinen weißen Prinzen zugesellt. Die Thierchen schienen sich gut zu vertragen, allein am andern Morgen war ein Loch in den Käfig genagt und die schwarze Maus verschwunden. Seit dieser Zeit war die weiße ganz verwandelt. Zwar von ihrer Zahmheit hatte sie nichts eingebüßt; sie duckte sich wie immer geduldig zusammen und stieß ein zartes Warnungsquietschen aus, wenn man sie in die Hand nehmen wollte, allein eine starke Unruhe hatte sich ihrer bemächtigt; sie lief auf dem Tische schnüffelnd und suchend umher und probirte mehrfach über den Rand in die Tiefe zu gelangen. Eines Tages war sie verschwunden, jedoch nicht lange. Einige Zeit, nachdem ihre Abwesenheit bemerkt war, entstand ein erbärmlicher Lärm unter dem Fußboden des Zimmers, ein Gequietsch und Gerappel, welches die Mäuse bei Erledigung ihrer Familienzwistigkeiten anzuwenden pflegen, erhob sich, und plötzlich kam aus dem Mauseloch hinter dem Ofen die weiße Maus in großer Angst hervorgestürzt. Sie war offenbar herausgeworfen worden.

Einige Tage hielt sie sich nun ruhig auf ihrem Tische, jedoch der Friede ihres Gemüths war gestört. Meine Schwester behauptete, die Maus säße jeden Nachmittag am Rande des Tisches auf Zumpt’s Grammatik und seufze – die rothen Augen sehnsüchtig auf das Mauseloch gerichtet. Und es kam eine Zeit, wo die Sehnsucht die Vorsicht überwog, und wo sie wiederum verschwunden war. Aber diesmal erhob sich ein Lärm, noch viel entsetzlicher als das erste Mal, und am Ende kam das Thierchen mühsam aus dem Mauseloch hervor und blieb erschöpft auf dem Fußboden liegen. In seinem rosigen Schnäuzchen hatte es einen Biß und auf dem weißen Sammetfell standen rothe Blutflecke. Man legte es in eine Schachtel aus Watte und flößte ihm Milch ein. Am andern Morgen lebte es noch, aber gegen Mittag ward es matter und matter, reckte sich noch einmal und verschied; mein Bruder sagte, an seinen Wunden, meine Schwester aber behauptete, an gebrochenem Herzen.

In seiner Sterbeschachtel ward der weiße Prinz im Garten feierlich begraben, und mein Bruder errichtete auf seinem Grabe ein Denkmal mit der Inschrift: „Hier ruhet tief betrauert von Paul Seidel seine weiße Maus.“

Später hatte mein Bruder Hermann einen Thurmfalken aufgezogen. Das Thier führte den Namen Hanne, war außerordentlich zahm und flog frei umher. Wenn mein Bruder ihn rief, schwang Hanne sich von einem benachbarten Dache oder aus der hohen Luft herab und setzte sich auf seine Hand. Eines Tages half aber alles Rufen und Locken nicht; der Vogel kam nicht, und man glaubte schon, er habe das Weite gesucht, als plötzlich acht [291] Tage später Paul ihn auf dem Hofe eines kleinen von Arbeitsleuten bewohnten Nebenhauses schreien hörte. Er stürzte sofort zu Hermann, und Beide begaben sich spornstreichs in das Nebenhaus. Auf dem Hofe war die ganze Familie um Hanne versammelt, und der Hausvater fütterte den schreienden, offenbar sehr hungrigen Vogel mit Fleisch. Hermann ging gerade auf die Gruppe zu, und nun entspann sich folgendes dramatische Zwiegespräch.

„Dat’s min,“ sagte mein Bruder, indem er auf Hanne deutete, der, als er meinen Bruder erblickte, im höchsten Grade aufgeregt wurde und mit den schmählich verstümmelten Flügeln schlug. Der Arbeitsmann sah meinen Bruder mit pfiffigem Grinsen von der Seite an.

„Dat gift vel so’n Vagels,“ sagte er.

„Denn faten’s em doch mal an!“ erwiderte mein Bruder. Nun hätte man aber Hanne sehen sollen, wie er laut schreiend mit den Flügeln schlug und mit Schnabel und Klauen die Hand des Arbeitsmannes von sich abwehrte. Hermann sah mit stiller Ueberlegenheit diesem Kampfe zu; endlich streckte er dem Vogel die Faust hin und sprach:

„Hanne, kumm!“

Hopp, da saß er. Triumphirend hielt mein Bruder dem verblüfften Mann das Thier unter die Nase:

„Wat seggen’s nu?!“

„Je, denn ward dat doch wol Ehr Vagel sin,“ meinte er kleinlaut, und die beiden Brüder zogen im Triumph mit dem Wiedergefundenen nach Hause.

