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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[173]

No. 11.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


11.

Kurz vor der Mittagsstunde des nämlichen Tages schritt der Doctor Urban an denselben Karyatiden vorüber und bog durch die offene Seitenpforte in den Hof der commerzienräthlichen Wohnung. Er vermied das lästige Klingeln und Warten vor dem Straßeneingang und nahm in seiner ungenirten Weise das unbehinderte Entreé vom Hofe aus in Anspruch. Auf den obern Stufen der glatten Marmortreppe begegnete ihm das Stubenmädchen.

„Ist der Commerzienrath zu Hause, Lisette?“

„Er ist vorhin ausgegangen, Herr Doctor.“

„Aber die Damen sind hoffentlich zu sprechen?“

„Fräulein Toni muß in der Stube oder im Garten sein. Fräulein von der Herberge hat wieder Kopfschmerz und liegt zu Bett. Es sollte eben Jemand nach Ihnen ausgehen.“

Ein Ausdruck der Befriedigung zeigte sich in dem Gesicht des Doctors. „Ich will Fräulein Seyboldt sprechen. Sehen Sie zu, ob sie sich hier oben befindet!“

Das Mädchen lief vorauf und kam ihm aus der Thür mit dem Bescheide entgegen, Fräulein Toni sei oben, lasse ihm aber sagen, daß sie ihn nicht empfangen könne.

„Hat sie Toilette gemacht? Wissen Sie, weshalb sie mich nicht empfangen will?“ fragte er heftig.

Das Mädchen zuckte die Achseln und sagte zögernd: „Ich weiß es nicht."

„Nun dann – –“ Urban schob das Mädchen bei Seite und trat in das Vorzimmer, das er mit dem Hute in der Hand hastig durchschritt. Er sah erregt und finster aus. Im Salon saß Toni Seyboldt über eine Stickerei gebeugt, von der sie mit blutrothem Gesicht zu ihm aufblickte.

„Seit wann ist es denn erlaubt zu einer Dame zu kommen, welche sich verleugnen läßt, Herr Doctor?“ meinte sie, ohne sich zu erheben.

Er nahm ohne Umstände und wortlos einen der Plüschfauteuils, zog ihn an's Fenster und setzte sich vor sie hin. „Erbarmen Sie sich über mich und sagen Sie mir, warum Sie einen Freund Ihres Hauses, der noch dazu ein Unglücklicher ist, abweisen lassen! Alle Welt verläßt mich; Freundschaft und Liebe wird mir gekündigt: wollen Sie sich wirklich auch von mir lossagen, Fräulein Toni?“

Sie hatte einen schwachen Versuch gemacht, sich zu erheben, aber das zugleich Leidenschaftliche und Traurige, das in seinen Worten lag, zwang sie zum Niedersitzen.

„Ich darf Sie doch eigentlich nicht empfangen,“ entgegnete sie in leichter Verlegenheit; „ein junges Mädchen, und noch dazu ein so unerfahrenes wie ich, nimmt allein keine Herrenbesuche an. Zur Tante können Sie allenfalls gehen, denn die hat wieder Migräne. Wenn ich erst eine alte Jungfer bin und auch Migräne habe, dann dürfen Sie auch ungerufen zu mir kommen.“

„So jung noch und schon so grausam,“ sagte Urban mit flüchtigem Lächeln. „Aber nein, ich bin bei Gott nicht zum Scherzen aufgelegt. Sie müssen mich anhören, Fräulein Toni, denn ich habe jetzt auf der weiten Welt nur einen Wunsch, einen einzigen kleinen Wunsch, den Niemand als Sie mir erfüllen kann. Es liegt in Ihrer Hand, ‚nein‘ zu sagen, aber Sie sollen zuvor wissen, was Sie damit thun. Ich kannte einen armen Mann, welcher nichts besaß, woran sein elendes Herz hing, als einen Kanarienvogel. Eines Tages, in seiner Abwesenheit, kam eine Katze an den Käfig, griff mit ihrer häßlichen Tatze durch die Stäbe und schlug dem Vogel die Krallen in den Leib. Der Vogel war das Letzte gewesen, was den Mann an das Leben band. Er sah das todte Geschöpfchen, ging hin und – ertränkte sich."

„Hu!“ machte sie schaudernd; „und nun meinen Sie, ich sollte von meinen häßlichen Tatzen keinen Gebrauch machen. Sie sind wirklich ein Ausbund von Artigkeit. Das habe ich verstanden, wie Sie sehen, aber ich begreife Eines nicht: nämlich wie Sie der Mann sein können, der durch einen einzigen kleinen Wunsch und weiter nichts am Leben gehalten wird. Sie müssen nicht so schrecklich schwarz malen, wenn man Ihnen glauben soll. Aber ich bin es Milli schuldig zu verhüten, daß Sie sich ertränken, obwohl Sie mich beständig wie eine Confirmandin behandeln, die kurze Kleider und Margarethenzöpfe trägt.“

Der Doctor sah sie ein wenig erstaunt an und verzog leise die Mundwinkel. Aber einen Augenblick später spielte wieder ein bittrer Zug um dieselben. „Sie scheinen noch nicht zu wissen, mein liebes Fräulein, daß Ihrer Freundin Emilie Hornemann sehr wenig daran gelegen ist, ob ich mich ertränke oder sonst auf eine Art umbringe. Sie dürfen überzeugt sein, daß dieselbe den Vorfall in den Armen des Herrn Franz Zehren kaum sonderlich bemerken würde.“

Toni saß sprachlos da und war im Begriff hell aufzulachen, aber sein Gesicht sprach zu beredt und deutlich, als daß sie über [174] den Ernst seiner Worte hätte in Zweifel bleiben können. „Mein Gott,“ sagte sie, tief Athem holend, „wie ist das möglich?“ Und sie warf die Arbeit auf das Nähtischchen und legte beide Hände im Schooße zusammen. „Wer ist denn dieser Herr Zehren? Ich kennen ihn gar nicht. Ist er mit dem alten Zehren verwandt, der am Canal wohnte und vor einem Vierteljahre gestorben ist?“

„Sein Neffe und Erbe, der vor ein paar Wochen aus Amerika nach Europa gekommen ist, um mich unglücklich zu machen, und der obendrein taub ist. Aber lassen wir ihn! Was nützte es, wenn ich vor Ihnen jetzt meinen ganzen Vorrath von Galle über ihn ausschütten wollte! Es handelt sich für mich um das Eine: ich muß Emilie noch einmal sprechen, bevor ich sie verloren gebe für alle Zeit. Ein Abschiedsbrief beweist nichts; erst wenn sie den Muth hat, mir Auge in Auge zu sagen: 'Leben Sie wohl, mein Herr!' dann weiß ich, daß ich geopfert bin. Und Sie, Fräulein Toni, sind die Einzige, welche mir zu einer Zusammenkunft mit ihr verhelfen kann. Wenn sich in Ihrem glücklichen Kinderherzen ein Funke von Theilnahme für mich regt, so bewirken Sie eine solche! Da haben Sie meinen Wunsch.“

Er hatte sich bei den letzten Worten zu ihr hinüber geneigt und ihre Hand ergriffen, die er leidenschaftlich drückte. Ihr Blick streifte den seinen, der unruhig drängend auf ihrem roth übergossenen Antlitze haftete, und sie schlug in reizender Verwirrung die Augen nieder und wandte sich dem Fenster zu. Einen Moment war es still zwischen ihnen. Draußen grünte und blühte der Garten; der Amor blitzte von fern zwischen den Linden hindurch, und über der Berglehne im Hintergrunde stieg das leuchtend tiefe Sommerblau des Himmels auf. Sie wußte nicht, wie ihr zu Muthe war, halb zum Lachen und halb zum Weinen. Der Doctor sah es, wie ihre junge Brust sich beklommen hob und senkte, und es überkam den unbekümmert Sieggewohnten eine leise Ahnung von dem heimlichen Leben in dieser Brust. Aber sie gewann rasch ihre ganze Unbefangenheit wieder; sie stützte den Arm auf das Fenster, legte den Kopf in die Hand und sah ihn mitleidig an.

„Ich glaube wohl, daß Sie mir nichts vorflunkern, denn Sie machen ein gar zu trauriges Gesicht dazu. Ich will auch gern mit Emilie reden, schon weil ich nicht begreifen kann, wie –“

„Um Gottes willen,“ unterbrach er sie hastig, „sagen Sie ihr kein Wort vorher – ich muß unerwartet mit ihr zusammentreffen. Das bringt mich ja eben zur Verzweiflung, daß ich nicht einmal wissen soll, warum das Tuch zwischen uns mit einem Male zerschnitten sein soll. Jeder Mensch, den man hinrichtet, erfährt doch vorher wenigstens in Form Rechtens, aus welchen Gründen man die Nothwendigkeit ableitet, ihn einen Kopf kürzer zu machen, aber sie will mich nicht sprechen – hören Sie, Fräulein Toni, sie will nicht.“

Toni sah ihn zweifelnd an. „Sie wird Ihnen wohl zutrauen, daß Sie ohnedies Bescheid wissen. Was soll ich denn aber thun? Soll ich sie herlocken und dann von Ihnen überfallen lassen? Dazu habe ich sie eigentlich zu lieb; ich weiß wirklich nicht, warum ich mich Ihrethalben um meine liebste Freundin bringen soll."

Er sank mit finsterer Entschlossenheit vor ihr nieder – vielleicht nicht ganz ohne Berechnung. „Ich bleibe hier liegen, bis Sie mir versprechen, es dennoch zu thun, oder bis man mich mit Gewalt von Ihren Füßen hinwegreißt –“

Sie blickte ängstlich zu ihm nieder, während er wiederum ihre Hand gefaßt hielt. „Ja doch, meinethalben denn! Ich will einmal horchen, wie Alles gekommen ist, und wenn Sie unschuldig sind, so werde ich Ihnen den Willen thun – wenn auch –“ ihre Blicke suchten unsicher und feuchtglänzend die Höhe des Zimmers – „aber nun stehen Sie auf – um Gott, es kommt Jemand –“

Während Urban ihr die kleine feine Hand küßte, sagte es plötzlich in der Thür: „Sieh da! Was hat denn das zu bedeuten?“

Es war der Commerzienrath, der mit etwas verdutztem, aber nicht gerade unwilligem Gesichte näher trat. „Machen Sie meinem Kinde eine Liebeserklärung, Doctor?“

„Nein; der Doctor ist schon heimlich verlobt, Papa," sagte Toni eifrig, „und Verlobte machen andern Mädchen niemals Liebeserklärungen.“

Urban erhob sich und wischte nachlässig über die Kniee. „Halten Sie es für möglich, Herr Commerzienrath, daß Ihr liebenswürdiges Fräulein Tochter sich so lange trotzig geweigert, mir den Namen ihrer Schneiderin zu nennen, bis ich kniefällig darum gebeten habe? Und ich Unglücklicher habe einer Dame mein Wort verpfändet, daß ich ihr denselben verschaffen würde; was blieb mir übrig, als meine Beinkleider für das leichtsinnige Versprechen büßen zu lassen?“

„Nun denn einmal heraus mit dem Namen, Doctor,“ fragte mit etwas boshaftem Lächeln der Commerzienrath, indem er Urban scharf in's Gesicht blickte. Ehe indessen Urban Zeit hatte in Verlegenheit zu gerathen, übernahm Toni die Antwort.

„Fräulein Engelhardt, Papa!“

„In der That. Fräulein Engelhardt. Damit wäre der eine Zweck meines Besuches erreicht, und es bleibt mir noch übrig, das Krankenzimmer Ihrer Schwägerin aufzusuchen. Ich habe ihr zwar oft genug gesagt, daß ich ihr nichts helfen kann, ausgenommen, daß ich ihr das alte Recept noch einmal schreibe, aber Frauen bleiben immer die nämlichen; ihre kranken Seelchen werden ruhig, wenn der Pfarrer, und ihre kranken Leiber, wenn der Arzt in’s Zimmer tritt.“

Der Commerzienrath zog die Stirn kraus. „Ihr Aerzte seid ein ungläubiges Geschlecht. Aber ich hoffe, die Wiedergeburt wird auch noch an Sie kommen. Apropos, bevor Sie uns verlassen, kommen Sie wohl noch einmal auf mein Zimmer, Doctor; ich möchte Sie etwas fragen.“

Urban nickte und ging hinaus.

Der Commerzienrath schritt bei Toni vorüber, kehrte aber auf dem Wege wieder um und fragte die erröthende Tochter ernsthaft: „Habt Ihr wirklich nur einen Possen mit einander gespielt, mein Liebling?“

„Papa, dränge mich nicht – ich bitte Dich; er hat mir etwas anvertraut, was ich für mich behalten muß. Es geht seine Braut an.“

„Also er ist wirklich verlobt? Jedenfalls im Stillen blos. Heißt seine Braut etwa Emilie Hornemann?“

Toni sprang auf und fiel ihm um den Hals. „Es ist unausstehlich, wenn ein Mensch so klug ist. Adieu, Papa – ich fürchte mich vor Dir –“ damit eilte sie aus dem Zimmer.

Urban fand zu seinem Verdrusse ihren Platz am Fenster leer, als er zurückkam. Er ließ sich einen Augenblick auf ihrem Stuhle nieder und betrachtete die Stiche an ihrer Arbeit; dann verließ er die Fensterecke und verfügte sich zum Commerzienrath, der ihn mit sorgenvoller Miene empfing.

„Setzen Sie sich einmal zu mir, Doctor! Was halten Sie von der – Cholera? He? Wissen Sie schon, daß sie wieder in Rußland auftritt, und daß sie auch in zwei englischen Häfen eingeschleppt ist?“

„Ich glaube gar, Sie fürchten sich schon jetzt vor ihr, mein Herr Commerzienrath?“ fragte Urban halb erstaunt, halb ärgerlich. „Ich denke, wir warten damit, bis uns dieser menschenfressende Moloch erst näher auf den Leib rückt.“

„Wieviel Procent der davon Befallenen sterben wohl ungefähr? Aber antworten Sie mir vernünftig, Doctor! Ich fasse die Sache sehr ernst.“

„Nun, etwa achtzig, nach den bisherigen Erfahrungen.“

Der Commerzienrath biß sich in die schmale Unterlippe und wiederholte für sich: „Achtzig Procent! Es ist entsetzlich. – Und keiner Seele ist es gelungen, das Geheimniß dieser gräßlichen Seuche zu ergründen?“ fügte er laut hinzu.

„Keiner,“ lautete die lakonische Antwort. „Nur daß der große Hahnemann die Heimtücke mikroskopisch kleiner Bestien dahinter wittert, die er mit Moschus vergiftet. Ich kann Ihnen keinen Trost im Augenblick weiter geben, als daß wir vorläufig noch weit vom Schuß sind und daß eine Anzahl Fachleute im Begriff steht, das Leben daran zu wagen, um das Ungeheuer in seiner mörderischen Beschäftigung zu studiren. Vielleicht beruhigt es Sie auch, wenn ich Ihnen versichere, daß dasselbe vor Leuten von Ihrer Constitution einigen Abscheu zu bezeigen pflegt, und daß ihm die Blume eins guten Bordeaux zuwider ist. – Darf ich mich empfehlen?“

Der Fabrikant sah den Arzt sichtlich ungern scheiden. Er begann eine kurze Wanderung im Zimmer, das Haupt tief in die breite schwarze Cravatte gesenkt, und das unruhige Muskelspiel [175] seines Gesichtes spiegelte die beängstigenden Bilder wieder, welche vor seiner erregten Phantasie vorüberflogen. „Achtzig Procent!“ murmelte er. „Der erfinderische Menschengeist ergründet jeden Tag Geheimnisse und schafft Wunder über Wunder, und hier steht er rathlos. Warum? Warum hier gerade, wo die Natur bebend sich vor dem Entsetzlichen windet und die Hände hülfeflehend zum Himmel streckt? Soll es nicht sein? Ist es der Teufelsodem der Hölle, der hämisch mordend die Seelen einheimst und welchem Macht gegeben ist über tausend mal tausend?“ und der kleine alte Mann mit dem harten Gesicht schauerte zusammen und nahm ein Buch voller Zahlen zur Hand, um sich zu zerstreuen.

