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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[157]

No. 10.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Als sie aus dem Hause fort war, stürzte er sich gewaltsam in seine patriotische Thätigkeit. Er correspondirte und conferirte viel, wenn aber das Ave-Maria-Läuten verklungen und die Sonne gesunken war, dann wandelte die hohe Gestalt Karl Hornemann’s mit dem wunderlich langen Rocke, in dessen Taschen er die Hände zu bergen pflegte, und der wackelnden Troddel auf dem Käppchen durch die Arbeiterquartiere, wo Blaukittel und ärmliche Weiber und schreiende Kinder im Abenddufte der Straßen lustwandelten und sich tummelten zwischen den engen Häuschen des Windbuckels, einer ziemlich hohen Terrainwelle, welche die Stadt mit in ihr Bereich gezogen hatte. Hier wohnte die Armuth der Weber, Spinner und Spuler. Mitunter fand man ihn auch um die Abendstunde in der Gegend am Flusse, wo das kleine Handwerk sich aufgehäuft hatte. Es war eine schwere Zeit; frühere Mißernten hatten nur spärliche Vorräthe der nöthigsten Lebensbedürfnisse hinterlassen. Fleischer, Bäcker, Höker und gewissenlose Speculanten machten sich den Mangel zu Nutze und steigerten die Preise zu unerträglicher Höhe; es war Karl Hornemann’s Verdienst, daß man bisher Krawalle verhütet hatte, welche jener Classe von Leuten anderwärts bereits gefährlich geworden waren. Auf seinen Rath hatten die vermögenden Häupter der demokratischen Bewegung ein Unterstützungssystem eingerichtet, dessen Seele er schon um seiner genauen Localkenntniß willen geworden war; sein früherer Verkehr mit der städtischen Armuth hatte jene Idee geboren. Und wie praktisch erwies sich dieselbe! Nichts war leichter, als sich auf diesem Wege die Sympathien zu binden, die vorzeitige Entladung von Zündstoff zu verhüten und die Garantie zu schaffen, daß der geeignete Moment die Vollzahl der Kämpfer hinter der flatternden Fahne finden würde. Billig war die Organisation freilich nicht; es hatte daher guten Grund, wenn man um einen oder den andern Halbmillionär der Union warb.

Auf diesem Boden war der Club entstanden, der sich für einige Zeit wieder in seine Elemente aufgelöst hatte, und er wurde jetzt weiter gepflegt in kleinen Versammlungen von einem Dutzend Menschen. Zwischen den großen, kräftig-geschmeidigen Gestalten, welche der Menschenschlag jener Gegend lieferte, saß der Pascha, umgeben von jener zutraulichen Ehrfurcht, wie sie der echte Volksmann genießt, die Zeitung oder irgend einen Brief in der Hand, und sprach in seiner klaren Weise, der eine merkwürdige Kraft innewohnte, von seinen Idealen wahrer Volksfreiheit und den parlamentarischen Vorgängen in der Hauptstadt, von den jüngsten zwei königlichen Botschaften, welche noch immer nichts von der unbegrenzten Controle der Steuerzahler über die Staatsfinanzen wissen und die Berufung des vereinigten Landtags der Cabinetswillkür vorbehalten wollten, vom Dissidenten- und Preßmaßregelungen, von Judenemancipation und der Strafgesetznovelle. Er pries die muthige Haltung der Abgeordneten und erzählte mit flüsternder Stimme von dem heimlichen Bruderbunde in allen Ländern, der still die Minengänge bohrte und das Pulver hineinstreute, bis die Freiheitsfackeln lodern und die dunkeln unterirdischen Schlangen sich entzünden und aufjauchzend die Zwingburgen der Knechtschaft auseinander splittern würden.

Mit Urban, der dem Bunde unentgeltlich seine Thätigkeit als Arzt zur Verfügung gestellt hatte und der sonst im engsten Anschlusse an den Pascha zu wirken pflegte, war dieser noch nicht wieder zusammengetroffen. Sie mieden sich instinctmäßig. Die Leute, welche der Verkehr mit dem Doctor zusammenführte, fanden ihn bald ungewöhnlich lustig, bald in sich gekehrt, zerstreut, bissig und ungenießbar, und seine Patienten klagten mehr denn je über rücksichtslose Behandlung. Man sagte ihm nichts davon, denn man fürchtete seine Zunge.

Er hatte von Emilie noch ein einziges Lebenszeichen bekommen – den Abschiedsbrief, ein kurzes Billet, dessen Inhalt ihm das Räthsel ihrer Trennung nicht löste. Es lautete: „Innig Geliebter – es ist das letzte Mal, daß ich Dich so nennen darf, denn wir sind geschieden für immer; es giebt keine Brücke mehr zwischen uns, nur einen Abgrund, und ich fühle die Kraft zu verhüten, daß wir in denselben stürzen. Zehren wird mein Gatte; es waltet ein Verhängniß, das es so will; versuche nichts, um meinen Entschluß zu erschüttern! Du würdest nur das Eine erreichen: mein Unglück schwerer zu machen. Mein Herz ist todt, und ich lebe nur noch meiner Pflicht, und diese würde mir gebieten, jeden Brief, den ich von Dir erhalten würde, ungelesen den Flammen zu übergeben. Vergiß, daß wir uns geküßt haben und daß mein Herz Dir gehört hat! Die verwelkten Blätter meines Glückes gebe ich dem Winde. Emilie.“

Das Billet war am Tage nach dem Fluchtversuche geschrieben worden. Einmal nur waren sie einander auf der Straße begegnet, und Urban war mit raschem Entschlusse auf sie zugetreten, aber sie hatte ihn fremd und verwundert angeblickt, wie einen Unbekannten, ohne seinen Gruß zu erwidern, und war mit beschleunigtem Schritte weiter gegangen. Und wie er sich besonnen gehabt, mit blassen Lippen und das Herz voll tiefen Grolles, da hatte er sich zweierlei mit schwerem Eide gelobt: „Ich werde sie dennoch sprechen, und ihn – ihn werde ich verderben.“

[158] Am Ende war es doch die Politik, welche den Pascha wieder mit Urban zusammenführte.

Eines späten Abends glänzten die Fenster des Jenny Lind-Zimmers nach der Straße hinaus in mattem Scheine. Viel Licht vermochte, selbst wenn der kleine, von der Decke niederhängende Kronleuchter in voller Benutzung brannte, nicht durch die zusammengezogenen, dunkelblumigen Kattungardinen zu dringen, und diesmal erhellte nur ein einziger Armleuchter mit zwei Kerzen das Prunkzimmer des Wiedenhofes. In diesem befanden sich zehn Personen, theils um den mächtigen runden Tisch vor Weingläsern und halbgeleerten Flaschen sitzend, theils im Halbdunkel einer Ecke die Köpfe zusammensteckend, oder leisen Schrittes über den dicken Teppich promenirend. Wer an jenem Abende im Wiedenhofe anwesend gewesen war, an welchem der Pascha die beiden Fremden empfing, der hatte die meisten dieser Gesichter bereits gesehen. Der Stadtsecretär, der Consul Swering befanden sich darunter. Dem großen corpulenten Herrn, welcher dort im hellgrauen Anzuge so tief in Gedanken mit den Stiefeln über den Teppich scharrte, konnte Niemand den Postdirector ansehen. Urban unterhielt beim Spiegeltische mit einem Notar und einem jungen Staatsanwaltsgehülfen ein halblaut geführtes, aber sehr eifriges Gespräch; ein Apotheker, der Stadtbaumeister und ein paar Kaufleute machten den Rest des kleinen Kreises aus.

Die Scene hatte einige Bedeutung: es galt eine Sitzung des patriotischen Actionscomités.

Von der Gruppe, in welcher Urban saß, abgesehen, stockte die Unterhaltung, und es wurde nur hie und da ein Wort der Ungeduld laut, wenn Jemand die Uhr zog und seinem Nachbar die Zeit angab.

Endlich erschien Karl Hornemann in der Thür, in Begleitung eines kleinen, weißhaarigen Herrn mit scharf geschnittenem, bebrilltem Gesicht. Die Gesellschaft kam in Bewegung; man begrüßte sich lebhaft, nur den Postdirector und den Consul schien der Begleiter des Pascha nicht zu kennen. Er wurde ihnen als Professor von der Linde vorgestellt. „Ihre hiesigen Herren Collegen von der Schule sind leider am Erscheinen verhindert,“ erklärte der Pascha diesem in verbindlichem Tone.

Man nahm Platz, und Karl Hornemann ergriff das Wort.

„Meine Freunde, ich habe Euch zu einer kurzen Berathung entboten, deren Veranlassung die Mission ist, mit welcher unser werther Gast seitens unserer rheinischen Gesinnungsgenossen betraut wurde. Wir werden direct vor die Frage einer Demonstration gestellt, wie sie ja auch unter uns bereits angeregt wurde, einer Demonstration, welche unmittelbar unseren in diesen Tagen heimkehrenden Abgeordneten, den muthigen Vertretern der Volksrechte in der unwürdigen Komödie des Landtages, gelten soll. Dieselben sind, wie wir bestimmt wissen, entschlossen, unschuldig an der Schöpfung jenes Wechselbalgs von parlamentarischer Institution zu bleiben, welchen man 'Ständeausschuß' nennt, und es besteht die Absicht, angesichts der hochmüthigen Staatsgewalt zu documentiren, daß sie im Sinne des rheinischen Volkes handeln und daß ihr Muth ein Theil des unsrigen ist. Wir Rheinländer sind die erstberufenen Wächter der Volksfreiheit; wir allein in Deutschland haben eine freiheitliche Tradition; wir haben Institutionen aufzuweisen, welche großentheils in jener Münze geprägt sind, in der die Hand einer Revolution den Stempel führte. Es ist Zeit, daß irgendwo das Volk die Fäuste zeigt; diese Demonstration soll eine Drohung sein – vielleicht, daß sie das Mittel wird, eine Revolution überflüssig zu machen. Behandeln wir die Sache summarisch: wer dagegen ist, erhebe sich!“

„Caeterum censeo: es wird demonstrirt,“ knurrte der Notar, während die Uebrigen schweigend sitzen blieben.

„Baumeister, jetzt mußt Du Hand anlegen,“ sagte ein jüngerer Fabrikant. „Es muß eine Ehrenpforte geben, die in den Himmel ragt. Ich liefere fünfzig Thaler dazu.“

„Ich hundert,“ meinte lächelnd der Consul, welcher allgemein für sehr reich galt.

Weitere Geldbeiträge wurden zugesagt.

„Bürger,“ rief der Apotheker aufspringend, eine drollige Figur mit langer Habichtsnase, kleinen, schwarzfunkelnden Augen und merkwürdig kurzen Beinchen, „Patrioten, ich habe eine Idee. Wir schreiben an unseren Abgeordneten vom Rath, daß er auf St. Kilian einzieht zur selben Stunde, wo die Procession marschirt. Wir werden beobachten können, wie sich die Schafe von den Böcken scheiden und wer mehr Macht hat, der heilige Kilian oder der Erwählte des Volkes.“

Es gab ein unterdrücktes Gelächter, und eine Anzahl der Anwesenden schien nicht übel Lust zu haben, den Vorschlag zu unterstützen. Aber Karl Hornemann schüttelte den Kopf.

„Fassen wir wir Vorschlag als Scherz auf! Auch vom Rath würde sich, wenn ich ihn recht kenne, weigern, auf denselben einzugehen. Lassen wir die Heiligen aus dem Spiele! Ich kenne eine ganze Anzahl guter Patrioten, welche St. Kilian den Vorzug geben würden – weshalb einen Zwiespalt in sie werfen? Ich warne davor, die katholische Geistlichkeit vor den Kopf zu stoßen; ich kann im Vertrauen die Versicherung abgeben, daß wir bis heute hier noch keinen Gegner unter ihr haben.“

„Der Tag vor St. Kilian ist ein Sonntag,“ meinte der Professor, der inzwischen einen Taschenkalender verglichen hatte. „Benutzen Sie den Moment des Morgengeläutes für die Einzugsfeierlichkeit! Ein paar Böller thun das Uebrige.“

In den Mienen des Pascha spiegelte sich Unzufriedenheit. „Ich mache mich anheischig,“ sagte er nach kurzer Ueberlegung, „die Benutzung der Glocken auch für einen Wochentag zu erwirken.“

„Ich möchte für den Sonntag vor St. Kilian plaidiren; ich gebe zu bedenken, daß wir besser vermeiden, den Leuten den Verdienst eines Arbeitstages zu rauben,“ bemerkte der Consul.

Karl Hornemann wurde überstimmt und fügte sich mit sichtlichem Widerstreben.

„Du wirst der Heilige der Revolution werden, Karl, um Deiner exemplarischen Frömmigkeit willen,“ sagte Urban, der sich im Hintergrunde gehalten hatte, mit leichtem Spott. Der Pascha, welcher bisher keine Notiz von ihm genommen, machte eine plötzliche Wendung nach dem Sprecher hin und wurde roth, wie er die eigenthümlich dunkeln Augen Urban’s, die namentlich in der schwachen Beleuchtung etwas geheimnißvoll Brennendes hatten, forschend auf sich gerichtet sah. Aber er antwortete nichts und kehrte sich wieder den Anderen zu.

„Es würde nun auf Dich ankommen, Postdirector, uns den Triumphator rechtzeitig und unversehrt zu überliefern,“ sprach der Stadtsecretär.

„Ich lege Relais bis in das nächste Dorf; ich denke, bis dahin fahrt Ihr ihm entgegen. Uns Beamte laßt Ihr besser aus dem Spiele,“ war die Antwort.

In diesem Momente stand Urban auf, trat langsam vor und stellte sich in das volle Licht der Kerzen. Sein prächtiger schmiegsamer Körper reckte sich hoch auf, und er begann mit gedämpfter Stimme zu reden, in welcher mehr und mehr der Wiederschein verhaltenen Feuers funkelte.

„Freunde und Gesinnungsgenossen! Wir werden eine Demonstration haben; wir werden eine Ehrenpforte bewinden, zu Roß und Wagen ausziehen und zurückkehren unter Glockengeläute und Böllerdonnern und Hurrahrufen. Es wird ohne Zweifel ein sehr erhebendes Schauspiel sein. Aber welchen Erfolg werden wir davon haben? Wir werfen eine Drohung hinaus, schön; wir machen eine Faust, ganz wohl. Was soll diese Drohung? Imponiren? Nun, wir stehen völliger Verblendung gegenüber, und der Verblendung imponirt überhaupt nichts. Aber wir sind im Begriffe eine Thorheit zu begehen, deren Wirkung auf uns zurückfällt. Wir werden der Gefangene sein, welcher seinem Wächter die halbdurchfeilte Kette zeigt und ihm sagt: ‚Mann, gieb mir die Freiheit freiwillig, wo nicht – sieh, hier bin ich im Stande sie mir selber zu nehmen.‘ Ein Narr, der das thut. Man wird uns die Feile nehmen; die Thyrannei wird ihre Wachsamkeit verdoppeln. Man wird die halbe Truppenmacht des Staates über uns werfen, und ich gebe keinen Dreiling für den Aberglauben, daß wir das Militär gewinnen. Benutzen wir die Demonstration, um Barricaden bauen und Sturm läuten zu lassen! Machen wir ein Ende, brechen wir den Stab über diese nichtsnutzigen Verhandlungen! Auf die Hunderte, deren wir sicher sind, kommen ebenso viele Tausende, die hinter ihnen stehen; wir leben in einem Geschlecht, dem es in den Fäusten juckt und welches mit Jauchzen das Pflaster aufreißen wird. Der Augenblick, ist günstig, wie kein anderer, um uns in die Geschichte einzuzeichnen, sagen wir: ja! und man wird unsere Stadt das Bethlehem der Völkerfreiheit nennen und den Glorienschein um unsere Häupter malen –“

Ein mächtiger Tritt kam während der letzten Worte den Corridor herauf; die Thür wurde plötzlich gewaltsam aufgerissen, [159] und in ihrem Rahmen präsentirte sich die Riesengestalt Harro’s. „Gottes Donner,“ scholl seine dröhnende Stimme, „da sitzen die zwölf Apostel beisammen, und ich bringe den heiligen Geist mit, Kinder.“

Karl Hornemann sprang auf und schloß ihm den Mund mit der einen Hand, während er mit der andern die Thür in’s Schloß warf. „Mensch, Du bist schrecklich,“ sagte er, mühsam eine Aufwallung unterdrückend. „Die Posaune von Jericho ist ein Fagott gewesen gegen Deine Stimme. Vergiß nicht beständig, daß unser Bau wackelige Wände hat! Wo kommst Du schon wieder her, Du landstreichender Goliath?“

Der Riese lachte über das ganze Gesicht und fuhr sich durch die dicken, weißblonden Locken, nachdem er den Schlapphut herunter genommen.

