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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[737]
Lumpenmüllers Lieschen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Blanka schüttelte den Kopf. „Weißt Du, Vetter, hier scheint noch ganz die alte Luft zu wehen, die sich draußen in der Welt immer mehr und mehr verflüchtigt. O – ein Brief!“ unterbrach sie sich und nahm eilig das zierliche, quadratförmige Couvert von dem Teller, welchen der alte Heinrich ihr hinhielt, um sich dann ebenso leichten Schrittes wieder zu entfernen, wie er gekommen war. „Von Leonie,“ sagte sie halblaut, indem sie das Papier auseinander riß. Eine dunkle Röthe überzog einen Augenblick ihr Gesicht, das gleich darauf wieder bleich wurde, so bleich wie das Gewand, welches sie trug; das Papier flog bebend auf und ab in den kleinen zitternden Händen – dann lachte sie auf, gellend unheimlich, daß der junge Officier erschrak. „Das ist lustig!“ rief sie und ballte den Brief zusammen, „da kommt eben noch ein Beweis für das, was ich Dir vorhin sagte; siehst Du, Army, so exclusiv denkt die Welt nicht mehr wie Deine Frau Großmama, – da schreibt mir eben Leonie von Hammerstein, daß sich Graf Seebach verlobt habe mit einem Fräulein So und So, der Tochter eines Oberförsters, und das aus rasender Leidenschaft, aus Liebe, wie Leonie sich ausdrückt, – hörst Du, Army? aus Liebe!“ Sie lachte, und dabei sprühten die schwarzen Augen ein wildes Feuer und die kleinen Hände zerrissen das Papier in tausend Stückchen.

„Wie? Graf Seebach, mit dem Du im vorigen Winter so oft getanzt hast?“ fragte Army, „der Dich mit Blumen förmlich überschüttete?“ Er sprach es hastig und heftete den Blick forschend auf die erregten Züge seiner Cousine.

„Hat er mit mir getanzt? Ich erinnere mich kaum noch,“ erwiderte sie leichthin und schaute in das üppige grüne Blättermeer der Bäume und Sträucher; ihre feinen Nasensflügel bebten nervös. „Ja, die Welt schreitet fort, – daß ein so stolzer Mann wie Seebach, ein Mann, der vor einiger Zeit erst von seinem fleckenlos bewahrten Stammbaume sprach, daß dieser aus Liebe – ha, ha, Army, nicht wahr, das ist lächerlich? – aus Liebe ein bürgerliches Mädchen zu seiner Gemahlin erhebt!“ Sie schüttelte heftig den Kopf, und wieder klang das unnatürliche, krampfhafte Lachen von ihren Lippen. Dann erhob sie sich plötzlich; der zierliche Elfenbeinfächer an dem silbernen Kettchen flog klappend gegen den massiven Tisch – so eilig wandte sie sich um: „Ich bin fabelhaft müde geworden,“ setzte sie hinzu und legte die schmale Hand über die Augen, als ob sie der grelle Sonnenschein blende, „ich bin nicht gewohnt, so lange in freier Luft zu bleiben, und werde etwas ruhen müssen, damit ich zu Tische wieder frisch bin. Adio, Cousin!“

Sie nickte ihm zu, indem sie seine Begleitung mit einer Handbewegung ablehnte, und schritt über den Platz. Es war, als schwebe die leichte Gestalt auf verborgenen Flügeln dahin, als müsse jeden Augenblick der goldene Schleier, der von dem kleinen Kopfe herabwehte, sich auseinander breiten und sie empor tragen: so leicht, so luftig war das ganze wundervolle Gebild. An der Pforte des Thurms wandte sie sich noch einmal um, und Army hörte ein silberhelles Lachen herüber schallen. Wie verschieden von jenem gereizten, krampfhaften Gelächter das klang, welches er eben gehört! Sie war doch ein räthselhaftes Geschöpf. Wann würde er das Recht haben, dieses Räthsel zu lösen?

Zum Mittagstische erschien die junge Dame in strahlender Toilette. Der blaßgrüne Seidenstoff schimmerte zart durch das weiße Mullgewebe des Oberkleides; das wundervolle Haar war mit einem Kamm aus Elfenbein am Hinterkopfe befestigt, und das feine Handgelenk umspannte ein breiter mattgoldener Reifen, aus dem ein prächtiger Smaragd funkelte. Das Gesicht zeigte keine Spur mehr von jener apathischen Ruhe, die es heute Morgen so kalt und gelangweilt erscheinen ließ; Blanka hatte ein liebenswürdiges Lächeln für Alle, und die alte Baronin sandte einen zärtlichen Blick noch dem andern zu dem jungen Paare, das ihr gegenüber Platz genommen. Das kühle Speisezimmer hatte wohl seit langer Zeit kein so fröhliches Gläserklingen gehört, und Heinrich ebenso lange keinen jener festverwahrten Pfropfen aus den silberhalsigen Flaschen geöffnet, deren Inhalt die alte Baronin so sehr liebte.

Heute moussirte er nun wieder, der perlende Wein, in den spitzen Kelchen, und Heinrich trug mit gewohnter Grandezza die verschiedenen Gänge und ließ sein kluges Auge über die kleine Tischgesellschaft schweifen und über das schöne Mädchen an der Seite seines jungen Herrn, von der ihm die fremde Kammerjungfer erzählt hatte, daß sie ganz gewiß und wahrhaftig einmal unmenschlich reich sein werde und daß sie so viele Freier habe, wie Finger an den Händen. Die alte Sanna aber strahlte vor Freude, denn ihre Herrin hatte ihr wiederholt zu verstehen gegeben, um was es sich handle, und sie sah nun für ihre Baronin wieder glänzende Tage kommen. Das fröhliche Lachen der jungen Dame mit dem goldig schimmernden Köpfchen dort tönte glückverheißend in dem hohen Gemache wider, und dem jungen Officier an ihrer Seite, dem pochte das Herz ungestüm, wenn sie ihn so strahlend ansah oder ihr duftiger Athem ihn streifte.

Nelly aber, die kleine Nelly, was hatte sie nur? Sie, die sonst so willenlos dem Bruder gehorchte, ihm in Allem Recht gab, [738] was er sagte und that, bereit war den leisesten Wunsch von seinen Augen zu lesen, sie brachte heute der Cousine ein so gleichgültiges Wesen entgegen, schien so wenig Theilnahme zu haben für Alles, was um sie vorging, daß es beinahe an Unart streifte. Ihr rother Mund, der sich so gern zum herzlichen Lachen öffnete, blieb heute streng geschlossen, und ihre Augen streiften nur mitunter scheu die glücklichen Züge ihres Bruders, der so unerschöpflich in Aufmerksamkeiten war für seine Nachbarin. Vor ihren Augen tauchte immer und immer wieder ein erblaßtes Gesichtchen mit ein paar großen Thränen in den blauen Augen auf: was hatten sie nur dem Lieschen gethan, ihrem Lieschen? Nein, sie mußte erst hin zu ihr – und sie sollte es sagen, wer sie beleidigt. – –

Es war völlig dunkel geworden, als Nelly einige Stunden darauf aus Lieschen’s Stübchen trat, wo sie in der Dämmerung mit der Freundin geplaudert hatte.

„Es ist nichts, Nelly,“ versicherte Lieschen einmal über das andere mit ihrer weichen Stimme, „es war recht kindisch von mir, daß ich etwas übel nahm, was gar nicht der Rede werth ist, und nun komm, ich werde Dich begleiten.“

Und so schritten sie denn über den Mühlensteg und in dem tiefen Dunkel der Bäume den alten bekannten Weg entlang. Es war ein warmer Abend; kein Lüftchen regte sich am fernen Horizont lag unheimlich eine dunkle Wolkenschicht, schwaches Wetterleuchten zuckte von Zeit zu Zeit auf und warf ein falbes Streiflicht auf die Gegend; die Nachtigallen schlugen in allen Gebüschen, und aus der Ferne ertönte der Gesang junger Burschen, die ihre Festlust so recht aus voller Seele hinausjubelten.

„Ich weiß nicht, wie mir ist,“ begann Lieschen und athmete tief, „als ob ich ersticken müßte! Wie ist die Luft heute so schwer und dumpf! Ich glaube, die Muhme hat Recht – es kommt ein Gewitter.“

Nelly nickte.

„Meine Mutter klagt auch, daß sie gar nicht athmen kann,“ fuhr Lieschen fort; „weißt Du, Nelly, mir ist Pfingsten noch nie so traurig vorgekommen wie diesmal, und es ist doch Alles so wie sonst gewesen. Wenn nur nichts Schlimmes passirt, falls das Wetter doch kommt!“

So waren sie bis zur Parkthür gelangt, mechanisch gingen sie noch weiter in den dunklen Lindenweg, der Duft des Flieders und Faulbaums drang ihnen fast betäubend entgegen, und Lieschen griff mit der kleinen Hand an die schmerzende Schläfe – auf einmal fühlte sie einen leichten Druck auf dem Arm, und Nelly blieb stehen.

„Lieschen, ich bitte Dich,“ bat sie, „war das nicht Blanka’s Stimme?“

Es war ein Weilchen Alles ruhig und still; dann kamen ihnen Schritte entgegen; das Rauschen eines Kleides begleitete sie, und nun drang durch die Stille eine süße klare Stimme herüber:

„Army, mein lieber, lieber Army!“

Wie berückend das klang! Dem jungen Mädchen dort unten war zu Muthe, als bohrte sich ein spitzes Messer in ihre Brust; unwillkürlich preßte sie die Hand auf’s Herz. Und jetzt ein Flüstern: das war seine Stimme, – wie gut, daß sie nicht vernahm, was er sagte! Wäre sie doch nicht mitgegangen!

Das Rauschen des Kleides und die langsamen Tritte kamen näher; sie ließ die Hand der Freundin los und flüchtete hinter den dicken Stamm einer Linde, und doch beugte sie sich vor, und da – da leuchtete ein greller Schein am Himmel auf und zeigte ihr eine hohe, edle Männergestalt, und in seinem Arm hing, wie eine Elfe so zart und licht, die schöne Cousine mit den rothgoldnen Haaren; sie hatte den Kopf zurückgebogen und er beugte sich zu ihr hernieder und küßte sie. Es war nur ein Moment, aber er reichte hin, um den zwei bangen blauen Mädchenaugen Alles zu verrathen; sie legte den Kopf an den Stamm des alten Baumes und schloß die Augen in heißem, nie gekanntem Schmerz. Nelly aber schrie gellend auf: „Army! Army!“ – wie anklagend, wie warnend tönte es. Und dann antwortete er, und so lustig klang die Stimme: „Schwesterchen, wo bist Du denn? So komm doch, sieh nur, was ich gefunden! Komm her – Du sollst voraus laufen und der Großmama sagen, daß das Glück nun wirklich eingekehrt ist, daß Blanka mein geworden!“ Und da flammte es wieder auf im grellen Schein durch die Bäume und beleuchtete eine schlanke Mädchengestalt, welche die Allee hinab heimwärts floh.

Vor dem Brautpaare stand die kleine Nelly und sah mit bangen, großen Blicken zu dem Bruder auf, und als der Schein erloschen, da rang sich ein heißes Schluchzen aus ihrer Brust und mit gesenktem Kopfe schritt sie zum Schloß, um der Mutter zu sagen, daß die Blanka und der Army – ihr lieber, guter Army – Braut und Bräutigam geworden seien. – –

Die Muhme aber saß auf der Sandsteinbank vor der Thür und wartete auf ihren Liebling; der Hausherr und seine Frau promenirten im Garten auf und ab, und Herr Selldorf begleitete sie und erzählte von seiner Heimath und seinen Geschwistern.

Die alte Frau hing ihren Gedanken nach, und jedesmal, wenn so ein flammender Schein durch die schwüle Luft fuhr, dann dachte sie: wenn nur die Liesel erst wieder daheim wär’! „O weh, es regnet morgen,“ flüsterte sie vor sich hin, da wird nichts aus der Waldpartie mit Pastors. Na, da müssen sie sich halt hier verlustiren; „’s wird zwar einen Kribbel-Krabbel geben in der alten Mühle – wie viel hab ich denn zu Tisch? Da sind aus der Pfarre allein acht Personen, und dazu die beiden Oberförsters und – – Gerechter Himmel!“ schrie sie dann auf, „Liesel, wie hast Du mich erschreckt!“ und sie bog sich zu dem jungen Mädchen hinunter, das wie leblos zu ihren Füßen niedergesunken war und den Kopf in ihren Schooß barg.

„Was ist Dir denn, mein Kind? Liesel, so sprich doch! Was ist Dir?“ fragte sie und streichelte das Köpfen. „Mein Gott,“ fuhr sie fort, „bist Du denn krank, mein Herzblättel?“ Aber sie erhielt keine Antwort. Nur der Kopf des Mädchens richtete sich empor; zwei Arme schlangen sich um ihren Hals, und heiße, zitternde Lippen preßten sich innig auf die ihren, – dann war das flüchtige Mädchen verschwunden, und die alte Frau hörte den leichten Schritt auf der Treppe und bald darauf, wie die Stubenthür geschlossen wurde.

„Wunderliches Kind,“ murmelte sie und schüttelte den Kopf. Sie sah ja nicht, wie ihr Liebling dort oben ruhelos auf und ab schritt und wie endlich ihr müdes Köpfchen auf einem thränennassen Kissen lag und die kleinen Hände sich so fest falteten, um ein Gebet zu sprechen für den Army, mit dem sie einst als kleines Mädchen gespielt, und der sie jetzt so gar nichts anging auf der Welt, – ach, so gar nichts mehr!


8.

Droben im Schloß kehrte heut noch lange nicht die Ruhe ein. Die junge Braut zwar zog sich bald in ihr Zimmer zurück; sie war noch so verwirrt, wie sie sagte; es sei Alles so plötzlich, so überraschend gekommen. Sie duldete freilich die Schmeicheleien, welche die alte Baronin ihr mit strahlendem, freudig überraschtem Gesichte sagte, und hörte die bewegten Worte an, die ihres Army Mutter ihr zuflüsterte, aber dann war sie müde, und die hohe Thür ihres Gemaches flog eilig hinter ihr in’s Schloß; das kindlich süße Lächeln verschwand von dem schönen Gesichte, und Sophie, die Kammerjungfer, hatte eine sehr ungnädige Gebieterin. Endlich saß sie dann im Nachtkleide an ihrem Schreibtisch, und die Feder flog über das Papier wie gejagt, und um den Mund zuckte es wie im tiefsten Verdruß.

Um Army aber schlangen sich drunten im Wohnzimmer die Arme seiner Mutter, und ihre Augen ruhten auf den seinen, die so glücklich leuchteten. „Mein alter, guter Junge,“ flüsterte sie, „mögest Du doch glücklich werden! Es ist so rasch gekommen, Army, und Du bist noch so jung. Gott gebe Euch seinen Segen!“

Die alte Baronin, die lebhaft im Zimmer hin und her schritt, blieb nun vor der Gruppe stehen, als eben der junge Mann seinen Mund auf denn der Mutter preßte. „Army,“ begann sie, augenscheinlich ärgerlich über die sentimentale Scene, „Du weißt, was Du zunächst zu thun hast. Du reisest zur Tante und hältst in aller Form um Blanka an, und dann hoffe ich, daß alles Andere auch bald arrangirt sein wird, – an Blanka’s Vater schreibst Du nur; ich denke, mit dem Menschen kommen wir in keine weitere Berührung; jedenfalls –“

„Gewiß, Großmama, ich reise,“ unterbrach er sie mit leicher Stimme. Er war zu Nelly getreten, die, in einen großen Lehnstuhl gekauert, das Gesicht in beide Hände barg.

„Kleine,“ sagte er leise, „hast Du denn kein freundliches Wort für mich?“

„Ach, Army,“ schluchzte sie, „ich – ich erschrak so heftig, [739] als ich Dich dort mit der Cousine sah, und ich bin so traurig, daß –“

„Aber Nelly! Es ist doch ein großes Glück für uns Alle, daß es so gekommen und ich habe sie so lieb, die Blanka.“

„Hat sie Dich auch lieb?“ fragte das junge Mädchen ernst, und erfaßte seine Hände, „weißt Du das genau?“

„Aber Herzchen,“ sagte er lachend, „denkst Du, sie würde mich sonst heirathen mögen? Sie, die so schön ist und der so gehuldigt wird?“

Nelly schüttelte den Kopf und sah mit ihren verweinten Augen an dem Bruder vorüber. „Ich hab es mir so ganz anders vorgestellt,“ flüsterte sie.

„Närrisches kleines Ding!“ sagte er und strich zärtlich über ihre Locken. „Aber, nicht wahr Nelly, es ist doch auch schön, wenn Du mich so recht glücklich weißt?“

Sie nickte unter Thränen und verließ dann schnell das Zimmer. Draußen rollte der erste Donner des heraufsteigenden Gewitters durch die schwüle Nacht.

„Ich glaube, Nelly ist krank,“ sagte besorgt die Mutter, „sie hat so glühend heiße Hände.“

„Ach was, unartig ist sie; sie schmollt, weil nach ihrer Meinung ihrem Lieschen heut zu viel geschah,“ erklärte die alte Dame ärgerlich. „Ich wette, sie ist schon unten gewesen in der Mühle und hat das einfältige Ding um Verzeihung gebeten; es ist unerhört, wirklich.“

„Gewiß war sie unten, sie schien von dort zu kommen, als sie uns so unerwartet in der Lindenallee traf; übrigens, Großmama, ich muß es gestehen, und Blanka findet es auch: Du warst zu schroff gegen die Kleine.“

In diesem Moment zuckte ein greller Blitz auf, dem ein furchtbarer Donnerschlag folgte.

Misericordia, welch ein Gewitter!“ rief bebend die alte Baronin und vergaß ihre scharfe Antwort einen Augenblick über dem Schrecken, „ob sich Blanka fürchtet?“ Da flog auch schon die Thür auf, und im weiten weißen Caschemirkleide stand die junge Dame plötzlich mitten im Zimmer; sie hielt sich die kleinen Hände vor die Ohren und schaute mit angsterfüllten Blicken umher. „Ich fürchte mich,“ sagte sie sich schüttelnd und flüchtete in den großen Lehnstuhl, den Nelly eben verlassen.