Inzwischen war Urban die Treppe hinabgestiegen. Im Hausflur unten befand sich rechter Hand die Wohnung des Kutschers Johannes, dessen Frau Portierdienste that; die Leute lebten allein; denn ihre Kinder waren sämmtlich bereits selbstständig geworden. Lautes Lachen drang durch die braungestrichene Thür, und es war dem Lauscher, als höre er Toni’s frische Stimme deutlich heraus. In diesem Moment ging die Thür auf, und das Stubenmädchen trat Urban mit verdrießlichem Gesicht entgegen. Hinter ihr aber erfaßte sein rasches Auge eine seltsame Gestalt in der Stube drinnen, eine schlanke, zierliche Figur mit rabenschwarzen losen Flechten, die sich unter einem rothen Kopftuch hervorstahlen; er gewahrte ein grobes braunes Wollenkleid mit kurzem Rock und zwei braune Füßchen darunter, welche bis auf ein paar alte gestickte Hausschuhe nackt waren. Halb verdeckt von dieser Gestalt stand Toni; ihr Gesicht bog sich seitwärts, und ihr lachender Blick, welcher dem davon eilenden Mädchen folgte, fiel auf Urban. Dieser harmlos glückliche Blick hatte – er wußte nicht recht warum – plötzlich etwas Verletzendes für ihn. War es darum, weil ihn selber tiefste Unruhe peinigte, weil es in seinem eigenen Kopfe so ungestüm arbeitete, während in seiner Brust zugleich die Empfindungen mit einander in Hader lagen? Oder weil sie wußte, wie es um ihn stand und dennoch lachen konnte? Es wandelte ihn eine verdrießliche Lust an, etwas zu stören, und er ging an dem Mädchen vorüber in das Zimmer.

„Was ist denn das für eine Mummerei?“

Ein schmales, braunes Gesicht, jugendlich und fremdartig, wandte sich mit einem rasch verschwindenden Ausdruck von Befangenheit nach ihm um; ein paar große, ernste, tiefschwarze Augen hafteten auf den finstern Zügen des schönen, stattlichen Mannes, und zwischen den feinen schmalen Lippen der Zigeunerin – denn eine solche stand vor ihm – blitzten zwei Perlenschnüre von Zähnen auf.

„Was haben Sie mit dieser braunen Hexe zu schaffen, Fräulein Toni?“ fuhr Urban unfreundlich fort. „Nehmen Sie Ihre Uhr da in Acht und was sonst nicht fest an Ihnen sitzt! Dieses Volk hat kein Verständniß für den Unterschied von ‚mein‘ und ‚dein‘, und die jungen Weiber besonders sind wahre Elstern.“

Die Zigeunerin senkte langsam die Wimpern und sagte mit wohlklingender Stimme: „Ich stehle nicht, schöner Herr. Es giebt Leute in unserem Volke, die nehmen was sie wollen, und es giebt andere, die verdienen was sie brauchen. Schelten Sie nicht, lieber junger Herr! Unsre Männer fangen wohl Fische und Feldthiere, aber – –“

„Bist Du verheirathet?“ unterbrach Urban sie mit Härte, während er heimlich das wunderbar regelmäßige, sammetweiche Gesicht musterte, dessen geröthete Wangen an Flammenschein mahnten, welcher braunen Rauch überglüht.

„Nein,“ sagte das Mädchen, die Augen noch immer zu Boden gesenkt.

„Wo sind Deine Leute? Und wie viel Personen seid Ihr zusammen?“

„Vater, Mutter, ein großer und kleiner Bruder und zwei kleine Schwestern, lieber Herr, Niemand weiter. Wir haben einen Wagen und ein Pferd, die Dascha, und noch zwei kleine Hunde. Sie lagern neben der alten Schmiede, wenn man die Straße hinaus geht, rechts, da, wo der Berg einbiegt.“

„Warum läufst Du allein in der Stadt herum?“

„Meine Mutter liegt im Wagen und ist krank.“

„Da müssen Sie helfen, Herr Doctor,“ rief Toni mit Feuer; „Sie machen den Gang umsonst, und ich bezahle die Arznei.“

„Mein liebes Fräulein,“ meinte Urban trocken, „diese Art wird entweder ohne Arznei gesund, oder sie ist überhaupt nicht zu retten. Was will das Mädchen hier? Betteln?“ Er blickte sich jetzt erst in der Stube um, als er vom Fenster her das unarticulirte Gebrumm des Kutschers Johannes vernahm, und nickte diesem und seiner Ehehälfte zu, welche letztere, neben einem andern weiblichen Dienstboten des Hauses stehend, scheue Blicke auf die Fremde warf.

„Sehen Sie nur die dort,“ lachte Toni, nach dem Fenster zeigend; „es ist ihnen übel geworden, denn sie können das Prophezeien nicht vertragen. Geben Sie einmal Ihre Hand her, Herr Doctor!“ meinte sie, indem sie sich ohne Umstände seiner Linken bemächtigte; „ich bitte mir aus, daß Sie still halten, denn“ – fügte sie leise warnend hinzu – „Sie wissen, daß Sie in meiner Gewalt sind.“

„Nun wohlan, Sie kleine Commandeuse!“

Toni hielt der Zigeunerin die innere Fläche der Hand unter die Augen. Diese warf nur noch einen flüchtigen Blick auf das Antlitz des Mannes vor ihr, einen geheimnißvollen Sibyllenblick, den Urban auffing; ihre Mundwinkel senkten sich ernsthaft, und dann neigte sie sich und studirte die Linien, daß jener ihren warmen Hauch auf seiner Hand fühlte. Aus der leisen Bewegung ihres Kopfes konnte man wahrnehmen, daß in ihrer Beobachtung Methode lag. Der junge Mann hielt schweigend aus und blickte inzwischen auf Toni herab, welche ihr Antlitz mit lebhafter Neugierde bis dicht vor seine Brust herab beugte; er athmete den feinen Duft ihres Haares und sah in nächster Nähe das Blut durch ihr kleines Ohr schimmern.

„Viel Unglück im Glück und viel Glück im Unglück,“ murmelte das Mädchen und trat endlich mit einem tiefen Athemzuge zurück.

„Ist das Alles?“ fragte Urban, der die Worte verstanden hatte.

„Gott bewahre!“ rief Toni lebhaft; „sie sagt Ihnen eine ganze Litanei von Schicksalen, alles was da war, ist und sein wird. Es wird gleich kommen.“

Die schwarzen Augen des jungen Geschöpfes waren starr geworden, und sie stand einen Augenblick ohne sich zu bewegen. Urban, der sie scharf beobachtete, fand heraus, daß sie entweder sehr geschickt Komödie spielte, oder an ihre Pythia-Rolle glaubte. „Hüten Sie sich vor dem kleinen Wasser, Herr!“ meinte sie endlich nachdenklich. „Nur das große wird Ihnen nützlich sein. – Ich sehe nicht viel Gutes für Sie in der nächsten Zeit; es drohen Ihnen auch Waffen. – Es stehen Frauen an Ihrem Lebenswege; die Sie suchen, finden Sie nicht, und die Sie finden, kommen Ihnen ungesucht. – Schöner Herr,“ unterbrach sie sich plötzlich; „ich habe heute zwei Mal dieselbe Lebenslinie gesehen. – Sie werden alt werden, und ihr Haar wird sich bleichen, aber in Frieden. – Ich sehe Metalladern, die in Ihren Lebensweg münden; die eine ist sehr reich. – Ein weißer Schwan wird Sie zum Glücke führen –“

„Dasselbe hat sie mir auch gesagt,“ fuhr Toni heraus.

Die Zigeunerin wandte sich plötzlich um, und ihre Blicke schweiften zwischen Urban und dem blühenden, lächelnden Mädchen neben ihm hin und her.

„Wie heißt Du?“ fragte Urban.

„Juschka,“ war die zögernde Antwort.

„Vortrefflich, kleine Juschka,“ fuhr jener kühl fort, indem er seine Börse zog; „Du bist gnädig mit mir umgegangen, und Du sollst Dich in Deiner Berechnung nicht getäuscht haben, daß ich alsdann auch mit Dir gnädig umgehen würde.“ Er nahm einen Thaler zwischen den Maschen heraus und reichte ihn dem Mädchen. Die Zigeunerin kreuzte die Arme über der Brust und verneigte sich tief; dann bückte sie sich, wie um zugleich den Thaler zu nehmen und ihm die Hand zu küssen, aber im nämlichen Augenblicke, wo er das Geld zwischen seinen Fingern hervorgezogen fühlte, empfand er einen heftigen Schmerz an der Hand; die Zigeunerin wand sich wie ein Aal zwischen ihm und Toni hindurch und verschwand durch die Thür, und von der Thür her erscholl ein Klirren auf dem Fußboden: es war der Thaler, welcher unaufgehalten bis mitten in die Stube rollte.

Der Doctor, welcher ein kurzes Zischen des Schmerzes nicht hatte unterdrücken können, war mit einem Sprunge am Fenster; er kam noch zeitig genug, um die geschmeidige Figur der braunen Juschka drunten von der Treppe nieder in den Hof fliegen zu sehen.

[176] Die übrigen Anwesenden waren mit neugierigem Erstaunen Zeugen seines auffallenden Benehmens gewesen, ohne den Grund desselben zu ahnen. Die Spannung wuchs, als Urban, vom Fenster zurücktretend, aufmerksam seine rechte Hand musterte.

„Was ist Ihnen denn, Herr Doctor? fragte endlich Toni.

„Sehen Sie hier: die Hexe hat mich gebissen. Ich werde mir künftig die Gutmüthigkeit gänzlich abgewöhnen.“ Er reckte die Hand hin, in deren Fleisch die Spuren der kleinen Zähne tief eingebohrt waren, obschon nicht bis zur Verwundung tief genug. „Das Ehrgefühl dieses hübschen Vampyrs ist für eine Zigeunerin merkwürdig entwickelt.“

„Da sehen wir's ja. Habe ich's nicht vorher gesagt, Fräuleinchen, daß diese Heidin nicht weg gehen würde, ohne ein Unheil angerichtet zu haben?“ murrte der Kutscher, welcher nunmehr gleichfalls den Muth gewann, seinen Platz im Hintergrunde zu verlassen. „Wenn nur der Herr Commerzienrath dazu gekommen wäre, er würde ihr den Marsch schon gepfiffen haben. Und ein Christenmensch darf sich von solch einem verworfenen Geschöpf nicht wahrsagen lassen, wie Saul von der Hexe zu Endor.“

„Sie haben ganz Recht, Johannes,“ bekräftigte Urban, der sich auf die gebissene Stelle hauchte, „und ich habe meinen Lohn dafür schon bekommen, daß ich mich habe verführen lassen. Es ist gewöhnlich so, daß der Verführte die Kosten bezahlen muß, und der Verführer leer ausgeht.“ Dabei fiel ein Seitenblick auf Toni, die etwas verschüchtert zurückgetreten war. „Den Thaler dort mögen Sie zu Ihren Sparpfennigen legen.“

„Mit Verlaub, Herr Doctor, den nehme ich nicht, nachdem ihn das Satanskind in der Hand gehabt hat. Die Künste des Bösen sind von mancherlei Art, und ein Christenmensch soll allerwegen auf seiner Hut sein.“

„So legen Sie ihn in den Opferstock, damit er unschädlich wird, oder tragen Sie ihn zum Armenpfleger!“

„Das will ich thun, aber gleich, auf daß er aus dem Hause kommt,“ brummte der Kutscher, setzte seine Mütze auf, zog die waschledernen Handschuhe auf die Finger und nahm behutsam das Geldstück vom Boden.

„Also es bleibt bei unserer Verabredung, Fräulein Toni?“ fragte Urban und reichte dieser, im Begriffe zu gehen, die unversehrte Linke hin; „und Sie haben die Güte, mir Nachricht zu geben?“

Sie nickte und schlug ein.

Urban schritt hinter dem Kutscher her in den Hof, der in der Mittagsgluth dalag. Die ganze phantastische Scene hatte ihn eigenthümlich berührt, so wenig auch die Prophezeiung des Mädchens ihn kümmerte. Er hatte nicht übel Lust, der Prophetin noch einmal zu begegnen, nur um zu sehen, wie sich dieselbe ihm gegenüber nach dem wunderlichen Attentate benehmen würde. Die Veranlassung dazu war ja gegeben; er brauchte nur den beschriebenen Ruheplatz der Familie aufzusuchen, um nach dem kranken Weibe zu sehen. Zunächst indeß fiel ihm etwas Anderes ein.

Er näherte sich der Thür mit dem Comptoirschilde und trat durch dieselbe in einen schmalen, mit Backsteinen gepflasterten Flur, von welchem rechts eine Thür in das Comptoir, links eine zweite, unmittelbar neben der Dampfmaschine, in die Fabrikräume führte; er wählte die letztere.

Die Maschine stand still; in dem weiten, kühlen Raume war kein Mensch mehr zu erblicken, denn die Mittagsglocke hatte längst geläutet und die Arbeiter waren zum Essen gegangen. Er schritt weiter, auf den entgegengesetzten Flur hinaus, von welchem die Treppe in die oberen Räume führte, und stand im Begriffe hinaufzusteigen, als sich hinter ihm die Thür des Kesselhauses öffnete und das melancholische Gesicht des langen Abraham Fenner erschien.

„Ist Herr Bandmüller schon zu Tische gegangen?“ fragte Urban.

„Zu Befehl, Herr Doctor,“ antwortete der tiefe Baß des Heizers. „Vor ein' zehn Minuten ungefähr.“

„Wenn er heute Nachmittag wiederkommt, so können Sie ihm sagen, daß er diesen Abend, sobald er von der Arbeit frei ist, mich besuchen soll. Ich hätte Wichtiges mit ihm zu besprechen. Hören Sie, Fenner?“

„Will’ schon bestellen.“




12.

Urban ging hinaus.

Die heißen, blendenden Straßen waren jetzt, um die Mittagszeit, doppelt öde. Der glühende Staubdunst wirbelte um die Gestalt des rasch Dahinschreitenden; das Erdreich in den Fugen des Pflasters klaffte wie lechzend, und das spärliche Gras, welches sich in der Nähe des Rinnsteins und unter den Dachtraufen angesiedelt hatte, hing vergilbt und verdorrt. Aus den Häusern quoll häßlich der Speisedunst, und Urban, um ihm zu entgehen, drückte den Strohhut tief in das Gesicht und suchte die Mitte der Straße auf.

Endlich bog er in eine schattige Quergasse, und sein Auge gewahrte hier in einiger Entfernung eine Polizei-Uniform, als deren Träger der Arzt den Commissar Donner erkannte. Er beschleunigte seine Schritte, und sobald er in die Nähe des Commissars gelangte, begann er halblaut zu singen:

„Der Vogelfänger bin ich ja,
Stets lustig, heisa, hopsasa.“

Donner drehte sich herum, und sein zorniges von der Hitze geröthetes Gesicht hellte sich nur wenig auf, als er den Sänger erkannte.