„Direct aus Baden, Schatz. Mein Kumpan hat sich über Lyon nach Marseille geschmuggelt; ein Maulwurf von einem Kerl, noch schlimmer als Du. Bürger,“ wandte er sich zu den Uebrigen, „ich heiße Harro, stamme aus Friesland, wo der Flachs gleich gehechelt auf den Köpfen gedeiht, und suche eine Frau, welche deutsche Republik heißt. In Baden sind sie ihr schon auf der Spur. Du kannst einpacken mit Deiner Constitution, wenn der Hecker obenauf kommt, Karl. Es giebt eine Republik, eine herrliche, rothe, deutsche Republik, daß Dir die Augen schmerzen werden. Es wirken dort auch solche constitutionelle Philister, wie Du einer bist – nichts für ungut! – aber der Hecker schlägt ihrer fünfhundert mit einem Eselskinnbacken.“

„Ich bitte Dich nur um Eines, Harro,“ meinte der Pascha nicht ohne Aengstlichkeit, „mache uns keine Ungelegenheiten bei der Polizei! Im Uebrigen bist Du uns herzlich willkommen.“

Es ging wie ein leichter Schatten über das gutmüthige Gesicht des Ankömmlings, und es klang fast rührend, wie er sprach: „Ja, ja, nur leise gehen, damit die hohe Obrigkeit schlafen kann! Karl, mein Sohn, der Löwe hat sein Lager und der Bär seine Höhle, aber die Fouriere der Freiheit haben nicht, wo sie in Ruhe ihr Haupt betten. Sei nur still – morgen bin ich wieder über alle Berge.“

Der Pascha reichte ihm die Hand. „So war es nicht gemeint,“ sagte er herzlich, fügte aber mit feinem Lächeln hinzu: „Es wird auf alle Fälle besser sein, wenn wir den Schluß der Sitzung in die Schlucht verlegen; gesetzt, daß unser lieber Freund die Arme einmal unvorsichtig weit zur Seite schleudert, so kann es in dieser Enge ohne unangenehme Empfindungen zu wecken nicht geschehen. Wir haben ein großes Clublocal in diesem Hause, welches wir mit jenem Namen bezeichnen,“ erklärte er, zu Harro gewendet.

Er schellte und gab dem eintretenden Wirthe heimliche Weisungen. Kurz nachher saß die Gesellschaft in der Schlucht, Harro mit einiger Verwunderung nach der geschlossenen Stelle der Wand blickend, an welcher er dieselbe hatte durchkriechen müssen, als begriffe er nicht recht, wie er das fertig gebracht. Plötzlich schlug er sich vor den Kopf. „Bei dem Loche da denke ich an etwas; der tausend! wie hieß der Schurke? er behauptete ja von hier zu stammen – Hendricks, glaube ich; hast Du ein menschliches Ungeziefer gekannt, welches so hieß, Karl?“

Der Pascha blickte mit äußerster Spannung empor. „Einen Menschen des Namens Hendricks habe ich allerdings gekannt, wenn auch nur wenig gesehen. Er stand meiner Familie nahe, denn er war – Compagnon meines Vaters.“

„Wie sah er aus? Mein Mann besaß ein wüstes Gewächs von Bart und Haar, so roth wie ein oldenburgischer Ochs.“

„Die Haarfarbe stimmt, soviel ich in der Erinnerung habe. Einen Bart trug der, welchen ich gekannt habe, nicht.“

„Du wirst einsehen, daß dies gar nichts verschlägt. Ich möchte nun blos wissen, ob er hier drüben den ehrlichen Mann gespielt hat?“

„Nicht ganz,“ meinte der Pascha ablenkend, und blickte mit einem Anflug von Verlegenheit im Kreise der Anwesenden umher. „Im Uebrigen sind seine geschäftlichen Beziehungen zu uns das Geheimniß meines Vaters geblieben.“

„Ich sage Dir, er war ein Hallunke von ganz besonderer Qualität, dem ich in Amerika drüben zweimal begegnet bin. Wenn es nicht unmöglich wäre, so wollte ich nur wünschen, er liefe mir noch einmal in die Hände.“

„Erzählen!“ scholl es aus der Versammlung.

„Nun gut. Ich treibe mich da also in der Gegend der Seen herum, zwischen Mississippi und Michigansee. Wir waren zu Dreien ein paar Tage durch die Graswüste geritten, ich, ein Farmer, bei dem ich eine Zeit lang wohnte, und ein Jäger aus der Gegend, ein in Felle genähtes Individuum, welches im ärgsten Winde jedes Blatt vom Baume schoß, das man sich ausbat, und wir steuerten auf Chicago los, denn wir wollten an den See, um Hirsche und Enten zu schießen. Wie wir vor die Stadt kommen, marschirt uns ein Haufen Menschen entgegen, so ein paar Hundert etwa, und als wir näher heran reiten, tragen sie da ein Geschöpf, welches wie eine fünf Fuß hohe Eule aussieht, denn man konnte nichts daran erkennen als einen Federklumpen und einen runden Kopf, der gleichfalls voller Federn saß, und in dem Gesichte glotzten ein paar Augen, welche vor Angst so rund wie Scheiben waren.

‚Aha,‘ sagt mein Farmer, ‚da haben sie einen armen Teufel gefedert.‘ Und richtig, die Creatur hatte Arme und Beine, aber sie waren schwer zu erkennen, denn was die Beine betrifft, so hatte man sie mit Stricken umwickelt, und die Arme hatten sie fest an den Leib gebunden. Es waren ihrer Sechs, die das Monstrum trugen. ‚Was habt Ihr mit dem Burschen, Jungen?‘ fragt mein Farmer. ‚Ein Schätzchen vom Richter Lynch, Herr,‘ sagt ein langer schwarzer Bursche, – ich sehe ihn noch heute; er hatte ein Franzosenkäppi auf. ‚Weiß ich, mein Sohn,‘ nickte mein Wirth, ‚wollte nur wissen, gegen welches der zehn Gebote der Mann da gesündigt hat.‘ – ‚Calculire, gegen keines,‘ sagte ein Andrer und fuchtelte mit einem Riemen, der voller Knoten saß wie ein Weinstock voll Augen. ‚Er hat uns vier Gotteswochen lang mit falschen Würfeln genarrt, und wir haben ihn erwischt, als er mit unserem guten Gelde nach Milwaukee gehen wollte.‘ – ‚Steht im zehnten Gebote, mein Junge,‘ bekam er zur Antwort. ‚Und was soll’s nun geben?‘ – ‚Wollen ihm das Fliegen beibringen; er wird geschnellt, Herr,‘ sagte der mit dem Riemen wieder. Nun fängt Euch dieser Federklumpen zu winseln an, daß es Einen erbarmte; schreien konnte er nicht, denn sie hatten ihm einen Theerlappen in den Mund gesteckt, der ein Stück herausstand wie ein Schnabel. ‚Gentlemen,‘ spreche ich und steige vom Pferde, ‚der Mann wird Euch zu schwer. Wir wollen ihn auf meinen Gaul da packen,‘ und sie lassen ihn sich ruhig abnehmen und hinaufwerfen; mit einem Satze bin ich selber oben; wir geben den Pferden die Sporen und sind einige vierzig Schritt davon, ehe sie nur schreien – so verdutzt waren sie. Zum guten Glück hatten sie nur ein paar Revolver bei sich, und wir kamen mit heiler Haut davon.

‚Verdammt gefährlicher Streich,‘ sagte der Farmer, wie wir im Bogen um das Nest herumritten; ‚aber das Schnellen ist kein Vergnügen, und im Grunde sind die Leute nicht viel mehr werth, als dieser gefederte Gentleman da.‘ Ich lasse mir die Sache erklären, und da hatten sie denn die menschenfreundliche Absicht gehabt, eine junge Fichte niederzuziehen, unsern Mann an die Krone zu binden und, indem sie den Baum fahren ließen, ihm zu einer Himmelfahrt zu verhelfen. Dort oben hätte er dann hängen können bis zum jüngsten Gericht. Kaum waren wir nun in Sicherheit, da schnitten wir ihm die Riemen und Stricke durch und zogen ihm den Lutschbeutel aus den Zähnen, worauf wir erfuhren, daß dieser Kostgänger Gottes Hendricks hieß und aus Eurer Stadt hier über’s Meer geschwommen war. Am See hatten wir einen halben Tag zu thun, um ihn wieder glatt zu reiben; noch vierzehn Tage lang brachte ich den Theergeruch nicht aus der Nase. Was er an Haar aufzuweisen gehabt, ging bei der Procedur so ziemlich verloren. Wir nahmen ihn mit uns, damit er nicht verhungerte, und er bekam mit der Zeit auch wieder etwas Schopf, und nun kommt das Beste: eines Morgens ist der Schuft mit zweien von unseren Pferden verschwunden. Er hat sie nachher in Milwaukee an einen Officier verkauft.“

„Und Sie haben ihn noch einmal wiedergesehen?“ fragte der junge Kaufmann, welcher die fünfzig Thaler für die Ehrenpforte gespendet und der mit leuchtenden Augen zugehört hatte.

„Ob ich ihn wiedergesehen habe! Es war gar nicht so lange nachher in Iowa City, wo wir in eine Versammlung von Dunkern gehen wollten. Wir begaben uns denn auch in das Haus, worin ihr Versammlungssaal war; sie nannten ihn das Himmelreich, und man mußte, um hinein zu kommen, durch einen wahren Maulwurfsgang kriechen bis zu einem ähnlichen, aber noch beträchtlich engeren Loch, als das dort ist, durch welches wir [160] hierher gelangt sind, und das eben war es, was mich wieder an die Geschichte erinnerte. Die Dunker sagen, beides zusammen bedeute den schmalen Weg und die enge Pforte, die in den Himmel führen. Kurzum: Einer von uns hat die Luke geöffnet und ich will eben anfangen, mit den Beinen vorweg in’s Himmelreich zu kriechen, da sehe ich auf einem Tische im Saale eine Figur stehen und predigen, die mir sehr bekannt vorkommt, besonders der Stimme nach, und – seht Ihr, Kinder, es war der Taugenichts, der uns die Pferde gestohlen. – ‚Verdammter Spitzbube!‘ schrie ich jetzt, – aber das hören und wie der Blitz vom Tische herunter springen ist Eins; er reißt eine Thür auf und ist mir aus den Augen. Nun lag ich da eingeklemmt; denn das Loch war zu eng für mich, und hatte meine Noth, rückwärts wieder heraus zu kommen, denn die Gentlemen griffen mir nach den Beinen und hätten mich für die Störung der Andacht am liebsten geprügelt. Es war keine Möglichkeit da, den Burschen einzufangen, doch hoffe ich zu Gott, daß er gleichwohl an irgend einem Baumast hängen geblieben ist.“

Der blonde Friese war nach dieser Erzählung so sehr der Mittelpunkt des kleinen Kreises, daß an Weiterführung der abgebrochenen Debatte lange nicht gedacht wurde; er mußte über allerlei berichten, über gefeierte Helden der Partei, über Parteigeheimnisse und Parteipläne, und er that es in seiner derben, oft burlesken Weise. Er sprudelte von Anekdoten aus dem Treiben des demokratischen Kleinbürgerthums. Als man später auf den Vorschlag Urban’s zurückkam, war man nicht mehr in der Stimmung, ernstlich auf denselben einzugehen; auch fand man, daß ein solches Wagniß, wie eine revolutionäre Erhebung, in ausreichenderem Maße vorbereitet werden müsse, und daß die Zeit bis zu dem festgesetzten Termine zu kurz dafür bemessen sei. Vergebens schlug sich Harro auf die Seite Urban’s, der mit steigender Empfindlichkeit seine Idee verfocht; die bestimmte Weigerung Karl Hornemann’s, seine Hand dazu zu bieten, genügte, um bei der Abstimmung eine entschiedene Ablehnung herbeizuführen. „Der Staat ist gerettet; ich danke Ihnen in seinem Namen, meine Herren,“ sagte Urban bitter, indem er nach seinem Hute griff.

Der Morgen graute bereits, als man sich anschickte, noch ein Paar Stunden Nachtruhe zu genießen. Die Gäste blieben fast sämmtlich im Wiedenhofe, wo für solche Fälle das Genügende vorgesehen war. Der Friese küßte den Pascha mit derber Zärtlichkeit, als dieser von ihm ging. „Karl,“ meinte er, „wenn es einmal losgeht im heiligen römischen Reiche, dann komme ich zuerst hierher und schlage mich mit Euch. Der Geier mag wissen, warum ich Dich so in’s Herz geschlossen habe, denn im Grunde bist Du doch ein Diplomat und Federfuchser. Adieu, Don Carlos:

Heute scheid’ ich, heute wandr’ ich,
Keine Seele weint um mich – –

Apropos, was ist denn aus Deiner Schwester geworden, Milli glaube ich hieß sie; sie war ein schmucker Backfisch, wie ich sie das letzte Mal gesehen habe, und ich dachte, sie müßte ein schönes Mädchen werden. Teufelsding das! Ich habe es damals nicht fertig bringen können, daß sie sich die Hand küssen ließ.“

„Ein schönes Mädchen ist sie geworden, Harro, ein sehr schönes,“ sagte Karl Hornemann, und sein Herz zog sich zusammen, „Leb’wohl, Harro!“

„Bekomme ich sie zu sehen, wenn ich wieder einmal hier einkehre?“

„Wenn es möglich ist.“

Karl Hornemann war schon zehn Schritte den Corridor hinunter gegangen, als er dies sagte. Er stieg ganz allein eine schmale Seitentreppe nieder in jenen Durchgang, vor dessen Thür wir zuerst dem Polizeicommissar Donner begegnet sind. Zu dieser Thür besaß der Pascha einen Schlüssel. Er war in Gedanken versunken, als er den Gang betrat, und schrak ein wenig zusammen, denn plötzlich fiel sein Blick auf eine menschliche Gestalt, die sich ihm zuwandte.

Es war Urban, der ihn offenbar hier erwartet hatte.

„Du kannst mich mit Dir zusammen an die Luft fördern, Karl,“ sagte derselbe mit erkünstelter Ruhe; „ich beabsichtige, gleichfalls nach Hause zu gehen.“

„Gut,“ war die lakonische Antwort.

Sie traten hinaus auf die Wallstraße. Karl Hornemann nahm kühl die Hand, die Urban ihm reichte; dafür ergriff dieser die seinige um so fester und sagte: „Ich muß klar sehen zwischen uns und wissen, wie ich mit Dir daran bin. Du hast mir oben wie einem Feinde Opposition gemacht; ich glaube fast, daß meine Idee nur darum Deine Billigung nicht fand, weil ich es war, der sie aufstellte.“

„Du irrst,“ antwortete der Pascha; „ich pflege nie die Sache mit der Person zu vermengen.“

„Es wäre mir doch lieb, zu erfahren, wie Du Dich nach dem Vorgefallenen zu meiner Person zu stellen gedenkst,“ fuhr der Doctor dringender fort.

Der Andre war sichtlich erschüttert und rang nach Worten: „Du bist mir lieb gewesen, Heinrich, sehr lieb. Meine Schwester habe ich verloren, und es ist mir bitter, auch Dich verlieren zu müssen. Hoffen wir, daß die Alles heilende Zeit uns einander wieder nahe führt! Ein Band wird uns, denke ich, immer verbinden: das Vaterland, Heinrich. Laß uns friedlich verkehren in Arbeit und Sorge um seine Zukunft und Größe – das ist mein inniger Wunsch. Leb’ wohl!“

Er entzog Urban seine Hand und schritt gesenkten Hauptes langsam zur Brücke hin.

Die Straßen lagen in der ersten Frühhelle; ein kühles Morgenlüftchen wehte erquickend vom Canale her. Auf dem Dachfirste eines Hauses saßen zwei Rothschwänzchen und wippten auf und nieder und stießen ihre kurzen hellen Triller aus.