Army eilte zu ihr; er sah in ihr blasses Gesicht und ergriff die kalte kleine Hand.

„Ich möcht hier nicht immer wohnen, um die Welt nicht!“ fuhr sie fort und stellte trotzig ihren zierlichen Fuß auf den Boden.

„Wo willst Du denn wohnen, mein Kind?“ fragte die alte Baronin, verwundert aufhorchend.

Denn wohnen?“ wiederholte erstaunt die junge Dame, und ihre Angst schien momentan völlig vergessen zu sein. „Ja, liebe Großmama, bildest Du Dir vielleicht ein, daß ich und Army uns hier vergraben sollen? Nein, bewahre! Nicht wahr, Army? Wir reisen zu allererst und sehen uns die Welt an; ich kenne noch keins der großen Bäder, Ems, Baden-Baden, dann die Schweiz, Italien – denke doch, Italien, wovon Du mir erst gestern so viel erzählt hast, und dann, wenn wir dies Alles gesehen, dann suchen wir uns einen Ort aus, wo es uns gefällt.“ Sie schwieg plötzlich, denn eben war wieder Blitz und Donner erfolgt und schien das alte Schloß in seinen Grundmauern zu erschüttern. Army hielt die Hand seiner Braut; er stand hoch aufgerichtet neben ihr und horchte auf den verhallenden Donner, die alte Dame aber trat mit einer Miene der höchsten Verwunderung zu dem Paare, während die Schwiegertochter sich in ihrem Sessel aufgerichtet hatte und fast ängstlich lauschte, was da so selbstverständlich der kleine rothe Mund ausplauderte.

„Wir werden da wohl leben müssen, Blanka,“ sagte jetzt der junge Mann ruhig, „wo es Tante Stontheim bestimmt.“

„Nein, nimmermehr!“ erwiderte sie lebhaft, „hier in diesem alten Schlosse möchte ich nicht einmal begraben sein; ich bin noch jung; ich lasse mich nicht fesseln und will das Leben genießen, Army, Du wirst mir Recht geben. Hier wohnen? Nun und nimmermehr! Tante ist zu vernünftig; sie wird das auch nicht verlangen, nein, sicher nicht,“ setzte sie überzeugt hinzu.

„Gewiß, Blanka, wir werden reisen,“ versicherte er, „aber unsern festen Wohnsitz hat Tante zu wählen.“

„Und wenn sie Derenberg wählt, so komme ich nicht mit. Nein, gewiß, ich komme nicht mit; es ist zu traurig hier; ich müßte sterben in dieser Einsamkeit.“

„Und Du wolltest mich dann hier allein lassen?“ fragte Army leise und beugte sich zu ihr hernieder, um ihr in die Augen zu sehen; er sagte es scherzend, aber es klang doch etwas wie Angst hindurch; „und Du hast mir doch noch da draußen unter den Bäumen gestanden, daß Du nur dort glücklich sein würdest, wo –“ seine Stimme sank zum Flüstern herab.

Ein heftiges Schütteln des kleinen goldflimmernden Kopfes war die Antwort. „Nein, nein!“ rief sie dann, „so ist es nicht gemeint, Army; ein Bischen Freiheit laß ich mir nicht nehmen; es wäre mein Tod, müßte ich tagtäglich durch diese kalten hohen Corridore gehen und in den düsteren Park blicken.“

„Wenn aber Dein zukünftiger Gatte es wünscht, daß Du hier bleibst?“ fragte fast athemlos die alte Dame, ihre feinen Hände faßten krampfhaft die Falten ihres Kleides.

„Er wird es nicht wünschen,“ rief sie leidenschaftlich und sprang auf; das liebliche Gesichtchen hatte einen beinahe drohenden Ausdruck angenommen und der kleine Fuß trat energisch das alte Parquet; keine Spur mehr in ihrer Haltung von jenem süßen Hingeben, womit sie heute unter den dunkeln Bäumen an seinem Arme gehangen; der Eigensinn in seiner häßlichsten Gestalt trat hier plötzlich zu Tage, und ihre Stimme klang scharf und rauh. „Es ist lächerlich, geradezu lächerlich,“ fuhr sie fort, „die Frau als Sclavin hinzustellen und ihr zu sagen: da, wo Dein Mann sich wohl fühlt, muß Du es nothgedrungen auch, und wenn Du es nicht thust, so ist es Deine Sache; sieh’, wie Du fertig wirst! Army kann und wird sich nicht so zu mir stellen; ich gab ihm mein Wort, ihn anzugehören, in seiner Hand liegt es nun, aber auch zu machen, daß ich gern bei ihm bin, und hier kann und will ich nicht sein.“

„Blanka!“ rief er, und seine großen Augen ruhten fast erschrocken auf dem jungen Wesen, das eben mit tausend süßen Liebesworten seine Braut geworden. „Blanka! Ich bitte Dich, höre auf! Du bist aufgeregt heute. Du hast Dich gefürchtet.“ Er hatte geklingelt und führte sie zum Sessel zurück. „Ein Glas Wasser!“ befahl er dem eintretenden Heinrich.

Die Großmutter aber sah beinahe erstarrt auf die Braut ihres Enkels. Wie? Dieses kindische Köpfchen warf mit einem Athemzuge all ihre köstlichen Pläne über den Haufen? Sie sollte nach wie vor hier in dieser Einsamkeit leben? Der glänzende Reichthum sollte nicht auch ihr zu Gute kommen? Sie sollte sich nicht sonnen dürfen in den Strahlen, die ein frisches, fröhliches Leben hier verbreiten könnte? Beinahe fassungslos ließ sie sich in einen Sessel fallen und betrachtete finster die hohe Gestalt des jungen Officiers, der eben das Glas Wasser aus den Händen des Dieners nahm, um es seiner Braut zu reichen. Draußen rauschte jetzt mächtig der Regen hernieder; noch immer zuckten schwache Blitzesstrahlen, das Rollen des Donners aber verhallte bereits in der Ferne.

Plötzlich ertönte ein schwacher Schrei aus dem angrenzenden Zimmer; „Nelly!“ rief die jüngere Baronin erschreckt, und verschwand in der Stubenthür. „Kind, was fehlt Dir nur?“ rief sie drüben angsterfüllt, indem sie sich zu der auf dem Sopha liegenden Nelly niederbeugte und die Hand auf ihre heiße Stirn legte.

„Ach, sie ist schrecklich, Mama; sie ist schrecklich,“ schluchzte die Kleine, „mein Army, mein lieber, guter Army! Sie hat ihn nicht lieb, Mama – Du kannst es mir glauben.“

„Aengstige Dich nicht, liebes Herz!“ tröstete leise die Mutter, „sie ist nur ein wenig launisch; es wird noch Alles gut werden.“

„Nein nein, Mama! Ach, wie ich sie sah, da fiel mir die alte Chronik und der Vers von den rothen Haaren ein; er geht mir nicht aus dem Sinn. Ach, wenn sie doch fortginge, noch heute Abend, und gar nicht wieder käme!“

Mit tausend Schmeichelworten suchte die Mutter das erregte Mädchen zu beruhigen; ihr Herz schlug ja selbst so bang! Die blasse Frau senkte den Kopf und ein Paar große Thränen drängten sich ihr in die Augen.

Nelly schlief unter den Liebkosungen der Mutter ein. Es war ein unruhiger, fieberhafter Schlaf, aber die sorgenvolle blasse Frau ließ ihr Töchterchen doch allein; sie hatte ja noch ein Kind, ihren Army. Vorsichtig spähend bog sie den Kopf um die Thür; die alte Dame und die schöne Braut waren verschwunden, aber dort in der tiefen Fensternische, da stand er noch, ihr Liebling, [740] und sah in die finstere Nacht hinaus; sie trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter, „Army,“ sagte sie leise; er wandte sich und blickte sie fragend an. Sie sprach kein Wort mehr, aber ihre Augen ruhten ängstlich forschend auf dem schönen, stolzen Gesicht, als er ihre Hand an den Mund zog.

„Sei ruhig, Mama!“ sagte er hastig, und seine Stimme klang nicht ganz so fest wie sonst, „sie ist ein verzogenes Kind, ein sehr verzogenes Kind, aber sie hat mich lieb – gewiß, ich weiß es, und sie wird sich ändern; sieh, es that ihr schon wieder leid, daß sie so heftig war.“

Die Mutter unterdrückte die hervorquellenden Thränen und strich leise über seine Stirn. „Gute Nacht, Army,“ flüsterte sie und wandte sich rasch ab.

„Gute Nacht, Mama,“ gab er zurück und küßte ihr schmeichelnd den Mund, „hab keine Sorge um mich!“ – –

Wohl vierzehn Tage waren vergangen seit jener Pfingstnacht. Sturm und Regen hatten damals all die Blüthenfülle der Bäume und Sträucher herabgeweht und sie wie frischen Schnee auf die Erde gestreut, aber dafür brachen jetzt in Müllers Garten die Rosen auf in schönster Pracht, und die Linden der alten Allee im Schloßpark standen in vollster Blüthe. Gar oft war Lieschen in der letzten Zeit diesen Weg gegangen, den sie so bald nicht wieder zu betreten gedacht hatte, war doch Nelly ernsthaft erkrankt, und der alte Heinrich hatte auf ihren Wunsch die Freundin an das Lager der Kranken holen müssen. Nun hatte Lieschen stundenlang dagesessen in dem hohen, dämmerigen Gemach und die kleine, fieberheiße Hand in der ihrigen gehalten.

Die Botschaft, welche sie auf das Schloß rief, war in der Mühle gerade in den „Kribbel-Krabbel“ gefallen, von dem die Muhme gesprochen hatte. Pastors mit den Kindern und Oberförsters waren richtig erschienen, und Lieschen hatte alle Sinne zusammen nehmen müssen, um in alter Weise mit den Kindern zu verkehren, und war diesmal froh gewesen, in dem jungen Herrn Selldorf eine Hülfe zu finden. Da war Heinrich mit der beunruhigenden Botschaft eingetreten, und Lieschen hatte nur einen Augenblick gezögert, Urlaub zu erbitten, der ihr sofort gewährt worden war, wie ungern man sie auch gerade heute in dem fröhlichen Kreise vermißte. „Tante Lieschen, komm bald wieder – adieu Tante Lieschen!“ hatten ihr die frischen Kinderstimmen der kleinen Trabanten nachgerufen, welche die Näschen platt an die Fensterscheiben gedrückt hatten. Hinter der Gardine aber hatte ein junger Mann mit blondlockigem Haar und zwei ehrlichen hellen Augen gestanden und die schlanke Gestalt verfolgt, die unter dem Regenschirm dort eben in dem Waldwege verschwand und ein unmuthiger Zug hatte sich um seinen Mund gelegt. Was war aus diesem sehnlichst erwarteten zweiten Pfingsttage geworden! Statt einer Waldpartie – Regenwetter, statt sehnsüchtiger Blicke in blaue Augen – die Quälereien der wilden Jungen, bei denen Selldorf bereits zum Onkel avancirt war – –

Auf dem Schlosse war sonst noch allerlei passirt in den vierzehn Tagen. Army hatte von einer flüchtigen Reise zu Tante Stontheim deren Einwilligung und außerdem eine allerliebste kleine Equipage für seine Braut heimgebracht, und ein freundliches Schreiben von Blanka’s Vater hatte die Verlobten gesegnet. Die junge Braut war wieder die Liebenswürdigkeit selber; sie hatte aus freien Stücken erklärt, es thue ihr leid, an ihrem Verlobungsabend so heftig gewesen zu sein, aber ein Gewitter verstimme ihre Nerven stets so entsetzlich, und Army – nun, der war der glücklichste Bräutigam, den man sehen konnte; so meinte wenigstens Lieschen. Er trat manchmal in das düstere Krankenzimmer, um die Schwester zu begrüßen, und dann leuchtete sein Gesicht immer so stolz und glücklich, wenn er sich zu ihr niederbeugte und ihr einen Gruß von seiner Braut brachte. Letztere war nur einmal an dem Lager der Cousine erschienen, aber die helle Gestalt mit der lang nachrauschenden Schleppe und dem goldflimmernden Haar hatte die Kranke mächtig aufgeregt, als sie so hastig gefragt hatte: wie es gehe? ob sie nun bald wieder aufstehen könne? und so weiter, und so lebhaft von den Spazierfahrten erzählt, die sie mache, und von den Plänen für ihre Heirath, daß das junge Mädchen in Thränen ausgebrochen war, als sie wieder hinausgerauscht war.

„Wenn sie nur nicht so bald wieder kommt,“ hatte sie gesagt, „mir wird so schwül in ihrer Nähe, und das Parfüm, das sie gebraucht, macht mir Kopfweh.“

Von Lieschen hatte Blanka gar keine Notiz genommen, obgleich sie deren schlanke Gestalt hochaufgerichtet am Bette stehen sah; die Großmama kam überhaupt nie in das Krankenzimmer, so lange sie Lieschen dort wußte, und Sanna murmelte Etwas von Eigensinn und daß sie ebenso gut pflegen könne, wie das einfältige Ding aus der Mühle; „das solle nur so etwas heißen von der jungen Baronin.“

Endlich war die Krankheit überstanden, die dunklen Vorhänge in dem Krankenzimmer zurückgeschlagen, die Fenster geöffnet, und das junge Mädchen lag auf dem Sopha und athmete mit Behagen die reine Waldesluft, die so schmeichelnd in’s Zimmer drang und richtete ihre Augen dankbar auf Lieschen, die neben ihr saß und mit ihr plauderte. Es befand sich Niemand weiter bei ihnen, denn es war noch Besuch gekommen: Blanka’s Vater, wie Nelly flüsternd berichtete, der mit Großmama und Army im Auftrage der Tante Stontheim zu sprechen habe. „Ich bin ordentlich froh, Lieschen,“ fügte sie hinzu, „daß ich nicht dabei zu sein brauche, denn Großmama macht schon seit dem Moment, wo der Brief eintraf, der den Onkel anmeldete, so ein böses, böses Gesicht. Aber sage einmal, Lieschen, Du siehst so blaß aus?“ fragte sie dann. „Du hast Dich gewiß zu sehr angestrengt bei meiner Pflege.“

Das junge Mädchen wehrte erröthend ab. – Von draußen her schallten jetzt Stimmen und das Trappeln von Pferden herauf. „Ah, sie werden vom Spazierritt wiederkehren,“ sagte Nelly, „komm, Lieschen – wir müssen es sehen.“ Sie erhob sich etwas matt und trat an’s Fenster. Dort unten auf dem Platze war, wie es schien, die ganze Familie versammelt; Blanka saß noch auf ihrem Pferde im schwarzen Reitkleide, das kecke Hütchen mit der langen schwarzen Feder auf dem üppigen Haar, das heute in mächtigen Puffen am Hinterkopfe aufgesteckt war, statt wie sonst aufgelöst über den Rücken herabzufallen. Das Pferd war unruhig, aber sie saß vollkommen sicher im Sattel und klopfte mit der kleinen behandschuhten Hand liebkosend den Hals des schönen Thieres. Army war bereits von seinem Goldfuchs gesprungen; er stand vor seiner Braut, um ihr beim Absteigen behülflich zu sein, und sah zu seinem Schwiegervater hinüber, der eben langsam zwischen den beiden Baroninnen herankam. Letzterer war ein kleiner corpulenter Herr, wie Lischen bemerken konnte, und schien sehr eifrig eine Meinung zu vertreten, denn er gesticulirte heftig beim Sprechen.

Die Blicke von Nelly’s Mutter streiften das Fenster, an dem die beiden jungen Mädchen standen; sie nickte freundlich hinauf, und die Augen der mit ihr Gehenden folgten diesem Gruße. Die ältere Dame sah gleichgültig wieder hinweg, während der Oberst, stehend bleibend, seinen Hut abnahm und hinauflächelte: dann hörten sie, wie er nach Lieschen fragte; was geantwortet wurde, konnten sie nicht mehr verstehen.

Inzwischen war Blanka abgestiegen, und Lieschen führte ihre Freundin wieder nach dem Sopha zurück; bald nachher verkündete lautes Sprechen im Nebenzimmer das Eintreten der Gesellschaft. Lieschen nahm ihr Buch wieder auf und wollte die unterbrochene Lectüre beginnen, als drinnen die Stühle gerückt wurden und plötzlich die Stimme des alten Herrn durch die hohe Flügelthür deutlich zu ihnen herüberdrangt:

„Es thut mir leid, meine Gnädige, daß die Sache so wenig nach Ihrem Geschmack zu sein scheint, indessen –“

„Scheint sie desto mehr nach dem Ihrigen zu sein, Herr Oberst,“ unterbrach ihn die scharfe Stimme der alten Baronin.

„Pardon, ich komme nur als Abgesandter der Gräfin Stontheim und habe vorhin schon einmal betont, daß ich mich keineswegs in das Arrangement der Angelegenheiten mischen werde; ich will jedoch nicht leugnen, daß es mir so am vernünftigsten erscheint.“ Seine Stimme verrieth eine gewisse Gereiztheit.

„Ansichten, liebster Derenberg!“

Allerdings, aber Sie müssen selbst zugeben, daß Army noch zu jung, zu unerfahren ist, um sich aus dem Wirrwarr – verzeihen Sie, Frau Baronin! – herauszuwickeln, in dem leider die ganze Derenberg’sche Angelegenheit total versunken scheint. Es gehört ein sehr, sehr gewiegter Landwirth dazu, um die heruntergekommenen Güter wieder heraufzubringen, vorausgesetzt, daß man sie überhaupt wieder zurückerwerben kann; der Wald zum Beispiel – Gräfin Stontheim sprach mit dem Justizrath Hellwig über diese Verhältnisse – der Wald ist so gut wie verloren; der

[741]

Verloren in alte Zeit. Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Friedrich Proelß in Dresden.