„Mit Ihren niederträchtigen Spottversen, Doctor! Es würde mir sehr lieb sein, wenn Sie sich das abgewöhnen wollten.“

„Mein Himmel,“ versetzte Urban mit der Miene gekränkter Unschuld, „was wollen Sie wieder? Sie haben eine fatale Manier, Alles auf sich zu beziehen – das müssen Sie zugeben, Donner. Man kann den harmlosesten Vers singen, gleich finden Sie etwas darin, was wie Spott aussieht. – Nichts Neues sonst?“ fuhr er zutraulich fort; „keine frische Demokratenfährte?“

„Die Jagd ist mir verleidet,“ meinte Donner mürrisch, als er Urban dicht neben sich hatte. „Ich wollte, daß ich die Zehren’sche Angelegenheit erst verdaut hätte. Diesen Aerger danke ich Ihnen allein mit Ihren dummen Winken; ich glaube nicht einmal mehr, daß der Mann seine Taubheit blos heuchelt.“

„Warum das?“

„Ich bin ein Narr gewesen, daß mir die Idee nicht schon früher gekommen ist: der Mann, der ihm die Warnung geschrieben hat, war sicherlich Einer, der um Zehren’s Gehör Bescheid wußte.“

„Das ist gar nicht nothwendig,“ entgegnete Urban. „Im Uebrigen, geschätzter Freund – nehmen Sie mir das nicht übel! – sind Sie viel zu hitzig vorgegangen. Es fehlte jede gehörige Vorbereitung. Ich hätte zum Beispiel zuvor vierzehn Tage lang auf der Post seine sämmtlichen Correspondenzen untersucht. Ich möchte eine Wette darauf eingehen, es ist nicht alles unschuldig, was er schreibt und was er empfängt. Sie haben in seinem Hause nur das richtige Nest nicht gefunden; auf der Post gehen Sie sicherer, – Sie wissen ja, wie man das macht; das Siegel in Thon drücken und so weiter.“

„Sie haben Ideen, Doctor, das ist nicht zu leugnen,“ sagte der Commissar, den dieser Einfall sichtlich beschäftigte. „Apropos, wissen Sie schon, daß am Sonntag vor St. Kilian großer Empfang des Abgeordneten Herrn vom Rath sein wird?“

„Keine Silbe weiß ich; also er kommt zurück? Und wer wird den Empfang veranstalten?“

„Verstellen Sie sich doch nicht! Sie wissen so gut wie ich, daß das Ganze ein Demokratenstückchen wird. Natürlich wird eine Ehrenpforte gebaut und Hurrah! gerufen und ich – ich“ – fügte der Commissar zähneknirschend hinzu – „kann nichts daran ändern, denn Jemand Hochmögendes hier will ja durchaus nicht, daß wir Militär kommen lassen. Ich werde es mit ansehen müssen, daß sie mit schwarz-roth-goldenen Fahnen angezogen kommen, vielleicht gar hören müssen, wie sie die Marseillaise singen. Es wird immer besser; mich wundert nur, daß nicht der ganze Magistrat in corpore dem schwarz-roth-goldenen Bruder entgegen fährt. Aber wenn ein gewisser Jemand nach Berlin berichtet, so wird ihm dort Alles geglaubt. Was kann Unsereiner dagegen thun? Nur Eins freut mich: ich werde bei dieser Gelegenheit wenigstens erfahren, was für Volk sich dabei zu betheiligen den Drang fühlt. Ich werde eine hübsche Liste bekommen. Halten Sie es für möglich, daß man nicht einmal nöthig gefunden hat, mir die Namen der Haupträdelsführer zu nennen?“

(Fortsetzung folgt.)

[177]

Ein Hexenproceß in Loango.
Von Dr. Pechuel-Loesche.[1]

In dem unsrer Station Chinchoxo sehr nahe gelegenen Dörfchen Lusala war Nsoami, das junge Weib eines uns wohlbekannten Negers, von der unheilbaren und von den Schwarzen sehr gefürchteten Schlafkrankheit befallen worden. Da der Neger der Loangoküste – übereinstimmend mit den Angehörigen wohl aller wilden, sogenannten Naturvölker – eine natürliche Todesursache höchstens nur dann annehmen und verstehen kann, wenn hohes Alter und dem entsprechender langsamer Verfall des Körpers ihn folgerichtig auf ein endliches Erlöschen der Lebenskraft vorbereitet haben, da ihm aber ein Erkranken und Sterben rüstiger und junger Leute widernatürlich erscheint, so findet er, von Gespensterfurcht gequält und in seinem Schrecken und seiner geistigen Unfreiheit nach einer Erklärung, nach Beruhigung suchend, solche nur in der Annahme von wirksamer Bosheit zauberkundiger Mitmenschen. Diese sind ihm greifbar; er kann sich gegen sie wehren, sich an ihnen rächen.


Ngangas aus der Umgegend von Chinchoxo.
Nach einer Photographie des Stabsarztes Dr. Falkenstein.


Das Leiden des in voller Jugendkraft erst kürzlich erheiratheten Weibes konnte demnach auch nur die Folge geheimer Böswilligkeit Andrer, das Resultat einer Verhexung sein. Ngo, der junge Ehemann, aus guter Familie stammend, wohlhabend und, wie seine zahlreichen Geschwister, durch körperliche und geistige Vorzüge gleich ausgezeichnet, hatte die Ngangas der Umgegend und manche Berühmtheit aus der Ferne herbeigerufen, doch erwiesen sich alle Heilkünste derselben nicht stark genug, um den Bann zu brechen.

Diese Ngangas sind Zauberärzte, Hexenmeister, welche, theils als schlaue Betrüger, theils im festen Glauben an ihre eigene geheimnißvolle Macht über die bösen Zauberkünste Andrer und wirksam unterstützt durch die Schwächen ihrer Mitmenschen, Kranken, Besessenen und Verhexten mit ihrem Hocuspocus gegen Bezahlung zu Hülfe kommen. Sie sind übrigens auch im Besitze mancher heilkräftiger Mittel, sowie einiger Gifte und erfahren in deren Anwendung. Stirbt ihnen der oder die Behandelte, oder ist ein Todesfall ohne ihre Mitwirkung eingetreten, so sind sie auch bereit, gegen weiteres Honorar den schlimmen Zauberer, den Ndodschi, [178] aufzuspüren. Mit der Verhältnissen des öffentlichen Lebens und der Familien entweder schon hinreichend vertraut oder sich im besondern Falle darüber unterrichtend, folgen sie, bewußt oder sich in eine Ueberzeugung hineinlügend, mit ziemlichem Glücke dem Volksinstincte und suchen die Schuldigen immer unter Denjenigen, welche das meiste Interesse haben konnten an einer Schädigung von Leib und Leben eines Andern. Das wichtigste Leitmotiv hierbei ist zunächst der bei dem Neger neben dem Selbsterhaltungstriebe am stärksten hervortretende Eigennutz, die Habgier. Bei einem Todesfalle, welchen nur ein Ndodschi bewirkt haben kann, ist es gefährlich, Erbe zu sein; es ist im Allgemeinen schon gefährlich, wohlhabend oder mißliebig, ohne ausgebreitete Familienverbindungen zu sein, in Feindschaft mit dem Verstorbenen gelebt oder übelwollend von ihm gesprochen zu haben. Der öffentlichen Meinung schmeichelnd, bezeichnen die Ngangas einen Mann oder ein Weib oder auch mehrere zugleich als Ndodschi, welche dann dem Gottesgerichte sich zu unterwerfen haben. Viele Verklagte nehmen nun ohne Weiteres vertrauensvoll die Nkassa, die Rinde eines Giftbaumes (Erythrophloeum Guineense), deren Wirkung über ihre Schuld oder Unschuld entscheidet, ja Manche erbieten sich freiwillig auch bei einem weniger ernsten Verdachte hierzu. Andere aber, unsicher, befangen in der Beurtheilung des eigenen Wesens, aber schon aufgeklärter und mißtrauisch geworden gegen die Gerechtigkeit eines nur von Menschen verwalteten Gottesurtheiles, trachten demselben zu entgehen durch den Einfluß der Familie, der Freunde, durch Bestechung, im schlimmsten Falle auch durch die Flucht und durch freiwillige Hingabe in Sclaverei an einen Mächtigen, welcher sein Eigenthum zu schützen vermag.

Seine Unschuld erweist nur der, welcher die ihm verabreichte Giftrinde, als solche, durch Erbrechen vollständig wieder von sich giebt, bevor die tödtliche Wirkung derselben eintritt. Dann wird er gefeiert, im Triumph umhergeführt und ist gewöhnlich für alle Zukunft gegen ähnliche Anklagen gefeit. Denn die Ankläger haben Reugeld, für ihre Verhältnisse oft ein sehr hohes, an den Unschuldigen und seine Familie zu zahlen, und halten sich ihrerseits wieder an die Ngangas oder deren Angehörige, welche ihnen natürlich nicht nur diesen Verlust ersetzen, den Lohn zurückgeben, sondern auch noch eine Buße zahlen sollen. Zuweilen wird wohl an einem oder dem andern der Ngangas eine exemplarische Volksjustiz geübt, wenn das Volk sich plötzlich bewußt wird, daß es ja in den Händen dieser Leute liegt, die giftige Rinde zu präpariren, zu vermischen, ihre Eigenschaften durch Auslaugen abzuschwächen oder sonst wie beliebig zu verändern. In der Regel aber wissen dieselben sich schlau zu helfen, geben an, daß irgend welcher Umstand die gebrauchten Mkissi (sogenannte Fetische, irgend welche von kundiger Hand geformte Dinge, von welchen geglaubt wird, daß ihnen eine besondere, dem Besitzer dienstbare Macht innewohne) verwirrt und erzürnt habe, und suchen den Irrthum wieder gut zu machen durch Ausspüren anderer Schuldiger, bis dem Verlangen nach einem echten Ndodschi Genüge gethan ist. Wäre nicht die Furcht vor dem zu zahlenden Reugelde, hielte die Habgier der Neger ihrem Aberglauben nicht so häufig das Gleichgewicht, so würde jeder Todesfall so viele andere nach sich ziehen, daß das Land längst entvölkert wäre. Angeklagte, welche dem Gifte erliegen, werden oft von der erregten Menge in wildem Getümmel niedergeschlagen und dann regelmäßig durch Feuer vernichtet. So geschah es dem Koch unserer Station, zur Zeit, als wir noch zu wenig Einfluß besaßen, um sein Schicksal abwenden zu können; er wurde, selbst von der eigenen Familie als ein gefährlicher Ndodschi gänzlich verlassen, in Sicht von Chinchoxo, am Strande des Meeres verbrannt. – Früher, als der Sclavenhandel noch eine Deportation derartiger Uebelthäter ermöglichte, wurden dieselben, nebst anderen Verbrechern, an weiße Händler verkauft.

Das junge Weib von Ngo, Nsoami, welches in Lusala erkrankt war und nicht gesunden konnte, wurde endlich nach einer anderen Besitzung ihres Gatten, nach einen ungefähr eine Stunde von Chinchoxo gelegenen Dorfe gebracht und ihrer dort wohnenden Mutter übergeben, da bei der großen Furcht der Neger vor der Ansteckung durch die Schlafkrankheit wohl Niemand sich ihrer angenommen hätte. Alle Künste der Ngangas blieben auch dort erfolglos; die Verhexung erwies sich als zu stark; die Kranke siechte schnell dahin und war dem Verscheiden nahe.

Ngo sparte nichts, um die Schuldigen zu entdecken und damit vielleicht noch das Leben von Nsoami zu retten. Die Ngangas bezeichneten endlich als Ndodschi eine Frau, welche in Lusala wohnte. Sie wurde von Ngo und der Familie angeklagt. Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, sollte das Gottesurtheil an einem Octobertage über ihre Schuld oder Unschuld entscheiden.

Bei Sonnenaufgang gingen wir die wenigen hundert Schritte über die kleine regennasse Savane, auf welcher ein Jahr später unsere schönen Plantagen grünen sollten, nach dem Dorfe. Die Oelpalmen schüttelten, wie erwachend, die schweren Tropfen von ihren Wedelkronen; aus dem hohen Grase, dem Gebüsche und vom nahen Walde klangen die Stimmen der gefiederten Sänger. Schwärme der schönen grünen Tauben, ihrem regelmäßigen Zuge folgend, sausten mit pfeifenden Flügelschlägen über unsere Köpfe hin nach Süden, und von dem breitästigen Bombax am Dörfchen, dessen Gezweig eine unzählbare Schaar von Webervögeln gänzlich in Besitz genommen und mit tausenden ihrer Nester behängt hatte, schallte lustig der Lärm der kleinen eifrigen Baumeister herab. Zwischen den wenigen ärmlichen Hütten Lusalas, welches erst später durch die Nähe unserer menschenreichen Besitzung und unter unserem Schutze sich vergrößerte und zu Wohlstand gelangte, war es recht still und einsam. Einige der dürren, immer hungrigen Dorfhunde knurrten uns mißtrauisch an und verschwanden, ihrem Charakter getreu, eiligst um die nächste Ecke; verschiedene Hühner scharrten im feuchten Boden nach Würmern, und die kleine Ziegenheerde des Dörfchens naschte vorsichtig die Blätter am Saume des nassen Gebüsches. Auf einem freien Platze endlich fanden wir eine Anzahl uns bekannter Dorfbewohner, sowie einige fremde Ngangas, mit jenen verhandelnd.

Unter einer Art niedrigen Schuppen, von einem einfach auf die Erde gesetzten langen Palmblätterdache gebildet, saß auf einer Matte die Angeklagte, ein rüstiges, stattliches Weib, vielleicht in der Mitte der dreißiger Jahre stehend, die Augen starr in die Ferne gerichtet, unsere Ankunft kaum beachtend. Wir kannten sie wohl, da sie uns häufig schon Nahrungsmittel zum Markte nach Chinchoxo gebracht hatte. Die Ngangas hatten ihre wunderlichen Fetischzeichen, aus weißen und wenigen rothen Strichen und Punkten bestehend, je nach Vorschrift im Gesicht, auf Brust, Leib, Armen und Beinen angebracht und waren zur Beschwörung fertig. Einer derselben, mit einem durchlöcherten weißen Hemd bekleidet, kramte im dunkeln Hintergrunde des Schuppens in einem grün angestrichenen Kasten, in welchem allerlei zum Theil in feine Matten gewickelte Gegenstände lagen, und trat endlich hinter die Angeklagte, einen kurzgestielten Holzlöffel und eine Holzschale von der Größe aber doppelten Tiefe einer kleinen Untertasse in der Hand haltend. (Der ganze, Spuren sehr häufigen Gebrauches zeigende Apparat befindet sich jetzt in dem Museum zu Berlin.) Aufgehäuft in der Schale befand sich die Nkassa, gemahlenem, hellbraunem Kaffee gleichend.

Ohne jeden Versuch, durch irgend welche Formalitäten dem Gottesurtheil eine besondere Weihe zu geben, füllte nun der Nganga (um 7 Uhr 35 Minuten) der Angeklagten die erste Dosis des trockenen Pulvers, einen gehäuften Löffel voll, in den Mund. Sie kaute es, wälzte es mit der Zunge hin und her und würgte es langsam hinunter. Zehn Minuten später erhielt sie den zweiten Löffel voll. Der Ausdruck ihres Gesichtes war stumpf, vielleicht resignirt, jedenfalls aber nicht so, wie man es von einer zwischen Leben und Tod Schwebenden erwarten konnte. Auch die Uebrigen zeigten eine unangenehm berührende Gleichgültigkeit; der ganze Vorgang erschien empörend nüchtern und inhaltslos. Viele Einwohner des Dorfes gingen ihren Verrichtungen nach; junge und alte Männer, ihre Flinten auf der Schulter tragend, passirten gelegentlich vorüber, grüßten, fragten und gingen ruhig weiter. Geputzte Mädchen und junge Weiber aus anderen Dörfern versammelten sich nach und nach, von Neugier getrieben, und hielten sich schwatzend und lachend in der Nähe; auch bei ihnen suchte man vergeblich nach einem Zeichen von Mitleid oder Schrecken – und wie bald konnte doch jeder dieser Zuschauer vom gleichen Schicksal betroffen werden!

Um 8 Uhr 3 Minuten wurde der Angeklagten der dritte, vierzehn Minuten später der vierte Löffel, dieser schon nicht mehr gehäuft, eingegeben, um 8 Uhr 31 Minuten erhielt sie die letzte Dosis, und zwar wurde nun die Schale, in welcher sich der Rest der Rinde befand, mit Wasser ausgespült und ihr zum Trinken gereicht. Nachdem sie auch das ungefähr noch einen [179] halben Liter enthaltende andere Wassergefäß ausgeleert, hatte sie nach der Mitte des freien Platzes zu gehen und sich dort mit gekreuzten Beinen auf ihre Matte niederzulassen, nach Anleitung ihre Arme vorwärts streckend und die Hände leicht geöffnet mit der Handfläche nach oben haltend; sehr bald ermüdend, stützte sie dieselben auf die Kniee. Die fünf anwesenden Ngangas begannen nun zum ersten Male ihre Künste zu treiben. Verschiedene Fetische wurden herbeigebracht und der Angeklagten gegenüber aufgestellt, lange röhrenförmige Holztrommeln mit Klöppeln und Händen bearbeitet, Antilopenhörner und Pfeifen geblasen und Beschwörungen bald einzeln, bald im Chor gemurmelt oder laut gerufen, wobei dann die Umstehenden oft kräftig mit einfielen. Man verließ sich also doch nicht so ganz unbedingt auf die Unfehlbarkeit der mit der Entscheidung betrauten höheren Macht, sondern hielt es für nöthig, die eigenen guten Zauberkräfte auch noch gegen die schlimmen der Hexe in’s Treffen zu führen, zumal die Tochter der letzteren ebenfalls ihre eigenen Fetische in der Nähe herumtrug und ihre Hülfe anrief.