Ein dritter meiner Brüder, welcher Capitain eines Hamburg-Amerikanischen Dampfers ist, brachte eines Tages einen Waschbär mit, ein drolliges Thier, welches außerordentlich zahm wurde, an welchem aber wieder das Merkwürdigste sein sonderbares und tragisches Ende ist.

Er hatte eines Tages seine Kette abgestreift und sich, der ungewohnten Freiheit froh, auf die Wanderschaft begeben. Verschiedene Gärten hatte er schon durchmessen, ungesehen und unbelästigt, als ihn sein Forschungstrieb endlich in den Garten der Bürgerressource führte. Hier war er eben im Begriff, in den großen Tanzsaal, dessen Thür geöffnet war, einzutreten, als ihn das Schicksal ereilte und er gefaßt wurde. Man brachte das seltsame und unbekannte Geschöpf zu dem nächsten Thierverständigen der Gegend, zu einem Schlächtermeister. Dieser befühlte es und fand, daß es fett war, und da er bemerkte, daß von ihm etwas Besonderes in dieser Sache erwartet wurde, so folgte er dem Instinct seines Berufes und erklärte, er könne in dieser Angelegenheit nichts weiter thun, als dieses ungebräuchliche Thier kunstgerecht zu schlachten. Worauf es auf den Block gelegt und abgestochen wurde. Mein Bruder kam eben nur noch zur rechten Zeit, um das Fell für sich zu retten.

Ein andermal hatte er drei kleine Eichhörnchen, so jung, daß sie noch auf’s Saugen angewiesen waren. Es wurde eine Säugeflasche construirt mit einer Federpose als Mundstück, allein die Thiere glaubten nicht an diese Vorrichtung und drehten mit muffigem Gesichtsausdrucke die Köpfe weg, wenn ihnen diese Flasche dargeboten wurde. „Aha,“ sagte mein Bruder, „ihr seid gewohnt, im Dunkeln zu trinken.“ Als ich an demselben Tage in sein Zimmer kam, war ich verwundert, nur die hinteren Theile seines Leibes zu bemerken, welche aus seinem Bette hervorragten; der Oberkörper war ganz und gar unter dem Kissen verschwunden.

„Hermann, was machst Du da?“ fragte ich verwundert. Mit dumpfer, von Bettfedern halb erstickter Stimme gab er die vergnügte Antwort.

„Ich säuge meine Jungen!“

Er war mit der ganzen Eichhörnchengesellschaft unter die Bettdecke gekrochen, und dort in dem warmen Dunkel, wo sie sich zu Hause fühlten, glaubten sie an Alles.

Ein Wagenfabrikant in der Stadt besaß einen Affen, welchen sein Sohn, ein Seemann, mitgebracht hatte. Dieser Affe wurde sehr oft verschenkt; er kam aber immer wieder, weil die Besitzer bald seiner müde wurden und ihn zurückbrachten. Auf den Besitz dieses Affen hatte Hermann schon lange seine Wünsche gerichtet, und als er eines Tages hörte, daß das Thier wieder einmal zu Hause sei, ging er zu dem Wagenfabrikanten und trug ihm sein Anliegen vor.

„Sei känen em girn krigen, Herr Seidel,“ sagte dieser. „Und wenn sei em nich mihr hebben willen, denn schicken’s em man na minen Swigersähn, Herrn Afkat Wulf; de hett segt, hei wull em nehmen.“

Der Affe wurde in der Thür des stets geöffneten Torfstalles angekettet und erhielt eine alte wollene Decke, in welcher er sich des Nachts einwickelte. Meinen Bruder liebte er alsbald zärtlich, allein mit den übrigen Bewohnern des Hauses hat er sich nie befreundet. Obgleich er nur kurze Zeit sich bei uns aufhielt, sind seine Thaten doch unzählige. Meine Mutter war eines Tages auf dem Hofe beschäftigt, Hauben gestickte Tücher und ähnliches zartes Waschwerk selber zum Trocknen an die Leine zu hängen, und als sie nun nach der gethanen Arbeit sich umsah, um sich wohlgefällig des vollendeten Werkes zu freuen, da war die Leine leer, denn der Affe, in dessen Bereich diese Wäsche aufgehängt wurde, hatte alle Stücke hinter ihrem Rücken leise heruntergezupft und neben einander säuberlich in dem schmutzigen Rinnsteine wieder ausgebreitet.