Urban blickte dem Geschiedenen nach und unterdrückte gewaltsam eine wärmere Empfindung, die in ihm aufquellen wollte. „Lieber Sohn,“ sagte er durch die Zähne, „wir werden einmal sehen, ob wir nicht ohne Dich einen Aufstand fertig bringen.“ –

Vier Stunden später zog der Friese Harro die Kaiserstraße hinunter, einen derben Knotenstock in der Faust, während eine Ledertasche an einem Riemen über seiner Schulter hing – die Mädchen, welche ihm begegneten, blieben bewundernd stehen, als die hohe, breitschultrige Gestalt mit den auffallend hellen blonden Locken vorüberschritt. An einem Hause schien ihn die Eingangsthür zu interessiren, und er bog von dem Fahrwege ab und stellte sich vor derselben auf. Es war eine Treppenthür mit gut gearbeiteten Sandsteinkaryatiden zur Seite, welche einen Balcon voll von Orangebäumen trugen. Er las den Namen des Besitzers an dem Glockenzuge: K. Seyboldt, Commerzienrath. Dann schritt er an den Gitterstäben des geschlossenen Hofthors vorbei, und als er an die Ecke des Fabrikgebäudes gelangte, stieß ein Mensch mit ihm zusammen, der in heftiger Eile auf die Straße einlenkte. Es war Bandmüller. Von dem Stoße zurückprallend, blickte dieser den Riesen, der um keinen Zoll wankte, aus seiner Wildniß von Gesicht ziemlich wüthend an, und schoß, ohne ein Wort zu sagen, vorüber. Harro wandte sich plötzlich um und spähte in voller Ueberraschung hinter dem Davoneilenden drein, indem er zugleich die Hand an die Stirn legte.

„Donnerwetter, den Menschen muß ich schon einmal gesehen haben, oder Jemanden, der ihm ähnlich sieht. – Ah so,“ meinte er endlich vor sich hinlachend, „er hat einige Aehnlichkeit mit dem Spitzbuben von Iowa.“ Und er drehte sich auf dem Absatz um und schlenderte weiter, auf die Landstraße hinaus und den Fluß entlang.

(Fortsetzung folgt.)




Ave Maria!


Der Berge Riesenhäupter strahlen
Noch von des Tages Scheidekuß;
Tief aus den Schlünden, aus den Thalen
Aufsteigt die Nacht mit leisem Gruß,
     Und drunten tönt von der Capelle
     Am Felsenrand das Glöcklein helle:
          Ave Maria!

Komm, Gritli! Schallt Dir nicht zum Ohre
Der traute Laut? Komm zu der Statt,
Wo zum Gebet die Felsempore
Gott selbst uns ausgerichtet hat!
     Wie tief herauf die Töne dringen,
     Sie sind des Engelgrußes Schwingen:
          Ave Maria!

Ob Säulen gleich die Berge ragen
Fast über Wolk’ und Mond hinaus –
Zu groß ist für des Herzens Zagen
Solch unermeßlich Gotteshaus.
     Der Glaube und die Liebe treten
     Gern in den kleinsten Raum und beten:
          Ave Maria!

[161]

Ave Maria auf hoher Alm.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von L. Hofmann-Zeitz.

[162]

Wie klein und arm das Kirchlein hanget
Am Felsgezack! Doch birgt es nicht,
Was einzig durch das Dunkel pranget,
Am Heil’genschrein ein ewig Licht?
     Im Glockenklang und Lampenscheine
     Begrüßt das Herz die Hehre, Reine:
          Ave Maria!

Ein jedes Herz hat seine Weise,
Wie es die Blüthen und die Frucht
Auf unsrer Erdenpilgerreise
Im Glauben und im Lieben sucht.
     Wem wohl das Herz bei seiner Weise,
     Dem klingt wie Himmelsgruß das leise
          Ave Maria!

Fr. Hfm.


Weltschrift und Weltsprache.
Von Carus Sterne.
I.

Zu den nachdenklichsten Mythen der Bibel gehört ohne Zweifel diejenige von der Sprachzerstreuung beim Thurmbaue zu Babylon, welche übrigens nach den neueren Forschungen der Assyriologen ihren Ursprung nicht der jüdischen Poesie, sondern derjenigen eines im alten Babylon ansässigen turanischen Volkes verdankt, von dem das älteste ausgebildete Schriftsystem, die Keilschrift, herrührt. Die Thurmbaumythe wollte dem kindlichen Verstande die auffallende und zu Zweifeln anregende Thatsache erklären, weshalb nicht alle Kinder Adam’s Adam’s Sprache sprechen, sondern in mehr als dreitausend verschiedenen Mundarten durcheinander wälschen.

Man hat in frühern Zeiten viel nach der Sprache Adam’s, der Ursprache, geforscht, und einige Gelehrte haben sie sogar in noch lebenden Sprachen zu erkennen geglaubt. So meinte der alte ebenso phantastische, wie gelehrte Rudbeck unzweifelhaft gefunden zu haben, daß man im Paradiese schwedisch gesprochen, und Becanus meinte sogar, die Schlange habe, als sie die Eva verführte, sich der treuherzigen Sprache Onkel Bräsig’s bedient und plattdeutsch gesprochen. Einige besonders tiefsinnige Forscher haben Reste der allgemeinen Ursprache in jenen fast auf der ganzen Erde übereinstimmend klingenden ersten Lautäußerungen der Kinder, in den Worten Papa und Mama erkennen wollen, aber Buschmann hat den Grund dieser Uebereinstimmung einfacher in dem Umstande gefunden, daß diese beiden Wortbildungen dem ersten Stammeln der Lippen entsprechen, weshalb auch die Uebereinstimmung keine durchgreifende ist, sofern in manchen Ländern der Vater Mama und die Mutter Papa titulirt werden.

Gegenüber den ältern Nachforschungen nach einer Ursprache, aus der alle spätern Sprachen hervorgegangen sein sollten, wie die Mehrzahl der lebenden und todten Sprachen Europas aus dem Sanskrit, ist die neuere Sprachforschung zu dem Schlusse gekommen, daß die Zerstreuung des Menschengeschlechtes über den Erdball wahrscheinlich schon vor den ersten Fortschritten der Sprachbildung geschehen sein müsse, da nicht wenige derselben gar keine Spur von Verwandtschaft zeigen, sodaß man eben genöthigt ist, an einen grundverschiedenen, selbstständigen Aufbau derselben zu denken.

Anders war es mit den Anfängen der Schrift, die in der That an den verschiedensten Orten einen allgemein verständlichen, internationalen Charakter aufwiesen, sofern man zur Bezeichnung der Dinge leichtverständliche Sachbilder anwendete, wodurch es uns möglich ist, alte Bildschriften sowohl der Skandinavier wie der Indianerstämme Nordamerikas mit ziemlicher Sicherheit zu lesen, ohne daß wir ihre Sprache zu kennen brauchen und ebenso besaßen die chinesischen und ägyptischen Wortbilder, so lange sie noch nicht zu einem bloßen Schema geworden waren, eine allgemeinere Verständlichkeit. Die chinesische Schrift wird noch heute von zahlreichen mongolischen Stämmen verstanden, die eine sehr verschieden klingende Sprache reden. In dieser Beziehung waren die Bilderschriften weit gemeinverständlicher, als die Laut- und Buchstabenschriften, und es ist merkwürdig, daß wir die Ausbildung und Einführung der letztern gerade dem unter den Nationen des Alterthums am meisten vermittelnden Volke, den handeltreibenden Phöniciern verdanken, die doch am stärksten hätten den Wunsch empfinden müssen, wenn nicht eine Weltsprache, so doch wenigstens eine Weltschrift heranzubilden. Sie hätten dann den modernen Phöniciern, den Engländern, die Mühe erspart, für die Seeleute aller Nationen eine Weltschrift und Sprache mühsam wieder zu erfinden. Immerhin müssen wir ihnen danken für die internationale Buchstabenschrift, die uns wenigstens das Mittel an die Hand giebt, den verschiedenen Klang der Sprache annähernd darzustellen.

Daß es schöner wäre, wenn die Menschen auf dem ganzen Erdball in derselben Zunge redeten, daß damit dem biblischen Gedanken: ein Hirt und eine Heerde, bedeutend der Weg geebnet sein würde, leidet so wenig einen Zweifel, daß wir den unendlichen Mühen, die auf die Anbahnung einer Universalsprache gerichtet worden sind, nicht ohne Theilnahme zuschauen können. Nach einander haben die griechische, lateinische, arabische, spanische, französische und englische Sprache den Ansatz genommen, Weltsprachen zu werden, und ohne Zweifel hat die englische Sprache, sowohl aus äußern politischen, wie aus innern grammatikalischen Gründen, die meisten Aussichten für sich. Seit Leibniz diesen Plan einer neuzubildenden Universalsprache fester in’s Auge faßte, ist er von zahlreichen, einsamen Denkern immer wieder und wieder aufgenommen worden, und besonders seit einigen Jahren treten fortwährend neue Vorschläge dazu an die Oeffentlichkeit. Die richtige Grundidee für eine solche besteht darin, der Sprache allen überflüssigen Zierrath und alle Unregelmäßigkeit zu nehmen, beispielsweise die im Artikel ausgedrückten Geschlechtsunterschiede von Dingen, die, wie der Tisch und die Bank, doch kein Geschlecht haben, über Bord zu werfen, was die Engländer bereits gethan haben, ferner die Declination nur im Artikel auszudrücken, und alle Unregelmäßigkeiten bei der Conjugation der Zeitwörter, der Steigerung der Eigenschaftswörter etc. auszumerzen, sodaß eine Sprache entstände, die Jeder in kürzester Frist erlernen könnte. Von dieser Grundidee, eine Elementarsprache zu schaffen, wie sie schon sonst Kinder und Wilde anwenden, ist unter andern Lichtenstein in seiner Pasilogie (1859) ausgegangen, und zwar muß bei ihm das Deutsche als Grundlage für die Universalsprache dienen. Ein alter französischer Gelehrter Letellier in Caën hat soeben ähnliche Experimente mit einem französischen Gerippe angestellt, außerdem aber eine Universalschrift erfunden, welche fast wie die chemische Zeichenschrift aussieht, und nur mittelst eines internationalen Schlüssels lesbar wird.

Die letztere Idee, welche keine Universalsprache schaffen will, sondern nur eine allgemeine Verständigung aller Völker der Erde unter einander, und ohne daß eins die Sprache des andern zu erlernen braucht, anstrebt, ist am weitesten durch einen deutschen Gelehrten, Dr. Bachmaier, geführt worden. Seine Schrift besteht aus Zahlen, die für die Worte und Begriffe gesetzt werden. Er nimmt an, daß für alle Vorkommnisse des praktischen Lebens in runder Summe etwa viertausend Worte genügen, und arbeitete deshalb ein Lexikon aus, in welchem neben jeder Zahl von 1 bis 4000 ein anderes Wort steht, und in den Ausgaben der verschiedenen Völker den gleichen Zahlen die entsprechenden Ausdrücke hinzu gefügt werden. Wenn nun für jede Sprache der Welt ein derartiges Lexikon gearbeitet würde, im ersten Theile mit alphabetischer Anordnung der Vokabeln, im zweiten nach der Zahlenreihe, so ist klar, daß mit Hülfe zweier derartiger Bücher, die nur ein Taschenformat haben würden, zwei Menschen, die ihre gegenseitige Sprache zum ersten Male vernehmen, dennoch mit einander verkehren könnten, indem dieselben Zahlen bei allen das gleiche Wort oder den gleichen Begriff bezeichnen. Um Masculinum und Femininum, Substantiv und Adjectiv, Zeitform und Declinationsform, sowie andere grammatikalische Veränderungen anzudeuten fügt Dr. Bachmaier den Zahlen gewisse einfache Nebenzeichen hinzu. Drei solcher Wörterbücher (französisch, englisch, deutsch) hatte der mit weiteren Ausgaben beschäftigte Gelehrte 1875 auf dem Orientalisten-Congreß in Oxford ausgestellt, wo sie natürlich das lebhafteste Interesse erregten. Für die Begegnung fremder Nationen im Kriege wären solche internationalen Wörterbücher fast noch wichtiger, als für den Handel.

Es wird gewiß manchem unsrer Leser neu sein, daß ein [163] ähnliches, mit einer Universal-Sprache nicht zu verwechselndes System zur Verständigung der Menschen aller Zungen untereinander seit längeren Jahren in segensreichstem praktischem Gebrauche befindlich ist, nämlich für die Verständigung der Schiffe untereinander und mit den Marinestationen der Ufer. Dieses System, welchen eine Verständigung über alle zur See vorkommenden Angelegenheiten zuläßt, ist freilich, da die Signale durch Flaggen für eine bedeutende Entfernung gegeben werden müssen, nicht so einfach, wie das eben erläuterte, aber die Art, wie die Capitaine Marryat, Reynold, Rogers etc. die bedeutenden hierbei hervortretenden Schwierigkeiten überwunden haben, ist so interessant, daß es den Leser gewiß nicht reuen wird, eine ungefähre Vorstellung von dem angewendeten Verfahren zu erhalten.

Zunächst giebt es zwei allgemeine Zeichen, eine Flagge, welche die Nationalität des Schiffes kund giebt, und ein Wimpel, dessen Aufziehen andeutet, daß man auf Grund des Signalbuches aller Nationen eine Frage, Bitte oder Mittheilung auszutauschen habe. Ein nochmaliges Aufziehen dieses Wimpels an andrer Stelle zeigt an, daß man das inzwischen gegebene Signal verstanden habe. Man hat nun ferner für jeden der achtzehn Consonanten des Alphabets eine besondere, durch Form, Farbe und Farbenzusammenstellung unterschiedene Flagge, die, mit einer, zwei oder höchstens drei andern Flaggen untereinander aufgezogen, die Möglichkeit gewährt, 78,462 verschiedene Signale zu geben. Nur die Flaggen für C und D werden auch einzeln angewendet, und heißen dann: Ja und Nein. Die Benutzung der Vocale ist vermieden worden, damit die Buchstabenzusammenstellungen, die nur als Zeichen dienen sollen, niemals ein wirkliches Wort ergeben können, und weil die achtzehn Consonanten zu je zweien, dreien oder vieren verbunden, vollkommen ausreichen.

Für jede dieser nahezu achtzigtausend Flaggen- oder Buchstabenzusammenstellungen ist eine besondere Bedeutung zwischen allen seefahrenden Nationen vereinbart und in ein Signalbuch alphabetisch eingetragen, von dem es amtliche Ausgaben in allen europäischen Hauptsprachen giebt. Diese Signale bezeichnen aber nicht nur einzelne Worte, wie z. B. die technischen Ausdrücke der Schifffahrt, sämmtliche Länder und Hafenorte der Welt, alle Schiffsnamen, die in der amtlichen Schiffsliste eingetragen sind, sondern zum Theil ganze Frage- und Antwortsätze, wie sie am häufigsten vorkommen. Dabei giebt es nun bestimmte Eintheilungen der Mittheilungen, die gleich von vorn herein den allgemeinen Inhalt derselben erkennen lassen. So sind die siebenzehn Signale mit zwei Flaggen, bei denen die gezackte B-Flagge, ein sogenannter Stander, oben steht, sämmtlich Achtungs- oder Aufforderungs-Signale, z. B. BC: „Zeigen Sie Ihre Nationalflagge“; BD: „Welches Schiff ist das?“ BK: „Geben Sie Acht!“ etc. Ferner sind alle Signale mit zwei Flaggen, bei denen ein dreieckiges Wimpel (C, D, F oder G) oben ist, Compaßsignale, und alle übrigen mit zwei Flaggen Nothsignale, z. B. HB „Wir haben augenblickliche Hülfe nötig“; HD: „Es kann keine Hülfe geleistet werden“; HF: „Wir komme Ihnen zu Hülfe“ etc. Ferner sind z. B. alle Signale mit vier Flaggen, bei denen die eingeschnittene Fahne B oben steht, geographische Signale etc.

Wenn nun schon diese Einrichtung die Deutung der einzelnen Signale erleichtert, so dient zur weiteren Entzifferung eben die alphabetische Anordnung der zwei-, drei- und vierstelligen Buchstaben-Signale im Signalbuche, welches, wie gesagt, in allen Sprachen gleichlautend ist. Zum Auffinden der Signale behufs der Absendung dient ein zweiter Theil desselben internationalen Werkes, in dem die einzelnen Worte, Eigennamen etc. derartig alphabetisch angeordnet sind, daß bei ihnen zugleich die durch besondere Signale bezeichneten Sätze, deren Schlagwörter sie sind, mitaufgeführt stehen. Ein Beispiel wird dies klarer machen. Angenommen, ein Schiff hätte einen Kranken an Bord und brauchte ärztliche Hülfe, so findet der Capitain im alphabetischen Register, sowohl unter Arzt, wie unter Krankheit, mehrere entsprechende Sätze, von denen er den für seinen Fall passenden wählen kann. Er hißt das Signal L B auf, welches der Empfänger alsbald im ersten Theile desselben Buches nachschlagen wird, um dort in seiner Sprache die Worte zu finden: „Ich habe einen Kranken an Bord, können Sie mir einen Arzt senden?“

Um aber mit Hülfe der achtzehn Flaggen auch Eigennamen, die im Signalbuche nicht verzeichnet stehen, signalisiren zu können, enthält dasselbe ferner eine Buchstaben- und eine Buchstabir-Tabelle, in denen die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets, sammt dem Punktzeichen erstens durch ebenso viel dreistellige Signale, und ferner, zur größeren Schnelligkeit, die am häufigsten vorkommenden Gruppen von zwei und drei aufeinanderfolgenden Buchstaben (Aa bis Zy) durch vierstellige Signale ausgedrückt werden. Ebenso hat man circa zweihundert dreistellige Signale zur Verfügung, um alle Zahlen von 1/100 bis eine Million darstellen zu können.