Trotz alledem hatten die Zuschauer nur geringe Aufmerksamkeit für den Vorgang, der sie doch versammelt hatte. Die Männer kamen und gingen, lagerten sich, schwatzten und rauchten, bei letzterem Vergnügen sich, dem Gebrauche gemäß, vorsichtig unter dem Winde von der Verklagten haltend. Der eisgraue, von Rheumatismus geplagte Dorfherr erschien nur für kurze Zeit, auf seinen langen Stab gelehnt, unter dem Mangobaum vor seinem kleinen Gehöfte. Zwei niedliche, nur wenige Jahre alte Kinder waren nahebei beschäftigt, Palmnüsse zwischen Steinen zu zerschlagen und die Kerne sorgfältig zu sammeln, während eine junge Mutter, ihren Säugling in das Tuch auf dem Rücken eingebunden, dicht neben unseren Sitzen knieend, emsig weiter flocht an einem feinen Körbchen von Palmblattstreifen. Unmittelbar neben den Zauberapparaten hatte sich eine kleine Negerin niedergelassen, uns Weiße ununterbrochen mit ihren großen staunenden Augen musternd; sie sowohl, wie auch der daneben stehende Nganga ließen es ruhig geschehen, daß eine dreiste Ziege neugierig die Fetische beroch. Im Schatten einer Hütte waren junge Mädchen zu einer malerischen Gruppe vereint, fesselnd sowohl durch die schöne Farbenwirkung der bunten Stoffe und der warmen, dunkelbraunen Haut, wie durch eigenartige Anmuth der Stellung. Eine derselben, auf einer Matte hingestreckt, das blaue Gewand nachlässig zurückgeworfen, erinnerte überraschend an Correggio’s „Büßende Magdalena“. Sie plauderten und scherzten; die fröhlichen Augen glänzten, und die Zähne schimmerten herüber, so oft die eine oder die andere in gewohnter Weise irgend welche lustige Bemerkung über uns zum Besten gegeben. Etwas abseits ließ ein Weib ihr Kind auf der Hüfte reiten, und bedeutete es, mit der Hand zeigend: „Nkassa, Nkassa!“ Die Irrsinnige des Dorfes drängte sich mehrere Male heran, unter wilden Gesten, mit kreischender Stimme einen unverständlichen Wortschwall und gellendes Gelächter hervorstoßend; auch sie schleppte einen eingebildeten Talisman, ein Grasbündel, mit sich herum.

Die Angeklagte erhob sich und ging mit festen Schritten zwischen ihrer Matte und den Fetischen auf und ab, mehrere Male, wie ein Recrut, kräftig die Beine streckend und die Arme wie im Faustkampfe vorwärts werfend. Um acht Uhr sechsundfünfzig Minuten erbrach sie zum ersten Male eine ziemliche Menge hellgelben Schleimes. Die Ngangas untersuchten den Auswurf und verkündeten: es sei keine Nkassa. Ein Jeder konnte sich davon überzeugen. Die Schwester der Frau, ein kräftiges, jugendliches Weib, sprang plötzlich herbei, wechselte einige Worte mit der Angeklagten und wandte sich dann in leidenschaftlicher Rede an die Umstehenden, schließlich den Ngangas mit heftigen Geberden auf den Leib rückend und mit hoch erhobenen Armen die Fetische bedrohend. Kein Wort wurde ihr erwidert, und sie stürmte fort, um sich wieder der Tochter der Hexe anzuschließen, welche wehklagend mit Zauberklappern den Platz umlief und ihre Mkissi anrief, die Mutter zu schützen, zu retten. Um neun Uhr dreißig Minuten trat ein abermaliges Erbrechen gelben Schleimes ein. Die Ngangas wandten sich abseits und beriethen. Zuweilen kehrte einer derselben zum Platze zurück, klemmte eine Trommel zwischen die Beine und entlockte ihr mit Klöppel und Fingern weder besonders laute noch schaurige Töne. Wie ein Kind, das schnell ermüdet, legte er dann das Instrument achtlos bei Seite und ging. Ein Anderer näherte sich der Inquisitin, hielt eine Hand über ihren Kopf und umschritt sie, Beschwörungen murmelnd. Zuweilen versammelten sich auch wieder Alle, um vereint unter dem üblichen Lärmen auf Hörnern, Pfeifen und Trommeln ihre Fetische anzurufen. Ihr Treiben machte entschieden auf alle Anwesenden nicht den geringsten Eindruck; ein Nganga, welcher über einen Zauberkasten stolperte, wurde sogar mit schallendem Gelächter und lauten Zurufen verhöhnt; die weibliche Jugend geberdete sich hierbei ganz besonders eifrig und respectwidrig. Ngo, der als Ehemann doch am meisten Betheiligte, ließ sich nur selten blicken und schien sich absichtlich fern zu halten.

Mehrere der Knaben, welche in unserem persönlichen Dienste standen, waren unterdessen von der Station herbeigekommen und hielten sich neben uns; zu ihnen gesellten sich andere junge Leute beiderlei Geschlechts, ihre Meinungen austauschend. Ein Mädchen wußte genau, daß man der Frau besonders giftige Nkassa gegeben habe und sie sicher umbringen wolle; ein anderes erzählte, die Frau müsse sterben, denn in letzter Nacht habe die Eule im Dorfe geschrieen; ein junger Mann theilte mit, man warte nur, bis die Weißen gegangen seien, dann würde man die Schuldige auf den Hügel schleppen und dort einander so lange zuwerfen, bis sie todt sei; ein zweiter bestritt dies und behauptete, sie würde lebendig begraben werden, und so fort. Der Einfluß, welchen die abenteuerliche Phantasie des Negers auf sein Denken und Sagen hat, zeigte sich auch hier wieder einmal recht deutlich. Darüber waren Alle einig, daß Jene eine sehr böse Frau, eine schlimme Hexe sei.

Um neun Uhr vierundfünfzig Minuten erfolgte das dritte Erbrechen; der Auswurf war der gleiche wie vorher. Die Inquisitin ging nun wieder eine Zeitlang auf und ab, nahm dann ihre Matte und setzte sich, da die Sonne sehr heiß brannte, ruhig in den Schatten einer Hütte. Die Ngangas remonstrirten dagegen, aber ohne Erfolg, denn die Zuschauer nahmen zum Theil Partei gegen sie. Nach einer längern allgemeinen Berathung begab sich die ganze Gesellschaft nach einem andern Platze, in den Schatten des von den Webervögeln besetzten Bombax und einiger anderer Bäume. Dort erbrach das Weib um zehn Uhr fünfundzwanzig Minuten zum vierten Male, wieder hellgelben Schleim, aber mit Schaum gemischt. Sie erschien zwar etwas matt, aber sonst vollkommen wohl, blickte aufmerksam umher, sprach mit Verschiedenen und hielt sich wahrscheinlich für gerettet.

Ein Nganga theilte uns mit, für heute wäre das Verfahren beendet; morgen würde die Verklagte zum zweiten Male Gift nehmen. Man wollte uns offenbar zum Aufbruche bewegen. Viele der Zuschauer gingen auch wirklich fort, verschwanden in ihren Hütten oder zogen nach den andern Dörfern. Die Ngangas baten uns um ein Geschenk von Rum; wir schlugen es ab. Sie zogen sich zurück, ließen die Inquisitin allein, aßen und tranken und machten es sich unter einem Sonnendach bequem. Als sie endlich einsahen, daß sie unsere Geduld damit nicht erschöpfen konnten, hielten sie, auch mehrere Männer des Dorfes hinzuziehend, eine langdauernde Berathung. Das Resultat derselben war, daß sie zur Hexe zurückkehrten und verkündeten, sie habe, um ihre Unschuld zu beweisen, nochmals Nkassa zu nehmen. Hiermit war das Schicksal der Armen entschieden. Sie gingen auch sofort wieder in der früher beschriebenen Weise an’s Werk, doch nun unter stärkeren eindringlicheren Beschwörungen. Während die Andern auf den Instrumenten immer lauter und wilder lärmten, umliefen zwei Ngangas, zur Erde niedergebeugt und mit den Spitzen der Zeige- und Mittelfinger beider Hände abwechselnd den Boden berührend, die Verklagte, zuweilen vor ihr anhaltend, seltsame Töne ausstoßend, die Fetische anrufend und ihre Körper in wunderlichen Verdrehungen und Zuckungen bewegend; dann ruhten sie sich plötzlich wieder ganz unbekümmert neben ihren Zauberapparaten aus.

Seit dem frühen Morgen hatten wir den Vorgang beobachtet; Mittag war vorüber; und außer uns befanden sich nur noch etwa ein Dutzend Zuschauer am Platze. Der Fall war zweifelhaft geblieben; die Angeklagte hatte die Giftrinde weder nach Vorschrift von sich gegeben, noch war sie derselben erlegen. Wir konnten sie durch irgend welche Verwendung zu ihren Gunsten nicht retten, durch unser längeres Verweilen aber ihr Geschick nur verschlimmern, da unsere Anwesenheit, wie wir hörten, schon zu ihr nachteiligen Deutungen Anlaß gegeben hatte. Wir beschlossen also, vorläufig nach Chinchoxo zu gehen und später zurückzukehren.

[180] Gegen zwei Uhr brachte uns ein Beauftragter die Nachricht, daß das Gift gewirkt habe, die Hexe umgefallen sei. Vom Hofe der Station sahen wir, wie sie in eine an einer Tragstange befestigte Hängematte gelegt und in der üblichen raschen Gangart den Hügel hinaufgeschafft wurde. Unsre Gewehre nehmend, eilten wir schnellen Schrittes durch das verlassen erscheinende Lusala nach der Höhe. Oben, wo die Pfade sich kreuzten, hielten wir an und spähten landein. Die öden Grasfluren, in der Sonnengluth zitternd, dehnten sich vor uns über Hügel und Hänge; jenseits unsres Quellenthales mit seinen schönen Palmenbeständen und dem dichten Buschwalde lagen friedlich die uns bekannten Negerdörfer. Kein Vogel flog vorüber; kein andrer Laut, als das dumpfe Rollen der Brandung am Meeresstrande unterbrach die drückende Mittagsstille. Nirgends konnten wir ein Zeichen von dem traurigen Zuge entdecken; wir hatten die Spur verloren. –

Nsoami, das junge Weib, ist kurze Zeit darauf gestorben. Ihr Mann, der stattliche Ngo, trat in unsre Dienste, wurde durch seine Tüchtigkeit sehr bald der vielbeneidete Dolmetscher und Aufseher von Chinchoxo und ist bis zum letzten Tage unsres Verweilens in Loango der Expedition ein ebenso thätiger wie treuer Diener gewesen.




Reifeis und seine Wirkungen.


Wie durch die Zeitungen bekannt, waren in diesem Jahre wieder eine ganze Anzahl südrussischer Telegraphenlinien wochenlang für den Depeschenverkehr unbrauchbar. Ursache dieser für das Land höchst lästigen Störung war das sogenannte Reifeis, eine meteorologische Erscheinung, die meines Wissens im übrigen Europa fast gar nicht, in den südrussischen Steppengegenden auch nicht häufig auftritt, aber durch ihr Eintreten meistens Verwüstungen anrichtet, die noch lange nachher empfunden werden. Da sich das Reifeis in diesem Jahre in einer Entfaltung seiner Eigenthümlichkeit gezeigt hat, wie sie sicher höchst selten beobachtet wird, so will ich in Nachfolgendem versuchen, davon ein möglichst anschauliches Bild zu entwerfen.

Fig. 1. Reifeis auf dem Telegraphendrahte,
erstes Stadium (circa 1/11/3 natürlicher Größe.)

Das Reifeis ist, wie ich von vornherein bemerken will, nicht mit dem Rauhreife (Rohrreife) zu verwechseln, diesem zarten, blätterreichen Eiskrystallgebilde, das uns an manchen Wintermorgen die kahlen, blattlosen Bäume in einen glitzernden Zauberwald verwandelt, um dann nach kurzer Dauer ebenso schnell zu verschwinden, wie es erschienen ist. Das Reifeis ist vielmehr der nächste Verwandte des auch in Deutschland genugsam bekannten Glatteises, unliebsamen Angedenkens, und verdient als eine weitere Ausbildungsform desselben angesehen zu werden.

Fig. 2. Reifeis auf dem Telegraphendrahte,
zweites Stadium (circa 1/21/3 natürlicher Größe). Bildung bei windstillem Wetter.

Bedingung für das Erscheinen desselben ist plötzliches Eintreten einer nassen, regnigen Witterung nach vorangegangenem, langandauerndem und strengem Froste. Die oberen Schichten der Erde sind dann oft recht tief bedeutend abgekühlt und entziehen nun den die Erdoberfläche berührenden Luftschichten so stark die Wärme, daß diese dann noch auf eine Entfernung von zwanzig bis vierzig Fuß vom Erdboden eisig kalt erscheinen. Gegenstände, welche sich in diesen Luftschichten befinden, wie Bäume, Häuser etc., behalten dann gleichfalls diese mehrere Grad unter Null befindliche Temperatur. Fällt nun aus höheren, warmen Luftschichten Regen, so gefriert er nicht in der Luft, weil die kalte Luftschicht, die er zu passiren hat, keine sehr dicke ist, sobald er aber den kalten Erdboden oder Bäume und Häuser berührt, gefriert er und bildet auf diesen eine Eisschicht. Das ist der Vorgang beim Glatteise und auch beim Reifeise.

Fig. 3. Reifeis auf dem Telegraphendrahte,
drittes Stadium (circa 1/21/4 natürlicher Größe). Bildung bei windigem Wetter.

Letzteres entsteht nun, wenn oben genannte Bedingungen lange, wie es vorkommt, Tage lang vorhanden sind. Dann wird die aus dem Regen der obern Regionen sich bildende Eisschicht immer dicker und mächtiger, und bald liegen Bäume und meilenlange Telegraphenlinien von der ungeheuren Eislast zerknickt und zerrissen am Boden.


Fig. 4. Reifeis auf dem Telegraphendrahte,
viertes Stadium (circa 1/21/3 natürlicher Größe). Der Draht, von der Sonne erwärmt, schmilzt allmählich durch das Eis, welches zuletzt abfällt.

Im December 1876 wurden die südrussischen Steppen vom Reifeise heimgesucht, und haben namentlich ganze Kreise des Chersonschen und Taurischen Gouvernements davon erheblich gelitten. Am 17. und 18. December hatte ich eine Reise von Nikolajew über Cherson nach Berislaw zu machen. Mein Weg lief fortwährend zwischen den Leitungen des indo-europäischen und zwischen denen des russischen Staatstelegraphen hin, und ich hatte so Gelegenheit, die verschiedenen, höchst merkwürdigen Formen des Reifeises an Telegraphenleitungen genauestens zu beobachten.

Die erste Form desselben ist die einer dicken, walzenförmigen Eisrolle, welche sich aber nicht, wie man annehmen könnte, concentrisch um oder hängend an dem Telegraphendrahte bildet, sondern ganz und gar über demselben liegt, so daß dieser die Peripherie der Eisrolle, deren Dicke zwischen ein halb bis drei Zoll variirt, fast berührt, wie uns Figur 1 im Durchschnitte zeigt.

Die zweite Form bildet sich aus der ersten dadurch, daß die Kälte in den unteren Luftschichten etwas abnimmt, aber doch noch unter dem Gefrierpunkte liegt. Der Regen gefriert dann nicht sofort bei Berührung der schon gebildeten Eiswulst, sondern hat Zeit, dieselbe zu umfließen und theilweise noch von ihr herabzuträufeln, [181] wobei er Eiszäpfchen bildet, die von seltener Regelmäßigkeit sind und dem ganzen Gebilde auffallende Aehnlichkeit mit einem Kamme verleihen, wie es Figur 2 angiebt.