[742] jetzige Besitzer – wie heißt er doch? Sie müssen es ja wissen, ein Fabrikant hier in der Nähe – wird ihn unter keiner Bedingung wieder abtreten; also der Wald ist verloren für immer, und was ist ein solches Gut ohne Wald?!“

„Der Erving den Wald nicht wieder verkaufen?“ rief die alte Dame, „ha, ha, da kennen Sie ihn schlecht; solchen Leuten kommt es nur darauf an, wieviel man bietet, um einen gar nicht so großen Profit verschachert solch ein Krämervolk seine Seligkeit. Nein, nein bester Oberst, das ist eine lächerliche Idee, die ich Ihnen nicht zugetraut hätte. Ich parire jede Wette: bieten Sie ihm so und so viel mehr, und der Wald ist Ihre –“

„Sie würden die Wette verlieren, meine Gnädige, denn Hellwig hat sich in Frau von Stontheim’s Auftrage unter der Hand erkundigt und eine entschieden ablehnende Antwort erhalten, übrigens –“ Lautes Lachen der alten Dame unterbrach ihn.

„Es ist doch möglich, daß Sie Recht haben, Derenberg,“ sagte sie, „denn dieser Parvenü haßt, wie Alle seines Gleichen, den Adel, und uns ganz besonders. Plebaglio!“ setzte sie verächtlich in ihrer Muttersprache hinzu.

„Uebrigens,“ wiederholte der Oberst mit merklich erhöhter Stimme und – „Pardon, Frau Baronin,“ fuhr er artig fort, als sie schwieg, „es interessirt mich gar nicht, wie Sie sich zu diesem Manne gestellt haben; es ändert nichts an der Sache; ich wollte nur noch hinzufügen, daß sich in Bezug auf die Güter selbst und die Vorwerke ein wahrhaftes Chaos herausgestellt hat. Es ist haarsträubend, meine Gnädige – Juden, Mäkler, Vorkaufsrechte, erste, zweite, dritte und vierte Hypotheken, was weiß ich Alles – kurz und gut, die Gräfin Stontheim zieht es vor, die Sache nicht anzurühren, da ein Arrangement nur mit enormen Opfern zu erkaufen sein würde; sie wünscht, wie ich Ihnen heute früh bereits mitzutheilen die Ehre hatte, daß Army auch nach seiner Hochzeit, die für den Herbst festgesetzt ist, noch im Dienste bleibt, daß sie das junge Paar mit reichlichen Mitteln versehen wird, und daß sie später, wenn Army Neigung fühlen sollte zum Landwirth, ihnen ein Gut zu kaufen beabsichtigt, auf dem sie gleich geordnete Verhältnisse vorfinden. Schloß Derenberg bleibt stets eine prächtige Sommerfrische für das junge Paar, und das Haus seiner Väter ist Army auf alle Fälle erhalten. Nicht wahr, Army, Du trägst ganz gern noch ein Weilchen den bunten Rock?“

„Gewiß, ich muß mich fügen, Onkel,“ klang die Stimme des jungen Mannes, „aber ich leugne nicht, daß es mir schwer wird, den Gedanken aufzugeben, Schloß Derenberg wieder zu bewohnen – es war von jeher meine Lieblingsidee.“

„Aber meine nicht!“ fiel Blanka hastig ein, „ich stimme Tante Stontheim vollkommen bei; ich habe es ja neulich schon erklärt.“

„Du weißt nicht, Blanka,“ erwiderte Army, und seine tiefe Stimme schien zu beben – „Du weiß nicht, welch einen Zauber solch alte angestammte Heimath ausübt! Du kannst es nicht wissen, denn Du hast nie das stolze Gefühl gekannt, den Fuß auf die eigene Schwelle zu setzen; Dir haben keine alten Mauern, keine verlassenen Gemächer, keine uralten Bäume erzählt von längst vergangenen Zeiten, da unsere Vorfahren hier lebten und schafften. Es war mein schönster Traum, hier wieder seßhaft zu sein, wo meine Väter in langer Reihe lebten und starben, und das Nichterfüllen dieses Traumes würde mir sehr schmerzlich sein – Du kannst es glauben.“

„Um des Himmels willen!“ rief die junge Dame, „jetzt wird er gar sentimental! Mir erscheint die kleinste Villa an der belebten Promenade unserer Residenz tausendmal verlockender, als dieser langweilige, verlassene –“

„Pst, Kinder!“ fiel der Oberst beruhigend ein, „behalte Jedes seine Meinung für sich! Du, Blanka, hängst ebenso gut von Tante Stontheim’s Willen ab wie Army! Was sie bestimmt, – geschieht; da ist nichts zu ändern, und ich dächte, wir ließen die Sache fallen und stritten nicht weiter.“

„Sehr weise bemerkt, Herr Oberst!“ mischte sich jetzt die alte Dame in das Gespräch, „aber wie schwer solch eine Abhängigkeit zu tragen ist, das kann nur der empfinden, der einst frei zu gebieten hatte. Sie empfinden das nicht; Sie haben nie auf eigenem Grund und Boden gestanden; Sie sind sozusagen in der Abhängigkeit aufgewachsen, und da ist es leicht, anderen Leuten Ruhe zu predigen. Ich finde es wunderbar von der Stontheim; sie hat die Mittel und will nicht helfen; Army soll Officier bleiben aus dem lächerlich hervorgesuchten Grunde, er sei noch zu jung, als ob nicht ältere Kräfte ihm rathend und helfend zur Seite ständen!“

„Sie vielleicht, meine Gnädige?“ lachte der Oberst auf. „Allerdings nicht übel ausgedacht! Finanztalent läßt sich Ihnen wohl kaum absprechen – daß Sie Unglück hatten mit Ihren Speculationen – wer kann dafür?“

„Sie sind noch ebenso unverbesserlich malitiös, wie früher, Herr Oberst, wo ich das Glück hatte, Sie einige Male hier zu sehen, in diesem Falle aber treffen Ihre Anschuldigungen nicht, denn es war wirklich Unglück, das uns verfolgte.“

Unverschuldetes Unglück!“ betonte ironisch der Oberst.

„Onkel, bitte, brechen wir ab! Es regt Mama auf,“ bat Army.

„Und, mein Junge,“ fuhr Jener unbeirrt und nachdrucksvoll fort, „eben um noch einmal unverschuldetes Unglück zu verhüten, deshalb hauptsächlich wünscht die Gräfin Stontheim, daß Du nicht hier – wohl verstanden: gerade nicht hier – die ersten Jahre Deiner Ehe verlebst. Pardon, daß ich so deutlich werden mußte! Ich hätte es gern vermieden –“

„Ich verstehe,“ sagte die alte Dame kalt, „Gräfin Stontheim hat noch immer die unglückliche Idee, daß ich an dem Ruine der ganzen Familie schuld sei; sie hat mir diesen Vorwurf ja damals schon derb und unumwunden in’s Gesicht geschleudert, als Kummer und Noth über uns hereinbrachen; Jemand muß ja auch schuld sein,“ fuhr sie bitter auflachend fort, „und da man mich von Anfang an als Eindringling behandelte und die Fremde, die Italienerin, nie leiden konnte, so war es ja so leicht, ihr auch diese Schuld zuzuwälzen. Va bene! Sie sagen mir nichts Neues, Herr Oberst. – Ich bedaure nur, daß Jemand so – so –“ sie brach ab, offenbar hatte sie eine sehr harte Aeußerung auf der Zunge. Der Oberst antwortete nicht.

„Onkel,“ fragte Army hastig, „was soll dies bedeuten? Tante kann doch unmöglich behaupten, daß Großmama –“

„Schweig!“ rief die alte Dame, und zugleich hörte man das Rollen eines Sessels aus dem Parquet.

Lieschen und Nelly aber saßen athemlos neben einander und hielten sich an den Händen. Als jene den Namen ihres Vaters aussprechen hörte, da war sie aufgesprungen und hatte sich wie hülflos in dem Raume umgesehen, aber es war kein anderer Ausweg vorhanden, als der durch dasselbe Zimmer, in dem man eben so gehässig ihren guten Namen beschmutzte. Die schlanke Gestalt des jungen Mädchens preßte sich wie in jäher Angst gegen eine verschlossene hohe Flügelthür, hinter welcher eine Flucht leerer Gemächer war.

„Wo soll ich hin?“ flüsterte sie angstvoll der Freundin zu.

„Bleib hier, Lieschen!“ bat Nelly und zog sie zu sich, „sie können es nicht wissen, daß wir Alles so deutlich hören; ach, weine doch nicht!“ flehte sie. „O, wenn ich nur gesund wäre und ein Junge, wie der Army, ich wollte ihnen schon Bescheid sagen, wenn sie auf Euch schelten!“ Sie ballte ingrimmig die kleinen Hände.

Drinnen hörte man die alte Dame auf- und abschreiten, und jedesmal, wenn sich ihre Schritte der Thür näherten, fuhr Lieschen auf und blickte mit ängstlichen Augen in dem Zimmer umher, als suche sie einen Versteck, um sich vor ihr zu verbergen.

Auf einmal tönte Blanka’s Stimme herüber; so schmeichelnd, so süß wie Musik klangen die weichen Töne jetzt.

„Großmamachen,“ bat sie, „ich habe eine Bitte an Dich; ich hatte den Army damit beauftragt, aber er scheint es vergessen zu haben, der Böse. Ja wohl, mach’ nur nicht ein so verwundertes Gesicht, Du!“ fuhr sie schalkhaft fort, „nicht wahr, Großmama, das ist Dir nicht passirt von Deinem Bräutigam, der hat Dir gewiß immer die Wünsche von Deinen schönen Augen abgelesen.“

Die letzten Worte klangen deutlicher herüber, als der Anfang der Bitten offenbar stand die schöne Braut jetzt dicht neben der alten Dame an der Thür.

„Jetzt schlingt sie die Arme um Großmamas Hals, wie so ein Kätzchen,“ flüsterte Nelly, „o, wie kann sie bitten und schmeicheln, Lieschen, Du glaubst es nicht.“

„Nun?“ ertönte die Stimme der alten Dame.

„Ich hatte Army beauftragt, Großmama zu bitten, daß sie mir erlaubt in dem Thurmstübchen zu wohnen, welches an mein Zimmer stößt; o bitte, bitte, Großmamachen, amatissima mia!

„Es war sehr vernünftig von Army, daß er mich nicht bat, [743] ich hatte es ihm schon einmal abgeschlagen und kann auch Dir leider den Wunsch nicht gewähren.“

„Warum nicht?“ fragte Blanka veränderten Tones.

„Du erlaubst wohl, daß ich die Gründe für mich behalte.“

„Quäle nicht, Blanka, hörst Du?“ klang die Stimme des Obersten, „alte Schlösser haben ihre Geheimnisse, und darunter manche, die man gern ruhen läßt.“

In diesem Moment wurde die Thür aufgerissen, und die alte Tante stand plötzlich im Zimmer, den beiden Mädchen gegenüber.

(Fortsetzung folgt.)




Die türkische Vendée.
II.
Der Mädchenraub in Nordalbanien und die Blutrache. – Die Blutsbrüderschaft. – Kriegerischer Sinn des Albanesen. – Aberglaube, Sprache und Confession. – Die Kopfzahl der Albanesen. – Die Miriditen und ihre Stellung in der türkischen Arme. – Der Prink von Oros. – Geschichtliches.

Fast einen Anflug von Romantik hat gegenüber der unwürdigen Behandlung der Frauen der in den Gebirgen Nordalbanies zuweilen vorkommende Mädchenraub. Die Lust am Raube überhaupt, weniger die am Mädchen persönlich, verlockt manchmal einen Jüngling der Miriditen oder aus einem anderen christlichen Stamme, im Gehege der Mohammedaner, wo er ein leidlich hübsches junges Mädchen entdeckte, nebst seinen Freunden einzubrechen und das Kind zu entführen. Solcher Raub gewährt den Beraubten das Recht der Rache, welche jedoch meistens mit wenigen Opfern abgethan ist. Auch sind in diesem Punkte die Mohammedaner oft viel christlicher oder milder, als die albanesischen Christen, welche mit bornirter Wildheit das Recht der Blutrache ausüben und oft nicht eher ruhen, bis das feindliche Geschlecht nebst Kindern und Säuglingen vertilgt ist.

Unter diesen Blutchristen fordert die Barbarei der Blutrache, wie von zuverlässigen Autoren berechnet wurde, durchschnittlich 3000 Menschen im Jahre, woraus sich die merkliche Abnahme der albanesischen Bevölkerung auch ohne die Decimirung durch Kriege und Aufstände erklärt. Was Stammesfehden, Seuchen und Pestilenz verschonen, das fällt den menschlichen Tigern der Blutrache zum Opfer – nutzlos, hoffnungslos und unabänderlich! Ist ein Mord geschehen, so flieht der Mörder schleunigst aus der Heimath, und ihm folgen in der Regel seine nächsten Verwandten. Verzeihung ist von den Verletzten das heißt allen Verwandten des Gemordeten, schwer zu erlangen und erfordert die umständlichsten Vorbereitungen oder heimlichen Unterhandlungen, welche in solchem Falle sich oft jahrelang fortspinnen. Im günstigsten Falle treibt die Habsucht der verletzten Partei schneller zu einer Ausgleichung. Dann wird gewöhnlich ein mit theatralischen Schaustellungen verknüpfter Auszug der Büßenden zum Hause der Feinde in Scene gesetzt. An der Spitze des Zuges schreitet ein Geistlicher im Ornate, hinter ihm werden einige Säuglinge in Wiegen getragen; dann tritt die Hauptfigur des Zuges hervor, nämlich der Mörder; er trägt einen Strick um den Hals, an welchen zugleich ein Yatagan (kurzes Schwert) gehängt ist; die Augen sind ihm verbunden, die Arme gefesselt. Seine ruhigen Mienen müssen tragischen Ausdruck haben. Der Priester entwickelt nach der Ankunft des Zuges, dem alle Verwandten des Büßenden folgen, seine Beredsamkeit, mahnt mit Hindeutung auf die Säuglinge in der Wiege an die Christenpflicht des Vergebens und wird unter lautloser Stille angehört. Man ist an eine längere Dauer solcher Ceremonien gewöhnt, und das halsstarrige Sträuben der um Verzeihung Gebetenen läßt ohnedies einen prosaischen schnellen Abschluß dieser Hauptaction nicht eintreten.

Endlich giebt das Haupt der verletzten Partei das Signal der nahenden Versöhnung, indem er eine der Wiegen erfaßt, dreimal umdreht und dann niedersetzt. Gleiches thut sein Anhang mit den übrigen Wiegen. Das Unglaublichste, was auf diesen traditionellen Act folgt, ist eine allgemeine Umarmung des Reuigen, welcher endlich losgebunden wird. Hierauf wird die Buße festgesetzt, und zum einstweiligen Pfande legen die Sippen des Begnadigten verschiedene Kostbarkeiten namentlich Waffen nieder. Das so tragisch begonnene Ceremonielstück endigt mit einer Schmauskomödie. Nicht allzu selten schließen bei dem Versöhnungsschmause gerade die beiden früheren Todfeinde Freundschaft, das heißt Blutsbruderschaft, und zwar mit der bekannten Ceremonie, daß Jeder das mit Branntwein gemischte Blut des Andern trinkt. Solche Brüderschaft gilt für besonders heilig und unverletzlich. Man schwört sich dadurch Treue und Gemeinschaft bis zum Tode. Selbst der leibliche Bruder wird oft nicht so hochgehalten, wie ein Blutsbruder. Blutsbrüder theilen ihr Gut, ihre Waffen, ihre Kleider, ihr Lager und halten im Kampfe gegen Landes- und Stammesfeinde fest zusammen, bis der Tod sie trennt.

Alles Sinnen und Trachten der männlichen Hälfte dieses Volks ist eben auf Kampf und Krieg gerichtet, und alle Lebensgewohnheiten gründen sich auf das ihnen fast angeborene kriegerische Wesen. Der einzige und höchste Stolz des Albanesen ist, als Kriegsheld (Palikar) gerühmt zu werden. Dagegen ist er in Friedenszeiten ein höchst unnützes Mitglied der Gesellschaft; sehr träge und faul, ohne jede Neigung für Gewerbethätigkeit, arbeitet er eigentlich nur dann, wenn die „schlechten Zeiten“ keinen Kampf, Raub oder sonstige lustigere Dinge in Aussicht stellen oder die äußerste Noth dazu treibt. Unter Tausenden sind nur Wenige, welche als Handwerker (Bäcker, Fleischer) auswärts ihr Unterkommen suchen. Alle Uebrigen fristen in den Bergen ihr Dasein mit Viehzucht und etwas Ackerbau, welcher freilich auf die primitivste Weise betrieben wird, vielleicht noch gerade so, wie zu Herodot’s oder Homer’s Zeiten. Ein gänzlicher Mangel an Schulbildung schließt diese Neu-Pelasger von der Cultur des Abendlandes weit mehr als die slavischen Halbasiaten ab. Auch das Meer bleibt ihnen verschlossen, obwohl sie es dicht vor sich sehen, und es ist keine Spur von der Lust an Seeabenteuern und nicht einmal an Seeräuberei, welche ihre illyrischen Vorfahren an allen Küsten des Mittelmeeres gefürchtet machte, auf diese ihnen so ungleichen Nachkommen übergegangen.

Wie alle noch nicht von der Cultur berührten Völker huldigen die Albanesen dem Aberglauben in allen denkbaren Gestalten des Unsinnigen; sie glauben an den „bösen Blick“, an „umgehende Verstorbene“, an „Dämonen“, an „Unglückstage“ und auch an „geschwänzte Menschen“. Der Aberglaube bezüglich der „Umgehenden“ stammt muthmaßlich von dem hochsensationellen Vampyrismus der slavischen Nachbarn. Jedenfalls liegt solchem Auferstehungswahne die Furcht vor der Rache erschlagener Feinde zu Grunde, wie ja überall unter Wilden Furcht und Gewissensangst Dämonen erzeugen, aus denen sich nach und nach Götzenculte entwickeln.