Ganz besonders haßte das Thier unser Mädchen, welches seinerseits eine große Furcht vor ihm hatte. Er suchte sie fortwährend durch grinsendes Fletschen der Zähne und durch plötzliche Angriffe aus dem Hinterhalt zu ängstigen, sodaß sie nur mit Furcht und Zittern in den Stall ging, um Torf zu holen. Einmal hatte er sie dermaßen bei dieser Gelegenheit in’s Bein gebissen, daß sie nicht mehr dazu bewogen werden konnte, diesen Stall zu betreten. Der Affe wurde in Folge dessen eine Treppe höher in der Bodenluke angekettet, wo er von nun ab sein Wesen trieb und die Menschheit von oben verachtete.

Eines Tages hörte mein Bruder ein erbärmliches Hülfegeschrei auf dem Hofe, und als er hinab eilte, fand er unser Mädchen in einer tragikomischen Situation. Sie hatte unter der Bodenluke Wäsche aufgehängt, ahnungslos und keines Ueberfalles gewärtig. Der Affe hatte sie anfangs von oben beobachtet; dann war er leise an seiner Kette hinabgeklettert, die mit einem Riemen um den Unterleib befestigt war, hatte sich daran hinabhängen lassen und vermöge seiner Fähigkeit, wenn es eine Bosheit galt, sich regenwurmartig zu verlängern, war es ihm geglückt, das spärliche Haargeflecht des Mädchens zu ergreifen und nun war er beschäftigt, mit einem Ausdruck teuflischer Befriedigung das arme wehrlose Geschöpf zu zausen und zu zerren, bis endlich mein Bruder Erlösung brachte.

Eine besondere Fertigkeit besaß er darin, sich seiner Kette trotz aller Vorsichtsmaßregeln zu entledigen, um seine Freiheit dann zur Ausübung der wildesten und verwerflichsten Thaten zu mißbrauchen. Er wurde weit von unserer Wohnung in fremden Betten vorgefunden, aus welchen er, als man sich ihm näherte, entfloh; er stieg in alle Fenster ein, welche er offen fand, und stiftete unsägliches Unheil; er verdarb die Jugend, ärgerte das Alter und versuchte Aufruhr und Rebellion. Endlich, nachdem er durch seinen Unfug einen ganzen friedlichen Stadttheil in Empörung versetzt, einen Straßenauflauf verursacht und die löblichen Organe der Sicherheitsbehörden von den Dächern herab verhöhnt hatte, erhielt meine Mutter ein Schreiben von der Polizei, durch welches sie „wegen unbefugten Umherlaufenlassens wilder Thiere“ in zwei Thaler Strafe genommen wurde. Dies gab dem Affen den Rest, und mein Bruder erhielt strengen Befehl, das Thier augenblicklich abzuschaffen. Er erinnerte sich der letzten Worte des Wagenfabrikanten und beauftragte einen Dienstmann, den Affen mit einer Empfehlung von ihm bei dem Advocaten Wulf abzuliefern.

„Ne, ik fat em nich an,“ sagte dieser, „hei bitt (er beißt).“

Der Affe wurde in einen Sack gesteckt und sollte nun dem Dienstmann übergeben werden.

„Ne,“ hieß es wieder, „so fat ik em noch nich an; hei bitt.“

Der Dienstmann mußte eine Karre holen, und nun fuhr er den Affen, der in seinem Sack die wahnsinnigsten turnerischen Evolutionen vollführte, davon. Auf dem Hofe des Advocaten stülpte er die Karre um und sagte:

„Ne Empfehlung von Herr Seidel, un hier wir de Ap!“

Herr Wulf, der ebenfalls ein Thierfreud war und sich viele Hühner und zwei prachtvolle Pfauen hielt, beging die Thorheit, den Affen auf einer Mauer seines Hofes anzuketten, welche seinen Pfauen zum Lieblingssitz diente. Eine Stunde später hatte er diese beiden prachtvollen Thiere des herrlichen Zierraths, ihrer [292] Schweife, bis auf die letzte Feder beraubt. Das Maß war voll. Der Affe wurde in einen vergitterten Kasten gesperrt und nach Dömitz geschickt, woselbst ein Liebhaber sich ebenfalls zu ihm gemeldet hatte. Dömitz ist die einzige Festung des Landes, und so darf man wohl annehmen, daß er zur Strafe für seine unzähligen Schandthaten sein verbrecherisches Leben auf der Festung beschlossen hat, denn seitdem hat man niemals wieder von ihm gehört, und seine Spur ist verloren gegangen.