Die dritte Form, oder besser gesagt, das dritte Stadium in der Bildung des Reifeises, welches dasselbe jedoch nur höchst selten erreicht, weil die Bedingungen zu seiner Ausbildung nicht häufig vorhanden sind, entsteht folgendermaßen:

Nachdem die Kammform zu ihrer völligen Ausbildung gelangt ist, erhellt sich manchmal der Himmel, und die Sonne beginnt zu scheinen. Während ihre Strahlen der durchsichtigen Eiswulst über und dem Eiszapfenkamme unter dem Telegraphendrahte nichts oder nur wenig anhaben können, bescheint sie durch das glasklare Eis den dunkeln Telegraphendraht und erwärmt ihn derartig, daß seine feste Verbindung mit dem Eise aufgehoben wird. Die Folge davon ist, daß sich das ganze Eisgebilde in der frühern Lage nicht mehr halten kann, denn die Eiswulst ist um ein Bedeutendes schwerer, als der Kamm unter ihr; das ganze Reifeis dreht sich auf dem Drahte um hundertachtzig Grad; es kippt um; die Wulst hängt unten, und der Eiszapfenkamm steht gerade nach oben.

Tritt jetzt wieder Regen ein, so entsteht auf der Unterseite der Eiswulst, also entgegengesetzt dem ersten Eiszapfenkamme, ein zweiter Kamm, wodurch das Reifeis in seiner Form ganz auffallend dem hintern Theile eines Fischgerippes ähnlich wird. Diese Aehnlichkeit wird noch vermehrt durch eine etwas geneigte Stellung der Eiszapfenreihen, die dann entsteht, wenn während ihrer Bildung ein Wind in der Richtung der Telegraphenleitung wehte. Ich habe letzteres in Figur 3 angedeutet. Wie es mir erschienen ist, kann sich das eben beschriebene dritte Stadium des Reifeises auch dann bilden, wenn Sonnenschein vom obern Kamme und der Eiswulst etwas Eis schmilzt, das dann unterhalb letzterer, im Herabträufeln gefrierend, die zweite Zapfenreihe bildet.

Eine weitere Formenausbildung findet nicht statt, und das Reifeis hängt nun so lange am Drahte, bis Sonnenschein bei nicht zu kalter Witterung eintritt. Dieser erwärmt den dunkeln Draht im durchsichtigen Eise derart, daß letzteres um ihn herum etwas zu schmelzen und sich vermöge seiner großen Schwere so lange zu senken beginnt, bis der Draht in den äußersten Spitzen des obern Eiszapfenkammes liegt, worauf das Reifeis endlich abfällt.

Die Wirkungen des Reifeises auf die Telegrafenleitungen des indo-europäischen und des russischen Staatstelegraphen waren nach der Qualität dieser beiden Linien sehr verschieden. Erstere hat (bis vierzig Werst hinter der Stadt Cherson) eiserne Pfosten. Diese sowohl wie auch die beiden starken Leitungsdrähte hielten der ungeheuren Last des Reifeises wacker Stand, wenn sich auch die Drähte stark gedehnt hatten. Nur bei Winkeln der Linie hatten die gut befestigten Eckpfosten nicht immer dem gewaltigen Zuge nach einer Seite Widerstand leisten können. Sie hatten nachgeben müssen, und mit ihnen war dann eine ganze Reihe ihrer Nachbarpfosten schiefgezogen.

Der dem indischen Telegraphen parallel laufende russische Staatstelegraph mit seinen Eichenpfosten und den vier Leitungen sah dagegen trübselig aus. Die immer etwas krummen Eichenpfosten hatten der Eislast der vier Drähte nicht überall widerstehen können. Sie lagen streckenweise entweder umgerissen oder in der Mitte zerbrochen am Boden, und wo sie stehen geblieben waren, lagen die im Vergleiche mit den indischen Leitungen schwachen Leitungsdrähte wie Spinngewebe zerrissen auf der Steppe oder waren bis zum Erdboden herab durch die daran haftende Eislast ausgedehnt.

Die Pfosten beider Telegraphenlinien waren auf der Windseite mit einer mehrere Zoll dicken Eiskruste bedeckt, die vom Boden anfangend bis zu den Isolatoren hinauflief und sich hier mit dem Reifeise der Drähte verband, wodurch namentlich bei etwas weicherer Witterung an jedem Pfosten eine völlige Erdverbindung, das heißt Aufhebung der Isolation der Drähte entstand.

Bei dieser Erscheinung machte sich nun wieder ein neuer, gewiß noch wenig bekannter Vortheil der eisernen Pfosten gegenüber den hölzernen bemerkbar. Während nämlich letztere ihre einseitige Eiskruste wochenlang behielten, stießen jene das Eis bei den ersten sich zeigenden Strahlen der Sonne ab; sie erfuhren nämlich bei ihrer schwarzen Farbe und der sich im Eisen leicht und rasch vertheilenden Wärme durch die Sonnenstrahlen eine solche Temperaturerhöhung, daß sich das der Stange anliegende Eis ausdehnte und die ganze Eiskruste sich krumm bog, von dem Pfosten ablöste und abfiel. Die schwarzen Eisenpfosten sind also für diese Gegend ganz besonders den Holzpfosten vorzuziehen.

Es bleibt mir nun noch übrig, einige Worte über die verwüstenden Wirkungen des Reifeises auf die Vegetation zu sagen, welche in unsern baumarmen Steppengegenden sehr schwer empfunden werden, weil hier das Erziehen eines Baumes mit ganz besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Da sich um jeden auch nur einige Linien im Durchmesser habenden Baumzweig eine bis zwei und drei Zoll im Durchmesser haltende Eisschicht bildete, so wurden z. B. sämmtliche Bäume (weiße Akazien, Robinia pseudacacia) der Stadt Cherson des größten Theiles ihrer Aeste beraubt, schwächere Stämme aber erbarmungslos niedergebrochen. In den Ostgärten, die das Ansehen eines ungeheuerlichen gläsernen Waldes annahmen, blieb nur derjenige Theil der Bäume verschont, deren Aeste, mehr in senkrechter Richtung gewachsen, die ihnen anhaftende Last besser balanciren konnten. So überstanden namentlich Birnbäume und Süßkirschen das Unglück verhältnißmäßig gut, während die sich mehr horizontal ausbreitenden Aepfel- und Aprikosenbäume größtenteils zusammenbrachen.
Bernhard Bajohr.




Der Dichter der „Deborah“.
Ein Erinnerungsblatt.


Am letzten Fasching-Montage wogte in den Räumen des Wiener Künstlerhauses eine fröhliche, elegante Menge. Die Genossenschaft feierte ihr Carnevalsfest unter dem Titel einer Rundreise durch Italien und den Orient. Wunderbare Ansichten von Venedig, Neapel, Constantinopel und Kairo waren mit ebenso viel Geschick als guter Laune hergestellt. In einem Zimmer sah man die neuesten Ausgrabungen Schliemann’s in Mykenä – Basreliefs von überraschendem Realismus der Durchführung. Ein anderes Gemach war in den Palazzo Pitti und die Uffizien zugleich verwandelt. Hier hingen an den Wänden die unglaublichsten Kunstwerke, Schöpfungen des übermüthigen Humors, bei deren Anblick auch der trübste Hypochonder in ein helles Gelächter ausbrechen mußte. Ich stand gerade vor einem „Titian“ und bewunderte die gelungenen Caricaturköpfe Schilcher’s, Felix’s und Streit'’s, die hier das „Vergnügungscomité von 1577“ vorstellten. Da legte sich eine Hand auf meine Schulter, und eine wohlbekannte Stimme fragt:

„Nun, wie geht es Ihnen?“

Ich wende mich um und sehe Mosenthal hinter mir stehen, mit seinen rothen Backen, seinem rothen Barte, seiner gedrungen-behäbigen Gestalt, ein Bild der Gesundheit und Frische, der zufriedensten Weltanschauung. Als ich, wie gewöhnlich, über all’ das Leiden klagte, tröstete er mich und meinte:

„Ich habe allerdings leicht reden; ich bin immer gesund.“

Es waren die letzten Worte, die ich aus seinem Munde vernahm. Das Gewühl trennte uns, und wir fanden uns an jenem Abende nicht mehr zusammen. Den folgenden Samstagmorgen war er todt. Der Mann, der nie krank war und mit fünfundfünfzig Jahren fast wie ein Jüngling aussah, litt an einem Herzfehler, von dem er selbst keine Ahnung hatte, und plötzlich, nach kaum zweitägigem Unwohlsein, raffte ihn der Tod hinweg. Er starb in den Armen eines Dieners, denn seine Frau war ihm in jugendlichen Alter vorangegangen, und seitdem lebte er einsam. Er besaß die gleichmäßige Stimmung und die ruhigen Gefühle, die solches Alleinsein leichter ertragen lassen. Zufrieden, daß ihn Abends ein Kreis von Freunden oder eine bekannte Familie ansprachen, ohne jene tiefe Innerlichkeit, der ein eigener Herd unumgänglich nothwendig ist, lebte er scheinbar ganz vergnügt [182] und war als angenehmer Gesellschafter überall gern gesehen. Erst aus seinem Testamente hat man erfahren, daß es in seinem Herzen eine Stelle gab, wo ein wehmüthiges Erinnern an begrabenes Glück fortlebte. Es war jedenfalls nicht mächtig genug, um einen Schleier über sein Leben zu breiten, und sein volles, blühendes Gesicht trug nicht die leiseste Spur stillen Seelenleidens.

Viel Schmerz und Aerger hat ihm die Wiener Kritik gemacht. Er sprach sich gegen mich oft und bitter darüber aus, daß es hier Sitte geworden, den Verfasser eines Stückes wie einen Verbrecher zu behandeln und ein unendlich verschiedenes Maß anzulegen, je nachdem ein dramatisches Werk auf der Hofbühne oder in der Vorstadt zur Aufführung kommt. An den Poeten, deren Dramen im Burgtheater gegeben werden, läßt die Kritik gewöhnlich kein gutes Haar; unbarmherzig, unerbittlich zerstampft sie Stück und Autor, damit das Publicum lache. Für die Vorstadtbühnen gilt leichteres Gewicht, und so unbedeutend die Stücke oft sind, welche dort in Scene gehen, die Verfasser werden nicht durch die Spieße gejagt.[2]

Für das Burgtheater zu schreiben, dazu gehört eine gewisse Todesverachtung oder mindestens vollendete Gleichgültigkeit gegen die Kritik. Wilbrandt und Weilen wissen davon zu erzählen, wie übel ihnen nach jedem neuen Stücke mitgespielt wird, selbst dann, wenn das Werk zwanzig Aufführungen erlebt. Mosenthal ward sogar in der Regel etwas mehr geschont, als die beiden eben genannten Dichter, denn er wußte mit den größeren Zeitungen der Residenz Fühlung zu behalten. Trotzdem klagte er, und im Wesentlichen auch mit Recht. Hätten wir heute einen Goethe, einen Schiller, die unsere Bühnen mit Neuigkeiten versorgten, so möchte die unerbittliche Strenge gegen die Kleinen am Platze sein, obwohl schließlich jeder Dichter sagen darf: Laßt mich leben! Da aber die großen Dramatiker todt sind und das Theater Novitäten braucht, wie der Hungrige ein Stück Brod, so scheint es mir ungerecht und unpassend, die lebenden Theaterdichter literarisch hinzurichten. Auf diesem Felde nützt die Abschreckungstheorie Nichts, und in Ermangelung von Genies sollte man die Talente fördern.

Auf freundliche Anerkennung hätte somit auch Mosenthal Anspruch gehabt. Daß er kein Poet ersten Ranges war, wußten seine wärmsten Freunde. Man darf nur seine gesammelten Gedichte lesen, um sich zu überzeugen, wie spärlich die Goldkörner in denselben zu finden sind. Wir kennen kein einziges lyrisches Gedicht von ihm, das ihn zu überleben verdiente. Die eigentliche dichterische Ader ist daher auch in seinen Dramen schwach, obwohl er auf glatten Vers und schöne Sprache große Stücke hielt und sich in blumen- und bilderreichem Pathos nicht wenig gefiel. Aber er kannte das Theater; er besaß eine wahre Erfindungsgabe für dramatische Verwandlungen, richtiges Verständniß für Bühnenwirkung. Seine Stücke, ohne für die Unsterblichkeit geschrieben zu sein, waren durch Jahre eine willkommene Stütze des deutschen Repertoires, und es befindet sich fast kein einziges darunter, dem nicht einzelne Schönheiten nachzurühmen wären. So behauptet er in der Literatur immerhin einen ehrenvollen Platz.

Seinen ersten und größten Erfolg errang Mosenthal, wie aller Welt bekannt ist, mit der „Deborah“. Das tiefgekränkte Judenmädchen wanderte durch ganz Europa, ward in alle Sprachen übersetzt und zog nach Amerika hinüber. Man sagte nicht mit Unrecht, das Stück käme um ein halbes Jahrhundert zu spät, denn wohin war die Bedrückung der Juden geschwunden, als Deborah zum ersten Mal dem zusammenbrechenden Joseph zudonnerte: „Elender Staub, Du reizest mich nicht mehr!“? Ja, als Mosenthal’s Drama, nachdem es die Runde über alle Bühnen Deutschlands und des Auslandes gemacht, im Sommer 1864 endlich auch im Burgtheater zur Aufführung kam, erhoben sich bereits an der Wiener Ringstraße, dicht aneinander gereiht, die Paläste der jüdischen Börsenritter. Aber das Stück behandelt eine sociale Frage, die noch heute fortzittert; es greift in das Leben des Volkes hinein und wird von dem schlichtesten Manne auf der letzten Galerie verstanden. Mosenthal hätte wohl am besten gethan, wenn er das Volksstück als seine eigentliche Aufgabe betrachtet hätte. Der ungeheuere Erfolg der „Deborah“ wies ihn darauf hin, und das Glück blieb ihm auch bei seinem zweiten und dritten Versuche in dieser Richtung treu, dem „Sonnwendhof“ und dem „Schulz von Altenbüren“. Im „Sonnwendhof“ herrscht echtes Volksleben; im „Schulzen“ hat Mosenthal etwas fertig gebracht, was ihm sonst nie gelingen wollte: Einen Mann von schroffem Charakter. Sonst sind gerade die Männer die schwache Seite seiner Dramen; sie leiden alle an einem verschwommenen, weichlichen Wesen. Es ist auch sicher kein Zufall, daß die meisten Stücke Mosenthal’s einen weiblichen Namen als Titel tragen. Im Mittelpunkte der Handlung steht bei ihm gewöhnlich eine Frau; die weibliche Natur war ihm vertrauter als die männliche.

Nebst den Volksstücken schuf Mosenthal seine besten Dramen dann, wenn er sich literarische Helden wählte, wie im „Deutschen Dichterleben“ und den „Deutschen Komödianten“. Im ersteren Stücke ist die Klippe, welche das Verhältniß Bürger’s zu Molly bietet, mit großem Geschicke umschifft, und der für die Bühne geradezu bedenkliche Stoff so gewandt behandelt, daß der Zuseher bei aller Theilnahme für die unglückliche Dora ganz zufrieden ist, als sie am Schlusse stirbt und die Hände der beiden Liebenden ineinander legt. In den „Deutschen Komödianten“, dem einzigen Stücke, zu dem Mosenthal ernsthafte Studien machte, liegt ein Stück Culturgeschichte. Auf dem Theater hatte es nur einen schwachen Erfolg, wenigstens hier in Wien, wo Dramen mit dürftiger Handlung, auch wenn sie sonst noch so fein ausgeführt sind, selten mehr als einen Ehrenerfolg erringen.