Nach dem Obigen sollte man auf eine lebhafte Phantasie oder gar poetische Begabung der albanesischen Bergbewohner schließen, aber dagegen spricht die Trockenheit und Dürftigkeit ihrer überlieferten Volkslieder und sonstiger poetischer Ueberreste, von denen höchstens die Klagelieder auf gefallene Helden über dem Niveau des Gewöhnlichen stehen, während die sogenannten Liebeslieder, das heißt Volks- oder Rundgesänge, nichts von erotischer Gluth, schwärmerischem Idealismus oder dergleichen enthalten und sogar durch allerlei Spott oder Hohn auf die Frauen verunziert sind. Ihr Stil entspricht etwa dem unserer Schnadahüpfl. – Die Sprache der Albanesen hat sich aus altillyrischen Grundformen und Beimischungen aus dem Alt- und Neugriechischen, Lateinischen, Gothischen, Slavischen und Türkischen zusammengefügt. Unter den christlichen Nordalbanesen schreiben die Wenigen, welche überhaupt schreiben lernten, theils mit lateinischen, theils mit griechischen Buchstaben, lateinisch die Römisch-Katholischen und griechisch die Griechisch-Orthodoxen. Die beiden in vieler Beziehung sehr verschiedene Stämme der toskischen und der gegischen Albanesen, von denen die ersteren Süd- und Mittelalbanien, die letzteren Nord- oder Oberalbanien bewohnen, sind ganz besonders auch durch die Sprache so sehr von einander unterschieden, daß sie sich gegenseitig kaum verstehen. Am meisten aber trennt der Glaube, der die Bewohner Albaniens in Mohammedaner (Mehrzahl in Süd- und Miltelalbanien), Griechisch-Orthodoxe und Römisch-Katholische (Mehrzahl in Nordalbanien) scheidet. Das Land als geographischer Begriff umfaßt das Vilajet Skutari

[744] (Skodra), Theile des Vilajets Janina, Saloniki und Kossowo (die Sandschakate Prisrend und Prischtina) mit einem Flächencomplex, der von 50,000 bis zu 91,400 Quadrat-Kilometer angegeben wird, und nach ebenfalls nur annähernder Schätzung mit 11/4 bis 12/3 Millionen Bewohnern. Die Kopfzahl der Albanesen überhaupt ist schwerer zu ermitteln. Man hat auf die Türkei 13/5 Millionen, auf Unteritalien 180,000, auf Griechenland 200,000 gerechnet, also zusammen 1,980,000 Köpfe, aber das mag wohl um einige Hunderttausende zu hoch gegriffen sein.

Die zahlreichsten, eigenartigsten, tapfersten und interessantesten der Albanesenstämme sind jedenfalls die Miriditen, welche eine Art Bund von Stämmen Nordalbaniens bilden. Miridit oder Mirdit heißt soviel wie „Tapferer“, was nach dem Sinne von wilden, kriegerischen Völkern immer auch den Begriff der Rechtschaffenheit in sich faßt. In einem Kriege vermögen sie unter Anführung eines Bairaktar (Fahnenträger) 9 bis 10,000 Bewaffnete zu stellen. Da sie weder Tribut noch den Charadsch (Kopfsteuer) zu zahlen haben, außerdem mit den anderen Skipetarenstämmen allein unter allen Rajahs der Türkei das Privilegium besitzen, in die türkische Armee einzutreten, so bewahren sie sich stets ein großes Selbstbewußtsein und die denkbar freieste Stellung gegenüber der Regierung, welcher an der Heerfolge dieser Freiwillig-Gouvernementalen jetzt mehr als jemals gelegen sein muß. An ihrem Oberhaupte, dem Prink oder Prenk, welcher in dem Städtchen Oros residirt, hängen sie mit unverbrüchlicher Treue. Er gilt übrigens auch als ein Nachkomme des ruhmvollen Nationalhelden Skanderbeg (Bey Alexander), ist ihr oberster Richter, ihr Feldhauptmann und übt eine nur durch die Kanton-Aeltesten und das geistliche Oberhaupt, den Erzbischof von Skutari, eingeschränkte Gewalt aus. Von allen Römisch-Katholischen der Balkanhalbinsel sind sie die eifrigsten und bigottesten. Die aus der Propaganda in Rom nach Albanien geschickten Geistlichen sprechen die Landessprache, versuchen die albanesischen Barbaren auf jede Weise zu civilisiren, belehren sie in Handwerken, im Oliven-, Obst- und Weinbau und bewähren sich vielfach als kluge Beherrscher wilder Volksleidenschaften, jedoch will es ihnen nicht gelingen, aus wilden Jägern, Räubern, Wegelagerern und Kriegern friedliche, arbeitsame Menschen zu machen. Unter anderen Völkern können diese römischen Priester durch ihre unbedingte Herrschaft über die Weiber freilich mehr ausrichten, als hier, wo das Weib zur schmachvollsten Niedrigkeit und Einflußlosigkeit herabgedrückt ist. Die Miriditen zeichnen sich durch Freiheitsliebe und Tapferkeit aus; auch wird von ihnen große Wahrheitsliebe und Offenheit gegen Fremde gerühmt, aber desto barbarischer und unrühmlicher ist ihre Hinterlist, Tücke und Grausamkeit gegen Feinde, die sich im Kampfe zu thierischer Blutgier steigert. Ihr Stammes- und Glaubenshaß richtet sich nach allen Seiten, weniger noch gegen die mohammedanischen Unterdrücker des Heimathlandes, die ihre besonderen freiheitlichen Privilegien nicht anzutasten wagen, als gegen die Griechisch-Katholischen in und außer Albanien, am meisten gegen die nördlichen Todfeinde, die Montenegriner, und auch gegen die Griechen.

Die Geschichte Albaniens und seiner Bewohner reicht in die dunkel-graue Vorzeit der Thrako-Illyrier, oder vielmehr noch weiter, bis zu den nördlichen Anwohnern der alten Hellenen, den Pelasgern, zurück. Nach alten griechischen Autoren hieß Südalbanien lange Zeit Epeiros (das heißt Festland), im Gegensatz zum gegenüberliegenden Kerkyra, jetzt Korfu (das heißt Inselland). Der spätere Name Albanien bedeutet Kreideland oder weißes Hochgebirgsland (so ähnlich wie in England und Schottland „Albion“, „Albain“ oder „Albanach“). Von der Zeit an, wo es (um 168 bis 176 vor Christo) durch die Römer erobert und römische Provinz wurde, bis 1430 wo es für alle weitere Zukunft unter die Herrschaft der zur Hülfe herbeigerufenen Türken kam, hat das Land viele stürmische Wechsel des Regiments und eine fast endlose Folge von wüsten Metzeleien und mörderischen Parteikämpfen erlebt. Während der langen Türkenherrschaft, welche Albanien zur Barbarenöde machte, haben nur zwei Perioden allgemeines historisches Interesse: die Freiheitskriege unter der ruhmreichen Führung des Miriditenhelden Georg Kastriota (geboren 1404, gestorben 1467) oder Skanderbeg (Fürst Alexander) und die blutige Vernichtung des albanischen Adels unter der grausamen Tyrannei des Paschas von Janina, Ali von Tepelen, des letzten epirotischen Gewaltherrschers am Ende des achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Skanderbeg war erst türkischer Vasall, benutzte aber den glänzenden Sieg Hunyadi’s, des Ungarn-Feldherrn, bei Nisch (1443), der die Türken schwächte und demüthigte, zum Abfall. In dreißig Tagen trieb er die Türken aus dem Lande, besiegte sie wiederholt und wurde beim Regierungsantritt Mohammed des Zweiten als rechtmäßiger Fürst Nordalbaniens anerkannt. Auch später im Bunde mit den Venetianern hat er seinen Namen durch glänzende Siege über die so gefürchteten Türken mit unvergänglichem Ruhme bedeckt und wurde von allen späteren Dichtern des Albanesenvolkes als Heros gefeiert und besungen. Je weniger seine Nachkommen zu Ruhm und Glanz, zu Ehre und Macht gelangten desto überschwenglicher feierte man den einzigen großen Nationalhelden des tapfern Albanesenstammes. Wie sollte auch ein Freiheitsheld, ein zweiter Skanderbeg unter den Albanesen erstehen, da sie sich in der Gunst ihrer türkischen Herren sonnen und stolz sind auf ihre Söldingsrolle. Völlig einig mit den unverbesserlichen Vernichtern der Cultur des Südostens, werden sie mit ihnen in Reihe und Glied fechten und untergehen, weil sie es in ihrer halsstarrigen Verblendung nicht besser wollen.

Bis dahin aber werden sich die Sümpfe ihrer Thäler und die Schneegefilde ihrer Berge noch häufig roth färben von grausam vergossenem Blute, und es wird unser deutscher Landsmann Mehemed Ali nicht der letzte Friedensbote gewesen sein, welcher der verbrecherischen Wildheit dieser Halbmenschen zum Opfer gefallen ist.

B. S.




Aus Robert Blum’s Leben.
11. Gefangennahme. – Proceß. – Tod. – Schluß.

Am 3. November 1848 richtete Robert Blum zugleich mit seinen drei Frankfurter Collegen zuerst an den Feldmarschall-Lieutenant von Schowitz, dann an den Generalmajor Baron von Cordon, Geschäftsleiter der Stadthauptmannschaft, das schriftliche Gesuch:

„Die unterzeichneten Mitglieder der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main wurden seit dem 20. October, an welchem Tage sie Wien verlassen wollten, hier durch die Ereignisse zurückgehalten. Nach der nunmehr eingetretenen Wendung der Dinge erlauben sich die Unterzeichneten die gehorsamste Bitte um gütige Ertheilung von Passirscheinen zum Antritt der Rückreise auszusprechen, eventuell aber von Euer Excellenz die Gnade einer Audienz sich zu erbitten ... In der Erwartung, daß Euer Excellenz Gnade uns die Möglichkeit, unsern wichtigen Beruf wieder anzutreten, gütigst gewähren wird, zeichnen wir etc.“

Unterschrieben waren: Robert Blum aus Leipzig; Julius Fröbel „für den Wahlbezirk der Fürstenthümer Reuß jüngerer Linie“; Trampusch für Weibenau „in k. k. Schlesien“, und Moritz Hartmann „aus Leitmeritz“.

Auf die Rückseite dieser Eingabe schrieb Generalmajor von Cordon von der Centralcommission der k. k. Stadt-Commandantur noch am nämlichen Tage:

„Die Stadthauptmannschaft wird beauftragt, die angeblich (!) im Hôtel zur Stadt London wohnhaften Herren Robert Blum und Julius Fröbel in militärgerichtliche Verhaft zu nehmen, unter Beschlagnahme ihrer Papiere und Effecten.“

Dieser Verhaftsbefehl ist höchst charakteristisch. Also der Herr Generalmajor wußte, bis sich die Abgeordneten selbst meldeten, noch gar nicht, daß sie „angeblich“ in Stadt London wohnten. Er wurde auch nicht deshalb auf sie aufmerksam, weil sie sich als Mitglieder des höchst gefährlichen Frankfurter Parlaments bezeichneten, namentlich war das nicht der Grund des Haftbefehls. Am allerwenigsten wurde dieser erlassen, weil der Herr Generalmajor etwa eine Ahnung davon zu besitzen sich rühmen konnte, wer Robert Blum sei und was er in Wien gethan habe. Wären das die Ursachen des Haftbefehls gewesen, so hätten die Herren Trampusch und Moritz Hartmann unbedingt auch mit in „militärgerichtlichen Verhaft“ genommen werden [745] müssen. Denn auch sie waren Abgeordnete. Die Freiheit Robert Blum’s und Fröbel’s war aber durch eine weit einfachere kaiserlich königliche Erwägung bedroht. Trampusch und Hartmann waren Oesterreicher, Blum und Fröbel aber „Ausländer“, und von diesen hatten Seine Durchlaucht der Fürst-Feldmarschall zu Windischgrätz in Ihrem „Nachhange zur Proclamation vom 20. October“ am 23. October, Ziffer 5, zu bestimmen für gut befunden: „Alle Ausländer in der Residenz sind mit legalen Nachweisungen der Ursache ihres Aufenthalts namhaft zu machen, die Paßlosen zur sofortigen Ausweisung anzuzeigen.“ Weil Robert Blum und Fröbel Ausländer waren und, wie sie selbst gestanden, ohne Passirscheine waren, sollten sie in militärgerichtlichen Verhaft genommen werden, aus keinem andern Grunde.

Der Befehl wurde am 4. November früh gegen sechs Uhr ausgeführt. Zu dieser Stunde erschienen unter militärischer Bedeckung der Polizei-Ober-Commissar von Felsenthal und der Hauptmann Graf Caboga in der „Stadt London“ und fragten den Wirth nach den beiden Gesuchten. Der brave Mann trotzte der Gefahr des Standrechts und warnte die beiden Abgeordneten. Noch wäre es Zeit zur Flucht gewesen. Hartmann und Trampusch sind damals entflohen. Aber Blum war in dem unerschütterlichen verhängnißvollen Glauben befangen, daß die siegreiche österreichische Kriegsgewalt seine papierne Unverletzlichkeit als deutscher Reichstagsabgeordneter pflichtschuldigst anerkennen werde, und wies daher die von dem braven Wirthe gebotene Rettung mit demselben würdevollen Lächeln ab, mit welchem er das Asyl im Sophakasten des sächsischen Gesandten abgelehnt hatte. Wenige Minuten später waren Blum und Fröbel Gefangene. Blum’s Frage an den Officier: „Ob ihn seine Eigenschaft als Abgeordneter des Parlamentes nicht vor Verhaftung schütze?“ beantwortete dieser kurz dahin: „Richten Sie diese Frage an meinen General!“ Dann wurde jeder der Gefangenen in einem geschlossenen Wagen nach dem Stabsstockhause gebracht, wo wieder ein gemeinsames Zimmer ihnen angewiesen wurde. Das Gefängniß war wohnlich, beinahe behaglich, wie Blum am 6. November seiner Frau schrieb. Er sagte ihr auch, daß er von seinem Gitter aus die Kinder auf dem Platze drunten spielen sehen könne – und dabei seiner eigenen lieben Kinder gedenke.

Auch in dieser Gefangenschaft blieben die Abgeordneten unbehelligt. Niemand fragte nach ihnen. Sogar ihre eigenen Versuche, sich bemerklich zu machen, blieben unbeachtet. Sie schrieben am 5. November an den Präsidenten der deutschen Nationalversammlung, daß sie verhaftet seien. Dieses Schreiben passirte die hohe Central-Commission und gelangte wohlbehalten bis – in das Hauptquartier des Fürsten Windischgrätz nach Hetzendorf, wo es liegen blieb. Am 7. November wandten sie sich an des Herrn von Cordon Excellenz mit der Bitte um ein Verhör, „damit ihnen Gelegenheit gewährt werde, ihr Recht geltend zu machen“. Auch darauf erfolgte keine Antwort. Nun riß den Abgeordneten die Geduld. Am 8. November Nachmittags um vier Uhr gaben sie einen Protest an die Central-Untersuchungscommission ein, in welchem sie zum ersten Male bei dem Ausnahmegericht selbst auf die Unverletzlichkeit hinwiesen, die ihnen als Abgeordneten zustehe. „Der Protest bildete eine entscheidende Wendung in unserer Sache,“ erzählte Fröbel später im Frankfurter Parlament am 18. November. „Dieser Protest ist allerdings berücksichtigt worden. Sie sehen es in dem Tode Blum’s, auf welche Weise. Ich war (über den Protest) mit Blum verschiedener Meinung, und der Protest, den Blum aufsetzte, war mir nicht recht. Bei der Copie wurde am Schlusse eine Stelle weggelassen, welche eine Drohung enthielt.“

Dieser verhängnißvolle Protest liegt mir in Blum’s Concept im Original vor. Die Stellen, welche die „entscheidende Wendung“ herbeiführten, waren jedenfalls die folgenden:

„Nach dem Reichsgesetze vom 30. September dieses Jahres, welches von der deutschen Nationalversammlung (in der auch Oesterreich vertreten ist) beschlossen, von der in Oesterreich anerkannten Deutschen Centralgewalt promulgirt, von Sr. Kais. Hoheit dem Erzherzog Johann, Reichsverweser, unterzeichnet, und im Reichsgesetzblatt Nr. 2 ordnungsmäßig bekannt gemacht ist – darf kein Abgeordneter der Deutschen Nationalversammlung verhaftet oder in Untersuchung gezogen werden, ohne Zustimmung der Versammlung selbst. Die Unterzeichneten sind nun gegen das angezogene Reichsgesetz seit fünf Tagen verhaftet.“ Folgt die Aufzählung der Schritte, die sie bis dahin zur Erlangung ihrer Freiheit gethan. „Unter diesen Umständen, auf Grund des Reichsgesetzes vom 30. September, auf Grund der von Seiner Majestät dem Kaiser von Oesterreich seinen Staaten vielfach garantirten constitutionellen Einrichtungen, und auf Grund des fürstlichen Wortes des Herrn Feldmarschalls Fürsten zu Windischgrätz Durchlaucht, die constitutionellen Einrichtungen nicht schmälern zu wollen, erfüllen die Unterzeichneten hiermit gegen das Deutsche Volk, gegen das Gesetz und gegen die Nationalversammlung eine heilige Pflicht, indem sie einen

feierlichen Protest

erheben gegen ihre Verhaftung sowohl, wie gegen das Verfahren seit dieser Verhaftung, und die Verantwortlichkeit für die Nichtachtung des Gesetzes auf die Urheber desselben wälzend (hier folgte die von Fröbel beseitigte Drohung: „und behalten sich vor, gegen dieselben alle gesetzlichen Mittel in Anwendung zu bringen, sobald sie dazu im Stande sein werden“), sehen wir uns genöthigt, den anliegenden Protest gehorsamst zu überreichen.“ Schließlich wird gebeten diesen Protest auch „an die Deutsche Nationalversammlung und unsere Wähler gelangen zu lassen, damit dieselben erkennen, daß mir das Gesetz, zu dessen Erlassung und Erhaltung man uns gewählt hat, nach unsern Kräften selbst im Kerker wahren.“