Blätter und Blüthen.


H. W. Dove. Ein Mann von den glänzendsten Verdiensten um die verschiedensten Zweige der physikalischen Wissenschaft, von strahlendem Ruhme in allen civilisirten Ländern der Erde und in allen Meeren, in denen Seefahrer verkehren, Heinrich Wilhelm Dove ist am 4. April dieses Jahres in Berlin im sechsundsiebenzigsten Altersjahre nach längerem Leiden aus dem Leben geschieden. (Vgl. sein Portrait, Jahrg. 1878, S. 295.)

Nationales Vorurtheil liebt es, den persönlichen Ruhm ausgezeichneter Männer der Wissenschaft auf die ganze Nation zu übertragen. Ist das auch ein patriotischer Irrthum – denn die großen Geister, welche die Wissenschaft ersinnen und ausbilden, sind weder auf bestimmte Geschlechter, noch Nationen beschränkt – so gereicht es doch der Nation zum Ruhme, wenn sie es verstanden hat und versteht, die großen Männer, die in ihr geboren wurden und in ihr gelebt und gewirkt haben, zu würdigen und sich den Schatz ihres Forschens und Wissens zu eigen zu machen. Es gereicht der Nation zum Ruhme, wenn in dem Bewußtsein des Volkes die Erkenntniß sich belebt und fortwirkt, daß die Verehrung der Wissenschaft und die Würdigung ihrer Träger die Grundbedingung einer Weiterpflege der Wissenschaft in der Nation ist. Gehört auch, was Dove geleistet hat, der ganzen civilisirten Welt an, so darf doch unser Volk um so mehr stolz auf den Ruhm sein, daß dieser Mann im deutschen Vaterlande gelebt und gewirkt hat und daß bei seinem Heimgang der Ausdruck der Verehrung in aller Welt nachhallt.

H. W. Dove wurde 1803 zu Liegnitz geboren, besuchte die dortige Ritterakademie, studirte auf den Universitäten Breslau und Berlin mathematische und physikalische Wissenschaft und habilitirte sich, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, in Königsberg als Privatdocent der letztgenannten Disciplin. Sein vorzügliches Lehrtalent, in Vortrag und Experiment, brachte ihn schon 1829 als außerordentlichen Professor nach Berlin. Hier fingen damals, seit der Heimkehr Alexander von Humboldt’s aus Paris, die „heitern Saturnalien der tollsten Naturphilosophen“ Hegel-Schelling’scher Schule an zu verstummen und die neue Aera der exacten naturwissenschaftlichen Studien in Deutschland begann. Humboldt sammelte einen ganzen Generalstab jugendlicher Naturforscher um sich, und Dove gehörte zu einem der Ersten in demselben.

Sein Lehramt war ausgedehnt wie selten eins. Er lehrte an der Universität, an Gymnasien, an der Kriegsakademie und, wenn wir nicht irren, zu Zeiten auch an anderen Instituten. Sein Lehrtalent war ganz eminent; unterstützt durch lebendige Auffassung, sprach er in klarer und frischer Darstellung und mit wohlwollendem Humor. Im Experimentiren war er ungemein geschickt; viele dabei gebrauchte Apparate waren seine Erfindung und sind Zierde und unentbehrliches Geräth jeder guten physikalischen Sammlung, jedes Laboratoriums geworden. Die vielen Tausende seiner Schüler gehörten nicht blos der akademischen Jugend, sondern auch den militärischen Kreisen und den bürgerlichen Berufsclassen an; sie stammten nicht blos aus allen Theilen des Vaterlandes, sondern zum Theil von weit über den Grenzen desselben und den Ländern jenseits des Weltmeeres. Dove’s physikalische und namentlich meteorologische Vorlesungen waren eine berühmte, weither gesuchte Specialität der Berliner Hochschule.