In dieser sinnreichen Methode ist also die Möglichkeit gegeben, daß sich zwei Capitaine beliebiger Nationalität, nicht nur über alle Vorkommnisse zur See verständigen können, ohne daß der Eine die Sprache des Andern zu verstehen braucht, sondern daß sie sich auch Neuigkeiten aller Art mittheilen können, wenn sie sonst Zeit und Lust dazu haben. Allein diese Zeichen haben den Uebelstand, bei Tage selbst für das Fernglas nur auf eine kleinere Entfernung erkennbar zu sein, und zur Nacht gar nicht.

Um aber nun auch in größerer Ferne mit einander verkehren zu können, benutzt man die sogenannten „Fernsignale“, bei denen der Gebrauch der Farbe ausgeschlossen ist. Dieselben setzen sich aus drei Formelementen zusammen, aus einem spitzen Dreieck (Wimpel), einem Viereck (Flagge) und einer runden Scheibe (Ball), so zwar, daß der letztere niemals fehlen darf und der angeredeten Person (da er unter den Signalen der ersten Classe nicht vorkommt) als das charakteristische Merkzeichen dient, daß man durch Fernsignale mit einander verkehren wolle. Auch gilt der einzeln aufgezogene Ball als Vorbereitungs-, Antworts- und Schlußzeichen. Unter den zahlreichen Signalen, die man geben kann, indem man diese drei Formelemente zu zweien oder dreien unter einander aufhißt, sind nun wieder die vier aus zwei Zeichen bestehenden die wichtigsten. So heißt Ball, Wimpel: „Ihr begebt Euch in Gefahr“; Ball, Flagge: „Feuer oder Leck, augenblicklich Hülfe nöthig“; Wimpel, Ball: „Proviantmangel, Hunger“, und Flagge, Ball: „Auf Grund, augenblicklich Hülfe nöthig“. Indem man alle drei Zeichen in verschiedener Weise über einander ordnet und unter Weglassung des einen derselben – nur der Ball darf, wie wir sagten, nie wegbleiben – eines der beiden anderen verdoppelt, erhält man wieder achtzehn Zeichen für die achtzehn Consonanten, die theils als Einzelsignale, theils dazu dienen, die früher beschriebenen zwei-, drei- und vierstelligen Signale des Signalbuchs herzustellen. Wenn die Buchstaben einzeln als Signalzeichen dienen sollen, wird dies dadurch angezeigt, daß gleich darauf der einzelne Ball als Schlußzeichen oder Punctum aufgezogen wird, während andernfalls mehrere Fernsignale zeitlich oder räumlich hinter einander (an verschiedenen Masten) aufgezogen werden, um die Buchstabengruppen des Signalbuchs zusammenzusetzen. Dieselben Fernsignale können auch vom Ufer oder von Booten derartig gegeben werden, daß zwei oder drei Seeleute sich erheben und statt des Balls einen runden Körper, z. B. ihren Hut, statt des Wimpels und der Flaggen schmale und quadratische Tücher von links nach rechts hinter einander flattern lassen.

Vor Allem dienen indessen diese Fernsignale zum Verkehr mit den Semaphoren oder Signalstationen der europäischen Küste, die gleichsam die Postämter und Briefkästen der Weltschifffahrt darstellen und die Aufgaben haben, einerseits die ihnen von vorbeipassirenden Schiffen durch Signale gemachten Mittheilungen telegraphisch an ihre Adresse zu befördern und andererseits die für bestimmte Schiffe erhaltenen Mittheilungen durch Signale an dieselben gelangen zu lassen. Der Semaphor giebt seine Fernsignale mit einem etwas schneller arbeitenden Zeigertelegraphen, der auf einem Maste mit drei einseitigen Querarmen besteht, die, je nachdem sie wagerecht, schräg nach oben oder schräg nach unten gerichtet werden, Ball, Flagge und Wimpel vertreten. Eine senkbare Scheibe an der Spitze des Mastes dient als Aufforderungs- und Schlußsignal. Alle Schiffe, die bei einem Semaphor vorbeifahren oder einem andern Schiffe begegnen, beobachten die für sie selbst sehr nützliche Höflichkeit, sich vorzustellen. Sie hissen zuerst die Nationalitäts- und Signalbuchflagge auf, geben dann das Signal, unter welchem sie in der amtlichen Schiffsliste eingetragen sind (welche Zeichen Schiffe verschiedener Nationen ohne Schaden gleichlautend führen können), zweitens und drittens das Signal für den Hafen, aus dem sie kommen und wohin sie bestimmt sind, schließlich die Zahl ihrer bisherigen Reisetage. Die Schiffe, welche sich so bei einem [164] Semaphor vorstellen, haben nicht nur den Vortheil, etwaige Nachrichten in Empfang zu nehmen, sondern sie werden auch ohne Weiteres regelmäßig in der Londoner Schiffs- und Handelszeitung als da oder dort vorbeipassirt gemeldet. Hat nun der Semaphor Nachrichten für das Schiff, welches sich ihm zu erkennen gegeben, so macht er das Zeichen J (Wimpel, Ball, Flagge) und senkt dann die Scheibe als Schlußzeichen, womit er sagt: „Stoppen Sie, oder drehen Sie bei! Es sind wichtige Mittheilungen zu machen.“ Das Schiff hält dann oder nähert sich, und kann durch Fernsignale oder, wenn es nahe genug ist, durch Farbensignale die ihm nachgesandte Botschaft empfangen. Andererseits fragt das vorbeisegelnde Schiff den Semaphor, nachdem es sich zu erkennen gegeben, ob ein Poste restante-Brief angekommen ist, indem es das Fernsignal K giebt; es verlangt durch L einen Lootsen, durch M einen Schlepper, erbittet durch N den Wetterbericht und zeigt durch S an, daß es eine telegraphische Depesche an irgend eine Adresse aufgeben wolle. Diese Depeschen können auf Wunsch, den Telegraphenbeamten unverständlich, in der internationalen Chiffre-Schrift des Signalbuchs befördert werden und werden ohne Vorausbezahlung angenommen; die geringe Taxe – für je zehn Worte einen Franken – hat der Empfänger zu entrichten. Solcher Stationen sind an den Küsten des atlantischen und Mittelmeeres in Frankreich, Italien und Portugal gegen zweihundert theils bereits in Thätigkeit, theils in der Anlage begriffen, sodaß Capitain und Reisende unterwegs, ohne an’s Land zu gehen, immerfort Gelegenheit haben, mit ihren Angehörigen wichtige, in die Weltsprache übersetzte Nachrichten für mäßige Preise zu wechseln.




Das Luisenzimmer im Schlosse Monbijou zu Berlin.
(Zum 10. März.)

Mitten in dem regen Berlin, wo Handels- und Börsenverkehr die Straßen mit geschäftig Eilenden fast überfüllt, wo der bunte Obstmarkt am Wasser Kauflustige anlockt, Wagen rasseln und Omnibusführer klingeln, liegt, einer stillen, grünen Insel gleich, der Garten von Monbijou. Hinter die Mauer, die ihn umfriedet, unter den Schatten seiner Bäume dringt wenig Weltlärm, wenig Menschenunruhe. Höchstens daß ein paar Kinderwärterinnen, den Strickstrumpf in der Hand, ihre Pflegebefohlenen dort spazieren führen, die sich fröhlich im hochaufgeschossenen Rasen die ersten Butterblumen pflücken. Das Einsame und Ueberlebte dieser Umgebung widerspricht den Eindrücken nicht, die uns im Innern des Schlosses erwarten. Wir betreten eine Stätte der Vergangenheit. Treue Erinnerung hat ihr hier weder Tempel noch Denkmäler gebaut, aber mit liebender Hand zusammengetragen, was uns das Bild der Heimgegangenen, ihrem Wirken und Wesen, ihren Eigenthümlichkeiten und Gewohnheiten nach bis in ihre äußere Umgebung und Erscheinung hinein, vergegenwärtigen kann. Die weiten Säle und Kammern des Schlosses Monbijou enthalten ein Andenken-Museum der Familie Hohenzollern.

Das Vorhandene ist so massenhaft, daß wir nicht daran denken können, bis in seine Einzelnheiten hinein – die freilich sämmtlich bedeutungsvoll und interessant sind – von Allem zu erzählen. Nur Hauptsächliches kann hervorgehoben werden. Unwillkürlich tritt dabei in die erste Reihe Alles, was sich auf die holde, vielgeliebte Frau bezieht, mit der sich jetzt (10. März) gerade vor einem Jahre alle deutschen Herzen gelegentlich der Hundertjahrsfeier ihrer Geburt besonders liebevoll beschäftigt haben. Was ihr Sein und Leben in bestimmteren Umrissen zeichnet, nimmt unser Interesse vorzugsweise in Anspruch. Doch mag auch Anderes wenigstens erwähnt werden, schon weil das Ganze hier zusammenhängt, wie die Glieder einer Kette, und weil auch was vor und was nach Luisen war, zu ihr gehört, um ihr sanftes, hehres Bild ganz in sein rechtes Licht zu stellen.

Direct vom Garten aus tritt man in die Säle des Schlosses; durch keine Treppe, keine Stufe erhöht, liegen sie vollständig zu ebner Erde. Eine Waffenhalle empfängt uns, die für den Kenner gewiß reich an interessanten Stücken ist. Ein Sattel, noch aus den Kreuzzügen stammend, nach Art uralter Buchdeckel mit byzantinischer Elfenbeinschnitzerei belegt, erschien mir sehr merkwürdig. Allzu weich haben die frommen Streiter freilich nicht gesessen. Auch ein großes schwarzes Vehmschwert, wie es vor dem Stuhlherrn auf der Bibel gelegen – die Symbole im Knopfe seines Griffes kennzeichnen es – hängt dort über der Eingangsthür.

Links von der Waffenhalle liegen nur wenige Gemächer. Im ersten birgt ein großer Glasschrank die Krönungsmäntel unseres deutschen Kaiserpaares. Die Wände des letzten sind mittelalterlich mit Wappen- und Devisenschilden decorirt; diese stammen aus dem Tournier, welches am Neuen Palais bei Potsdam abgehalten wurde, als die Prinzessin Charlotte von Preußen zum ersten Male als russische Kaiserin die Heimath wieder besuchte.

     A Dieu mon âme,
     Ma vie au Roi,
     Mon coeur aux dames,          
     L’honneur pour moi!
(Gott meine Seele,
Mein Leben dem König,
Mein Herz den Damen,
Die Ehre für mich!)

haben sich die von Waldow zum Wahlspruch genommen. Wäre es nicht noch ritterlicher zu sagen: mon coeur à ma dame statt der etwas bedenklichen Zersplitterung des Herzens an das ganze schöne Geschlecht?

Zwischen diesen beiden Gemächern liegt ein drittes, das der Erinnerung an Friedrich Wilhelm den Zweiten gewidmet ist. Ich will von seinen Stöcken, Röcken, Stühlen, Uhren und Dosen nicht weiter reden. So etwas findet sich in dem Nachlasse fast jedes Monarchen. Auf dem Kaminsimse aber stehen zwei Teller von weißem Porcellan, grün umrändert; in der Mitte befindet sich ein Namenszug, F. W., gleichfalls grün. Dreht man den Teller um, daß die Schrift auf dem Kopfe steht, so wird aus dem verschlungenen F. W. ein M. v. L.; statt des königlichen Namens Friedrich Wilhelm lesen wir denjenigen seiner Geliebten: Marianne von Lichtenau[WS 1]. Ein completes derartiges Service war im täglichen Gebrauche des Königs. Als Friedrich Wilhelm der Dritte ihm folgte, wurde dasselbe zu geringeren Diensten im königlichen Haushalte degradirt und möglichst rasch verbraucht. Jetzt werden nur noch diese beiden Teller als Curiosum aufbewahrt. – Auch ein Bild der Lichtenau ist dort zu sehen, ein in grauer Thonmasse modellirtes Profilköpfchen von weichen, runden Formen und vielsagendem Lächeln. Die ganze damalige Zeit tritt uns in diesem sinnlich-hübschen Gesichte entgegen. Es war keine gute Zeit, und doch klopfte auch in ihr ab und zu ein Pulsschlag des Herzens. Eine alte vergriffene Bibel wurde uns gezeigt, ein Geschenk der jungen Gräfin Ingenheim an den König. Vornan steht noch der Mädchenname: Amelie von Voß. Sie muß ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein, als sie die Bibel erhalten, die sie später dem Könige gegeben hat, wie einige von ihm selbst hineingeschriebene Zeilen aussagen. Unter dieselben hat er die Worte hinzugefügt. „Dies bleibt meine Handbibel bis an meinen Tod.“

Zurückkehrend in die Waffenhalle, treten wir rechts in einen größeren Saal, der uns Friedrich Wilhelm den Vierten und seine Gemahlin Elisabeth vergegenwärtigt. Da finden wir Bilder, Gegenstände, Anklänge, die noch unserer eigenen Erinnerung bekannt und vertraut sind. Das Brautkleid der Königin, obgleich von Silberbrocat, mit künstlich gearbeiteten silbernen Blumen besetzt, will uns in Schnitt und Fülle des Stoffes, gegen die jetzigen Moden, fast bescheiden erscheinen. In den Glasschränken, welche die lange Hinterwand decken, ist manches Curiose aus des Königs Besitz. Eine kleine farbige Statuette z. B., den Theaterfriseur Warnicke darstellend, wie er, grau in grau gekleidet, mit grauem Haar, in den Straßen von Berlin einherging, eine Figur, die jedes Kind kannte. Dann ein großes silbernes Schreibzeug, welches, als Geschenk eines englischen Edelmannes, in Schiller’s Besitz gewesen. Fast wie Ironie erscheint dieser strotzende Silberglanz, wenn man zurückdenkt, wie oft und wie lange des Dichters Feder in Noth und Mangel getaucht blieb.

Im Nebengemache faßt schon der erste Blick, wie einfach, schmucklos, fast kahl es hier aussieht. In der Mitte des Zimmers steht ein Schreibtisch, eine glatte, von schmaler Holzgalerie umgebene Platte mit Kasten darunter – übrigens kein Zierrath, kein Leistchen und kein Schnörkelchen, das zu viel wäre. Es ist der [165] Schreibtisch Friedrich Wilhelm’s des Dritten. In der Ecke steht des Königs Bett, ein glattes Holzgestell mit weißer, durch die Zeit vergilbter Oelfarbe gestrichen. Auf der schlichten Decke liegt sein Morgenanzug, ein langer Rock von weißem Drell, wie die Arbeitsjacken der Soldaten. Ein Bettschirm, hinter dem der König bis an sein Ende geschlafen, umgiebt das Lager. Er ist von gelbem Papier, mit ausgeschnittenen Soldatenbildern aller preußischen Regimenter beklebt. Am Fenster dieses Gemaches hängt an farbigen Bändern, schon zerbrochen und verstäubt, ein Bündel bunter Ostereier. Bemalt, radirt, beklebt, mit gepreßten Blümchen verziert, sind es Gaben der königlichen Kinder, wie diese sie, so gut ein Jedes es konnte, dem theuren Vater zum Feste darzubringen pflegten. Der schmucklose Schreibtisch nun, das fast ärmliche Bettgestell und dieses sorgsame Aufbewahren der ersten Leistungen zärtlich geliebter Kinder – das Alles zusammengenommen giebt auch ein Bild der Zeit und ihres Zuschnittes, der, in harter Schule jeden unnützen Luxus verbannend, ein edles Herz in den rein menschlichen, natürlichsten Empfindungen nur um so inniger befestigte. Und das nächste Zimmer ist Luisens Zimmer. –


Schloß Monbijou im Jahre 1732.
Einem alten Kupferstich facsimile nachgebildet.


Sie hat nicht hier gewohnt, aber der ganze, übrigens nicht große Raum ist mit Gegenständen gefüllt, die sie täglich benutzt, die Jahre lang ihre nächste Umgebung ausgemacht haben. Sie waren dem Enkel, Deutschlands Kronprinzen, vermacht, der sie hierher gestiftet hat. Die Aufschrift mehrerer Zettel, welche, an den Gegenständen angeheftet, dieselben näher bezeichnen, ist von des Kronprinzen eigener Handschrift. Es liegt wie ein Geist des Friedens über dem Zimmerchen und seiner schattigen Stille.