In seinem Berichte vor dem Frankfurter Parlamente über die letzten Lebenstage Blum’s führt Fröbel auch aus, daß man einen Agent provocateur am 8. November mit ihnen zusammengesteckt habe, der Blum in auffallender Weise alle Belastungsmomente abgefragt und ihn zu einem möglichst energischen Proteste angefeuert habe. „Er legte es Blum dringend an’s Herz,“ sagt Fröbel, „daß wir einen Fehler begangen, indem wir nicht energisch genug protestirt und unsere Eigenschaft als Deputirte nicht genug in den Vordergrund gestellt hätten. ‚Sie kennen,‘ sagte er, ‚die österreichischen Behörden nicht. Wenn Sie energisch auftreten, werden Sie sehen, daß Sie morgen frei sind.‘“ Es darf leider das Doppelte hiernach nicht bezweifelt werden: einmal, daß die „hohe Centraluntersuchungscommission“ zu diesem jämmerlichen Mittel griff, um ihr dürftiges Anklagematerial gegen Blum zu verstärken und namentlich den Zorn des Fürsten aufzuregen durch den ungebeugten Mannesmuth und den Glauben an die eigene Unverletzlichkeit, welchen jener Mann besaß und auch offen in jeder Eingabe an die Behörden aussprach. Und zweitens: daß Blum so unbefangen war, in der plumpen Falle des Spitzels sich fangen zu lassen. Nordstern in seiner Geschichte der Octoberrevolution nennt den Namen desselben. Der Genannte lebte 1873 noch und hat damals brieflich mich förmlich beschworen, den ungerechten Verdacht durch eine öffentliche Erklärung meinerseits von ihm zu nehmen. Ich verschweige daher den Namen, den Nordstern nennt. Nun folgte unmittelbar das Verhängniß. „Um vier hatten wir den Protest übergeben,“ sagt Fröbel, „um sechs Uhr wurde Blum zum Verhör gerufen. Die Zeit von zwei Stunden ist ungefähr das, was nothwendig war, um den Protest nach Hetzendorf zum Fürsten Windischgrätz zu bringen und einen Befehl als Antwort zu erhalten. Um acht Uhr war das Verhör aus.“

Zwei Briefe liegen mir vor, welche ein eigenes Urtheil des Fürsten Windischgrätz über das mannhafte, furchtlose Verhalten Robert Blum’s, seine rückhaltlose Wahrheitsliebe vor seinen Richtern und seinen tapfern Todesmuth am folgenden Morgen bekunden. Der einer dieser Briefe ist von dem ehemaligen sächsischen Märzminister Braun, der andere von dem noch lebenden hochconservativen Mitgliede der ersten sächsischen Kammer, dem Klostervoigt von Posern. Beide Briefe sind aus dem Jahre 1867 an mich gerichtet. Beide bestätigen, daß Herrn von Posern gegenüber Fürst Windischgrätz (1859 oder 1860) sich rühmlich über Robert Blum’s Haltung vor dem Kriegsgerichte und bei seiner Hinrichtung ausgesprochen haben soll. Nach einer glaubhaften Version soll der Fürst damals sogar eine Art von Reue darüber ausgesprochen haben, daß er Blum habe erschießen lassen, natürlich nur in so weit, als bei dem Fürsten überhaupt von Reue die Rede sein konnte. Auch das Protokoll über das Verhör mit Blum, das Helfert im Anhange des dritten Bandes seiner „Oesterreichischen Geschichte“ mittheilt, läßt trotz seiner geflissentlichen Kürze und Farblosigkeit und trotz der Gewißheit, die es bietet, daß Blum in einem so grauenhaften Deutsch, wie es ihm hier in den Mund gelegt wird, nicht gesprochen haben kann, die muthige Haltung Blum’s und den unerschütterten Glauben an seine Unverletzlichkeit erkennen.

Dieses Protokoll über das Verhör Blum’s vor dem Kriegsgericht bildet die einzige actenmäßige Grundlage für seine Verurtheilung, und gerade deshalb läßt es uns mit Schauern die ganze Tiefe des Abgrundes von Rechtlosigkeit und Willkür [746] erkennen, in welchen im Namen und unter dem Schein des Rechtes das edle Opfer gestürzt werden sollte.

Dieses Protokoll bekennt zunächst selbst, daß als „Grundlagen“ für das über Blum abgehaltene kriegsgerichtliche Verhör lediglich Folgendes diente:

„Erstens Auftrag des Herrn G.-M. Cordon mit: a. ein Zeitungsabdruck der ‚Presse‘ ddo. 25. October; b. ein Zeitungsabdruck der ‚Ostdeutschen Post‘ ddo. 24. October; c. Auszug aus dem Sitzungsprotoll des Gemeindeamtes der Stadt Wien ddo. 18. October 1848. – Zweitens Bericht über die Arretirung Robert Blum’s, ddo. 4. November mit: a. Schreiben des Robert Blum, Fröbel, Moritz Hartmann, Albert Trampusch (vom 3. November), b. Schlüssel zu dem Koffer“ – auch eine Grundlage!

Wir haben also an „Grundlagen“ für das Kriegsgericht oder, um es gerade heraus zu sagen, für die Tödtung Robert Blum’s: einen „Auftrag“ des G.-M. Cordon, zwei Zeitungsartikel, nicht von Blum, möglicher Weise über Blum – das Nähere verräth das Protokoll nicht – den Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Gemeinderathes, welches absolut nichts Belastendes für Blum enthalten haben kann, das völlig harmlose Protokoll über die Verhaftung, das ebenso harmlose Schreiben der Abgeordneten vom 3. November (das im Eingang mitgetheilt wurde) und – last not least – den Kofferschlüssel Blum’s! Das war der Apparat, mit welchem die Anklage auf Tod und Leben erhoben wurde!

Was sagte nun Robert Blum vor dem Kriegsgerichte aus? Unter Weglassung alles Dessen, was das Kriegsgericht selbst als gleichgültig ansah, nur das Folgende:

„Wir fanden die Verhältnisse (in Wien) anders, als wir geglaubt hatten, und ich habe, wahrscheinlich am 23. October, auf der Aula eine Rede gehalten, deren Sinn dahin ging, daß man an die Stelle des früheren Bandes der Gewalt, welches die verschiedenen Nationalitäten des österreichischen Kaiserstaates zusammengehalten, das Band der gemeinsame Freiheit und der Anerkennung der gleichen Berechtigung aller Nationalitäten setzen müsse, damit die gemeinsame Freiheit sie inniger binde, als es die Gewalt bisher vermochte.“ Weiter: „Am 26. ließ ich mit Fröbel, auf Zureden des Commandanten Hauk, in das Elite-Corps mich einreihen und wir wurden zu Hauptleuten gewählt und bezogen mit einer Compagnie einen Posten (also nicht einmal das Geständniß activer Theilnahme am Kampfe ist durch das Protokoll erwiesen!) an der Sophienbrücke beim Rasumossky’schen Palais, wo Kanonen im den Garten gegenüber dem Fluß gerichtet waren. Ich muß noch bemerken, das ich und Fröbel am 29. October früh die Waffen abgelegt haben, weil das Elite-Corps nicht zu dem Zwecke verwendet wurde, zu welchem es ursprünglich bestimmt war, nämlich die innere Stadt in Ruhe und Ordnung zu halten. – Ich muß hier auf jenes in Deutschland gültige Gesetz aufmerksam machen, wonach ein Deputirter nicht verhaftet und in Untersuchung gezogen werden kann, ohne vorher die Genehmigung der Nationalversammlung einzuholen. Praelecta confirmat. Robert Blum m. p.

Nach Schluß des Verhörs wurde Blum in seine Zelle zu Fröbel zurückgeführt. Er hatte kaum den wesentlichen Inhalt seines Verhörs dem Freunde erzählt und von diesem ernste Besorgnisse über die Offenheit seiner Bekenntnisse vernommen, als Blum wieder abgerufen wurde. Er drückte Fröbel die Hand zum Abschiede, ruhig und ahnungslos wie bisher. Fröbel konnte die Thränen kaum zurückhalten und umarmte den Freund bewegt. „Auf Wiedersehen!“ sprach Blum – und sie schieden für immer!

Die Nacht brachte Blum in einer Zelle zu mit Terzky, Camillo Hell und einem Polen. Er hatte keine Ahnung, daß sein Schicksal bereits entschieden war. Aus gesundem tiefem Schlaf wurde er früh gegen fünf Uhr geweckt und allein in eine dritte Zelle geführt. Hier trat alsbald Pater Raimund von den Schotten zu ihm ein, der in tiefer Nacht auf das Klingeln einer Ordonnanz geweckt und hierher beschieden war, und erklärte Blum, daß er den Auftrag habe, ihn – zum Tode vorzubereiten. Blum erwiderte, das müsse ein Mißverständniß sein. Da trat ein Auditor herein, welcher ihm das nachstehende Urtheil vorlas:

Urtheil, welches in dem auf Befehl des k. k. hohen Militär-Stadtcommandos in Wien zusammengesetzten permanenten Standrechte mit Einheit der Stimmen geschöpft wurde: Herr Robert Blum, welcher bei erhobenem Thatbestande durch sein Geständniß und durch Zeugen[1] überwiesen ist, am 23. October l. J. in der Aula zu Wien durch Reden in einer Versammlung zum Aufruhre aufgeregt, um am 26. October l. J. an dem bewaffneten Aufruhre in Wien als Commandant einer Compagnie des Elite-Corps thätig Antheil genommen zu haben – soll nach Bestimmung der Proclamation Sr. Durchl. des F.-M. Fürsten zu Windischgrätz vom 20. und 23. October,[2] dann nach § 4 im 62 Art. der Th. Gerichtsordnung mit dem Tode durch den Strang bestraft werden. So gesprochen in dem Standrechte, angefangen um halb sechs Uhr Abends, am 8. November 1848. Cordier, Major, Präses. Wolferom, Hauptmann, Auditor.“ – Ist kundzumachen und in augenblicklicher Ermangelung eines Freimanns mit Pulver und Blei durch’s Erschießen zu vollziehen. Wien, den 8. November 1848. Im Namen Sr. Durchlaucht des Herrn Feldmarschalls. Hippsich, G.M.[3]

Blum hörte tiefbewegt, doch standhaft und gefaßt den blutigen Spruch. Der Auditor verließ die Zelle. Blum war mit dem Pater allein. Es ist bekannt, daß Blum unter Berufung auf sein deutsch-katholisches Bekenntniß den Geistlichen bat, ihn mit der Ohrenbeichte zu verschonen, und ihm beim Abschiede sagte: „Es hat mich sehr gefreut, in Ihnen zum Unterschiede von leider so vielen Pfaffen einen ehrenwerthen, wahrhaft geistlichen Mann kennen gelernt zu haben. Ich möchte Ihnen gern ein Andenken hinterlassen, allein ich habe jetzt nichts mehr als meine Haarbürste. Wollen Sie diese von mir annehmen, so machen Sie mir noch eine Freude.“ Nicht bekannt aber ist, daß in jener ernsten Stunde zwischen den beiden Männern nicht blos von geistlichen Dingen die Rede war. Der Pater war der Träger der letzten Möglichkeit einer Rettung Blum’s.

Als nämlich die politischen Freunde Blum’s in Frankfurt von seiner Verhaftung hörten, was etwa den 6. der Fall war, erklärte Karl Vogt mit seinem richtigen realistischen Instincte den vertrautesten Parteigenossen rund heraus, daß er Blum für verloren halte, wenn derselbe nicht in den Besitz einer Summe Geldes gesetzt werde, die den muthmaßlichen Durchschnittspreis der Ehrlichkeit seiner Wächter erreiche. Wenige Stunden darauf stand Karl Vogt an der Spitze einer kleinen Deputation vor Rothschild und bat ihn, gegen gute Procente die Summe von etwa 3000 Gulden in Robert Blum’s Hände nach Wien gelangen zu lassen. Der alte Rothschild schüttelte den Kopf und fand das Geschäft bedenklich. War er doch österreichischer Freiherr! Der jüngere aber fand die Procente des Wagnisses werth und sagte zu. Während die Quittung ausgeschrieben wurde, blieb Vogt allein zurück und bat nun Auskunft, auf welchem Wege denn das Geld an den gefangenen Blum besorgt werden solle. Der Börsenkönig wollte lange nicht heraus mit der Sprache. Endlich sagte er, wie Karl Vogt mir persönlich mittheilte, flüsternd: „Durch den Prior des Schottenklosters in Wien.“ Allein auch diese Hülfe kam nun zu spät. Wer hätte es gewagt, für den zehnfachen Preis dem Fürsten Windischgrätz eine Beute zu entreißen, die man sich in Hetzendorf nun keinenfalls mehr hätte entgehen lassen! Blum begriff dies rasch. Das Geld ist bald nach seinem Tode zurück nach Frankfurt gelangt und zu den Sammlungen für die Wittwe und Waisen Blum’s gezogen worden.

Das Scheiden von Weib und Kind, ohne die Lieben noch einmal gesehen zu haben, ohne ihre Zukunft auf sicherer Grundlage zu wissen, machte Robert Blum die letzte Stunde am schwersten, zumal er die Gattin schwindsüchtig glaubte. Dem Pater Raimond soll er auf dem Wege zur Richtstätte oftmals zugerufen haben: „Nicht der Abgeordnete Blum weint, nur der Gatte und Vater.“ Die ganze Gefühlstiefe und Seelengröße des Mannes ist aber gezeichnet in dem letzten Briefe an seine Gattin. Oft ist dieser gedruckt, lithographirt, facsimilirt worden, aber niemals, meinen wir, kann er zu oft gelesen werden. Er lautet:

„Mein theures, gutes, liebes Weib, lebe wohl! wohl für die Zeit, die man ewig nennt, die es aber nicht sein wird. Erziehe unsere – jetzt nur Deine Kinder zu edeln Menschen, dann werden sie ihrem Vater nimmer Schande machen. Unser kleines Vermögen verkaufe mit Hülfe unserer Freunde. Gott und gute Menschen werden Euch ja helfen. Alles, was ich empfinde, rinnt in Thränen dahin, daher nur nochmals: leb’ wohl, theures Weib! Betrachte unsere Kinder als theures Vermächtniß, mit dem Du wuchern mußt, und ehre so Deinen treuen Gatten! Leb’ wohl, leb’ wohl! Tausend, tausend, die letzten Küsse von Deinem Robert! – Wien, den 9. November 1848, Morgens fünf Uhr; um sechs Uhr habe ich vollendet. – Die Ringe hatte ich vergessen; ich drücke Dir den letzten Kuß auf den Trauring. Mein Siegelring ist für Hans, die Uhr für Richard, der Diamantknopf für Ida, die Kette für Alfred als Andenken. Alle sonstigen Andenken vertheile Du nach Deinem Ermessen! Man kommt! Lebe wohl, wohl!“

[747] Er fuhr nun mit einem Geistlichen und unter Begleitung dreier Jäger in einem verschlossenen Wagen bis zur Reitercaserne in der Leopoldstadt. Hier wollte man Blum, wie üblich, Ketten anlegen. Er sträubte sich dagegen und sprach: „Ich will als freier deutscher Mann sterben. Sie werden mir auf mein Wort glauben, daß ich nicht den lächerlichen Versuch machen werde, zu entkommen. Verschonen Sie mich mit Ihren Ketten!“ Gegen halb acht Uhr langte der Wagen unter sehr starker Infanterie- und Cavallerie-Escorte – gleichzeitige Berichte sprechen von 2000 Mann – auf dem zur Richtstätte erlesenen Platze in der Brigittenau an, damals einem Militärschießplatz mit Kugelfängen und einigen Bretterhütten; im Hintergrunde in weitem Bogen Erlen und Weiden und im Frühnebel dämmerndes Gebirge. In der Mitte der Militärmasse angelangt, fragte Blum, wer ihn erschießen werde? „Jäger,“ lautete die Antwort. – „Nun, das ist mir lieb,“ sagt Blum, „die Jäger sollen gut schießen.“ Als man ihm die Augen verbinden will, sagt er: „Er wolle dem Tode frei in’s Auge sehen“. Der commandirende Officier bittet ihn, das Verbinden der Sicherheit der Schützen wegen geschehen zu lassen. Da schlingt er sich die Binde selbst um die Augen, stellt sich vor das Peloton und ruft: „Ich sterbe für die Freiheit; möge das Vaterland meiner eingedenk sein!“ Drei Schüsse krachen zugleich. Sie haben Brust und Kopf des deutschen Mannes durchbohrt; er sinkt rücklings und verblutet – eine Leiche, einen Tag vor seinem 41. Geburtstage. – –

In ganz Deutschland brach ein Sturm der Entrüstung los, als die Kunde von der „Ermordung“ Blum’s ruchbar wurde. Das deutsche Parlament, das sächsische Ministerium, Rath und Stadtverordnete zu Leipzig, Hunderte von Volksversammlungen und Millionen deutscher Männer forderten Sühne für das begangene Verbrechen: Alle umsonst; denn wir waren ein ohnmächtiges Volk. In rührendster Weise zeigte sich, wie herzlich das Volk an dem Erschossenen gehangen. In Mannheim flaggten alle Schiffe schwarz; Todtenfeiern fanden überall statt; reich waren im Vergleich zu der damaligen Armuth unseres Volkes die Sammlungen für Blum’s Hinterlassene zu nennen. Manches schöne Gedicht hat die Erregung der schmerzlichen Kunde geboren, keines schöner als Freiligrath’sBlum“:

„Vor zweiundvierzig Jahren war’s, da hat mit Macht geschrieen
Ein siebentägig Kölner Kind auf seiner Mutter Knieen!
Acht Tage sind’s, da lag zu Wien ein blut’ger Mann im Sande –
Heut scholl ihm Neukomm’s Requiem zu Köln am Rheinesstrande.“

Wir haben heute erreicht, was Robert Blum erstrebte und bei seinem Tode unerfüllt sah; wir haben es erreicht, in anderer Weise, als er dachte und auch unter uns Viele erwarteten. Einem Manne danken wir vornehmlich die Verwirklichung unserer nationalen Einheit. So mag denn dieses Mannes Urtheil über Robert Blum dieses Lebensbild beschließen.

Am 23. Mai 1870 nach einer Sitzung des Reichstages, in welcher das Strafgesetzbuch durch meine Stimme mit zu Stande gekommen war und in der mich die Herren Socialisten beschimpft hatten, ersuchte mich der Bundeskanzler, Graf Bismarck, in sein Cabinet zu kommen. Er reichte mir seine Rechte und sagte: „Lassen Sie uns in dieser Stunde, von der ich hoffe, daß sie für ganz Deutschland segensreich sein wird, ein Bündniß schließen“ – ich stutzte – „ein Bündniß,“ sagte er mit seinem Lächeln – „nicht zu Gunsten eines von uns oder eines Lebenden – sondern zu Gunsten eines Todten. Wenn es den Herren Socialisten wieder einfallen sollte, Ihren Vater herabzuwürdigen dadurch, daß sie ihn für einen der Ihrigen ausgeben, so verfügen Sie über die Macht, die ich besitze, namentlich etwa in der Presse, um dieses Bild rein zu halten. Ihr Vater war sehr liberal – er würde auch heute, wenn er noch lebte, sehr liberal sein. Aber er war auch gut national.“

Hans Blum.