Dem regen Ehrgeize Mosenthal’s genügte es nicht, im Volksstück und im bürgerlichen Trauerspiele Anerkennung zu finden; er geizte nach dem Lorbeer des Tragödiendichters. Schiller schwebte ihm als Ideal vor, und schon seine Jugendarbeit „Cäcilia von Albano“ war getreu nach dem Muster des Lieblingsdichters der Nation zugeschnitten. Aber dieser erste Versuch hätte Mosenthal belehren sollen, daß seine Kraft für die Tragödie nicht ausreiche, daß hierfür nicht nur ein schönes Talent, sondern eine gewaltige Natur mit starken Leidenschaften erforderlich ist. Trotzdem beharrte unser Dichter durch viele Jahre auf dem hochtragischen Pfade. „Düveke“, „Pietra“, „Isabella Orsini“, „Maryna“ und zuletzt noch „Parisina“ gehören alle derselben Gattung an. Die einzige „Pietra“ behauptete sich länger auf dem Repertoire. Sie ist unter den Tragödien Mosenthal’s die beste und kräftigste, wenn auch die Liebe der Kinder zweier feindlicher Geschlechter, nicht zum Vortheile des Nacheiferers, stark an „Romeo und Julie“ erinnert. In allen diesen romantischen Familiendramen herrscht das opernhafte Element vor. Sonnenuntergang, Abendroth, Glockengeläute, musikalische Begleitung einzelner Scenen wiederholen sich fast in jedem. Mosenthal mochte diese Zuthaten nicht entbehren; sie waren ihm Bedürfniß. Er wußte als erfahrener Bühnentechniker, daß solche Dinge niemals ohne Wirkung auf das Publicum bleiben. Auch lagen sie ihm nahe, weil er viele Operntexte[WS 1] geschrieben, z. B. zu Kretschmer’s „Folkungern“, zu Goldmark’s „Königin von Saba“, zu Doppler’s „Wanda“, zu Käsmayer’s „Landhaus“, zu Brüll’s „Goldenem Kreuz“.

Auch im Lustspiel und im „Sittenbild“ nach neuestem Muster versuchte sich Mosenthal, dessen rührige Vielseitigkeit in demselben Grade zunahm, wie die dichterische Zeugungsfähigkeit mit den Jahren schwächer ward. Die „Sirene“ hat den großen Fehler, daß sie nicht lustig ist, und die Figur eines faulen, verkommenen Journalisten, welche darin vorkommt und von unverkennbarer Rachsucht gegen die Wiener Kritik eingegeben war, reizte diese bis auf das Aeußerste. Das Stück war ein Gegenbild zu Bauernfeld’s „Aus der Gesellschaft“. Hier, wie in Mosenthal’s „Sirene“, ist es das arme, herumgestoßene Gesellschaftsfräulein, die höhere Gouvernante, die einen liebenswürdigen und vornehmen Mann bezaubert und am Schlusse von ihm heimgeführt [183] wird. Gegen „Madeleine Morel“, mit welchem Rührstück Mosenthal die Bahn einschlug, die Dumas fils, Feuillet und andere französische Dichter mit so großem Erfolge wandeln, erhob man den Vorwurf der Unsittlichkeit. Die Heldin ist ein gefallenes Mädchen, in welches sich der Sohn eines alten Geschlechts verliebt. Aller Widerstand der Familie scheitert an dem festen Willen des jungen Mannes, an der hingebenden Demuth des Mädchens. Zuletzt segnet die Mutter den Bund. Das Recept, welches Alfred de Musset in dem Verse gegeben: „Unschuld, durch Liebe neu geboren“ – haben wir hier dramatisirt. Das Stück ist gewagt und ruht auf schwachen Grundlagen, aber unsittlich ist es nach meiner Meinung nicht.

In seiner langen Laufbahn als dramatischer Dichter hat Mosenthal nur eine einzige vollständige Niederlage erlebt. Das war vor einigen Jahren, als er den „Konrad Vorlauf“ im Stadttheater verwegen aufführen ließ. Für den eisernen Bürgermeister Wiens, der in wilder Fehde die Fahne des Rechts hochhielt und ungebeugten Muthes seinen mitverurtheilten Rathsherren voraus zum Blutgerüst schritt, fehlte Mosenthal der verwandte Zug. In allen politischen Dingen war er harmlos wie ein Kind. Obwohl in Kassel geboren, verrieth er doch kein deutsches Nationalgefühl, und ob er über irgend eine wichtige Frage des Tages eine eigene Meinung hatte, das blieb selbst seinen Freunden ein Geheimniß. Kein Wunder, daß die Potentaten den begabten Mann, der dabei so ungefährlich war, mit ihren Orden auszeichneten. Nicht weniger als zehn schmückten seine Brust, und er freute sich darüber gerade so, wie die meisten Poeten, die Orden sammeln, wie andere Leute Käfer und Mineralien. Trotz dieser kleinen Schwäche war Mosenthal ein Ehrenmann, und auf seinem Namen ruht kein Makel.

In Pötzleinsdorf draußen ließ er sich vor zwei Jahren ein kleines Landhaus erbauen, an dem er eine herzliche Freude hatte. Er sollte es nur einen einzigen Sommer genießen. Wenn jetzt die ersten Blätter und Blüthen in seinem Garten treiben, wird es manchmal den Nachbarn scheinen, als sähen sie einen Schatten unter den Bäumen hinschweben, und sie werden höchst prosaisch sagen: „Schade, daß er so früh gestorben, der arme Herr von Mosenthal!“ Seine Grabschrift könnte lauten: „Hier ruht ein Dichter von den Schlägen der Kritik aus.“

Wien.
Karl von Thaler.




Parlamentarische Photographien aus Versailles.
Von Julius Walter.
3. Thiers.


Der kleine Thiers ist nicht wenig stolz darauf, daß er nicht der Kleinste in Versailles ist, aber Floquet ist bucklig und Louis Blanc mit unbewaffnetem Auge kaum zu sehen. Thiers sieht wie eine Nippfigur aus; nicht etwa zierlich wie eine aus Sèvres oder Vieux Saxe, vielmehr possierlich wie die aus Guttapercha. Der komische Eindruck, den Thiers auf den ersten Blick macht, wird erhöht durch seine Toilette und durch sein Geleit. Thiers trägt einen bis an die Fersen reichenden schwarzen Rock, dicht unter dem Kinne geschlossen, dann kommen zwei riesige Vatermörder, eine scharfausschauende Nase mit einer voluminösen Hornbrille darauf, der sofort ein hoher breitkrämpiger Cylinder von talmudisch-breitkrämpiger Façon folgt, wie ihn die Rabbiner tragen. Dicht hinter ihm her wie sein Schatten – sein treuer Rustan – ein riesiger Bengel, weit über sechs Fuß hoch, wie er in Paris kostenfrei kein zweites Mal zu schauen ist, gleichfalls vom Kinne bis zu den Absätzen in schwarzes Tuch gehüllt. Wenn der Bursche sich die Füße durchnäßt, braucht er vierzehn Tage, bis er den Schnupfen bekommt, meinte einmal der Charivari, indem er von seiner Länge sprach. So wandeln Beide in einem gewissen behäbigen Hundetrabe alle Tage, an denen es keine Kammer giebt, zwischen zwei und drei Uhr durch die Champs Elysées, von Jedermann gekannt, von den Meisten gegrüßt.

Thiers steht im Sommer um sechs Uhr, im Winter um sieben Uhr auf. Seine Toilette ist rasch vollendet. Um halb acht Uhr nimmt er seine Tasse Chocolade mit einem gerösteten Brödchen. Dann folgt die Arbeit, seine Studien; der Secretär bringt Briefe und erhält die Antwort; Thiers liest alle Journale, auch die Witzblätter, stets den Rothstift in der Hand, und alle versieht er mit Randglossen, Frage- und Ausrufungszeichen; von fremden Journalen finden sich nur die „Times“, die „Independance belge“ und der „Nord“ in seinem Cabinet. Um elf Uhr erscheinen hier und da die Intimen seines Hauses, wenn sie ihm just eine Mittheilung zu machen haben: Jules Simon, Casimir Périer; um zwölf Uhr ist das Frühstück servirt. Thiers ist kein Gourmand und hat sich auf die Künste der Küche niemals verstanden, was die hohe Meinung, die Talleyrand von ihm hatte, etwas einschränkte und ihn zu dem Ausspruche veranlaßte: „Herr Thiers wird nie ein großer Diplomat werden.“

Sobald Thiers sein Hammelcotelette verzehrt und sein weiches Ei geschlürft, eine kleine Flasche Bordeaux geleert und seine Demi-Tasse genommen hat, empfängt er Fremde von Bedeutung, Mitglieder des diplomatischen Corps, höhere Beamte aus der Provinz, die unter seiner Präsidentschaft gedient, u. A.

Dann folgt der Spaziergang in die Elysées oder die Fahrt nach Versailles; um sieben Uhr wird das Diner servirt; einmal wöchentlich von acht bis zehn Uhr empfängt Monsieur Thiers: Gelehrte, hohe Beamte, Generäle, Mitglieder des diplomatischen Corps, am häufigsten den russischen Gesandten und den Englands. Auch Fürst Hohenlohe, die Herzoge von Nemours, von Aumale erscheinen nicht selten; ebenso Rothschild, der sich gern an die Orleans klettet; Madame Thiers und ihre Schwester machen die Honneurs.

Thiers hat für Jeden ein freundliches Wort, eine Erinnerung; er weiß Alles; er hat Alles gelesen und Nichts vergessen; sein Gedächtniß ist staunenerregend und für Alles gleichmäßig und treu; er kennt ebenso genau die Staatsschulden wie die Kammern und die Verfassungen aller Staaten, ihre Bewaffnung und ihre Festungen, wie den Stand der Course bis auf Jahre zurück; ebenso die neuesten Bonmots, wenn sie ihren Stachel gegen den Präsidenten, gegen Gambetta oder Rouher kehren. Wenn er am Kamine steht, die Hände am Rücken, und ein Thema angeschlagen wird, das sein Interesse fesselt oder ihn gar lockt, seine Meinung abzugeben (und das ist leicht geschehen, denn Herr Thiers weiß, wie er durch die Rede wirkt; er hört sich gern reden, und Nichts schien ihm gefährlicher und ward ihm schmerzlicher, als daß ihm die Kammer als Präsident die Tribüne wehrte) und er in Bewegung kommt, dann scheint seine Gestalt zu wachsen. Seine schön aufstrebende Stirn wird höher; seine Augen leuchten aus den Brillen hervor; er ist verjüngt; seine kleinen weißen Hände sind in steter Bewegung, und wenn er einem Gedanken, einem Worte vollen Nachdruck geben will, stemmt er wiederholt den Zeigefinger gegen die Stirn. Seine Stimme ist klein und wird im Affect sehr leicht kreischend, aber sein Vortrag ist leicht, gefällig, einschmeichelnd, lebhaft und viel passender für den Salon, als für die Tribüne. Aber auch dort schlägt er nur den leichten Conversationston an, und seine größten wichtigsten Reden klingen wie Plaudereien.

Louis Adolphe Thiers ist geboren am 26. germinal, an V, das ist um 15. April 1797, in Marseille; in Aix, wo er Jurisprudenz studirte, wurde er einunddreißig Jahre später Advocat. In Paris mit großen Plänen und kleinem Beutel angekommen, wohnte er in der Dachkammer eines Sechsgestocks mit Mignet, welcher bereits die Advocatur zu Gunsten der Literatur an den Nagel gehängt hatte und mit dem ihn die innigste Freundschaft durch sein ganzes Lehen vereinte. Durch Empfehlung seines Landsmannes Manuel, der durch seine Ausstoßung aus der Kammer soeben eine Macht geworden, erlangte er Eintritt in den „Constitutionnel“. „Der „Constitutionnel“ lief damals dem „Journal des Debats“ den Rang ab und vereinigte unter dem energischen Etienne und dem schon bewunderten Béranger alle Mißvergnügten, die Republikaner von 1789 und 1793 und die Bonapartisten, es war das liberalste politische Journal; in seinem literarischen Theil vertheidigte es aber die Classiker gegen die Romantiker, und Thiers’ Artikel machten Aufsehen, stellten ihn in die vordersten [184] Reihen der ersten Journalisten, führten dem „Constitutionnel“ in wenigen Monaten über sechstausend neue Abonnenten zu, und der bis vor Kurzem noch unbekannte Mann wurde jetzt von den Parteiführern, von Casimir Périer, Lafitte, Baron Luis aufgesucht, in deren Salons er sich ebenso redegewandt bewährte, wie schreibgewandt in den Spalten seines Journals; dabei stürzte er sich über Hals und Kopf in die Studien für ein großes Geschichtswerk, dessen zwei erste Bände 1832 erschienen.

Wirkungen in Fritz Reuter-Vorlesungen.
Nr. 1. „Unkel Bräsig“ schlägt durch.


Er stöbert alle öffentlichen und die reichen Privatbibliotheken durch, studirt Pläne, Schlachtberichte, erbettelt, holt und erzwingt sich Mittheilungen von Männern, die eine Rolle gespielt, von den alten Diplomaten der Revolution, sowie von den Lieferanten. Um Cambon's Finanzsystem zu verstehen, nimmt er Course bei Lafitte und Casimir Périer; die Generale Foy und Jomini leiten seine Kriegsstudien; in Vincennes treibt er artilleristische Studien und hat stets einen Stab von Officieren um sich, kaum geringer als der, welcher ihn dreiundvierzig Jahre später als Präsident der Republik in Versailles umgab. Der Erfolg der ersten zwei Bände der Geschichte war ein außerordentlicher. Aber mitten im Triumphe beginnt Thiers eine sehr heftige Opposition gegen die Restauration, daß selbst dem „Constitutionnel“ bange wird, und so gründet er mit Mignet und Armand Carrel den „National“, und nun beginnt der Kampf gegen die Restauration bis an’s Messer.


Nr. 2. Auch der Herr Professor und seine Pensionäre werden heiter.


Das Blatt machte ungeheures Aufsehen; schon Thiers' erste Artikel, glänzende Variationen über das Grundthema: „Le roi règne et ne gouverne pas“, welches bald zum Schlagwort für die constitutionelle Monarchie, „diese für Frankreich einzig mögliche Staatsform“, wurde, bildeten den ausschließlichen Gesprächsstoff im Salon wie in der Mansarde und machten selbst die Diplomatie stutzig. Louis Philipp, den Metternich den „gescheitesten Mann in Europa“ nannte, hatte längst Thiers zu sich herangezogen, und eingeführt durch Lafitte, gehörte er bald zu den fleißigsten und intimsten Gästen seines Salons im Palais Royal, der, wie Lamartine erzählt, „das Asyl der liberalen Meinungen, die Zuflucht der persönlichen Unzufriedenheit und der Herd des geheimen Murrens gegen die Restauration war.“

Die Ordonnancen erscheinen. Der Protest der oppositionellen Deputirten, von Guizot, der der Journalisten, von Thiers redigirt, folgt ihnen auf dem Fuße. Aber jetzt wird es ernst. Von Worten kommt es zu Thaten; die Sturmglocke ertönt; die Feder wird mit dem Schwert vertauscht; die Tricolore flaggt in den Straßen von Paris; die Trommeln wirbeln, aber Thiers ist ein kluger Mann: noch ist Karl der Zehnte nicht gefallen, noch Louis Philipp nicht am Thron; sicher ist nur der kühle Schatten von Montmorency, unter den er sich zurückzieht.


Nr. 3. Durch Thränen lachend.


Aber bald ist seine Furcht gebannt vor der Furcht, daß ihm Andere bei der Inthronisirung der Orleans zuvorkommen könnten; er eilt nach Paris in die Versammlung bei Lafitte, und kaum wird der Name des Herzogs von Orleans ausgesprochen, so zieht er eine schon fertige Proclamation für Louis Philipp aus der Tasche, bearbeitet die Deputirten, läßt sich von Sebastiani, Gerard und Lafitte eine Vollmacht geben, eilt noch in der Nacht hinaus nach Neuilly, wo der Prinz seine Sommervilleggiatur hielt, bis in die Gemächer des Herzogs, der, unvorbereitet wie er war – Louis Philipp war über alle Vorgänge in Paris durch Talleyrand und Lafitte auf das Genaueste unterrichtet – [185] erscheint und fragt, womit er dem Monsieur Thiers dienen kann. Der Herzog von Orleans wird „König der Franzosen“ und Thiers Secretär im Finanzministerium.

Nr. 4. Sowohl das Büffet wird angesteckt –

Zu dieser Zeit hätte Thiers die Lesefrüchte seiner Studien zu seinem großen Geschichtswerk noch in den Gliedern. Man will sogar bemerkt haben, daß er die Gesten des ersten Consuls imitirte, und der kleine Thiers wollte nichts weniger als die Alpen übersteigen, die Rheingrenzen zurückerobern, Belgien, Italien und Polen befreien. Aber Herr Thiers ist ein Mann, der stets mit sich handeln ließ, und es genügt ihm, daß Frankreich weiß, daß Herr Thiers marschiren will.