In den einzelnen Zweigen der Wissenschaft, in der Metronomie, Akustik, Optik, Farbenlehre, sowie der Lehre von der Elektricität und dem Magnetismus verdankt man ihm zahlreiche Beobachtungen und Fortschritte. Eine feine Beobachtungsgabe und eine geschickte Anwendung derselben zeichnen fast alle seine Specialarbeiten in diesen Fächern aus.

Vor Allem aber verdankt die Meteorologie ihm ihre bisherige Entwickelung. Seit Dove mit der Doctordissertation „De Barometri mutationibus“ promovirte, berechnete er unermüdlich die barometrische, thermische und die atmische Windrose, erklärte er den Zusammenhang des Drucks, der Wärme und der Feuchtigkeit der Luft mit der Windrichtung in den verschiedenen Jahreszeiten und ist durch diese Arbeiten gewissermaßen der Begründer zweier neuer Wissenschaften geworden der Meteorologie und der Klimatologie.

Dove’s „Drehungsgesetz“, eine Darlegung über die Drehung der Winde, ist mit Recht für die Erklärung und Berechnung der mannigfachsten complicirtesten Erscheinungen innerhalb der Atmosphäre maßgebend geworden. Immerhin geistvoll entwickelte er, daß die Witterungserscheinungen in unserer norddeutschen, dem Spiel aller Winde geöffneten Ebene vorzugsweise durch zwei mit einander wechselnde Luftströme erzeugt würde, durch einen Polar- und einen Aequatorialstrom.

Die Orkane, die in winterlichen Tagen über Europa einherziehen, lehrte Dove als tropische Gäste kennen; er wies ihre Wirbelnatur nach, führte Sturmwarnungen längs der heimischen Küste ein und faßte alles von Seefahrern und Physikern gesammelte Material in seinem berühmtesten Werke „Das Gesetz der Stürme“ in so umfassender und instructiver Weise zusammen daß der in der chinesischen See vom Typhon bedrohte Seefahrer nach seiner Vorschrift steuert, um dem Verderben zu entgehen.

Der Meteorologie steht die Klimatologie am nächsten, die Lehre von der Vertheilung der Wärme an der Oberfläche der Erde. Humboldt’s Methode, diese Vertheilung graphisch darzustellen, führte Dove in seinen Monatsisothermen und Normalen auf das Fruchtbarste weiter aus. Seinem rastlosen Eifer gelang es, ganz Deutschland mit einem Netz meteorologischer Stationen zu überziehen. Er organisirte, feldherrnähnlich, ein getreues Heer von Beobachtern, welche von den Alpen bis zum Kurische Haff, von der Saar bis zur Schneekoppe die meteorologischen und klimatologischen Erscheinungen nach seiner Angabe gleichzeitig mit gleichartigen, von ihm geprüften und verglichenen Instrumenten registrirt haben. Und wie auch dieser Zweig menschlicher Kenntniß sich gestalten möge, Dove hat ihm fundamentale Grundlagen gegeben, auf welche die deutsche Wissenschaft immer stolz sein darf.

Dove hat kein Lehrbuch der Physik, keins der Meteorologie geschrieben. Auch seine Vorträge hat er nicht veröffentlicht; daher blieb denn auch die Beliebtheit, deren er sich bei seinen Schülern während seines langen Lebens erfreut hat, immer unauflöslich an seine Person gebunden. Auch von seinen in Vereinen gehaltenen populären Vorträgen ist bis auf den einen Vortrag „Ueber Wirkungen aus der Ferne“ nichts in Druck erschienen. Nur in den Jahresberichten der Berliner polytechnischen Gesellschaft finden sich von den Vorträgen, die Dove hier in Wintersemestern gehalten hat, mehrere freilich sehr gedrängte stenographische Nachschriften. – Seine übrigen größeren und kleineren Schriften, seine einzelnen Abhandlungen in den Schriften der Akademien und in Journalen sind rein fachwissenschaftlichen Inhalts; ihre Zahl ist übergroß, und ihre Titel allein würden einen mehrere Bogen starken Katalog füllen.

Dove hat die gleichaltrigen Genossen seines Jugend- und Mannesstrebens um Jahrzehnte überlebt. Mitscherlich, die beiden Rose, Magnus, Moser, Poggendorff, Adolf Erman und verschiedene Andere, sie sind ihm alle früh vorangegangen. Er war der letzte jener jugendlichen auserwählten Schaar, die wir als den jungen Generalstab Alexander von Humboldt’s um das Jahr 1830 bezeichneten. Ein Schlaganfall, der ihn im Jahre 1872 traf, hatte seine Gesundheit erschüttert. Aber er erholte sich wieder und nahm seine Amtspflichten von neuem auf; erst, nachdem er 1876 seine fünfzigjährige Lehrtätigkeit abgeschlossen, gönnte er sich die dringend nöthig gewordene Ruhe, geehrt mit den höchsten äußeren Zeichen wissenschaftlichen Verdienstes und Ruhmes, mit den höchsten Titeln und Würden der gefeiertsten Akademien, der gelehrten Institute und des akademischen Amtes.