Zum zehnten November.
Ein Mahnwort an die deutsche Nation.

Der Deutsche, der den Geist seiner Nation ehrt, wird den Namen „Friedrich Schiller“ nie ohne das Gefühl der Erhebung aussprechen – so groß steht der Mann vor unserer Seele, und so innig ist er mit unserem Leben und Weben verbunden. Dieser Zauber seines Namens war es, der das hundertjährige Fest seiner Geburt zu einem hohen Feiertag der ganzen deutschen Nation erhob; er war es, der es möglich machte, daß eine wahrhaft volksthümliche Begeisterung sich einem Unternehmen zuwandte, das bis dahin außerhalb des Kreises der Volks-Theilnahme lag: der Gründung einer Stiftung für nothleidende Schriftsteller und Dichter, der „Schiller-Stiftung“.

Das Jahr 1869 offenbarte in großartigster Weise die Sehnsucht des deutschen Volkes nach politischer Einheit und Macht; ihre geistige Einheit hatte die Nation auf eigene Faust durch die allgemeinste Verherrlichung ihres geliebtesten Dichters dargethan. Das Schillerfest hatte die Deutschen auf der ganzen bewohnten Erde zu einer Feier vereinigt, wie sie noch keinem Dichter, ja keinem Fürsten zu Theil geworden. Bis in das kleinste Dorf, die entfernteste Hütte, wohin wohl nie eine Zeile seiner Dichtungen gedrungen, ward sein Name getragen, und Hunderttausende von Bänden seiner Werke kamen nun erst in die Hände des Volkes. Gewaltige Ereignisse folgten diesem Jahre; sie hätten des Dichters Glanz in den Schatten stellen können, wenn nicht gerade in den Tagen der größten Gefahr sein Geist die Herzen erhoben und vor Allem sein „Wilhelm Tell“ die Begeisterung geschürt hätte. So feierte Friedrich Schiller mit uns Kampf und Sieg und den Triumph der deutschen Einheit in „Kaiser und Reich“. – Und dennoch steht die Thatsache beschämend vor unseren Augen, daß jenes erste Schillerfest fast überall in Deutschland das letzte war, daß fast nirgends das Bedürfniß sich zeigte, durch eine würdige Feier, dem Hohenpriester des Ideals geweiht, sich wenigstens einmal im Jahre der materiellen Richtung der Zeit zu entschlagen. Ja, es konnte die segensreichste Frucht jenes Schillerfestes, die „Schiller-Stiftung“, der großen Masse selbst der Gebildeten unseres Volkes aus dem Gedächtniß kommen und ihr etwas so Fremdes werden, als ob es die Kreise der Dichter und Schriftsteller allein angehe.

Besonders dieses letztere Verhalten ist bei der sonstigen Neigung zu freigebigem Wohlthun eine sehr auffallende Erscheinung. Wo suchen wir die Ursachen derselben? Gewiß nicht in geringerer Bildung der Gegenwart und daraus entspringender minderer Würdigung der Dichter, und ebenso wenig in geringerer Leistungsfähigkeit derselben. Im Gegentheil: wir können uns an Höhe und Ausbreitung geistiger Cultur mit jedem anderen Volke messen, ohne einem zu unterliegen, und unsere hervorragenden Dichter brauchen nicht mehr bis nach ihrem Tode auf öffentliche Verehrung zu wartet; sie wird ja den lebenden in vollem Maße zu Theil. Zudem ist die geistige Arbeit im Werthe gestiegen und der Schutz des geistigen Eigenthums ein Paragraph der Gesetze geworden. Auch die geistige Nahrung ist Tagesbedürfniß, und Guttenberg’s Kunst muß Dampf und Riesenmaschinen zu Hülfe nehmen, um jenes Bedürfniß zu befriedigen. Und dennoch war jene auffallende Erscheinung möglich! Wo sind die Ursachen?

Vielleicht finden wir sie in nächster Nähe und in jedem Hause. Trotz aller Bildung und Bildungsmittel, aller Lese- und Schaulust und aller Begierde nach immer neuen poetischen Schöpfungen fehlt uns Eines: ein innigeres Verhältniß zwischen den schaffenden Dichtern und dem empfangenden Volke. Es ist nicht genug, daß wir im Theater Beifall klatschen, wenn ein Stück uns gefällt; wird doch nicht selten von der Menge über dem Schauspieler der Dichter vergessen. Es ist nicht genug, daß wir das ergreifende Lied der Sängerin mit Beifall belohnten; bei der Abmessung desselben beansprucht der Componist den Löwenantheil. Es ist nicht genug, daß wir ein Epos, einen Roman der Leihbibliothek entnehmen, und daß einer neuen Novelle zu Liebe die Zeitungsblätter aus einer Hand in die andere gehen – das Alles ist gewiß schmeichelhaft für die Autoren, aber es ist nicht Das, was wir meinen.

Ich muß hier das Wort eines erfahrungsreichen Freundes citiren. Er schreibt mir hierüber: „Mit der Namensnennung eines Schriftstellers, den Beifallsäußerungen für einen von ihm empfangenen Genuß ist es allerdings nicht abgethan, so lange diese nicht [748] dem lebendigen Gefühle, dem deutlichen Bewußtsein entsprossen sind, daß die Literatur eines Volkes nicht ein ihm Aeußerliches, sondern der höchste Ausdruck, die edelste Blüthe und Frucht seines Wesens, das sprechendste Zeugniß seines Werthes und seiner Bedeutung in den Augen der Völker ist. Was würde eine noch so zahlreiche Nation in unserem Europa bedeuten, deren geistiges Schöpfungsvermögen nicht aus würdigen Gestaltungen der Vergangenheit und Gegenwart spricht? Und wenn der Aufschwung Deutschlands überhaupt möglich gewesen wäre ohne den Geist, den unsere Schriftsteller und Dichter geweckt, entzündet und herangebildet haben: was würden wir selbst mit allen unseren Siegen und Erfolgen sein ohne die Macht und den Glanz dieses Geistes und ohne das Ansehen, das er uns bei Freunden und Feinden giebt? Eine Nation soll sich daher des Besitzes ihrer Literatur nicht blos thatenlos freuen, sondern nach Kräften an ihrer Förderung mitwirken, sie vor Allem auch in ihren Pflegern und Trägern ehren, ermuntern und fruchtbar erhalten als ein unentbehrliches Gut, eine hochwichtige Angelegenheit des nationalen Interesses. An einem wahren Durchdrungensein von solcher Erkenntniß fehlt es aber bei uns noch sehr, und die Engländer und Franzosen könnten uns in dieser Hinsicht Beispiel und Muster sein. So konnten z. B. in Deutschland hervorragende, seit Jahrzehnten in der vordersten Reihe wirkende Schriftsteller die Erfahrung machen, daß bei einer Veranstaltung ihrer gesammelten Werke die Verleger diese einmal begonnenen Unternehmungen nur ehrenhalber zu Ende führten, da sie den beträchlichsten Theil der Kosten aus der eigenen Tasche bezahlen mußten. Solch eine Schmach würde in England und Frankreich nicht möglich sein. Jeder bemittelte und halbwegs gebildete Engländer oder Franzose fühlt und weiß, daß die Literatur seiner Nation auch für ihn arbeitet, daß er ihr gegenüber Pflichten der Ehre und des nationalen Anstandes, daß er ihr durch Anerkennung und Unterstützung fort und fort die Steuer seines Dankes zu entrichten hat.“

So könnte, so sollte es auch bei uns sein, aber nach dieser Seite hin ist die Mehrheit selbst unserer Gebildeten noch unglaublich kleinen und engen Sinnes. Selbst das regelmäßige Bücherkaufen gehört auch nicht zu den Gewohnheiten vieler unserer wohlhabenden deutschen Häuser, obwohl in ihnen viel gelesen wird. Ist es in unserem Kreise doch vorgekommen, daß ein reicher, sonst keineswegs geiziger Kaufmann zweimal an einem Tage seinen Livréebedienten zu einem befreundeten Publicisten schickte, um eine neue Schrift zu entleihen, die in jedem Buchladen für zwei Mark zu haben war. Gleich vielen seiner Standesgenossen hatte der Mann eben noch nicht das leiseste Bewußtsein seiner bürgerlichen Ehren- und Anstandspflichten in Bezug auf die literarische Production. Und doch ist gerade bei uns aus mannigfachen Gründen eine kräftige Förderung und Ermunterung des guten schriftstellerischen Schaffens so nothwendig, und es bedürfte wahrlich nur geringer Anstrengungen der Einzelnen, sie nutzsam zu erzielen.

In verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit hat sich unser deutscher Schriftstellerstand zu einem achtunggebietenden, durch bürgerliche Ehrenhaftigkeit und Solidität ausgezeichneten Berufskreise herausgebildet. Der Weg des Einzelnen jedoch ist vielfach ein dornen- und kampfesvoller. Sehr oft ermatten vielversprechende junge Talete schon nach ihren ersten Anfängen, weil ihnen alle Mittel zu ruhiger Arbeit und Entfaltung mangeln. Mitten in rüstigem und anerkanntem Schaffen wird die Zukunft Anderer vernichtet, weil Krankheit und widrige Geschicke sie mittel- und hülflos fanden. Andere wiederum werden frühe zurückgeschreckt durch das Beispiel manches verdienstreichen Standesgenossen, der bei fleißigem Leisten keine Capitalien sammeln konnte und nun ein trostlos verlassenes Alter in Sorge und schlimmer Bedrängniß fristet. Das sind düstere Punkte, wie sie mannigfach als Flecken auf dem Schilde unseres Namens um uns her sich finden und nicht allein aus Gründen des gewöhnlichen Mitgefühls, sondern vor Allem im Einblick auf die unleugbar höchsten Zwecke der Volksgemeinschaft dem öffentlichen Gewissen sich nahe legen sollen. Das Publicum verlangt eifrig nach Lectüre jeder Art, setzt sich auch den Producten gegenüber auf das hohe Pferd strenger Kritik und verlangt mit Recht von ihnen die möglichste Vollkommenheit. Nur selten aber fällt es Jemand ein, bei dem getadelten Werk nach den Geschicke des talentvollen Verfassers zu fragen, nach den Verhältnissen, unter denen er arbeiten muß, und ob nicht vielleicht seine Arbeit einem getrübten Geist und gepreßten Herzen sich entwunden hat.

Daran muß immer wieder erinnert werden und deshalb hat auch die „Gartenlaube“ ihren Lesern im Laufe der Zeit die Gestalt manches unglückliche Dichters vorgeführt. Wir wollen diese traurigen Bilder nicht wieder heraufbeschwören. Dagegen gehört hierher einer der Jüngsten und Begabtesten unter den Todten, den die „Gartenlaube“ geehrt hat und dessen erschütterndes letztes Schicksal ebenso an die so wünschenswerthe Vorsicht des Urtheils mahnt wie für die Nothwendigkeit der Schiller-Stiftung zeugt, so lange eben diese es ist, welche mit immerhin noch schwachen und unvermehrt gebliebenen Mitteln jene Lücke in unserer socialen Bildung auszufüllen hat, die wir als den Mangel der innigeren Beziehung zwischen Dichter und Volk bezeichnet habe. Jener Dichter ist Heinrich Schaumberger, dessen Lebensbild die „Gartenlaube“ in Nr. 44 ihres Jahrgangs von 1876 gebracht hat. Die folgende Stelle aus dem dort (S. 740) erwähnten Briefe[4] möge das Bild eines Mannes vervollständigen, der in der That mit antiker Seelengröße zu sorgen und zu schaffen, zu leiden, zu dulden und zu sterben wußte. Es war auf seinem Sterbebette, wo er, mit Bleistift, das Folgende niederschrieb:

„Nie empfand ich die Wahrheit des Wortes ‚Unbedingte Thätigkeit macht bankrott‘ so hart, als in diesem Herbste. Es war vielleicht vermessen, in meiner Krankheit, die jeden Augenblick eine Katastrophe befürchten ließ, einen dreibändigen Roman zu unternehmen. Aber wer kann dem innern Drange befehlen? Und ich sah nun einmal in der Arbeit: ‚Erlebnisse und Erfahrungen eines Lehrers‘ eine Lebensaufgabe. So begann ich das Wagniß. Leider wuchs mir die Arbeit unter den Händen; der Sommer ging hin, und als der böse Herbst kam, ein Anfall (Bluthusten) nach dem andern mich niederwarf, war ich noch lange nicht zur Schürzung des Knotens gelangt. Diese Noth ist unbeschreiblich! Wenn jeder Nerv, jede Muskel nach Ruhe schreit, sich an den Schreibtisch setzen und poetisch produciren, - das sind Folterqualen. Wenn man auf dem Stuhle zusammenbrechen möchte, die zitternde Hand den Dienst versagt, das fiebernde Gehirn keinen Gedanken zum andern bringt, – und doch die Angst nur die Zukunft von Weib und Kind, die ganz nahe drohenden Gespenster der Noth und des Hungers ihr fürchterliches ‚Du mußt!‘ fort und fort wiederholen – o, solch ein Schaffen ist Höllenqual! Und so habe ich mich Monate hindurch abgekämpft. – Zum Glück ist der Roman vollendet; wenn auch ängstliche Sorgen und Zweifel mich oft niederdrücken, ich will hoffen, daß die umfängliche Arbeit wenigstens nicht ganz ihren Zweck verfehlt und Weib und Kind noch einige Hülfe nach meinem voraussichtlich sehr bald eintretenden Hinscheiden bereiten möge.“

Wem unter unseren Lesern und besonders unter unseren Leserinnen wird es nicht eine erhebende Genugthuung sein, daß diesem Helden unter den Duldern und Dichtern der bittere Leidenskelch versüßt wurde durch die „Schiller-Stiftung“, daß dieselbe nicht nur die „Gespenster der Noth und des Hungers“ vom martervollen Sterbebette Schaumberger’s vertrieb, sondern den Sterbenden noch mit dem Trost erquickte, daß seine Lieben nicht verlassen seien, daß der Lohn für sein Dichterstreben ihnen zu Gute kommen solle! Und mit und nach Schaumberger war es bisher noch eine ganze Reihe von Anderen, denen solcher Trost gewährt, denen auch die Hand zu noch möglicher Rettung für weiteres Schaffen gereicht werden konnte. Gewiß, der Segen solcher Unglücklichen ehrt die Stiftung alle Zeit und verpflichtet uns, das Gedeihen derselben uns eine heilige Sorge sein zu lassen, da sie unbedingt ein vorhandener tüchtiger Kern ist, an welche eine umfassendere Thätigkeit der Nation in großer Organisation sich schließen kann.

Diese Sorge aber muß jetzt laut reden, sehr laut, um diese Schöpfung zu Schiller’s Ehre kräftiger zu beleben, die Gleichgültigkeit, mit der sie von der großen gebildeten Masse unseres Volkes behandelt wird, zu bannen und für die hohe Bedeutung derselben Augen, Herzen und Hände zu öffnen.

Ist es nöthig, Ursprung, Zweck und Wirksamkeit der „Schiller-Stiftung“ unserem Volke wieder in’s Gedächtniß zu bringen, so kann das mit wenigen Worten geschehen. – Wie das Schiller-Haus in Gohlis und der Wunsch der Erhaltung desselben die Gründung des Leipziger Schiller-Vereins mit veranlaßte, so war für die

[749]

Friedrich Schiller’s Todtenmaske.[5]
Originalzeichnung von O. Weinberg in Weimar.

[750] Dresdener Schiller-Verehrer das nach dem Dichter benannte Häuschen in Löschwitz der Wallfahrtsort, wo schon 1855 Dichter Julius Hammer den Gedanken einer Stiftung zu Schiller’s Ehren aussprach. Da der Steinmetzmeister Uhlmann die Summe, die er für die marmorne Gedenktafel am Schiller-Häuschen erhalten sollte, nicht annahm, so bildete dieses Geschenk des wackern Bürgers den Geldstock der neuen Stiftung. Vier Jahre später, „zu Schiller’s Jubelfeier“, erging der (in der „Gartenlaube“ von 1859, S. 692 abgedruckte) Aufruf der „constituirenden Versammlung der deutschen Schiller-Stiftung“ an die Nation. Als Zweck der Stiftung bestimmte der zweite Paragraph des Statuts:

„Deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, welche für die Nationalliteratur (mit Ausschluß der strengen Fachwissenschaften) verdienstlich gewirkt, vorzugsweise solche, die sich dichterischer Formen bedient haben, dadurch zu ehren, daß sie ihnen und ihren nächstangehörigen Hinterlassenen in Fällen über sie verhängter schwerer Lebenssorge Hülfe und Beistand darbietet. – Sollten es die Mittel der Satzung erlauben und Schriftsteller und Schriftstellerinnen, auf welche obige Merkmale nicht sämmtlich zutreffen, zu Hülfe und Beistand empfohlen werden, so bleibt deren Berücksichtigung dem Ermessen des Verwaltungsraths überlassen.“ –

Das Capital, welches der Aufruf eingebracht, betrug 70,000 Thaler. Zur raschen Vermehrung desselben unternahm Major Serre, mit Hülfe von Bürgermeister Härtel und Alexander Ziegler, die Schiller-Lotterie, von deren reinem Ertrag von 451,248 Thalern ein Drittel an die von Serre schon früher in’s Leben gerufene Tiedge-Stiftung abging. Der Rest erhob das Capital der „Dresdner Zweigstiftung“ zur Höhe von 318,250 Thalern, von welchem jährlich vier Fünftel des Zinsertrags an den Verwaltungsrath der „Deutschen Schiller-Stiftung“ (die „Centralcasse“) abzuliefern sind. Zur Einahme der Letzteren kommen noch zwei Drittel von den Zinsen der übrigen Zweigstiftungscapitale. Nach der Vermögenstabelle der Zweigstiftungen beträgt für das Jahr 1878 der Jahresbeitrag: Dresden 33,360 Mark; der der Zweigstiftungen Oesterreichs (das in dieser nationalen Sache noch mit Deutschland Eins ist) 3000 Gulden ö. W., und zwar von Brünn 216 Gulden, von Gratz 72 Gulden, von Linz 54 Gulden, von Salzburg 58 Gulden und von Wien 2600 Gulden ö. W. Der Beitrag der übrigen achtzehn Zweigstiftungen Deutschlands: Berlin, Breslau, Danzig, Darmstadt, Frankfurt a. M., Hannover (Nienburg), Hamburg, Köln, Königsberg i. Pr., Leipzig, Lübeck, Mainz, München, Nürnberg, Offenbach, Stuttgart, Weimar und die badische Zweigstiftung der Städte Mannheim, Karlsruhe und Heidelberg, beträgt für 1878 die Summe von 6070 Mark. Im vorigen Jahre kamen der Centralcasse noch die Ehrengaben der Kaiser von Deutschland (1000 Mark), von Oesterreich (500 Gulden ö. W.), der deutschen Kaiserin (150 Mark), des Königs von Sachsen (500 Mark) und der Großherzoge von Weimar und Baden, zwei Legate in Wien, die Tantiemen der dramatischen Werke Rosenthal’s und ein Gastspielhonorar von Friedrich Haase zu Gute.