Unter dem Ministerium Lafitte spielt Thiers eine größere Rolle freilich nicht in der Kammer, die gegen seine Zifferngruppirung, welche mehr von seiner mythenbildenden Phantasie als von seinem Wissen zeigt, eine große Antipathie hatte; „Er weiß Alles auf der Tribüne“ – sagt ein geistreicher Franzose von dem Parlamentsredner Thiers – „besonders das, was er nicht weiß,“ aber erst nach dem Tode Casimir Périer's, der ihm hauptsächlich seine militärischen Gelüste austrieb, seine kriegerischen Attitüden abgewöhnte und ihn zum Verzicht aller glorreichen Feldzüge selbst von der Tribüne herab zwang, trat Thiers mit dem Ministertitel in’s Cabinet (am 11. October 1832), dessen Seele er stets war, so lange er darin saß, dessen verbissenster und gefährlichster Opponent er ist, sobald er draußen steht.


Nr. 5. – wie der Ulan und seine Köchin.

Das Ende der Juli-Monarchie naht; in den ersten Reihen der Opposition kämpft Thiers mit der Leidenschaftlichkeit, dem Feuer und demselben Vernichtungsdrange, wie in den letzten Tagen der Restauration, ja in seiner berühmten Rede gegen Guizot’s Politik in der Sonderbund-Angelegenheit ruft er, um sich bei den nahenden neuen Machthabern zu empfehlen, mit beispielloser Unverfrorenheit: „Ich gehöre zur europäischen Revolutionspartei und habe ihre Sache niemals verrathen.“

In der Legislative von 1848 saß Thiers auf der Rechten, aber erst nachdem nacheinander Blanqui, Louis Blanc, Ledrû Rollin sich abgenützt hatten und selbst Lamartine und Cavaignac als zu eifrige Republikaner galten, trat Thiers wieder mehr in den Vordergrund. Er unterstützte die Präsidentschaft Louis Napoleon’s, da er hoffte, daß Napoleon sich rasch abnützen, unmöglich machen und so den Weg zur Rückkehr der Orleans ebnen werde. Als er sich getäuscht sieht, als bei der Revue von Satory einzelne Regimenter, während sie vor dem Präsidenten vorbeidefiliren, „Vive l’Empereur“ rufen, da schlägt Thiers Alarm, rafft die Parteien in der Kammer noch zusammen und stürzt auf die Tribüne mit dem Schreckensrufe: „Meine Herren, das Kaiserreich ist fertig.“

Nr. 6. Nur bei ihm keine Wirkung.

Die Opposition kam zu spät. Der Tag vom 2. December führte auch Thiers nach Mazas. Bald darauf wurde er aus Frankreich verwiesen, aber schon 1852 kehrte er nach Paris zurück. Schmollend und grollend, nicht beachtet, noch weniger gefürchtet, lebte er ausschließlich seinen historischen Studien, bis ihn im Jahre 1863 die Stadt Paris in den Gesetzgebenden Körper sandte. Die Angriffe auf die innere illiberale Politik des Kaiserreiches, die Tiraden zu Gunsten der Preßfreiheit, des Versammlungsrechtes etc. konnten aus dem Munde eines Mannes, der, sobald er das Regierungsheft in Händen hatte, stets diese [186] Freiheiten geknebelt hatte, nicht sehr wirksam sein; von um so größerer Wirkung waren aber seine Angriffe auf die äußere Politik Napoleon’s, welche den großen Blick, die hohe staatsmännische Begabung des kleinen Thiers wieder glänzend erhärteten. Er verdammte die äußere Politik des Kaiserreichs in Bausch und Bogen und in allen Details, und sobald derselbe zu einer neuen That ausholte, erhob sich drohend Thiers.

Er war ein Gegner des italienischen Krieges, ein Gegner der Einigung Italiens, da er eine Schwächung Oesterreichs zugleich als eine Schwächung Frankreichs ansah; er trat mit aller Energie gegen die mexicanische Expedition auf – nach der Schlacht von Königgrätz betritt er, vor Aufregung bleich und zitternd, die Tribüne und stößt den Angstschrei aus: „Wir können keinen Fehler mehr begehen.“ Und als 1870 die Kammer mit dem Säbel zu rasseln und ihr Kriegsgeschrei anzustimmen beginnt, da erhebt sich der Greis mit der vollen Energie seines Wesens, mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Temperaments, verjüngt und gestärkt, und warnt, bittet und beschwört die Kammer, einzuhalten, und sich nicht in eine wilde Kriegswuth hineinzureden; unter dem Gebrüll der Kammer-Mameluken, dem Geheul, Gejohl und den Beschimpfungen des Galerie-Pöbels in Frack und Cylinder und den Insulten und Drohungen der vor seinem Hôtel angesammelten, als Arbeiter verkleideten Mouchards, uneingeschüchtert, ungebeugt, ein Feldherr ohne Armee, kämpft er todesmuthig, bis er zuletzt erschöpft mit den Worten schier zusammenbricht: „Beleidigen Sie, schmähen Sie mich, legen Sie Hand an mich – ich bin ein Greis und stehe am Rande des Grabes: aber ich bin bereit, Alles zu erdulden, um das Blut meiner Mitbürger zu vertheidigen, das Sie so leichtsinnig und gewissenlos vergießen wollen – es kommt ein Tag, und er ist nicht ferne – ich weiß es – wo Sie furchtbar bereuen werden, was Sie jetzt beginnen.“

Am 4. September legte Thiers der Kammer das Project vor: eine gemischte Commission aus Mitgliedern der Regierung und der nationalen Vertheidigung zu ernennen und sofort eine constituirende Versammlung einzuberufen. Doch es kam nicht mehr zur Abstimmung darüber – es war der letzte Tag des Kaiserreichs; die Dynastie war gestürzt; die neue Regierung wurde proclamirt. Aber nicht alle Deputirte waren mit diesem Gewaltacte einverstanden; noch am Abende des 4. September vereinigte sich ein Häuflein, darunter Girault Buguet, Pinard, Saint-Germain u. A., um gegen den „schmählichen Gewaltact“ zu protestiren, und es wäre vielleicht schon damals zu einer Contre-Revolution und einer gegenseitigen Abschlachtung in Gegenwart des Feindes gekommen – da gelang es Thiers, als Präsident der Versammlung gewählt, in einer wunderbaren, von Thränen und Aufregung halb erstickten Rede, deren Refrain stets „Hannibal ante portas“ war, zur Resignation zu bewegen. „Ich bin ein Feind jeder Gewaltthat, und ich mißbillige auch die, deren Zeuge wir heute sind, sowie ich stets gegen jede Vergewaltigung der Kammer war und sein werde, aber heute ist nicht der Tag der Anklagen und Beschuldigungen. Heute keinen Protest, heute keinen Kampf, keine Feindseligkeiten, keine Schwierigkeiten der provisorischen Regierung, denn der Feind steht vor den Thoren,“ rief er beschwichtigend aus.

Aber Thiers begnügte sich nicht mit der Resignation. Angesichts der Gefahr des Vaterlandes fühlte er sich nur als Franzose; er bot der neuen Regierung seine Dienste an. Sein Passionsgang zu den Höfen, um ihre Intervention zu Gunsten Frankreichs zu erringen, ist bekannt.

Siebenundzwanzig Departements wählten Thiers in die Nationalversammlung nach Bordeaux, die ihn zum Chef der Executivgewalt erwählte. Am 1. März legte er die Versailler Friedensbedingungen der Versammlung vor; der Mann, welcher den Friedensvertrag von Luneville für ein Meisterstück, ebenso hoch stehend durch seine Weisheit wie durch seine Mäßigung, erklärt hatte, mußte jetzt für den Frankfurter Frieden eintreten. Mit fünfhundertsechsundvierzig gegen einhundertundsieben Stimmen nahm die Versammlung nach einstündiger Berathung den Frieden an, und drei Tage später verließen die Deutschen Paris, und die Nationalversammlung siedelte nach Versailles über.

Jetzt galt es, die Commune niederzuwerfen. Thiers war glücklich, das große Feldherrntalent, welches er seit seinen Studien für die Geschichte des Kaiserreichs in sich fühlte, endlich an den Mann bringen zu können; aus den Ueberresten der Armeen von Metz und Sedan bildete er eine streitbare Armee, „die schönste, welche Frankreich je besaß,“ rief er selbstgefällig aus; den Oberbefehl überließ er aber doch Mac-Mahon, und so begann die „zweite Belagerung“ von Paris, und während die deutschen Truppen die nordöstlichen Forts von Paris besetzt hielten, bombardirten die französischen ihre „einzige Stadt“ von den durch die Deutschen angelegten Parallelen aus, durch sechsundvierzig Tage hindurch. Aber nur der Verrath führte sie hinein. Thiers hielt furchtbare Musterung in der besiegten Stadt; ungefähr fünfzigtausend Socialisten wurden gefangen, erschossen, deportirt, und stets von Neuem begann die blutige Jagd auf Communisten; die Nationalversammlung votirte Thiers den Dank des Vaterlandes und ernannte ihn für die Zeit ihrer Dauer zum Präsidenten der Republik.

Wie früher die tief unterschätzte Verproviantirung von Paris in Erstaunen setzte, so jetzt der ungeahnte Reichthum und die bewunderungswerthe Willfährigkeit des Landes; die Subscription für die drei Milliarden zählt am Tage ihrer Eröffnung bereits einundvierzig Milliarden. Aber am 24. Mai 1873 bricht der Kampf zwischen den Monarchien und den Republikanern in der Nationalversammlung, der durch den „Vertrag von Bordeaux“ nur hinausgeschoben war, in offene Fehde aus. Durch den Herzog von Broglie herausgefordert, betrat Thiers nochmals die Tribüne und sagte offen, daß unter den gegebenen Verhältnissen die conservative Republik die einzig mögliche Regierungsform für Frankreich sei, die Majorität der Versammlung aber, welche die Monarchie fordere, möge nicht vergessen, daß Frankreich drei Dynastien und nur einen Thron zur Verfügung habe.

Nachdem die Nationalversammlung die von der Regierung geforderte einfache Tagesordnung verworfen, forderte Thiers seine Entlassung.

Als Thiers, ein dreiundsiebzigjähriger Greis, die Präsidentschaft übernahm, lag Frankreich aus allen Wunden blutend. Seine eigenen Söhne zerfleischten sich; sein Boden erdröhnte vom schweren Tritt der Feinde; eine Kriegsschuld, schier unerschwingbar, lastete auf ihm; Handel und Wandel standen still, ein Bild des Jammers, des Mitleids und Entsetzens, und als er jetzt herabsteigt, haben die Sieger das Land geräumt; die Kriegsschuld ist abgetragen; wieder rauchen die Schlote der Fabriken, und ihre Hämmer arbeiten, und Frankreich beginnt, wenn auch noch schwach – wie nicht anders möglich nach solchen Blutverlusten – sich langsam wieder frei aufathmend zu erheben.

Selten hat das Schicksal einem Menschen so aufgespielt wie dem Thiers; er scheint verdammt, Alles, was er in seinem Leben ersehnt, erstrebt, erkämpft – bekämpfen und zerstören zu müssen, sobald es zur That wird. Ein Saturn im Frack! Er, der überzeugungstreueste Anhänger der constitutionellen Monarchie, ihr glänzender Vorfechter während der Restauration, hat wie Keiner der Revolution und dem zweiten Kaiserreich vorgearbeitet; die Asche Napoleon’s, welche Louis Philipp auf Thiers’ Antrieb von St. Helena[WS 2] zurückbrachte, war lange noch nicht verglommen, und Thiers selbst blies sie zu neuer Flamme auf; die schwarz drapirte, trauerbeflaggte Barke, in welcher der Prince von Joinville die Leiche Napoleon’s die Seine heraufschiffte, war der Sarkophag des Juli-Königthums – und als endlich das Kaiserreich hereinbricht, schreit er Alarm, und als es fertig ist, bekämpft er es unermüdlich, leidenschaftlich, zerstörungswüthig; er, der einst so laut mit dem Säbel rasselte und im Jahre des Becker’schen Rheinliedes nach Deutschland marschiren wollte, muß gegen den Krieg mit Deutschland in die Schranken treten – er, der den Frieden von Luneville als einen Act der weisen Mäßigung bewundert hat, muß den Frieden von Frankfurt abschließen und den Franzosen mundgerecht machen – er, der einst Paris in eine Festung gegen die Deutschen wandelte, muß sie in ihrer Gegenwart erstürmen und sein Paris zusammenschießen.



[187]

Der Krebskönig in Hoppegarten.
Skizze von C. F. Liebetreu.


Auf der ersten Kochkunstausstellung, welche im Anfange Februar dieses Jahres zu Berlin stattfand und die über alle Erwartung großartig sich gestaltet hat, fiel vor Allem ein mächtiger, wohl fünf Fuß hoher Tafelaufsatz in’s Auge, der – aus Krebsen bestand.

Es waren ihrer dreihundert; keiner von ihnen maß in seiner ganzen Länge unter zwölf Zoll. An einem Drahtgestelle kunstvoll befestigt, bildeten sie in ihrer Gesammtheit die Form einer schöngeschweiften Vase, und zartblättrige Petersilienbüschel wechselten malerisch mit den rothen, derben Gesellen ab, deren mächtige breite Scheeren, wie zum Gruße des Beschauers, nach vorn herüber hingen.

Mit Staunen und einer gewissen Wehmuth betrachteten wir diesen Prachtbau – Staunen, mitten im Winter so große Krebse zu sehen, und Wehmuth, daß nach der viertägigen Dauer der Ausstellung es geschehen sein müsse um ihre appetitliche Pracht, daß sie, ohne einen sterblichen Gaumen entzückt zu haben, den Weg des Kehrichts wandern müßten. Ein glücklicher Zufall machte uns mit dem Aussteller dieses Tafelaufsatzes bekannt; es war der Krebshändler und Hoflieferant A. Micha zu Berlin; als der alte liebenswürdige Herr von unsrer Krebsschwärmerei hörte, sich über unser aufrichtiges Lob freute, da lud er uns ein, nach Hoppegarten zu kommen, um seine Krebsreichthümer zu schauen.

Am nächsten Sonntage führte uns die Ostbahn über Caulsdorf und Neuenhagen nach Hoppegarten. Hier werden alljährlich zwei oder drei große Pferderennen abgehalten, zu denen viele tausend Menschen strömen, den fürchterlichsten Staub schlucken müssen, schales Bier mit Mühe erringen, Pferde laufen und, wenn’s sich gerade so macht, stürzen sehen. Es ist eine mächtig weite Ebene; an der einen Seite Stallungen und Tribünen, auf der andern Gräben und Wälle, letztere, um beim Rennen mit Hindernissen das Genickbrechen wesentlich zu erleichtern. Jetzt lag die Landschaft öde und still vor uns. Hier und dort war im Wagengeleise das Wasser glasig gefroren; wenige kleine Grasbüschel wechselten mit zusammengewehten Schneehäufchen; der Wind rauschte durch die dürren Büsche, und der Mangel an Baumgruppen ließ die Gegend ziemlich trübe erscheinen. Trübsinnig gingen vier Vollblutpferde, sorgfältig bis zu den Ohren hinauf verhüllt, auf jedem ein krummsitzender Jockey, an uns vorüber. Sie machten ihren Morgenspaziergang, und unser liebenswürdiger Führer belehrte uns, daß sie viele tausend Thaler kosten und zu keinerlei Arbeit gebraucht werden können. Ihre glücklichen Besitzer, meinte er, würden lieber vier Meilen zu Fuß laufen, als die edlen Thiere durch ein zweckdienliches Reiten profaniren.

Wir gestehen beschämt, daß wir uns trotz dieser großartigen Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Thier durchaus nicht für den edlen Sport begeistern konnten. Unser Mangel an einem derartigen Verständnisse ging noch weiter: wir kamen an ein langes Grab. Dort ruhte ein Pferd; es war das erste deutsche Pferd gewesen, welches auf dem Derby-Rennen zu Epsom den Preis erhalten; ein veritabler Leichenstein, wie er auf unseren Friedhöfen üblich, schmückte den Hügel, und in goldenen Lettern prangten darauf die Worte: „Hier starb in seinem Beruf Antinous. Geb. 1862. Gestürzt 1867.“

Was es doch für gar seltsame Pferde giebt!