In eine Ecke des Schlosses hineingebaut, hat das Luisen-Zimmer zwischen den beiden im rechten Winkel zu einander stehenden Thüren nur dieses eine Fenster. Auf den Plafond, der glatt lichtblau wie ein klarer Himmel ist, sind mit ausgebreiteten Flügeln große und kleine Vögel gemalt, die hoch im Aether zu schweben scheinen. Auch die Decoration der Wände ist früher eine ähnliche gewesen. Aber durch die Zeit geschädigt, wurde sie jetzt durch einen mattgelben Ton ersetzt, der nur wenig mitspricht. An der ersten Wand, rechts neben der Thür, steht ein altmodiges Schränkchen mit vielen flachen Schubkästen; vielleicht war es zur Aufbewahrung von Noten bestimmt; wenigstens füllt gleich dahinter der Flügel die übrige Wandlänge aus. Er ist schmal, schlank, dünnbeinig. An den Kanten ziemlich dürftig durch einen Metallbeschlag verziert, mag er seiner Zeit vielleicht doch ein recht kostbares Möbel gewesen sein. Die Tasten sind, wie beim Spinet, noch umgekehrt: die unteren schwarz, die oberen weiß. Der Ton ist dünn, aber weich und zart. Traum- und Wiegenlieder, von kundiger Hand gespielt, mögen anmuthig genug darauf geklungen haben. Zwei Mandolinen – jetzt mit gesprungenen Saiten – lehnen auf ihm gegen die Wand, an der, von Ternite gemalt, ein Bild der Königin hängt. Sie ist im weißen Atlaskleide und mit kurzer Taille dargestellt und trägt eine Krone in den Locken. Das Bild erscheint etwas platt und flach. Die beiden bekannten Portraitbüsten Luisens und ihrer Schwester, der nachmaligen Königin von Hannover, auf Consolen an seinen Seiten, überflügeln es an künstlerischer Bedeutung. Die Nische der Mittelwand schmückt Rauch's Büste der Königin. Rechts und links von ihr stehen Glasschränke, gefüllt mit persönlichen Andenken der hohen Frau. Hier könnte man Stunden und Tage lang die Gedanken versenken in Luisens äußeres und inneres Leben, in die Physiognomie der Zeit, der sie angehörte, die sie theilweise beseelt hat.

Der Schrank rechts enthält Kleidungsstücke, welche die Königin getragen hat. Wie wunderlich sehen diese Hüte uns an – das gewiß damals sehr elegante italienische Strohgeflecht, mit hohem [166] Kopfe und überschwänglich breit sich entfaltendem Schirm, von maisgelben Seidenbändern umflattert! Hier der unförmig große Reithut von schwarzem Filz, der sie doch so besonders schön gekleidet haben soll. – In dem Schranke nach links ruht manches Blatt, von ihrer Hand geschrieben. Bruchstücke eines französischen Tagebuches, voll orthographischer Fehler, das dann plötzlich abbricht, als sei die fremde, kalte Sprache dem deutschen Herzen doch gar zu sehr entgegen gewesen. Ein Heftchen in Octavformat trägt die Aufschrift: „Religiöse Fragen und Antworten, angefangen den 7. April für Luise von Mecklenburg-Strelitz 1789.“ – Auch ein gedrucktes Büchelchen lehnt gegen die Scheiben des Schrankes. „Journal des Luxus und der Moden“ steht auf seinem ziegelrothen Umschlage. Unter den mannigfachen Gegenständen aus dem Besitze der Königin, die hier aufbewahrt, fällt auch ein ausgestopfter Vogel auf. Vielleicht ein Lieblingsthier, an dem sie Freude gehabt und dessen todte Hülle sie sich noch erhalten wollte?

Im rechten Winkel zu diesem Schrank, an der dritten Wand, steht der Schreibtisch, gleichfalls ein kleines, leichtes Möbel von ähnlicher Arbeit wie der Flügel ihm gegenüber. Zwei Pastellbilder sind dort aufgestellt; das eine, von Schröder, das uns die Königin, einen dunkelblauen Mantel um die Schulter geschlagen, im Profil zeigt, ist durch zahllose Vervielfältigungen bekannt; das andre, ein feines, farbenzartes Köpfchen, wurde von Bardou im Jahre 1796 gemalt. Eine zweite Thür folgt; neben ihr, dicht an dem vorher erwähnten, die Ecke bildenden Fenster, hängt ein lebensgroßes Portrait der Oberhofmeisterin Gräfin Voß, gebornen von Pannewitz, der treuesten Freundin, welche die preußische Königin in guten und in bösen Tagen besessen hat. Am Fenster selber lehnt der Stickrahmen. Noch ist feiner Stramin darin eingespannt und die lose hängenden Seidenfäden deuten das begonnene Muster an. Welche Gedanken mögen hineingenäht sein in diese steifen Figuren, diese verblichenen Rosen?

Zwischen dem Fenster und der ersten Eingangsthür, hinter dem Arbeitsplätzchen der Königin, steht mit dunkelgrünem Seidenzeug überspannt die Wiege ihrer Kinder. – Mit ihr schließt sich und in ihr gipfelt die kleine und doch so inhaltreiche Welt, die hier aufgebaut wurde zu Luisens Angedenken und die ihr ganzes Leben wiederspiegelt: ihre Schönheit, ihre häuslichen Tugenden, die Freundschaft, die sie mit unverbrüchlicher Treue zu pflegen wußte, das tief religiöse Gefühl, welches, zeitig in ihr geweckt, ihr Schutz und Schirm blieb in den Stürmen des Lebens, Kunst und Anmuth und endlich die Mutterliebe, die sie treu geübt, zum nachhaltigen, weitgreifenden Segen für die eigne Familie, wie für Deutschlands glorreiche Zukunft.

Es bietet sich noch viel Anziehendes, Interessantes, wenn man aus dem kleinen gelben Zimmer weiter wandelt durch das Schloß; die Empfindung freilich, welche jenes friedliche Heiligthum im Herzen des Beschauers geweckt, wiederholt sich nicht. Dagegen fände der historische Forscher immer noch ein reiches Feld des Studiums. Hier sind die Zimmer Friedrich’s des Großen mit seiner Todtenmaske, seinen in Wachs bossirten Händen, dem Feldbette und der Wiege, dem Schimmel Condé, den er in der Schlacht von Kunersdorf geritten. Ein umfangreiches Oelbild seiner Gouvernante, Madame de Roccul, sieht aus wie die Feierlichkeit selbst. Ein andres, seines Erziehers Jordan, dagegen, von Pesne gemalt, ist sehr fein und geistvoll. Auch das Zimmer seiner Mutter ist merkwürdig, in allen vier Ecken desselben spitze hohe, fast bis an die Decke reichende Etagèren mit chinesischem Porcellan, an der Mittelwand das sogenannte Thee-Canapé, dessen steiflehnige, großgeblümte Polster an den Seiten von verschließbaren Fächerschränken eingeklemmt werden, in denen die Hofdamen die Handarbeiten, mit denen sie sich beim Thee beschäftigten, aufzubewahren pflegten.

In naher Nachbarschaft zu diesem Gemache befindet sich noch ein Luisen-Zimmer, aber es bringt uns nicht die lebende, sondern die schon heimgegangene Königin zur Anschauung. Ein hoher, kuppelartiger Bau, empfängt es sein Licht von oben. Die Wände sind Spiegel. Zwei Gypsabgüsse, nach den beiden Rauch’schen Monumenten des Königs und der Königin im Mausoleum zu Charlottenburg, stehen in seiner Mitte auf einer Decke von verschossenem lila Sammt, über der sich zwischen den Monumenten verdorrte, gelbe Palmenzweige – vielleicht noch von der Bestattung selber her kreuzen. Rechts ist die Kolossalbüste der Königin von Rauch (1806) aufgestellt; ein classischer Kopf von vollendeter Arbeit, der aber in seiner strengen Schönheit die Luise nicht wiedergiebt, wie sie in unsren Herzen lebt. Vertrauter lächelt uns links das Portrait der Königin (1802), von dem Italiener Grassi in Dresden gemalt, entgegen.

Vor diesem zweiten Luisen-Zimmer streckt sich eine lange, mit Sculpturen fast überfüllte Galerie hin. Sie enthält, theils im Originale, theils in Gypsabgüssen, Portraitköpfe berühmter Männer und Frauen, die dem Königshause nahe gestanden oder sich allgemeine Verdienste im Lande erworben haben: Gelehrte, Künstler und Künstlerinnen, Minister, auch Fürsten selber, aus alter bis in die neueste Zeit. Nicht beziehungslos ist es, daß man Wrangel’s alten Soldatenkopf und die Büste der Oberhofmeisterin Gräfin Voß geschwisterlich nebeneinander auf die Console gestellt hat. Langjähriger und treuer, als diese Zwei, haben wohl Wenige Preußen und seinem Königshause gedient.

Sehr merkwürdig in dieser Sammlung ist auch Napoleon’s des Ersten prachtvolle Marmorbüste von David, die aus St. Cloud im letzten Kriege als Trophäe hierher gebracht wurde.

Wie wir nun weiter und weiter die Säle und Gemächer des Schlosses verfolgen, greift auch die Zeit immer weiter zurück, die uns in ihnen zur Anschauung kommt. Im Zimmer Friedrich Wilhelm’s des Ersten steht am Fenster eine schwerfällige Drehbank aus dunklem Holz, ein Geschenk Peter’s des Großen, und in der Mitte, von Stühlen umgeben, die lange Tafel des Tabaks-Collegiums. Tisch und Stühle sind grau angestrichen und in bäurischem Geschmack mit großen bunten Blumensträußen bemalt. Die Stühle alle haben hohe Lehnen, nur der des Königs nicht. Friedrich Wilhelm der Erste hatte, um sich den Zopf nicht zu derangiren, immer gern den Rücken frei. Hinter dem fröhlichen Tabaks-Etablissement drückt sich in die Zimmerecke der Tisch, an dem Katte’s Todesurtheil unterzeichnet wurde: eine düster schaurige Erinnerung neben der heitersten.

Der lange, bunt decorirte Saal im letzten Flügel des Schlosses zeigt uns, außer architektonischen und Schiffsmodellen, eine Sammlung königlicher Schlitten, Jagd- und Gartenwagen. Wie wechselnd hat die Phantasie auch auf diesem Felde im Laufe der Jahre gespielt! – Fast an jedes einzelne der Stücke hier knüpft sich eine Historie, irgend welche Eigenthümlichkeit einer Person von Bedeutung. Besonders groß und geräumig ist der Kriegsschlitten, in dem der große Kurfürst über das Kurische Haff gegen den Schweden gefahren. Am Ende des Saales steht der erste preußische Königsthron. Und daß auch der Sage ihr Recht gegönnt sei, zeigt man uns noch die Sänfte der „weißen Frau“.

Wie bunt und anziehend aber auch die Vielseitigkeit der Eindrücke hier, wie großartig das Ganze, wie fesselnd das Einzelne – am liebsten wendet sich doch der Blick zurück in das kleine, stille Luisen-Zimmer, zu einer Vergangenheit, die deutschen Herzen nie vergehen, sondern in der Liebe des Volkes ewig weiter leben wird. Große Namen, große Thaten sind es, von denen die weiten Räume hier und ihr Schmuck erzählen; in dem kleinen Zimmer aber „zieht uns das Ewig-Weibliche hinan“ und webt über allen Erdenruhm und alle Erdengröße hinaus die goldnen Seelenfäden, die das Irdische dem Himmlischen verbinden.

Walter Schwarz.


Im Eisenbahn-Coupé.


Pierre des Piliers,[1] ehemaliger Benedictinermönch von Solesmes bei Le Mans, erzählte mir jüngst ein Reise-Abenteuer, welches die Leser der „Gartenlaube“ gewiß mit Interesse vernehmen werden. Die Thatsache ist um so fesselnder, als die Wahrheit derselben durch Herrn de Piliers verbürgt ist.

„Ich stieg in M.“ – erzählte er mir – „in den Zug und war allein in meinem Coupé. Die Nacht war schon hereingebrochen. Durch das offene Fenster sah ich beim Scheine der [167] Laternen einen jungen Priester, der vergebens nach einem Platze suchte. Da ich bemerkte, daß einige junge Leute schon anfingen seiner Verlegenheit zu spotten, sagte ich ihm: ‚Herr Abbé, ich bin allein; steigen Sie gefälligst hier ein!‘

‚Besten Dank, mein Herr! Ich werde bei Ihnen Platz nehmen,‘ antwortete er.

Da unser Coupé gut beleuchtet war, konnte ich seine Züge deutlich sehen. Er zählte höchstens achtundzwanzig Jahre und schien mir eine genügende Dosis Selbstbewußtsein zu besitzen.

‚Ohne Zweifel sind Sie Vicar, Herr Abbé?‘

‚Das bin ich. Mit wem aber habe ich das Vergnügen zu sprechen?‘

‚Ich bin aus Brüssel und reise Geschäfte halber in dieser Gegend.‘

‚So, aus Brüssel sind Sie? Dort geht ja Alles vortrefflich. Die belgische Regierung ist die einzige, welche ungeachtet der schlechten, von den Liberalen ihr aufgezwängten Verfassung die Interessen der Religion und der Kirche zu wahren weiß.‘

‚Nun ja, Herr Abbé, Sie werden aber auch zugeben, daß in ganz Europa nirgends die Presse so frei und die Gewissensfreiheit so vollständig ist, wie gerade in diesem Lande. Wenn aber der belgische Klerus diese Freiheit zu Gunsten der Religion zu benutzen versteht, wie kommt es, daß er anderswo gerade in dieser Freiheit den Untergang der römischen Kirche erblickt?‘

‚Wo denken Sie hin? Um das Schicksal unserer Kirche brauchen wir nicht besorgt zu sein. Ihr ist die Verheißung geworden: ‚Die Reiche dieser Welt werden zusammenfallen, die Kirche aber, wie ein Fels im brandenden Meere, wird bleiben in Ewigkeit.‘ Nur um die Rettung der durch den schlechten Zeitgeist irregeleiteten Seelen sind wir bekümmert.‘

‚Dieses menschenfreundliche Gefühl, Herr Abbé, ist für Sie höchst ehrenvoll und ermuthigt mich, Sie um Aufklärung einiger religiöser Fragen zu bitten, über die nur ein aufgeklärter Theologe, ein der Geschichte wohlkundiger Christ urtheilen kann.‘

‚Sind Sie vielleicht Protestant, mein Herr?‘

‚Nein, Herr Abbé; ich bin in der römischen Kirche geboren und will in derselben leben und sterben als guter katholischer Christ.‘

‚Nichts leichter als dieses; um guter Katholik oder guter Christ zu bleiben, was im Grunde dasselbe ist, haben Sie jeder Discussion irgend eines Dogmas fern zu bleiben. Dies genügt, aber es ist auch zugleich unumgänglich nothwendig, daß Sie als gehorsames Kind alle Dogmen annehmen, die Ihre unfehlbare Mutter, die Kirche, für gut findet aufzustellen.‘

‚Verzeihen Sie, Herr Abbé, aber meiner Ansicht nach widersprechen Sie sich. Einerseits sagen Sie mir, daß, um guter Katholik zu sein, man Alles von der römischen Kirche blindlings annehmen müsse, andererseits hat aber die römische Kirche immer als Erklärung des Wortes 'katholisch' diejenige von St. Vincent de Lerin, gestorben im Jahre 1180, gegeben: ‚Was zu allen Zeiten, in allen Orten und durch alle Gläubigen geglaubt wurde.‘ Die Unfehlbarkeit des Papstes verstößt also – die Kirche selbst lehrt es – gegen die Principien der katholischen Religion, denn der Glaube an dieselbe, statt ein allgemeiner zu sein, wird nur von wenigen Christen getheilt, und das erst seit dem 18. Juli 1870. Gerade deshalb, Herr Abbé, verwerfe ich die Unfehlbarkeit des Papstes und das Papstthum selbst, um ein guter katholischer Christ zu bleiben. Sie sind beide im Widerspruch mit dem Christenthum, wie dies klar aus dem Evangelium hervorgeht, wo sich keine Spur vom Papstthum, noch viel weniger von päpstlicher Unfehlbarkeit vorfindet. Sie sind dann auch im Widerspruch mit der katholischen Tradition der sechs ersten Jahrhunderte, denn Gregor der Große spricht genau die entgegengesetzte Meinung aus, und zwar in drei verschiedenen Briefen, die er an den Kaiser von Constantinopel, an den Patriarchen und an den Diakonus derselben Stadt richtete, und worin er jeden Bischof, sei es auch derjenige der größten Stadt, der sich höher dünkte als einer seiner Collegen, mit dem Titel: ‚Vorgänger des Antichrist‘' straft.