Was nun die Thätigkeit der Stiftuung betrifft, so giebt der Ueberblick eines Jahresberichts uns das deutlichste Bild derselben. Wir wählen den letzten, von 1877.

In diesem Jahre hat die Centralcasse die Gesammtsumme von 43,432 Mark 86 Pfennig verausgabt. Davon entfielen 15,192 Mark 86 Pfennig an lebenslänglichen Pensionen für 25 Personen, darunter 12 Wittwen und 4 Kinder und Enkelinnen von Dichtern; – ferner 18,385 Mark an mehrjährigen Bewilligungen für 46 Personen, darunter 21 Wittwen und andere Angehörige; endlich 9,855 Mark einmalige Zuwendung für 38 Personen, darunter 9 Wittwen und 3 andere Anverwandte von Dichtern. Außerdem sind von 9 Zweigstiftungen (Baden, Berlin, Breslau, Danzig, Darmstadt, Dresden, Stuttgart, Weimar und Wien) noch 74 Personen, darunter 10 Wittwen, mit Pensionen im Gesamtbetrag von 5970 Mark und 1315 Gulden ö. W. bedacht worden.

Wie erfreulich und tröstlich nun auch diese Zahlen uns anmuthen mögen, so ist die Kehrseite der Medaille desto betrübender. Muß der Verwaltungsrath in diesem Bericht „angesichts der sich von Jahr zu Jahr mehrenden Eingaben junger, noch erst im Werden begriffener Schriftsteller darauf aufmerksam machen, daß, den Satzungen nach, nur wirklich schon erworbene Verdienste um die deutsche Literatur die Grundlage bilden, welche, unter dem Hinzutreten bedrängter Umstände, zu Ansprüchen an die Stiftung berechtigen“ – so spricht noch deutlicher ein anderer Bericht, nach welchem seit dem Bestehen der Stiftung bis Ende 1874 im Ganzen 227 Schriftsteller oder deren Hinterbliebene unterstützt worden, daß dagegen nicht weniger als 233, also mehr als die Hälfte, mit ihren Gesuchen zurückgewiesen werden mußten. Man schreibt uns klar und offen: „Die Noth ist allenthalben groß, und die Mittel der Stiftung müssen immer mehr eingetheilt werden.“ Auch dieses Eintheilen hat seine Grenze, wenn die Ehrengaben wirklich Ehrengaben bleiben und nicht zum bloßen Almosen herabsinken sollen.

Wie dieses Mißverhältniß zwischen Ansprüchen und Mitteln über die „Schiller-Stiftung“ gekommen, liegt klar am Tage. Die Einnahmen derselben sind seit den Tagen des glücklichen Lotteriewagnisses des edlen Serre nur unbedeutend gewachsen, während in diesen neunzehn Jahren die Preise aller Lebensbedürfnisse in einer Weise gestiegen sind, daß ein Einkommen, das vor Jahren noch zufriedenstellend war, heute die bittersten Entbehrungen auferlegt.

Es ist wahrhaft empörend, von herzlosen Gegnern der „Schiller-Stiftung“ den Einwurf hören zu müssen, daß die Schriftsteller-Honorare jetzt so anständig seien, daß Jeder auch ohne die Stiftung für sich und die Seinen müssen sorgen können. Diese günstige Zeit kommt meist nur nur einem Theile der jüngeren Generation zu Gute. Man werfe einen Blick auf die Listen der Pensions-Empfänger! Das Herz blutet Einem, Namen zu lesen, die zu den Ehren unserer Literatur gehören. Wie wohl auch die ehrende Hülfe thun mag, immer bleibt es ein drückendes Gefühl, auf Männer blicken zu müssen, die selber oder deren Wittwen in ihren alten Tagen auf Hülfe angewiesen sind. Noch trauriger wird aber das Bild, wenn die bescheiden zugemessenen Gaben aus Mangel an Mitteln noch beschränkt werden müssen, abgesehen von jenen Armen, denen selbst diese bescheidene Hülfe ganz versagt werden muß.

Es ist keine Frage, daß es energischen Vorgehens bedarf, wenn die Schillerstiftung, die eine Ehrenpflicht der Nation übernommen hat, diese auch ehrenvoll erfüllen soll. Nur ungern spreche ich es aus, aber es ist leider wahr: die Nation hat auch in Bezug auf die Schillerstiftung ihre Pflicht nicht erfüllt und derselben nicht dauernd gewährt, was sie den hohen und großen Zwecken derselben mit geringen Opfern zu gewähren vermochte. Die Schule kann hier viel für den Wandel des Sinns thun, aber der rechte Anstoß für das Werk muß auch aus den Familien kommen. Wenn am Abendtisch den Kindern schon die Achtung vor den veredelnden Geistern der Nation und die Theilnahme für ihr Schicksal in die junge Seele gelegt wird, so werden Mutter und Vater auch zu öffentlicher Thätigkeit für eine Stiftung sich bewogen fühlen, die ihrem Herzen wohlthun muß. Wenn in der Familie nur erst die Schiller-Verehrung sich Bahn bricht, so ist der zweite Schritt schon halb gethan, der uns zum Ziele führt.

Wir haben gesehen, daß beiden großen Reiche Deutschland und Oesterreich zusammen für die „Schiller-Stiftung“ nur vierundzwanzig Zweigvereine aufzubringen vermochten. Hier ist der Hebel einzusetzen. Keine deutsche Stadt wird sich von der Theilnahme an diesem Nationalunternehmen ausschließen, wenn ein rechter Mann und eine rechte Frau sich der Sache annimmt. Vor Allem hüte man sich aber, ein Werk, das einen Dichter ehren soll, mit der bloßen Rechentabelle anzufangen! Die Poesie, die Kunst müssen Führer sein – dann folgt Alt und Jung. Man gründe vor Allem Schiller-Vereine, die sich, noch dem Muster des Leipziger, zur Aufgabe stellen, den Geburtstag des Dichters jährlich mit einem Schillerfest zu begehen! Rede, Musik und Gesang leben in Deutschland überall; selbst in der kleinsten Stadt, ja in zahlreichen Ortschaften sind sie im Stande, ein Fest zu verherrlichen. Wo aber ein Schiller-Verein und ein Schillerfest die Menschen zusammengeführt haben, da wird die Gründung eines Zweigvereins zur „Schiller-Stiftung“ sich den beiden von selbst anfügen.

Soll ich noch einen stillen Wunsch aussprechen, so geschieht es im Hinblick auf den Dichter, der „die Ehre der Frauen“ so herrlich feierte. Die Schiller-Vereine stellen keine politische Rednerbühne auf; wo aber Gemüth und Geschmack die Bahn zu einer edlen That bereiten sollen, da würde ich in der Versammlung [751] Sitz und Stimme auch den Frauen und Jungfrauen als ein Recht geben.

Das ist der dringende Mahnruf an die deutsche Nation. Ich habe in keinem Auftrage gesprochen und darum mich von Allem fern gehalten, was Geschäft und Statut der „Schiller-Stiftung“ bedingen. Zeigt sich der gute Wille zur That bereit, so wird der Ordnung auch ihr Recht werden. Nur Eines sei noch bemerkt: Nicht um eine Bettelei, um eine Mitleidsgabe, ein Almosen handelt es sich, sondern um die Befriedigung vollberechtigter Ansprüche, um die Hinwegwischung eines unsere Cultur beschämenden Makels, um eine freudig und aus ganzem Herzen zu erfüllende Pflicht gegen uns selber als nationale Gesammtheit. Seit Jahren hat die „Schiller-Stiftung“ diese Fahne entfaltet. Mögen ihr endlich alle Diejenigen folgen, die bisher aus Trägheit, Gleichgültigkeit oder falscher Auffassung sich fern gehalten haben![6]

Dr. Friedrich Hofmann.
  1. Im Protokoll steht nichts von Zeugen. Keinesfalls ist die Aussage solcher Blum vorgehalten, keinesfalls ist ihm ein Zeuge nur genannt worden.
  2. Dies das einzige Gesetz, welches das Urtheil anführt, – die Willkürverordnung eines nicht einmal mit legalem Auftrag versehenen Heerführers; die Th. Gerichtsordnung ist ein Proceß, kein Strafgesetz.
  3. Hieraus geht deutlich hervor, daß das „Urtheil“ dem Fürsten zur Bestätigung vorgelegt wurde. – Ein späterer Zusatz lautete: Kundgemacht und mit Pulver und Blei durch Erschießen vollzogen am 9. November 1848, halb acht Uhr Morgens. Wolferom. Hptm. Aud.
  4. Vergl. „Gesammelte Werke von Heinrich Schaumberger (Wolfenbüttel, bei Jul. Zwißler), Bd. 9, S. 178 ff.: Briefe an Dr. Fr. Hofmann in Leipzig“.
  5. Am Tage nach Schiller’s Tode erhielt der weimarische Bildhauer Klauer von Frau von Schiller die Erlaubniß, eine Gypsabguß von dem Antlitze des großen Todten zu nehmen. Es wurden zwei Abformungen des Gesichts und der vorderen Kopfhälfte bis in die Gegend der Ohröffnungen vorgenommen, die beide sehr gut gelangen. Die hintere Hälfte des Kopfes ergänzte Klauer aus freier Hand, sodaß die Gypsabformung den ganzen Kopf Schiller’s mit der obersten Partie des Halses darstellt. – Beide Abgüsse kamen in den Besitz des Kaufmanns Friedrich Martin, dessen Gattin Klauer’s Tochter war, und dieser verehret einen der Abgüsse dem Bürgermeister Schwabe in Anerkennung seiner Verdienste, die dieser sich als junger Mann bei Schiller’s Bestattung und 1826 bei Aufsuchung von Schiller’s Gebeinen erworben hatte. Der Sohn desselben wurde als Erbe dieses Kleinods, und ihm, dem Herrn Medicinalrath Dr.Schwabe zu Blankenburg in Thüringen, verdanken wir obige Nachrichten sammt der Abbildung der Maske, nachdem er schon 1859 der „Gartenlaube“ (S. 668 ff.) über beide Gegenstände ausführlich berichtet hatte. Der wichtigste Dienst, den diese Maske leistete, als [[Goethe den Schädel Schiller’s suchte, ist Gegenstand eines Bildes in eben diesem Jahrg. (S. 197.)
  6. Die Redaction der „Gartenlaube“ hat beschlossen, dieser sehr ernsten und wichtigen nationalen Sache ihre volle Theilnahme und Thätigkeit zu widmen. Wie der Verfasser obigen Artikels, unser Redactions-College, sich erbietet, briefliche Anfragen in dieser Angelegenheit jeder Zeit zu beantworten, so ist die Redaction bereit, nicht nur nothwendigen Belehrungen und Erklärungen in Beziehung auf dieselbe gern die Spalten ihres Blattes zu öffnen, sondern auch die Namen der Städte und Ortschaften Deutschlands und Oesterreichs, welche sich durch Gründung von Schiller-Vereinen mit Schiller-Stiftungs-Zweigvereinen auszeichnen, in einer fortlaufenden Liste zu veröffentlichen.
    Die Redaction der Gartenlaube.




Blätter und Blüthen.

An der Schwelle des Winters. Ein Wink für Alle, welche nicht krank werden wollen. „Frage dich doch einmal, Leser, was du eigentlich von deinem Körper und seiner ordentlichen Pflege, von Entstehung, Verhütung und naturgemäßer Behandlung seiner Krankheiten weißt? Nichts! Was für unnützes Zeug hast du dagegen während deines Lebens in deinen Kopf gestopft, blos um es wieder zu vergessen.“

Diese Worte aus Professor Bock’sAerztlichen Strafpredigten“ möchten wir einer weiteren Strafpredigt unsererseits als Text zu Grunde legen. Vielleicht ersparen wir durch unsere heutige Erinnerung einer Mutter den martervollen Anblick ihres sterbenden Kindes, oder erhalten dem Kinde die liebende Mutter bei voller Gesundheit, deren gerade sie so dringend bedarf. – Kommt man als Arzt an die thränenreichen Stätten des Todes und der Trübsal, sieht man den einzigen Knaben, bisher das unerschöpfliche Glück eines Menschenpaares, in qualvollem hoffnungslosem Ringen mit dem Würgengel Croup oder Diphtheritis – da taucht unwillkürlich die Frage auf: Konnten denn diese Qualen nicht verhütet werden? da schlägt es mit wuchtigen Hammerschlägen an das Gewissen: Wen trifft die Schuld? Tausend Mal freilich wird so wenig von Schuld die Rede sein können, wie bei einem elementaren Ereignisse, wie bei Gewitter und Erdbeben. Oft aber müssen wir reumüthig gestehen, daß bei einiger Ueberlegung und gutem Willen der leichten oder schweren Erkrankung vorgebeugt werden konnte. Damit indessen nicht Mangel an Kenntniß oder laienhafter Unverstand als Entschuldigung vorgeschützt werde, bedarf es für gewisse Krankheitsursachen einer eindringlichen wiederholten Belehrung und Erinnerung.

Zunächst ein paar Beispiele für das, was wir meinen. Wir begeben uns in Gedanken hinaus in die Bahnhofsräume einer kleineren oder größeren Stadt. Die Stunde der Abfahrt ist noch nicht gekommen; in der warmen Wartestube sitzen die harrenden Fahrgäste in verschiedener Positur. Uns interessirt ein allerliebstes Kinderpaar, ein blondlockiger Knabe und sein braunäugiges Schwesterchen, welche zum ersten Male die weite Reise zum Onkel in Xhausen mitmachen werden und jetzt schüchtern und geduldig neben der Mama der Dinge warten, die da kommen sollen. Und die Mama muß eine recht gute Mutter sein, denn vorsorglich hat sie die Kinder eingehüllt, namentlich den Hals mit wollenen Stoffen eng eingepackt; auch die Glieder umhüllen warme Wollstoffe, und selbst an reichem Pelzwerk fehlt es den Kleinen nicht.

„Die können aber nicht frieren!“ hören wir unsern Nachbar sagen, und wohlgefällig vernimmt es auch die thörichte Mutter und faßt den Ausspruch als verbindliches Lob auf. In Wirklichkeit aber sollten die Schweißtropfen, welche den armen Kindern von der Stirn perlen, auf ganz andere Gedanken bringen. Allein der Zug muß ja gleich kommen, und wozu soll man da noch das zeitraubende und mühsame Auskleiden vornehmen oder auch nur die Nähe des sprühenden Ofens verlassen, wo man vor einer Viertelstunde Posto gefaßt hatte? Also man bleibt; zufällig aber hat sich der Zug verspätet, und aus der Viertelstunde wird eine halbe Stunde. Jetzt endlich ertönt das Signal. Da eilt Alles hinaus auf den zugigen Perron. Jeder ist froh, wenn er nur rasch Platz findet, und die Mutter muß nun ihre in starke Transpiration künstlich versetzten Kinder dem scharfen Ostwind aussetzen.

Ein anderes Beispiel. „Frau von R. wünschen der gnädigen Frau ihre Aufwartung zu machen!“ – „Sehr angenehm!“

Frau von R. rauscht herein in schwerem Sammt und Seide und läßt sich häuslich nieder. Die Mode – will sagen der gute Ton – erheischt es, daß nicht abgelegt wird. Man vertieft sich in ein Gespräch; es gilt eine neue Verlobung zu kritisiren oder die Toilette für die nächste große Soirée zu besprechen; schließlich widmet man noch der veränderlichen Witterung einige Momente, lauter Dinge von großer Wichtigkeit – genug, aus Secunden werden Minuten, aus Minuten Viertelstunden, bis Frau von R. mit den Worten: „Ihr neuer Ofen, meine Liebe, meint es aber wirklich sehr gut!“ rasch aufbricht in dem ahnungsvollen Gefühle, daß jeder weitere Augenblick ihr Gefahren bringen muß. Man lacht und ergötzt sich noch beim Scheiden an den prächtig zu Gesicht stehenden rosigen Wangen und – nach vierzehn Tagen hört man von der schweren Erkrankung der jungen Frau, die doch bis dahin so wohl gewesen. Aus der einfachen Erkältung, bei Gelegenheit des neulichen Besuchs, entwickelte sich ein Lungenleiden, und die Rosenwangen verblühen in der Blässe eines unerbittlichen Todes. Das mag Dem und Jenem übertrieben klingen, aber leider erfordern gerade auf diesem Gebiete Leichtsinn und Unverstand der Menschen tagtäglich neue Opfer.

Merkwürdiger Weise findet man gerade bei demjenigen Stande, der der abgehärtetste sein sollte, das heißt bei den Landleuten und der ärmeren Population der Städte, die Unsitte verbreitet, daß sie den Hals mit großen warmen Shawls einhüllen oder den Kindern bei warmem Wetter Halstücher umbinden. Und, was das schlimmste, in der Stube, im Gastzimmer etc. wird diese Einpackung ebenfalls beibehalten. Die Folge solcher Angewöhnungen ist das bunte Heer der Erkältungen vom einfachen Schnupfen und „bösem Hals“ bis zu den complicirtesten Leiden, von denen wir besonders Kopf- und Gesichtsrose, die rheumatisch-neuralgischen Affectionen, Gesichtslähmung, Augen- und Gehörleiden, Croup und – wenigstens als durch die Erkältung begünstigt – Diphtheritis nennen wollen.