Dove’s Heimgang am 4. April war die Erlösung eines schon seit geraumer Zeit verlöschenden Geistes. Der Lebenskitt seines Körpers war mürbe und bröcklich geworden. So ist er nach langer fruchtreicher Arbeit von hinnen geschieden, aber ein ruhm- und verehrungsvolles Andenken wird fort und fort allüberall seinem Namen und seinen Arbeiten dankbar geweiht bleiben.
Julius von Strzelno.




Eine neue Riesenblume. Der italienische Botaniker Odoardo Beccari, welcher jüngst von seinen Forschungsreisen in Ostindien und Neu-Guinea heimgekehrt ist, hat aus Sumatra eine Riesenblume entdeckt, die selbst ihrer 1818 aufgefundenen riesigen Landsmännin, der Rafflesia Arnoldi, die bisher als die kolossalste Blume der Welt galt, die Palme streitig macht. Sie gehört der Familie des in unseren Wäldern vorkommenden Aronstabes, den Aroideen an, und ihre Blüthe kann man sich am besten vorstellen, wenn man sich diejenige unserer bekannten Fensterpflanze, der äthiopischen Calla, in’s Titanenhafte vergrößert denkt. Aus einer Riesenknolle von nahezu anderthalb Metern Umfang wächst ein einziges dreigetheiltes Blatt hervor, dessen dicht weißgefleckter Stiel an der Basis einen Umfang von neunzig Centimeter hat, und welches eine Fläche von fünfzehn Metern im Umfange bedeckt. Die Blüthendüte, welche einen Durchmesser von dreiundachtzig Centimeter besitzt, ist aber nicht weiß und glatt, wie bei der Calla, sondern außen grünlich und innen, namentlich am obern gezähnelten Rande, dunkel purpurroth; sie bildet einen Trichter von siebenzig Centimeter Tiefe, dessen Wandung gefältelt ist. Aus dieser Blüthe erhebt sich der mehr als anderthalb Meter lange Fruchtkolben, der nur an seinem untersten Theile mit den lebhaft rothen Früchten besetzt ist. Die ganze Pflanze ist in allen ihren Theilen so kolossal, daß nach dem Ausgraben der Knolle zwei Mann nöthig waren, um sie von der Stelle zu schaffen.

Die obengenannte Nebenbuhlerin der Wälder Sumatras, welche die Namen ihrer beiden Entdecker, des Gouverneurs Sir Raffles und des Dr. Arnold, trägt, kann bei einem Durchmesser von neunzig Cubikmeter doch nicht mit ihr concurriren weil sie ohne Stengel auf fremden Wurzeln schmarotzt und mehr einem Pilze als einer Blume gleicht, auch ebenso vergänglich ist wie die Pilze; man hat daher auch niemals Versuche gemacht, sie zu cultiviren. Dagegen bemüht sich der Marquis Salviati, die neue Riesenpflanze, welche den Namen Amorphophallus Titanum erhalten hat, in seinen Gewächshäusern bei Florenz aus den mitgebrachten Samen zu ziehen und vielleicht werden wir daher bald das Vergnügen haben, den merkwürdigsten Repräsentanten der Riesenblumen Sumatras in unseren Floratempeln bewundern, zu können und uns dabei freudig zu erinnern, daß die Wunder der Natur immer noch nicht so erforscht sind, um nicht mit neuen Ueberraschungen die Anstrengungen der Reisenden zu lohnen. Erstaunlich bleibt es freilich immer, daß solch ein vegetabilisches Ungetüm sich so lange hat ihren Blicken entziehen können.




Berichtigung. In unserem Artikel über die Uhrenfabrikation von Glashütte (Nr. 13) wolle man in der ersten Spalte, vierzehnte Zeile von oben lesen: vier Jahre in Paris (statt: ein Jahr), und auf der zweiten Spalte Seite 222, neunte Zeile von oben: 1200 (statt 12,000) Uhren.