Uebrigens steht die Unfehlbarkeit der Vernunft schnurstracks entgegen. Die Unfehlbarkeit setzt durchaus die Göttlichkeit in der unfehlbaren Person voraus. Wenn nun Pius der Neunte diese Unfehlbarkeit besitzt, hört er auch sogleich auf Mensch zu sein; er bildet dann einen Theil der Gottheit. Und endlich, Herr Abbé, verstößt diese päpstliche Unfehlbarkeit gegen die Geschichte und widerspricht sehr oft den Beschlüssen der sogenannten Unfehlbaren.‘

‚Nun, da haben Sie in wenig Worten eine Fülle von Fragen aufgeworfen. Sind Sie Theologe? Denn nur ein Theologe hat das Recht, über dergleichen Fragen zu urtheilen.‘

‚Nein, mein Herr, ich bin ein einfacher Christ, der von ganzem Herzen die Wahrheit sucht, um sein Leben danach einzurichten. Jesus selbst hat gesagt: ‚Die Wahrheit wird euch frei machen‘ (frei vom Irrthume und seinen Folgen) und Paulus: ‚Prüfet Alles, und das Beste behaltet.‘ Ich habe also, ohne, wie Sie, Herr Abbé, Theologe zu sein, das Recht, die religiösen Fragen zu prüfen, um Aufklärung darüber zu erhalten, um das Wahre vom Falschen, den Weizen vom Unkraut zu unterscheiden. Da ich nun das Vergnügen habe, mit Ihnen zu reisen, will ich diese Gelegenheit benutzen. Sie werden mich gewiß aufklären und meine Zweifel beseitigen.‘

‚Gut, ich werde mit Ihren Einwürfen, betreffend die Geschichte, beginnen.‘

Ich will hier nicht wiederholen, was mir der Abbé Alles herplapperte. Schülerhaft, fast wörtlich, citirte er mir mehrere Seiten der Kirchengeschichte von Abbé Rohrbacher, Alles Stellen, die sich auf den Papst Honorius und auf verschiedene zwischen den Ultramontanen und den Gallicanern streitige Punkte bezogen. Es schien mir, daß die Priester seines Sprengels diese Stellen wörtlich auswendig wissen mußten, um sie jedwedem Einwurf entgegenstellen zu können.

Als er geendigt, erwiderte ich ihm: ‚Aber, Herr Abbé, Sie haben mir da ja wörtliche Auszüge aus Rohrbacher vorgetragen. Weder die Erzählungen, noch die ziemlich unverständlichen Erklärungen dieses Geschichtsschreibers, den ich gelesen, können mich von der Wahrheit dessen, was er sagen will, überzeugen. Wie kommt es übrigens, daß eine große Anzahl Priester aus allen Landen, ja sogar aus Italien, aus der nächsten Nähe des unfehlbaren Papstes, die wie Sie auferzogen wurden, sich nichts destoweniger von der römischen Kirche lossagen, nur weil die Unfehlbarkeit des Papstes als Dogma gelehrt wurde? Und es sind dies durchaus keine Unwissenden, irregeführt durch schlechte Zeitungen und Bücher. Sie zählen zu den hervorragendsten und bedeutendsten Mitgliedern des Klerus; sie lesen auch nur die von der Kirche gutgeheißenen Zeitungen und Bücher. Wenn sie nichtsdestoweniger diese Kirche verließen, so muß man zugeben, daß in ihren Augen wenigstens die Trennung der Kirche vom Christenthum und vom Katholicismus eingetreten war.‘

‚Aber, mein Herr, diese Behauptung geht durchaus nicht aus dem Vorhergesagten hervor.‘

‚Wie so?‘

‚Wenn Sie mir erlauben, will ich Sie aber die Gründe aufklären, welche viele dieser unglücklichen Priester zur Abtrünnigkeit bewegen. Sie sind des Gelübdes, das sie doch aus freien Stücken geleistet, müde, und wollen heirathen. Denken Sie nur an die Verhältnisse in der Schweiz, wo schon mehrere abtrünnige Priester verheiratet sind, welche dem Beispiel des Ex-Pater Hyacinthe folgten, dieses ehemaligen Carmeliter-Mönches, der aus der Gesellschaft eines buhlerischen Weibes weg an die Stufen des Altars tritt, um eine unreine, gotteslästerliche Messe zu lesen. Wie der Unglückliche es wagt, bei einem solchen Leben das heilige Meßopfer zu feiern, ist mir unbegreiflich.‘

'Wie, Herr Abbé, irrte ich mich, als ich Sie für einen geschichtskundigen Priester ansah? Haben Sie nicht in Rohrbacher gelesen, daß die Apostel, mit Ausnahme von Paulus, die große Mehrheit der Bischöfe und Priester der drei ersten christlichen Jahrhunderte und viele Priester aus der Zeit vom vierten bis zum zehnten Jahrhunderte sämmtlich verheirathet waren? Diese Thatsache ist über allen Zweifel erhaben. Die griechische Kirche, die sich erst im elften Jahrhunderte von der römischen getrennt hat, nöthigt ihre Priester zur Ehe, und doch feiern auch diese das Meßopfer. Sie wissen ohne Zweifel auch, daß die armenischen Priester, die zum Verbande der römischen Kirche gehören, mit Einwilligung des Papstes selbst, verheirathet sind. Wenn Sie also das Gefühl, das den gegen die Unfehlbarkeit protestirenden Priester zur Ehe führt, eine schmähliche Leidenschaft heißen, verdammen Sie die Apostel, Bischöfe und Priester der ersten Kirche, die Sie doch als Heilige anbeten. Wenn Sie die [168] Messen des Ex-Pater Hyacinthe und der gegen die Unfehlbarkeit protestirenden Priester unheilige und gotteslästerliche nennen, verdammen Sie auch die Messen der Apostel und Priester der ersten Kirche oder müssen bestreiten, daß diese Messen gelesen haben. Sie verdammen damit Ihren unfehlbaren Papst, welcher Gotteslästerung und andere Gräuel bei den armenischen Priestern zugiebt. Und wenn Sie die Weiber der Altkatholiken ‚Buhlerinnen‘ nennen, müssen Sie denselben Titel den Weibern der armenischen Priester beilegen. Sie bestreiten ferner die Lehre der katholischen Kirche über die Ehe als Sacrament. Wenn, wie Sie behaupten, die Messe, die der Priester liest, der aus den Armen eines Weibes weg an die Stufen des Altars tritt, unrein und gotteslästerlich ist, wie viele reine und heilige Messen werden dann gelesen? Herr Abbé, Sie schieben den Priestern, die sich von Ihrer Kirche getrennt, niedere und gemeine Leidenschaften unter; ist es Ihnen noch nie zu Ohren gekommen, was die Jesuiten-Patres oder andere Geistliche, welche die religiösen Uebungen der Priester leiten, ihren geistlichen Zuhörern offen erzählen? Sie behaupten, daß kaum Einer von hundert Priestern das Gelübde der Keuschheit halte. Dieselben behaupten dann freilich öffentlich auf der Kanzel vor allem Volke, daß, wenn auch Jesus unter zwölf Jüngern einen Judas zählte, unter hundert Priestern sich kaum Einer finde, der seinen Gelübden untreu wird. So, Herr Abbé, predigt man dem Volke in der unfehlbaren Kirche (historisch). Zudem ist es gewiß nicht diese Leidenschaft, die den Propst Döllinger, einen siebenzigjährigen Greis, von Rom losgerissen hat.'

‚Nun ja, bei seinem Alter kann man dies nicht behaupten; es war vielmehr der Ehrgeiz.‘

‚Der Ehrgeiz! Herr Abbé! Wie ungerecht urtheilt doch Ihre Kirche! Es scheint Ihnen unmöglich, Ihren Gegnern ehrliche Gründe ihres Handelns zuzuerkennen. Gleich sind Sie mit Verleumdungen da. Wäre der Propst Döllinger ein ehrgeiziger Priester, wie Sie’s behaupten, hätte er sich wohl gehütet, aus Ihrer Kirche auszutreten, wo er als ein Pfeiler derselben in hohem Ansehen stand. Er wußte wohl, daß er sich durch seinen Austritt den Haß und die Verleumdung der Ultramontanen zuziehen würde.‘

‚Lassen wir dieses Gespräch fallen, mein Herr! Sie sind nicht Theologe und deshalb nicht im Stande diese Fragen zu beurtheilen.‘

‚Sie strecken also die Waffen?‘

‚Durchaus nicht, aber mit einem Laien mag ich den Kampf nicht fortführen.‘

‚Das heißt überhaupt ihn aufgeben. Uebrigens bin ich nicht so ganz Laie.‘

Der Abbé fuhr betroffen auf und starrte mich an.

‚Mit wem habe ich denn die Ehre?‘ stotterte er endlich.

Ich konnte kaum ein Lächeln unterdrücken, als ich dem betroffenen Abbé antwortete:

‚Ich heiße Pierre des Piliers. Der Name ist Ihnen vielleicht nicht ganz unbekannt?‘

Bei diesen Worten war es, als wenn ein Blitz zwischen mich und den Abbé niedergefahren wäre oder als wenn der Hölle Abgrund sich aufgethan und der Leibhaftige selbst mit Pferdefuß und Hörnern vor dem entsetzten Abbé emporgestiegen.

Ein schriller Pfiff der Locomotive ertönte.

‚Station N.,‘ rief der Schaffner, die Thür aufreißend. Ein Sprung, und der bleiche Abbé war verschwunden in der Nacht.

Armer Abbé! Wird Dein Weg Dich führen ‚Durch Nacht zum Licht‘?“

X.




Steppengestalten.
Erinnerung aus meinem Wanderleben von F. Sch.
III.

Mit dem ersten Grauen des nächsten Morgens verließ ich das Steppendorf, begleitet von den Segenswünschen meines greisen Wirthes, und bald wurde der Eindruck der erzählten Ereignisse im Laufe meines wechselvollen Wanderlebens durch neue Erlebnisse so sehr abgeschwächt, daß ich, als der erste Schneefall meinen Aufbruch in die Winterstation zu V… veranlaßte, den interessanten „Räuber“ und sein Weibchen nahezu vergessen hatte.

Zu V… befand sich zur Zeit meiner Ankunft eine Division Infanterie in Garnison, deren Dienst fast ausschließlich darin bestand, die militärische Escorte zu den zahlreichen Exekutionen eingefangener Verbrecher zu stellen. Die Unsicherheit des Eigenthums hatte nämlich in jenem Comitate einen so bedenklichen Höhegrad erreicht, daß man genöthigt war, das Standrecht zu publiciren, welch letzteres bekanntlich ein äußerst summarisches Proceßverfahren ermöglicht. In der That wurden im Verlaufe des Winters nicht weniger denn neunzehn Verbrecher hingerichtet, meist verkommene, rohe Gesellen, von welchen, bezeichnend genug, nicht Einer des Lesens und Schreibens, kundig war. Der Galgen mußte eben die Versäumniß der Schule nachholen.

Obschon ich nun grundsätzlich derlei für Viele so anziehende „Schauspiele“ mied, so konnte ich mich doch dem Anblicke der Inscenirung und der unglücklichen Helden derselben um so weniger entziehen, als der verhängnißvolle „letzte Gang“ jeden Delinquenten an meiner Wohnung vorüber führte und ich selbst mein Bureau nicht erreichen konnte, ohne das Comitatshaus zu passiren, wo die Verurtheilten die letzten Lebensstunden verbrachten.

Eines Tages wurde ich auf eben diesem Wege durch eine ungewöhnlich starke Menschenansammlung vor besagtem Comitatshause aufgehalten. Ein mir befreundeter Officier, welchen ich um die Ursache des Gedränges befragte, belehrte mich mit dem verzeihlichen Gleichmuthe eines durch Gewohnheit für die Tragik des Gegenstandes Abgestumpften, daß eben wieder ein Verurtheilter „ausgestellt“ sei, und zwar der „schönste Räuber“, dessen man bisher habhaft geworden, ein Umstand, der die Anwesenheit zahlreicher Vertreterinnen des zarten Geschlechtes hinlänglich motivirte.

Ich weiß nicht mehr, welcher Impuls mich bewog, diesmal meinem Grundsatze untreu zu werden und der Aufforderung des Officiers, den „schönen Räuber“ in Augenschein zu nehmen, Folge zu leisten; wahrscheinlich war es auch bei mir nur die ungewöhnlich erregte Neugierde, doch wich dieselbe rasch einem fast an Bestürzung grenzenden Erstaunen, als ich in dem Manne, der dort düster sinnend auf der Armensünderbank saß, den schwarzen Lajos erkannte. Ja, ich muß gestehen, daß ich mich des innigsten Mitleides nicht erwehren konnte, den Mann, der durch Motive, wie sie nur den edelsten, menschlichen Eigenschaften entspringen, auf die Bahn des Verbrechens gedrängt worden war, nun denselben Platz einnehmen zu sehen, wo bisher nur die bis zum Thiere herabgesunkene Rohheit zur Schau getragen wurde. Von diesem Gefühle angetrieben, trat ich zu dem unbeweglich vor sich Hinstarrenden und fragte ihn theilnehmend, ob er noch irgend einen erfüllbaren Wunsch hege. Müde hob der Gefragte den Blick, sah mich gleichgültig an und schüttelte stumm den Kopf.

In meiner Aufregung hatte ich ganz vergessen, daß ich zwar den Mann, dieser aber mich nicht kannte, weshalb ich ihm mit wenigen Worten mittheilte, daß ich vor einigen Monaten als Gast im Hause seiner Angehörigen geweilt, und die Frage daran knüpfte, ob dieselben von seiner Verurtheilung unterrichtet seien und ob er nicht eine letzte Botschaft an sie auf dein Herzen habe.

Bei der Erwähnung seiner Angehörigen flog es wie ein sonniger Schimmer über die markigen Züge des Delinquenten, dann aber schüttelte er abermals das Haupt und sagte:

„Dank, Herr! Sie sind benachrichtigt, und Ilka wird kommen.“

Die Zuversicht des Mannes, der noch zwei Stunden Lebenszeit vor sich hatte, berührte mich fast peinlich. Der Mensch schien keine Ahnung von den schlimmen Eigenschaften des Weibes, dem Wankelmuth, der Schwäche und Treulosigkeit weiblicher Herzen zu haben. Armer Räuber, wie würden französische Dramatiker und ihre deutschen Nachäffer deinen felsenfesten Glauben belächeln und bespotten!

Uebrigens, aufrichtig gestanden, vermochte auch ich mich einiger leiser Zweifel nicht zu entschlagen, denn abgesehen von der weiten Entfernung und der Kürze des zwischen der Gefangennahme und

[169]

Schloß Weißenstein.
Nach der Natur aufgenommen von E. Rabending.


der Vollstreckung des Urtheils liegenden Zeitraumes, war es für ein Weib von dem Wesen Ilka’s keine geringe Zumuthung, den zu schimpflichem Tode Verurtheilten angesichts einer gaffenden Menge als den Mann ihrer Liebe anzuerkennen. Entschlossen, die weitere Entwicklung der Tragödie nun jedenfalls zu verfolgen, benützte ich die Zeit bis zu der für die Execution bestimmten Stunde, um die Ereignisse vor und während der Verhaftung des schwarzen Lajos zu erforschen.

Ich erfuhr Folgendes. In dem neuerbauten Landhause des Grafen K…y sollte ein prachtvolles Winterfest stattfinden. Es [170] galt sowohl die Heimkehr des jungen Grafen von Paris, wie auch die Vollendung des nach verheerendem Brande begonnenen Neubaues zu feiern, weshalb der alte Graf schon mehrere Wochen in dem neuen Hause weilte, um die umfassendsten Vorbereitungen zu dem glänzenden Feste zu treffen, während der junge Graf, der sich nur ungern den rauschenden Carnevalsfreuden der ungarischen Hauptstadt entriß, erst einen Tag vor dem Festabende zum Empfang der Gäste eintreffen sollte. Doch zauderte der lebenslustige Cavalier auch dann noch so lange, daß er, um den Termin nur einigermaßen einzuhalten, genöthigt war, zur Fahrt von der letzten Eisenbahnstation bis zum Gute auch die Nacht zu benutzen.

So flog er denn, erfüllt von süßen Bildern erlebter und zu hoffender Genüsse, im geschlossenen, von vier feurigen Pferden gezogenen Reisewagen, dem zwei bewaffnete Diener zu Pferde folgten, über die wohlbekannte heimathliche Steppe, als plötzlich ein Reiter, wie aus der Erde auftauchend, vor dem Wagen erschien und dem Kutscher drohend Halt gebot. Dieser, ein muthiger Bursche, beantwortete die Aufforderung mit einem gewaltigen Hiebe auf die scheuenden Thiere, doch dem Hiebe des Rosselenkers folgte ebenso rasch Blitz und Knall aus der Pistole des Wegelagerers und der Fall eines der Vorderpferde, dessen Sturz das ganze Gespann in die Stränge verwickelte und zum Stillstand zwang. Dieser Beweis von Geschicklichkeit in der Handhabung der Waffe schien für die beiden bewaffneten Diener vollkommen genügend, um sie die eiligste Flucht räthlich finden zu lassen.