Also man muthe dem Körper nicht unnatürliche Temperatursprünge zu und vergesse nie, daß zu warmes Verhalten die unzähligen Poren der Haut erweitert und ausschließt, wodurch recht eigentlich der Erkältung Thor und Thür geöffnet werden. Und wie die meisten Verdauungskrankheiten, Magen- und Darmaffectionen, häufiger einem Zuspiel an Nahrung, also einer Ueberladung (zumal „mit allerlei lieblicher Speise“) ihre Entstehung verdanken, und Hunger der beste Koch (und oft auch der beste Arzt!) bleibt: so schadet ein ängstliches Einhüllen und Vermummen des Körpers, namentlich aber ein zu langes Verweilen im warmen Zimmer, in vollem Anzug, viel häufiger und gewisser, als ein mehr kühles Verhalten bei gehöriger Motion.

Und so wünschen wir denn, daß unser dringlicher Wink an der Schwelle des Winters, wo zu ungleichen Temperaturen so tausendfältige Veranlassung gegeben wird, allseitige Beherzigung finden und ja nicht für trivial gehalten werden möge. Die Nichtbeachtung dieser einfachen Gesundheits-Maßregeln und Principien kann die Quelle trüber und bitterer Erfahrung werden, während die bei redlichem Willen stets leicht ausführbare Beobachtung derselben zur Erfüllung der höchsten idealen Aufgabe des Arztes beiträgt, der Aufgabe – sich entbehrlich zu machen.





Das Gesetz der großen Zahlen. Unser gesammtes Versicherungswesen gründet die Möglichkeit seines Bestehens und Wirkens auf die Erfahrungslehre, daß Nichts in der Welt dem regellosen Zufall überlassen ist, sondern daß namentlich Alles, was in die Bewegung der Natur- und der Menschenkräfte hemmend, störend oder vernichtend eingreift, bestimmten Gesetzen folgt. Diese Lehre ist neu und ihre Begründung war eine der vielen segensreichen Arbeiten der Statistik. Denn nur dadurch, daß man dieselben Erscheinungen und Ereignisse, wie Land- oder Seestürme, Feuersbrünste, Ueberschwemmungen, Hagelschläge etc. von einer langen Reihe von Jahren zusammenstellte, erkannte man, daß die Zerstörungsstärke und Wiederkehr derselben für bestimmte Zeiträume und Länderstrecken auch eine bestimmte Ordnung aufweise. Ebenso tritt uns auch aus dem Leben und Treiben der Nationen und Völker wie der Familie und des Einzelnen dasselbe entgegen, ob wir die Zahl der Ehen und Geburten, der Blinden oder Tauben, der Unfälle in Bergwerken oder auf Seeschiffen oder Eisenbahnen, die Zahl verloren gegangener Briefe oder Menschenopfer bei Epidemien in Betracht ziehen: immer leitet eine bestimmte Menge von Fällen zu einem Gesetz hin, und das nennt man „das Gesetz der großen Zahlen“.

Der wichtigste Gegenstand der Statistik wie alles Wissens ist natürlich der Mensch. Die Schwierigkeiten, auch hier aus einer langen Reihe der anscheinenden Zufälligkeiten das Gesetz herauszufinden, sind nicht leicht zu überwinden gewesen, und wer es weiß, wie viele der ersten Lebensversicherungs- und Krankencassen-Gesellschaften an der mangelhaften Berechnung der mittleren Lebensdauer und der Durchschnittszahl der Erkrankungen und Todesfälle zu Grunde gegangen sind – zum bittersten Schaden und zum Verlust für Tausende – dem wird es klar werden, daß auf einem solchen Gebiet nur die beharrlichste Arbeit zum Ziele führen kann. Um so dankbarer ist hier jede neue Errungenschaft zu begrüßen, welche die bahnbrechenden Arbeiten der Engländer weiter führt. Als solche nennen wir die Schrift: „Anzahl und Dauer der Krankheiten in gemischter Bevölkerung“ (Leipzig, 1878).

Der Verfasser, der Leipziger Professor Karl Heym, für die Fachmänner im Versicherungswesen eine Autorität, hat in dieser Schrift „zwanzig Jahre Erfahrungen“ den Acten der Leipziger Kranken-, Invaliden- und Lebensversicherungs-Gesellschaft „Gegenseitigkeit“ entnommen und veröffentlicht. Der besondere Werth dieser Beobachtungen über die Zahl der Erkrankungsfälle besteht einestheils darin, daß hier zum ersten Male in Deutschland auch das Lebensalter und das Geschlecht der Erkrankten berücksichtigt worden, und anderntheils darin, daß es hauptsächlich gewerbliche Arbeiter sind, welche der hier maßgebenden Krankenversicherungs-Gesellschaft angehören. Wir lernen viel Merkenswerthes

[752] aus dieser Schrift. So z. B. hinsichtlich der Einwirkung der klimatischen Natur der einzelnen Jahreszeiten auf die Krankheitsfrequenz. Von 10,000 Personen erkranken im Winter 47, im Frühling 41, im Sommer und Herbst je 40; Kranke sind vorhanden im Winter 221, im Frühling 215, im Sommer 182 und im Herbst 115. - Ferner ergab sich, daß bei den Männern die Krankheiten kurzer Dauer fast doppelt so zahlreich sind, wie bei den Frauen, daß dagegen das Umgekehrte für die Krankheiten von längerer und längster Dauer stattfindet. Höchst beachtenswert muß uns der Unterschied sein, wie sich die Krankheits-Anmeldungen über die einzelnen Wochentage vertheilen. Von 10,000 Anmeldungen fallen auf Sonntag 803, Montag 1835, Dienstag 1919, Mittwoch 1706, Donnerstag 1356, Freitag 1145 und Sonnabend 1236. Man sieht, daß bei der großen Mehrzahl der Menschen unter allen Umständen die Sonntagsvergnügungen erst noch mitgemacht werden, ehe man zur Krankmeldung schreitet; ja, daß die stärkste Zahl auf den Dienstag trifft, beweist, wie stark noch allenthalben „der blaue Montag“ gefeiert wird, über den wir nächstens ein besonderes Wort sprechen wollen. Von der Heym’schen Schrift rühmen die Fachmänner es noch ganz vorzüglich, daß dieselbe nicht nur für Versicherungstechniker und Statistiker, sondern auch für Behörden und insbesondere für Personen, denen die Leitung und Neubegründung von Krankencassen obliegt, von großer Wichtigkeit und dringend zu empfehlen sei.





Meister Hummel in Jena. (Zu seinem hundertsten Geburtstage, 14. November.) Es war an einem winterlichen, hellen Sonntagsmorgen, als auf der Landstraße von Weimar nach Jena drei Kutschen nahe hinter einander rollten. Die beiden hinteren hatten weimarische Capellisten eingenommen; in der vorderen saßen meine Wenigkeit – ich erzähle nach dem ästhetischen Gesetz der Gradation –, der Oberdirector der weimarischen Bühne, Stromeyer, mit seiner schönsten aller Baßstimmen, und – Hummel. – Jena gab den Winter über allsonntäglich ein sogenanntes akademisches Concert im Saale des Gasthauses „Zur Rose“. Virtuosen gab es in Jena nicht; die mußten von auswärts bezogen werden, natürlich bei dem geringen Ertrage dieser Concerte so billig wie möglich, am liebsten umsonst. Zu der letzteren Vergünstigung waren nun auch wir Weimaraner ausersehen. Beim Diner im Hause des Hofrath Hand gerieth Hummel in jovialisch wienerische Laune, nahm sogar eine Cigarre an, die er indessen, als Raucherdilettant, bald wegwarf, und schlug zuletzt einen Spaziergang durch Jena vor, das er zum ersten Male betreten hatte. Wir gingen, Hummel und Hand Arm in Arm. Ueberall trafen wir an dem hellen, freundlichen Winternachmittage auf Studentengruppen. Die Blicke richteten sich neugierig natürlich nur auf den berühmten Virtuosen. Nicht geringes Vergnügen machte mir dabei die Beobachtung der verwunderungsvollen Täuschung, welche sich auf den meisten Gesichtern zeigte. „Das ist der berühmte Hummel?!“ schien man innerlich auszurufen.

Und in der That ich bin auf meinem langen Lebenswege niemals einem Künstler begegnet, dessen Gestalt und Physiognomie so wenig die künstlerische Seele verrathen hätten, wie dies bei Hummel der Fall war: eine untersetzte, wohlbeleibte Gestalt, sehr lange Arme, mit dicken fleischigen Händen und Fingern, welch letzteren man ihre unerhörte Behendigkeit unmöglich ansehen konnte, ein roth aufgedunsenes Gesicht ohne Physiognomie - denn diese hatte die Blattern gänzlich verwischt, und was man etwa durch besondere Aufmerksamkeit noch daraus hätte abstrahiren können, vereitelte er durch die entsetzliche Angewohnheit einer unaufhörlichen Gesichts- um nicht zu sagen Fratzenschneiderei. Seine Gesichtsmuskeln schossen wie die Ungetüme in dem durch’s Mikroskop betrachteten Glase Wasser, immerwährend feindselig gegen einander. Auch dachte er gar nicht daran, sich durch Kleidung, Haltung, Blick, Haarschnitt etc. das Ansehen eines Genies zu geben. Man hätte ihn viel eher für einen ehrlichen Pachter als für einen der berühmtesten Tonkünstler seiner Zeit halten können.

„Na! wartet nur – auf den Abend!“ dachte ich, als ich die zweifelhaften Gesichter bemerkte. Und der Abend kam heran. Ich übergehe den stürmischen Empfang des Meisters, die athemlose Spannung bei seinem Gang zum Flügel und rede nicht von unseren Productionen. Ich schildere nur den Schluß des Concerts: Man hatte Hummel, wie natürlich, um eine Improvisation gebeten. Nicht Wenige haben die Meinung ausgesprochen: ohne sich dazu vorzubereiten, könne auch ein Hummel unmöglich in so schwierigen Passagen und künstlichen contrapunktischen Kombinationen phantasiren. Der heutige Abend lieferte eine Widerlegung dieser Behauptung. Auf dem Gange zum Flügel kam er an dem Pulte vorbei, an das ich mich als Zuhörer postirt hatt. Er hemmte seine Schritte und raunte mir zu:

„Ich möchte den Herren Studiosen gern eine Freude machen, ein Studentenlied mit vorbringen, aber ich kenne keines. Können Sie mir eins vorschlagen?“

„Nehmen Sie ‚Was kommt dort von der Höh‘.“ sagte ich, „das ist eins der einfachsten und auch dem Publicum bekanntesten.“

„Schreiben Sie mir’s schnell auf!“ sagte er, indem er bei mir stehen blieb.

Ich riß einige leere Zeilen von dem letzten Blatte der auf meinem Pulte liegenden Orchesterstimme und notirte mit Bleistift die Melodie. Die Spannung im Auditorium während dieser wenigen Minuten! Als ich fertig war, warf er einen sinnenden Blick darauf, setzte sich an‘s Instrument - und begann.

Ja, wenn die arme Feder schildern könnte, was nun folgte!

Viele, viele Jahre sind seit jenem Abende dahingeschwunden; der liebe Meister ruht längst im Grabe. Tausende von Scenen, Momenten, Ereignissen, Empfindungen sind aus meinem Gedächtniß vollständig verschwunden, aber jene Improvisation lebt noch hell in meiner Erinnerung, wahrscheinlich weil ich sie mir oft genug zurückgerufen habe.

Beim Anfange seines Spiels war er noch der vollbewußte Künstler, bald aber wurde er warm und versank nun ganz in seine innere Tonwelt, während die äußere rund um ihn herum, wenn nicht ganz verschwand, so doch sich in dichten Nebel für ihn verlor. Dies merkte ich jedesmal an seinem röther werdenden Gesichte und dem zeitweilig erhobenen Haupte. In jenem Augenblicke hätte die Schlacht bei Jena um ihn herum wüten können, er würde nichts davon gehört und fortphantasirt haben, bis die hereinströmenden Feinde ihn aus seinen Visionen gerissen hätten.

Indem noch ein prachtvoll einleitendes Largo zu ersterben schien, lugten schon einzelne kleine Tonformelchen hervor, von denen der Uneingeweihte sicherlich noch nicht wußte, woher sie kamen und wohin sie wollten. Wie aber manche Zauberkünstler erst ein einzelnes Glied erscheinen lassen, dann ein zweites, drittes und so weiter, bis die ganze Gestalt vor dem Zuschauer steht, so reihten die sich erst zerstreut erscheinenden Phrasen bei Hummel mehr und enger aneinander, bis plötzlich eine bekannte Melodie, diesmal die Menuett aus „Don Juan“, in die Ohren und Herzen der Zuhörer fuhr. Diese Menuett variirte Hummel auf die mannigfaltigste und wunderbarste Weise. Schon kamen Wendungen, Uebergange etc. überhaupt Gedanken vor, so wunderbar schöner, genialer, überraschender Art, wie sie kein Componist der Welt am Pulte findet, wenn sie erst den erkältenden Weg durch die Feder auf’s Papier machen müssen, wie sie sich nur dem Genie im Momente des Phantasirens unmittelbar in dem entflammte Geiste offenbaren können. Doch, was sind Worte, wenn sie Töne malen sollen! Er ging jetzt wieder in das erste Largo über, brachte es aber in ganz anderen Farben, ganz anderem Ausdrucke:

Stürmend von hinnen jetzt, wie sich von Felsen
Rauschende, schäumende Gießbäche wälzen, -
     Holdes Gesäusel bald,
          Schmeichlerisch linde,
     Wie durch den Eichenwald
          Buhlende Winde.[WS 1]

Nun aber kam erst die Hauptsache für heute. Plötzlich nämlich sprang es hervor, das alte: „Was kommt dort von der Höh’“. Wie von einem elektrischen Schlage getroffen, zuckten die Musensöhne auf bei den lieben bekannten Tönen, an die sich die Erinnerungen so seliger Stunden ihres akademischen Lebens knüpften, und nicht wenig geschmeichelt fühlten sie sich zugleich durch die Ehre, welche ihnen der große Meister durch die Wahl eines ihrer Lieder offenbar erzeigen wollte. Und hier auch, bei der hundertmal selbst gesungenen Melodie, konnten sie so recht con amore allen den wunderbaren Verwandlungen folgen, die der geniale Meister damit vornahm. Wie wurde den Zuhörern aber erst, als sich neben dem Studentenliede plötzlich zugleich die Menuett aus „Don Juan“ hören ließ, und nun beide, bald allein bald abwechselnd aus einem immer höher und mächtiger anschwellenden Tonstrome hervortönten!

Als der Meister geendet, herrschte einen Moment Todtenstille. Das Publicum schien sich besinnen zu wollen, ob denn das eben Gehörte Wirklichkeit oder nur ein entzückend zauberischer Traum gewesen, dann aber brach ein solcher Sturm des Beifalls aus, wie ich ihn bis dahin in solcher Allgewalt noch niemals vernommen und nicht für möglich gehalten hatte. Durch die Spitzen der jenaischen Gesellschaft, die Professoren etc., die sich um den vom Spiel und der geistigen Arbeit glühenden Meister bewunderungsvoll versammelt hatten, drängten sich, ja stürmten die Studenten, um ihrem auf’s Höchste gesteigerten Enthusiasmus und aller Liebe und aller Verehrung, wie sie sich nur in so jungen, frischen Gemüthern entzünden mögen, Ausdruck zu geben. Es war ein Geräusch und Gewimmel um ihn herum, als habe man endlich einen gefährlichen Verbrecher glücklich überrumpelt und eingefangen. „Das war ein guter Gedanke – mit Ihrem Studiosenlied,“ sagte Hummel zu mir, als wir unter dem vom Saale her noch immer nachdonnernden Beifallssturme die Treppe hinabstiegen. „Ich glaube, das hat den Burschen Spaß gemacht.“

„Ja, das glaube ich auch,“ erwiderte ich, indem ich ihm mit Thränen im Auge die kunstreichen Hände küßte.

Als Komponist zählt Hummel unter den Ersten mit, gehört aber nicht unter die höchsten darunter. Auch als Klavierspieler fand er bald seines Gleichen und wurde endlich überholt. Aber als Schöpfer jener wundervollen kunstreichen, genialen Augenblicksphantasie hat ihn keiner jemals erreicht, geschweige denn übertroffen.

J. C. Lobe.






Verloren in alte Zeit. (Siehe Abbildung S. 741) Eine der traulich-engen Bürgerstuben aus weit zurückliegender Vergangenheit unseres Volkes ist es, in welche das erste Bild dieser Nummer uns führt. Wer hätte je eine wohlconservirte Burg oder eine jener Städte besucht, die durch reiche Ueberreste mittelalterlicher Bauten das Entzücken des Malers bilden und hätte nicht ähnliche Räume kennen gelernt! In dem behaglichen Raum aber sitzt hier die ehrwürdige Großmutter vor den beiden blühenden Enkelinnen, und ihr Mund belebt die Heldengestalten und Heldensagen, welche in der unförmlichen alten Chronik auf ihrem Schooße eingesargt sind, daß die jungen Herzen höher schlagen und die frischen Mädchenaugen noch einmal so hell aufleuchten. Und dazu scheint die Nachmittagssonne so warm und golden durch die runden Butzenscheiben des einzigen Fensters, daß der schläfrige schwarze Kater blinzelnd die Augen schließt und der ganze farbenschöne, eng zusammengerückte Hausrath, wie ihn das wohlhabende Bürgertum aufzusammeln pflegte, in prächtiger Wirkung die Umgebung belebt. Viel von dem Zauber, den dies Erstlingswerk eines vielversprechenden jugendlichen Talentes im Ausstellungsraume der Brühl’schen Terrasse zu Dresden auf die Besucher übte, ist freilich für unsere Leser durch das Mangeln der Farbe verloren; aber auch mit der xylographischen Wiedergabe meinen wir unserer Nummer einen Schmuck beigefügt zu haben, der manches Auge erfreuen wird.


Anmerkungen (Wikisource)