Der Graf dagegen, in der Meinung, daß es sich um einen gewöhnlichen, landesüblichen Raubanfall handelte, sprang aus dem Wagen und beeilte sich die Ringe von der Hand und die Börse aus der Tasche zu ziehen.

„Behalte Dein Gold!“ rief der Reiter, „erkennst Du den schwarzen Lajos nicht mehr?“

Der Graf erbleichte.

„Was habt Ihr mit meinem Vater gemacht?“ fuhr Lajos finster fort.

„Er starb im Kerker, wohin man ihn als Deinen Mitschuldigen gebracht,“ erwiderte der Graf, indem er gleichzeitig nach seinem Revolver griff, denn er sah ein, daß es sein Leben galt.

„Ihr habt den schuldlosen Mann zu Tode gemartert,“ sagte Lajos, „und wo ist Erszebet (Elisabeth), meine Schwester?“

Der Graf schwieg und ließ die Feder springen.

„Antworte!“ rief Lajos drohend.

„Hier die Antwort, die dem Mordbrenner gebührt,“ entgegnete der Graf losdrückend.

Aber Lajos hatte ihn scharf beobachtet. Sein Pistol knallte fast gleichzeitig mit des Grafen Revolver und bewährte sich auch diesmal in der sichern Hand des Schützen, denn sein Gegner brach fast lautlos zusammen. Einen Moment betrachtete Lajos den im Todeskampfe zuckenden Körper seines Opfers, dann wandte er sein Pferd und jagte von der Straße abseits in die mit dünnem, weichem Schnee bedeckte Steppe.

Allein auch seine Stunde war gekommen. Als ob der Anblick des Blutes, nach dem sein Rachedurst so lange gelechzt, sein sonst so scharfes Auge getrübt hätte, bemerkte er erst jetzt, daß ihn sein schnelles Pferd einer durch die Schüsse herbeigelockten Gensd’armeriepatrouille gerade entgegentrage. Ein Ausbrechen nach seitwärts war unmöglich geworden, und ihm blieb nichts übrig, als sein Thier im vollen Laufe anzuhalten und auf den Hacken zu wenden. Das war nun für den Sohn der Pußta und seinen vierfüßigen Freund eben kein Kunststück, doch – seine Stunde war gekommen. Bei der jähen Wendung strauchelte das sonst so sichere Thier und begrub im Falle den Reiter unter seinem Leibe.

Bei der Vernehmung gestand Lajos ohne Umschweife den Mord, leugnete jedoch entschieden, eine Beraubung des Grafen beabsichtigt zu haben und nur – wie man annahm – durch die herannahende Patrouille in der Ausführung gestört worden zu sein, wie er denn auch sonst trotz zahlreicher Verdachtsgründe keines andern Raubanfalles überwiesen werden konnte. Doch der eingestandene Mord genügte den Richtern, um die Strenge des Standrechtes walten zu lassen. –

Der dumpfe Ton der Trommel rief mich aus der Gerichtsstube, wo ich meine Nachrichten bezogen, auf die Straße hinab. Der Zug hatte sich schon in Bewegung gesetzt.

Ganz im Gegensatze zu dem Gehaben der bisher abgeführten Delinquenten, welche bei aller Stumpfsinnigkeit sich meist, moralisch und physisch gebrochen, mühsam vorwärts schleppten, ging Lajos hoch gehobenen Hauptes und festen Schrittes zwischen der Escorte, ohne sich um die frommen Ermahnungen des dicht an seiner Seite schreitenden Geistlichen zu kümmern.

Sein Herz hing noch fest am Irdischen, und sein Blick, statt sich reuevoll nach innen zu kehren, schweifte forschend über den begleitenden Menschenstrom hin. Bei raschem Marschtempo gelangte der Zug bald in’s Freie, wo abermals Hunderte von Landleuten der Umgegend sich anschlossen, Männer, Weiber und Kinder in buntem Gewirre, die Männer meist kaltblütig aus ihren kurzen Pfeifen rauchend, die Weiber neugierig oder theilnahmsvoll den schönen, kräftigen Mann, der so muthig dem Tode entgegenging, betrachtend.

An einem Kreuzwege, wo sich ein dichter Menschenknäuel angesammelt, horchte Lajos plötzlich auf. Sein feines Gehör hatte, trotz des Gesummes der wogenden Menge, das intensive Schluchzen eines Weibes vernommen. Auch ich, dem Laute näher, hatte es gehört und suchte das Gedränge zu durchbrechen.

„Platz, Platz für die arme Frau!“ riefen jetzt mehrere Stimmen, und rasch bildete sich eine Gasse.

Wie in den Boden gewurzelt blieb der Verurtheilte stehen und aus seinem blassen Gesichte sprühten die dunkeln Augen fast unheimlich leuchtende Blicke nach dem freigewordenen Raum. Und jetzt – welch ein Anblick! – näherte sich ein Weib, sein Weib, ein Kind auf dem Arme tragend, langsam, zögernd, als schleppte es eine schwere Kette nach sich.

Ach ja, es war die schwere Kette des Jammers, und ihre Wucht hatte die junge, üppig blühende Mutter binnen wenigen Tagen in ein lebensmüdes, verwelktes Weib verwandelt. Arme Steppenrose!

Drei Schritte nur trennten noch das schwankende Weib von dem Verurtheilten und fragend blickten die Soldaten auf den Commandanten. Dieser winkte Gewährung. Die Soldaten traten zur Seite, und mit herzzerreißendem Stöhnen lehnte sich die junge Frau an die Brust des gefesselten Verbrechers. Welcher Sturm von Gedanken und Gefühlen mochte die krampfhaft wogende Brust des starken Mannes durchtoben, als er das Herz seines jungen Weibes zum letzten Mal an dem seinigen schlagen fühlte!

War es die Erinnerung an selige Stunden vergangenen Glückes, was diese erst so düster flammenden Augen nun mit heißer Liebe und stummem Dank so traurig innig herabschauen ließ auf Weib und Kind? War es Schmerz und Reue, daß er die Pflichten des Gatten und Vaters der Rache an dem Manne geopfert, der sein Unglück und dasjenige der Seinen verursacht, oder der Gedanke an die ewige Trennung, an das jammervolle Ende seines kurzen Glückes, was seine erst so trotzig zusammengepreßten Lippen nun unsäglich wehmüthig erbeben machte?

Wer weiß es? Der, dessen Stunde gekommen war, hatte keine Zeit, weitläufig von seinen Gefühlen zu schwatzen; er wußte dies auch, und mit gedämpfter Stimme, doch dringend, sprach er: „Ilka, mein süßes Weib, sprich nur das eine Wort: kannst Du mir verzeihen?“

Das junge, schmerzdurchdrungene Weib versuchte ein Ja zu stammeln – doch vergeblich: auch das eine Wort wollte nicht über ihre Lippen; da lächelte sie schmerzlich, hob das Kind ein wenig empor und legte es sanft schmeichelnd an die Wange des Vaters. Und dieser verstand die stumme Sprache, und wie berauscht von der unerschöpflichen Fülle dieser Liebe, bedeckte er das Kind, wie die Hände, welche es trugen, und dann, in die Kniee sinkend, den Saum des Kleides und die Füße seines schönen unglücklichen Weibes mit glühenden Küssen.

Ich war im Laufe eines ziemlich bewegten Lebens Zeuge manch ergreifender Scene, doch keiner, die mich so erschüttert hätte wie diese. Und da war wohl in der ganzen Menschenmenge kein Herz verhärtet genug, um nicht im Mitgefühle solchen Wehes zu erheben; die anwesenden Frauen waren längst in lautes Schluchzen ausgebrochen, aber auch rauhe Männer bedeckten die überfließenden Augen mit den schwieligen Händen. Soldaten bissen grimmig die Zähne übereinander, und manchem Officier klirrte der zu Boden gestemmte Säbel in der zitternden Faust.

Es mußte ein Ende nehmen. Der Commandant gab ein [171] Zeichen; die Soldaten näherten sich dem unglücklichen Paare. Lajos erhob sich.

„Leb wohl!“ flüsterte er eilig. „Grüße Deinen Vater und Josi, und höre, Ilka: Josi wird ein besserer Vater Deines Kindes sein, als ich es war – und nun sei ruhig! Du sollst nicht das Weib und Dein Sohn nicht das Kind des Gehängten heißen!“

Nur wenige der Umstehenden hatten diese Worte vernommen, und diese mochten, wie ich, glauben, der Abschiedsschmerz habe den Sinn des Mannes verwirrt. Ilka sank kraftlos in die Arme einiger zunächst stehender Frauen; der Zug bewegte sich wieder seinem Ziele zu.

Wo aber waren Ilka’s Vater und der treue Josi geblieben? Schon beim Erscheinen Ilka’s hatte ich nach ihnen ausgesehen, doch erfolglos; jetzt, im Fortschreiten, gewahrte ich den Greis mitten im Felde knieend, das müde weiße Haupt an den trüb dreinschauenden Josi lehnend. Die alten Glieder hatten ihm wohl den Dienst versagt, und so bewegte er denn die Lippen im Gebete für den, der einst der Stolz seines Herzen war.

Wir kamen jetzt auf dem durch nassen Schnee erweichten Boden nur langsam vorwärts. Ich erschrak, als das Gerüst des Hochgerichts auf einem der nächsten Hügel sichtbar wurde. Nur eine tiefe Schlucht, in welcher die Quellen des nahen Gebirges, zu brausenden Wogen vereint, zu Thale eilten, trennte uns noch von der traurigen Stätte. Auch diese Strecke schwand uns mit schrecklicher Schnelle unter den Füßen; schon hatte die Escorte mit dem Delinquenten die über den Wildbach führende Brücke erreicht – da war es plötzlich, als ob ein Erdbeben die darauf Befindlichen durcheinander schüttelte. Rufe des Erstaunens und Schreckens erschollen, und der Menschenstrom staute sich zu beiden Seiten der Brücke.

Das scheinbare Erdbeben war gleichwohl nur durch die unerhörte, fast übermenschliche Kraftanstrengung eines einzigen Mannes hervorgerufen worden.

Mit einem gewaltigen Risse, der das Blut springquellartig aus den zerfleischten Handknöcheln trieb, hatte Lajos die Fesseln gesprengt und mit den frei gewordenen Armen die ihm zunächst stehenden Soldaten so wuchtig zur Seite geschlendert, daß sie, ihre Nebenmänner mit sich reißend, selbst Raum schafften für den Todessprung des Verurtheilten; noch ein dumpfer Schall, ein Aufbrausen der reißenden Fluth – und Lajos’ scheinbar unerfüllbares Versprechen war gelöst.

Zwar eilten mehrere Soldaten auf den Befehl des Commandanten längs den hohen Ufern des Wildbaches abwärts, allein als ob die mitleidige Nixe den schönen Mann in ihr Krystallhaus aufgenommen hätte, so spurlos war der Körper des Selbstmörders verschwunden. – –

Anderthalb Jahre später führte mich meine Beschäftigung wieder in die Nähe des Steppendorfes, und ich scheute den kleinen Umweg nicht, um auf eine Stunde wenigstens das Heim Ilka’s zu besuchen. Doch wie ganz und gar verändert erschienen mir nun das Anwesen und seine Bewohner! Das Haus, das ich in jener Nacht als eine Wohnstätte des Kummers betreten und das sich meinem Gedächtnisse wie mit düsterm Trauerflor bedeckt eingeprägt hatte, wie heiter und freundlich lag es nun im hellen Scheine der Frühlingssonne da! Und nun erst die Menschen, die ich alle fast nur in Momenten höchster tragischer Erregung gesehen, wie harmlos, wie fast unnatürlich fröhlich kamen sie mir vor! Der damals gramgebeugte Greis kam mir nun vergnüglich schmunzelnd entgegen, und vor dem Hause auf der schattigen Bank saß Ilka, die „Wittwe des Räubers“, blühend rosig, und auf ihrem Knie zappelte ein kleiner Lajos, der die erste Errungenschaften seines Sprachschatzes, die Worte „Mama“ und „Hophop“, sehr energisch anzuwenden wußte. „Er wird ein eben so guter Reiter werden wie sein Vater,“ sagte der Alte, und Ilka lächelte dazu und blickte stolz auf den schönen, kräftigen Buben. Und der Mensch sollte nur zu Kummer und Leid geboren sein? Thorheit!

„Wo aber ist Josi? fragte ich, dem Alten in die Stube folgend, während Ilka in den Keller ging, um eine Erquickung für den wegemüden Gast zu besorgen.

„Auf dem Felde, Herr,“ antwortete der Greis; „er besorgt die Wirthschaft, da mir die Sache schon ein wenig zu beschwerlich wird.“

„Kroch also der Csikos doch noch zum Pfluge?“

„Je nun, Herr, ein paar Weiberaugen ziehen besser als vier Pferde,“ meinte der Alte.

„Wie, Ilka ist schon die Seine?“

„Noch nicht, Herr; Josi hat warten gelernt, und Ilka weiß auch schon, daß das Leben kein bloßer Tanz ist, und besinnt sich noch, aber im nächsten Winter werden sie wohl ein Paar werden, wie ja Lajos selbst es wünschte.“

„Und wie steht es drüben?“ fragte ich, nach der Gegend, wo das Herrenhaus lag, deutend.

„Wunderlich genug, Herr,“ erwiderte mein Wirth, „der alte Graf ist wie ausgewechselt; man hört kein böses Wort mehr von ihm, und Lajos’ Schwester ist bei ihm als Wirthschafterin; er ist nachdenklich und ernst, aber milde und gut geworden; er scheint mit seinem Schicksale ausgesöhnt.“

So redete der alte Herr, und ich dachte noch über den Wandel des Menschenlebens nach, als ich längst schon wieder im Wagen saß und wie im Fluge über die weite, sonnige Steppe rollte.

Kein Unglück so trostlos dunkel, daß nicht ein Strahl des Glücks hindurch dränge; kein Grab so tief, daß nicht schon der nächste Frühling Blumen daraus hervorlockte.




Blätter und Blüthen.


Zur Nachricht für Luftschnapper. (Mit Abbildung S. 169.) Wir thun wohl keinen zu kühnen Ausspruch, wenn wir sagen, daß jeder Naturfreund das vorstehende Bild mit wahrem Vergnügen betrachten werde. Sind doch die Bergformen so erhaben und edel, die Gruppirungen so harmonisch, die Details so niedlich und schmuck! Aber unser Bild leidet an einem wesentlichen Mangel: es hat keine Farbe. Das saftige Grün der Wiesen und Wälder, das blendende Weiß der Schneekuppen, die zahllosen Farbentöne der Felsen, das Alles vermag der Griffel nicht wiederzugeben. Wohl tritt es Jenem vor das Auge, der die herrliche Gegend schon durchwandert hat, aber jedem Andern wird die regste Phantasie nur einen schwachen Abklatsch der bezaubernden Wirklichkeit bieten. Und dann noch Eines: wer kann die frische, gesunde Luft malen, die in diesen Bergen weht?

Das Pusterthal Tirols ist wegen seiner Naturschönheiten weltberühmt. Durch die Eisenbahn ist es erst dem reisenden Publicum erschlossen worden. Von Klagenfurt oder Villach aus ist die erste Station auf tirolischem Gebiete das niedliche Städtchen Lienz. Ein bequemer Postomnibus fährt täglich nach dem drei Stunden nördlich gelegenen Windisch-Matrey. Von hier gelangt man auf vorzüglichem Fahrwege in zehn Minuten nach Schloß Weißenstein. Auch sind auf dem Bahnhofe in Lienz directe Wagen nach Weißenstein zu haben. Die Straße durchschneidet herrliche Waldpartien, bietet den Anblick der verfallenen Veste Künburg und führt an den Mündungen des Deffereggen- und Virgenthals vorüber. Endlich erscheint das malerisch gelegene Windisch-Matrey und hoch über ihm Schloß Weißenstein, das auf einem gegen Süd, West und Nord senkrecht abfallenden Dolomitfelsen thront. Seine Meereshöhe beträgt tausendunddreißig Meter. Erbaut wurde es im sechszehnten Jahrhundert von den Grafen von Lexgunde. Nachmals ging es in den Besitz des Erzstiftes Salzburg und des Hauses Oesterreich, dann in den der Marktgemeinde Windisch-Matrey über, von welcher es der gegenwärtige Besitzer als Ruine gekauft hat. Heute ist es zur Aufnahme von Reisenden und Sommergästen als Hôtel und Pension eingerichtet. Schon jetzt sind fünfzig Zimmer bewohnbar, und ihre Anzahl wird noch verdoppelt werden.

Sowohl von außen wie von innen gewähren die zahlreichen Thürme, Erker, Zimmer etc. einen höchst malerischen und romantischen Anblick. Auf dem Balcon des Speisesaales kann man stundenlang verweilen, ohne sich an dem prachtvollen Landschaftsbilde, an dem herrlichen Thale, an dem imposanten Hochgebirge satt zu sehen. Auf der Ostseite des Schlosses wurde ein Park angelegt, durch den man in wenigen Minuten in den Wald gelangt. Eine halbe Stunde entfernt bildet der Tauernbach einen mächtigen, vierzig Meter hohen Fall, der von balconartigen Felsenmauern umgeben ist. Weiterhin gelangt man in das Tauernthal, das zu dem wegen seiner landschaftlichen Reize berühmten Außer- oder Innergschlöß und zur Pragerhütte führt; sie werden von dem Venediger (3772 Meter), dem Schlaten- und Vilgratengletscher überragt. Von hier ersteigt man den Gipfel des Großvenedigers in zwei bis drei Stunden und ohne alle Gefahr. Eine andere, überaus lohnende Partie ist der Gang zum Kalferthörl. Auf dem neu angelegten Wege erreicht man es bequem in drei Stunden und kann auch hinaufreiten. Von der Aussicht, die sich oben darbietet, wird man sich lange nicht losreißen können. Oestlich steht der Großglockner (3796 Meter) in seiner ganzen Majestät da, und an ihn reihen sich die schneebedeckten Abstürze der Schobergruppe; westlich wird das Auge durch den Groß- und Kleinvenediger derart gefesselt, daß es kaum Zeit gewinnt, auch die übrigen Punkte der langgedehnten Gletscherkette zu betrachten. Von kleineren Ausflügen erwähnen wir nur noch den zur Nicolauscapelle mit dem Einblick in das Virgenthal und dem Rückblick auf Weißenstein, Kalferthörl, Bretterwandspitz und Steiner Alpe.

Weißenstein ist, wie obige Mittheilungen zeigen, ein wahrhaft reizender Punkt in der Bergwelt Tirols, und wer es einmal gesehen, verläßt es gewiß nicht ohne den Vorsatz, es im nächsten Jahre wieder zu besuchen.

Dr. J. D.

[172] Pneumatische Uhren. In einer der letzten Nummern des vorigen Jahrganges teilten wir den Lesern der „Gartenlaube“ die wesentlichsten Vorzüge der im Gebiete der Eisenbahntechnik neu eingeführten Luft- oder Vacuum-Bremse mit. Wir knüpften an unsere Darstellung die Bemerkung, daß unsere atmosphärische Luft im Dienste des Menschen noch mannigfache Verwendung finden dürfte, und jetzt schon sind wir in der Lage, unserer Voraussetzung eine Bestätigung hinzufügen zu können. Mit Ende Februar dieses Jahres wurde in Wien, in Gegenwart von zahlreichen Repräsentanten der Gemeinde, die erste durch Luftdruck geregelte Normaluhr dem öffentlichen Verkehre übergeben: der Apparat ist ebenso einfach, wie interessant, sodaß es sich wohl der Mühe verlohnt, denselben einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Der Gedanke, in großen Städten zum Behufe einer gleichmäßigen Zeitregulirung Normaluhren öffentlich aufzustellen, ist keineswegs neu; das praktische Bedürfniß hat derartige Einrichtungen bereits seit Decennien sanctionirt. Die Versuche, eine größere Anzahl von Uhren von einer Normaluhr aus mittelst elektromechanischer Apparate in einem minutiös gleichmäßigen Gange zu erhalten, haben bis zur gegenwärtigen Zeit keine befriedigende Lösung gefunden, da sowohl die diesbezüglichen Leitungen wie auch die elektrischen Apparate selbst zu häufig Störungen unterworfen sind, während der Hauptvortheil, den eine Normaluhr dem öffentlichen Dienste bieten soll, in dem zuverlässig ununterbrochenen Fortgange des Werkes besteht.

In den letztverwichenen Wochen ist es dem Wiener Ingenieur, Herrn Mayrhofer, gelungen, eine Vorrichtung zu erfinden und herzustellen welche, was Schnelligkeit in der Bekanntgabe der mittleren Zeit betrifft, alle Vorzüge von elektrischen Uhren gewährt, ohne deren Nachtheile – die häufigen Unterbrechungen – zu besitzen. Zudem stellen sich die Anlagen der pneumatischen oder Luftdruck- Uhrwerke bedeutend billiger als jene, welche auf dem Dienste des elektrischen Fluidums beruhen. Es sind dies die k. k. privilegirten pneumatischen Uhren, welche auf dem einfachen Wege des mechanisch vacuirten Raumes von Minute zu Minute ein Laufwerk lösen und damit in Bewegung bringen, von welchem aus durch die pneumatische Leitung des Luftdruckes sämmtliche in der Verbindung der Röhrennetze aufgenommene Uhren in Bewegung gesetzt und in einem regelmäßig stabilen Gange erhalten werden. Aehnlich wie unser Leuchtgas oder das Nutzwasser bei großen Communen nach allen Punkten der Stadt durch unterirdisch gelegte Röhren geleitet wird, wirkt in diesem Falle die verdünnte (vacuirte) oder die verdichtete (comprimirte) Luft und regulirt in einem Tempo alle mit dem Röhrennetze in Verbindung stehenden Uhrwerke, gleichviel ob sich dieselben hoch an Thürmen auf Gebäuden oder wo immer befinden. Da, wo pneumatische Röhrenanlagen bereits vorhanden sind, können etwaige durch den elektrischen Motor in Bewegung gesetzte Normaluhren mit Leichtigkeit und einem unbedeutenden Kostenaufwande auf pneumatischen Betrieb abgeändert werden, Spesen welche jede städtische Verwaltung in Rücksicht aus die damit erlangte Zuverlässigkeit gewiß gern übernehmen wird.

Jene Kandelaber in Wien, welche die dem öffentlichen Bedürfnisse gewidmeten pneumatischen Normaluhrwerke tragen, sind mit dreifachem Zifferblatte versehen, und es wurden vorerst drei Exemplare, dem Localbedarfe entsprechend situirt, errichtet. Diese sowohl wie alle noch aufzustellenden derartigen Uhren erhalten von Minute zu Minute ihre Regulirung durch die im Centrale des pneumatischen Dienstes arbeitende Hauptnormaluhr, welche ihrerseits wieder direct mit der kaiserl. königl. Sternwarte verbunden ist, von wo ein elektrisches Controlsignal täglich um elf Uhr fünfundvierzig Minuten Vormittags ertheilt wird. Von der größten praktischen Bedeutung ist aber vor Allem die Sicherheit, mit welcher die pneumatische Mechanik im Dienste einer allgemein gleichmäßigen Zeitbestimmung arbeitet, da die Uebereinstimmung mit der astronomischen Sternwartezeit Wiens für alle Uhren, welche durch das pneumatische Röhrennetz in Bewegung gesetzt werden, permanent garantirt wird. Wir bemerken hierbei, daß die Anschaffung eines pneumatischen Uhrwerkes der außerordentlich einfachen Mechanik halber mit weit geringern Spesen verknüpft ist, als die Herstellung jeder andern Uhr, und deshalb bezweifeln wir auch nicht, daß in allen jenen Großstädten, welche sich bereits eines pneumatischen Betriebes erfreuen die Privatindustrie den Gebrauch solcher Uhren einführen und eine zahlreiche Benutzung die praktische Verwendbarkeit der Erfindung bestätigen wird.

Z.






Eine Secte und ihr Letzter. Eine Viertelstunde vom Markte Schlanders im Vintschgau (Südtirol) liegt hart am Etschufer das Dörfchen Göflan, ein Haufen armseliger Hütten, zu dessen Gemeinschaft auch noch einige an den Halden des Mittelgebirges verstreute Einzelhöfe zählen. Einer dieser letzteren beherbergt zur Zeit noch den letzten Repräsentanten einer kleinen Secte, welche vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren sich von der katholischen Kirche lossagte und mit der eisernen Festigkeit, die den tiroler Landmann in allen seinen Entschlüssen und Handlungen kennzeichnet allen Anfechtungen Trotz bot, bis man sie schließlich, da sie gar keinen Versuch machte, sich neue Anhänger zu erwerben ruhig gewähren ließ. Einen besondern Namen hat diese Secte, welcher nur eine einzige Familie angehörte nie geführt; die Göflaner nannten sie „die Lutherischen auf dem Wipenhofe“. Wie mir ein alter Bauer erzählte, hatte einst ein Geistlicher ein Mädchen aus dieser Bauernfamilie verführt und hierdurch diesen Leuten einen solchen Abscheu vor seinem Stande eingeflößt, daß sie einen feierlichen Schwur thaten, die Kirche nie mehr zu besuchen, weder Messe zu hören noch zu beichten oder zur Communion zu gehen. Sie haben diesen Schwur auch ehrlich gehalten. Alle Versuche von geistlichen und auch weltlichen Behörden blieben fruchtlos, und als endlich selbst der Bischof von Trient, der sich die Mühe nahm, zu dem einsamen Berghofe emporzuklimmen, von den entschlossenen Leuten ziemlich derb abgefertigt worden war ließ man sie in Ruhe. Mit ihren Nachbarn lebten sie stets in gutem Frieden und erwarben sich, wie mir versichert wurde, die allgemeine Achtung und Zuneigung. Sie hielten übrigens die katholischen Dienstboten, welche auf dem Hofe lebten, strenge zum regelmäßigen Kirchenbesuche an, obgleich sie selbst, ihrem Vorsatze getreu, nie die Schwelle der Kirche überschritten. Sonntags beteten sie gemeinschaftlich stundenlang.

Das Haus, in dem diese merkwürdigen Leute, die jetzt alle bis auf einen Mann gestorben sind, lebten, bietet außer einer ungewöhnlichen Reinlichkeit nichts Besonderes dar. Die große Stube im Erdgeschoß ist, wie landesüblich, mit einer Unmasse von grell gemalten Heiligenbildern behängt und unterscheidet sich nicht im Mindesten von den Räumen anderer tiroler Bauernhöfe. Nur der sonst unvermeidliche kleine Weihbrunnkessel neben der Thür fehlte hier natürlich, da die Leute, um Weihwasser zu holen, ja hätten in die Kirche gehen müssen.






Ein nachgelassenes Dichterwerk. Den Verehrern des Vaters und den Freunden des „Hauses“ Uhlich empfehlen wir ein Buch, das nicht nur um seines Inhaltes, sondern auch um seines Zweckes willen teilnehmende Beachtung verdient. Der Schwiegervater unseres alten Uhlich war nämlich französischer Abkunft und noch jung vor den Schrecknissen der ersten großen Revolution durch die Flucht nach Deutschland gerettet worden. Wie sein Landsmann Chamisso lernte auch J. J. Flamant in Deutschland „das Vaterland seiner Bildung“ lieben, und wenigstens im Streben jenem gleich, erhob auch er deutsche Sprache, Geschichte und Dichtkunst zu Gegenständen seines eifrigsten Cultus. Die Frucht desselben war ein großes Heldengedicht: Hermann der Cherusker. Dem bescheidenen Manne gelang es nicht, das Werk jahrelangen Fleißes an die Oeffentlichkeit zu bringen. Im Besitz der Uhlich’schen Familie ward es als Schmerzenskind des Todten aufbewahrt, bis die Neuerstehung des deutschen Reiches und die Feier des Arminius aus dem Teutoburger Walde an die Wiederauferstehung auch jenes Heldengedichtes mahnte. Die Tochter Uhlich’s. Clara Uhlich, unterwarf es einer nochmaligen Prüfung, vielfacher, namentlich sprachlicher Verbesserung und theilweiser Neugestaltung und vermochte nun für diesen „Hermann der Cherusker“ auch die Theilnahme des Kaisers Wilhelm zu gewinnen, „welcher einen ansehnlichen Beitrag zur Druckherstellung desselben gewährt hat“, wie Clara Uhlich im Vorworte berichtet, wo sie zugleich mittheilt, daß der ganze Reinertrag ihrer Mutter, Vater Uhlich's Wittwe, zukommen solle. „Mütterchen ist siebenzig Jahre alt; muß ich da nicht eilen, ihr für alle Sorgen und Mühen, die das Leben ihr gebracht, einen freundlichen Lebensabend zu verschaffen ?“ Möge die Antwort auf diese Frage der Tochter eine recht rege Theilnahme der vielen Verehrer des alten Uhlich für dieses Werk sein!

Auch die Dichtung selbst verdient unsere Anerkennung. Der Aufbau des Epos vollzieht sich in großen, würdigen und möglichst geschichtstreuen Zügen, und die Behandlung des Hexameters ist durchweg gewandt, rein und geschmackvoll. Im zwölften der sechszehn Gesänge

„Sieht der erstaunende Hermann sich klar enthüllen Vergangnes,
Blickt er hinaus in den Strom aufrollender Zeiten der Zukunft,“

die Deutschlands Geschick bis zu „Kaiser und Reich“ der Gegenwart an seinem Geiste vorüberführen.






Das Bild im Auge sterbender Thiere. Im Herbste 1857 durchlief alle amerikanischen und deutschen Zeitungen eine Sensationsnachricht, nach welcher amerikanische Aerzte entdeckt haben sollten, daß das letzte Bild, welches sich in den Augen eines Sterbenden abbildet, auf der Netzhaut, wie auf einer Daguerreotyp-Platte fixirt bleibe. Es wurde daraus gefolgert, daß, wenn der letzte Anblick, den ein Ermordeter gehabt hat, sein Mörder gewesen ist, das von den Augen genommene Doppel-Portrait desselben als ein furchtbarer Zeuge der That zurückbleiben werde, um den Verbrecher seiner Schuld zu überführen. Obwohl die Namen eines Dr. Pollok in Chicago und Dr. Sandfort genannt wurden, die nach diesem Verfahren den Urheber eines in Auburn verübten Mordes entdeckt haben sollten erwies sich die Geschichte bei weiterer Verfolgung als amerikanischer Schwindel, aber als ein Schwindel, der, wie wir nunmehr erfahren, zufällig den allgemeinen Umrissen nach die Wahrheit getroffen hat.

Am 15. Januar dieses Jahres machte nämlich Professor W. Kühne in Heidelberg die interessante Entdeckung, daß wirklich, wenn man das Auge eines soeben enthaupteten Thieres dem hellen Fenster zukehrt und es dann sogleich im Dunkeln oder bei dem gelben Scheine des Natronlichtes herausnimmt und in Alaunlösung legt, das scharfe Bild des Fensters, weiß auf purpurrotem Grunde, mit purpurrothen Fensterkreuzen, auf der innern Seite der vom Augenhintergrunde abgelösten Netzhaut erscheint und auf demselben vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden sichtbar bleibt. Nur darf man diese Fläche nicht dem Tageslichte aussetzen denn dieses bleicht den tief purpurroten Farbstoff in weniger als zwanzig Secunden völlig. Diese Versuche welche seitdem mit dem vollkommensten Erfolge mehrfach wiederholt worden sind, wurden angestellt in Folge einer höchst wichtigen, zuerst im November 1876 in der Berliner Akademie mitgeteilten Entdeckung von Franz Boll, nach welcher die innere Fläche der den Augenhintergrund bedeckenden Netzhaut bei Wirbeltieren und Wirbellosen mit einem bis jetzt übersehenen, lichtempfindlichen tiefpurpurrothen Farbstoffe bedeckt ist, den Professor Kühne „Sehpurpur“ zu nennen vorschlägt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dieser Farbstoff beim Sehen beständig gestört und durch den Lebensproceß neu erzeugt wird, sodaß das thierische Auge noch mehr, als man bisher geglaubt hat, der dunklen Kammer des Photographen gleicht, d. h. einer solchen, deren lichtempfindliche Platte wie die Selenplatte des auf Seite 780 des vorigen Jahrgangs erwähnten künstlichen Auges immer wirksam bleibt. Wir benutzen die Gelegenheit, zu bemerken, daß es in jenem kleinen Artikel statt: je seltener es beleuchtet wird, heißen mußten je stärker.




Kleiner Briefkasten.



E. H. in Köln. Einige wenige Blattpflanzen im Schlafzimmer werden Ihnen keinen Schaden bringen; nur „der Blumen Rache“ ist unter Umständen zu fürchten. Ein atmender Mensch ist im geschlossenen Schlafzimmer ein viel ärgerer Luftverderber, als ein Dutzend kleiner Blattpflanzen.


  1. Verfasser des Artikels „Der Papst und der Peterspfennig“ in Nr. 4 unseres Blattes („Blätter und Blüthen“).

Anmerkungen (Wikisource)