So waren wir endlich zu der Besitzung des Krebskönigs gelangt. Ein Fluß durchschneidet den Garten in einer Länge von fünfhundert Fuß; zehn große Behälter reihten sich aneinander, von klarem Quellwasser durchströmt, und darin tummelte sich der Rest des Wintervorraths an Krebsen. Es waren ihrer noch viertausend Schock, also beinahe eine Viertelmillion.

Was wir von dem liebenswürdigen Besitzer an interessanten Einzelheiten der Krebszucht erfuhren, ist der Hauptsache nach etwa Folgendes:

Der Centralpunkt für den ganzen Krebshandel ist Berlin. Die Flüsse, besonders die Seen der Mark, Pommerns, Ost- und Westpreußens liefern den Bedarf in ausreichendem Maße. Berlin selbst, Sachsen, Hannover, die Rheinprovinz, besonders aber Frankreich, an der Spitze Paris, bringen das Hauptcontingent der Consumenten. England bezieht nur Krebsschwänze, von denen alljährlich mehr als fünfzehntausend Schock von Micha nach London expedirt werden. Kein Krebs hat sich wohl im Gewässer Ostpreußens träumen lassen, daß er nach Hoppegarten wandern und von dort, wenigstens theilweise, nach London marschiren würde, um in irgend welche Conserve gesteckt zu werden, dann aber, noch immer nicht zu Ruhe begnadigt, unter englischer Etiquette wieder nach Berlin zurückreisen müßte, um hier endlich als Vielgewanderter seine Laufbahn auf lucullischer Tafel zu beschließen.

In den Markthallen zu Paris werden täglich im Sommer durchschnittlich dreihundert Körbchen, jedes mit circa achtzig Stück Krebsen, die zum größten Theile aus Hoppegarten stammen, verauctionirt. Seit den letzten dreizehn Jahren ist, mit Ausnahme der Belagerungszeit und der Herrschaft der Commune, selbst in den Tagen vom Friedensschluß bis zur Commune, auch nicht ein Tag im Jahre vergangen, an dem Micha nicht Krebse nach Paris gesandt hätte. Im Winter ist der Verkauf dort geringer, da Krebse im Winter sehr schwer in den gewöhnlichen Krebskästen zu erhalten sind. Deshalb wird schon im October für Wintervorrath in Hoppegarten gesorgt. Anfangs November vorigen Jahres war derselbe beisammen; er bestand aus zwölftausend Schock, von denen ungefähr tausend Schock während des Winters in den Behältern sterben und daraus entfernt werden müssen. Die Winterkrebse dienen in Paris hauptsächlich zur Decoration der Gerichte. Bei jeder Festlichkeit, jedem Diner oder Souper bedarf der Franzose der écrevisses de Berlin; ohne diese ist ihm eine Ausschmückung der Tafel kaum denkbar, und so sind es selbst im härtesten Winter täglich sechszig Körbe mit ungefähr fünftausend in Flachs, Schilf, Papier oder Stroh verpackten Krebsen, welche durch Zahlung einer hohen Steuer sich nach der Reise von Hoppegarten Eingang in Paris verschaffen.

Die Stadt Paris belastet den Verkauf von Fischen und Krebsen sehr hoch. Bis 1870 mußten zehn Procent von der Brutto-Einnahme gezahlt werden, seit Beendigung des Krieges aber sind fünfzehn Procent festgesetzt worden. Micha hat im Jahre 1875 allein 84,000 Mark Krebssteuer zahlen müssen – selbst die Berliner Krebse müssen herhalten, um zur Deckung der fünf Milliarden beizutragen.

Die Fracht nach Paris ist bedeutend, der Verlust durch Absterben unterwegs beim Gewitter und in heißen Monaten oft sehr groß, und so kann es nicht Wunder nehmen, wenn die Krebse in Paris recht theuer sind. Ist die Zufuhr aber reichlich ausgefallen und die Nachfrage nicht groß, so kommt es auch vor, daß die Händler in Paris, welche die Krebse in den Straßen gekocht feilbieten, unter Berliner Preisen verkaufen. Die größten Krebse bleiben meist in Berlin; sie werden hier so gut bezahlt wie in Paris, besonders im Mai und Juni. Daß diese Thiere in den Monaten ohne „r“ sehr schmackhaft sind, ist bekannt; weniger bekannt dürfte es sein, daß sie im Monat September am wohlgenährtesten, am schönsten sind.

Zum Fangen bedient man sich der Reusen, geflochtener Holzkörbe, welche von beiden Seiten nach innen spitze, trichterförmige Eingänge haben. Auf einen Stock wird ein Weißfisch gesteckt, und am frühen Morgen bei Sonnenaufgang hebt der Fischer die Körbe, nimmt die Krebse heraus und steckt einen frischen Fisch auf. Der Krebs läßt sich mit einem verdorbenen oder angefressenen Fisch nicht fangen – der beste Beweis, meint unser Gewährsmann, daß der Krebs nicht nach faulendem Fleische geht. In der Gefangenschaft werden die Krebse mit Rüben, Fleisch und Fischen gefüttert. Die Fischer der Spree aber fangen sie mit Hammelgeschlingen. Daran ist in der Hauptfangzeit der Bedarf so groß, daß in den dem Fange nahe liegenden Städten, wie Beeskow, Fürstenwalde etc. diese Hammelgeschlinge zwei- auch dreimal so theuer bezahlt werden, wie sonst.

Es wird vielfach behauptet, man sei auf dem besten Wege, die Krebse auszurotten. So schlimm ist es freilich nicht, ein Gesetz aber, welches durch Vorschrift der Größe der Löcher in den Reusen und Fangkästen das Fangen zu kleiner Krebse nicht gestattet, wäre ein großer Segen. Das jetzige Gesetz über Schonzeit ist deshalb ohne Bedeutung, weil jeder Regierungsbezirk [188] dieselbe auf die ihm angemessen scheinende Zeit verlegen kann, eine gemeinsame Ruhe also nicht erzielt wird. So kommt es, daß im Regierungsbezirk Königsberg, Gumbinnen etc. der Krebsfang für Mai und Juni, die beste Krebszeit, verboten ist, während in anderen Gegenden der April, der August oder gar der September für die Schonzeit bestimmt worden ist.

Die Oder hat früher größeren Krebsreichthum aufzuweisen gehabt, als jetzt. An der Abnahme jedoch sind natürliche Ursachen schuld: Gewitter zur Laichzeit, schlechtes Wasser etc., denn kein Fluß wird seit Urzeiten durch die Jagd auf seine Bewohner wohl so viel ausgenützt, wie die Spree – in dem kleinen Orte Beeskow wohnen allein vierzig Familien, die sich vom Fisch- und Krebsfang recht gut ernähren – und jetzt noch hat sie mächtigen Reichthum an großen und schönen Krebsen. Aus einem See bei Feldberg in Mecklenburg werden seit dreißig Jahren unausgesetzt Krebse genommen, ohne daß irgendwie eine Abnahme sich bemerkbar machte.

Schon lange ging unser Gewährsmann damit um, die Krebse, welche er im August und September in so großen Mengen erhält, daß ihre Anzahl für den augenblicklichen Bedarf zu groß ist, für den Winter aufzubewahren. Er wählte im Jahre 1873 einen kleinen See bei Biesenthal von zwei Morgen Ausdehnung und außerordentlicher Tiefe. Von zehntausend Schock, welche hineingesetzt wurden, starben, trotz guter Fütterung und Pflege, über die Hälfte. Der nächste Herbst brachte noch spät sehr heiße Tage; tausende von Krebsen krochen wunderlicher Weise auf’s Land und starben. Endlich schien das schöne klare Wasser bei Hoppegarten der rechte Ort zu sein. Das Fließ wurde mit Schleußen und Gittern versehen und im Herbste wurden achttausend Schock hineingesetzt, doch der Boden war sehr weich – und die Krebse gruben sich in die Ufer; bald hatte ihre Legion den ganzen Uferrand unterminirt; derselbe stürzte zusammen, und die Thiere kamen um. Jetzt sind die Ufer und die Sohle mit Holzwänden bedeckt. Eine Lage Kies wurde hineingeschüttet. Jede der zehn Abtheilungen kann zwölfhundert Schock aufnehmen, und seit dem Monat November bis Anfangs Februar haben die schmackhaften Insassen nicht weniger als vierzig Wispel Runkelrüben verspeist.

Wir bewundern den großartigen Handel New-Yorks mit Austern, staunen über die Ausdehnung der Schlächtereien in Fray Bentos, Chicago und Ohio, der Sardinenfischerei Frankreichs, des Hummerfangs an Schwedens Küsten – nun, wir können doch wohl auch stolz sein auf den in der Welt einzig dastehenden Krebshandel Berlins, welcher besonders durch die Ausdauer und das Verständniß eines einzelnen Mannes zur Blüthe gekommen und welcher bei uns wie in der Ferne gar vielen Menschen das tägliche Brod verschafft.




Blätter und Blüthen.


Reuter und die Reuter-Propaganda. (Mit Abbildungen S. 184 und 185.) Die Erfolge Reuter’s sind, um in der Sprache pickelhaubentragender Junker zu reden, wahrhaft „pyramidal“. Der Verfasser der „Stromtid“ ist wohl der populärste Autor der Gegenwart. Nicht nur Buchhandel und Presse haben den Namen und die Werke des mecklenburgischen Jean Paul’s in aller Herren Länder getragen, die Propaganda für diesen Dichter aus dem Lande der Obotriten hat sich das seit den letzten Jahrzehnten bei uns so modern gewordene literarische Wanderapostelthum in durchschlagender Weise dienstbar gemacht und damit Erfolge erzielt, wie sich deren kaum ein anderer Schriftsteller von heute rühmen kann. Schon ein Blick in unsere großen und kleinen Zeitungen vom letzten Winter, in Berliner und Hamburger, Dresdener und Leipziger Tageblätter, genügt, um uns zu zeigen, daß Kräpelin, Glöde und andere plattdeutsche Vorleser den Reuter’schen Humor und die Reuter’sche Gemüthsinnigkeit auf das Glücklichste in die weitesten Kreise zu colportiren wissen. Nicht nur auf dem mütterlichen Boden der niederdeutschen Literatur, in Norddeutschland, auch im Süden und den äußersten Grenzmarken des deutschen Reiches nach Osten und Westen – was sagen wir? – weit darüber hinaus, überall, wo die deutsche Zunge klingt, wirbt die Reuter-Gemeinde von Jahr zu Jahr neue Mitglieder. Die gelehrte Forschung selbst hilft mit dazu. Lexika und Commentare sind geschrieben worden, um dem nicht plattdeutschen Publicum das Verständniß des genialen Humoristen näher zu rücken, und wie man früher englische Sprachstudien trieb, um Shakespeare’s „Hamlet“ und „Romeo und Julia“ zu verstehen, so befleißigen sich heute unsere süddeutschen Landsleute und außerdeutschen Sprachgenossen, ja die Angehörigen fremder Nationen des Plattdeutschen, um die Bekanntschaft Onkel Bräsig’s zu machen, dieses freundlich schmunzelnden Alten mit dem heiter-traurigen Blicke des Humors, und um mit dem gemüthstiefen Havermann niederzusitzen an der Bahre seines zu früh dahingegangenen Weibes.

Aber das lebendige Wort ist mächtiger als der todte Buchstabe, zumal bei Dialektdichtungen, welche so sehr auf den charakteristischen und localgetreuen Vortrag angewiesen sind, wie die Reuter’schen Prosadichtungen. Wie sehr dieselben durch entsprechenden Vortrag gehoben werden, mit einer wie packenden Wirkung sie aus dem Munde eines dem Dichter gemüthsverwandten Vorlesers den Hörern in Ohr und Herz greifen, das beweisen vor Allem die Vorträge des schon erwähnten Kräpelin. Wir sind Zeuge solcher von Genanntem veranstalteter Reuter-Abende gewesen. Das Publicum – Repräsentanten aller Stände – war geradezu elektrisirt. Humor und Ernst, bei Reuter so wunderbar gemischt, zeigten sich in ihren ausgesprochensten Wirkungen, und oft war das Auge noch naß, wenn der Mund sich schon eines ausbrechenden Gelächters nicht mehr enthalten konnte. Man hatte ein Schauspiel im Schauspiel; denn nicht nur der eigentliche Acteur, der in Mienen und Gesten sehr bewegliche Vorleser, spielte, es spielten alle Anwesenden mit. Eine Fülle von charakteristischen Aeußerungen innerer Theilnahme an den Gegenständen des Vortrags in Gesichtern und Körperhaltungen – das Auditorium bildete eine wahre Fundgrube für Charakterstudien. Wir mußten lebhaft an Hogarth’s „Lachendes Parterre“ denken. „Wer da zeichnen könnte!“ war mehr als einmal unser Gedanke, unser Wunsch.

Wir haben ihn nicht allein gehegt, diesen Wunsch. Ein Anderer hat ihn auch genährt, und der war glücklicher als wir – er hatte die Fähigkeit ihn auszuführen; der Maler Erdmann Wagner in München, dem wir unsere heutigen trefflichen Zeichnungen, „Charakterköpfe aus einer Vorlesung Fritz Reuter’schen Dichtungen“, verdanken. Die Bilder sind, wie die dichterischen Schöpfungen selbst, denen sie indirect ihre Entstehung zuzuschreiben haben, dem Leben nachgezeichnet, und darum legen wir, ohne den Versuch zu machen, ihnen ein Wort weiterer Erklärung beizugeben, die Feder fort – denn was lebt, erklärt sich selbst.


Ein mechanischer Maurer. Für die am Webstuhle der Zeit sitzenden Dampf-Titanen hat es beinahe etwas Unheimliches, immer noch gewisse Arbeitszweige sehen zu müssen, denen sie mit ihren Maschinen nicht nachhelfen können, z. B. das Baugewerk. Ein englischer Ingenieur, Dr. Lardner, berechnete vor einigen Jahren, daß man, um jeden Stein der großen Pyramide von Gizeh an seine Stelle zu bringen, das heißt zur Aufthürmung einer Last von circa 255,200,000,000 Centner Gestein, mit 480 Tonnen Kohle und einer Handvoll Leute zur Bedienung der Dampfhebezeuge ausgereicht haben würde. Aber wenn wir bedenken, daß Lardner, seine Rechnung als richtig angenommen, mit seinen Dampfhebezeugen den größten Theil jener 100,000 Arbeiter, welche nach Herodot zwanzig Jahre lang am Bau dieser Pyramide beschäftigt waren, brodlos gemacht haben würde, so erkennen wir, daß es eine wahre Wohlthat ist, wenn die Maschinen noch hier und da der Menschenhand etwas Arbeit übrig lassen. Denn ohne Zweifel trägt das Überhandnehmen der Maschinen-Arbeit seinen reichlichen Antheil an der Ueberproduction und Krisis unsrer Tage.

Der „mechanische Maurer“ des Herrn C. Franke in New-York kann daher nicht auf unsre besondern Sympathien rechnen; er ist um mehr als sechs Jahre zu spät zur Welt gekommen. Diese Maschine, welche über die Mauer hinläuft, fein säuberlich einen Ziegelstein nach dem andern in seine richtige Lage bringt, mittelst eines Mörtelrandes kunstgemäß verkittet, und wenn sie eine Lage gelegt hat, wieder denselben Weg zurückgeht, um eine neue Schicht zu legen, dieses Muster eines gleichmäßig fortarbeitenden, mit Frühstücken, Vespern, Prisenehmen und Pfeifeanstecken keine Zeit verlierenden, niemals ausruhenden oder gar streikenden Gesellen mag in der Zeit der Milliarden und Bauspeculationen manchem Bauherrn, dem seine strikenden Arbeiter das Messer an die Kehle legten, in seinen Träumen erschienen sein – heute läßt sie uns ziemlich kalt. Ja, wir wünschen vielmehr, daß man sie nicht so weit vervollkommnen möge, daß der Baumeister sich nur, wie weiland Amphion, an eine Claviatur zu setzen braucht, um die Werkstücke in schönster Ordnung antanzen zu lassen; mögen die Dampfmaschinen Ziegel pressen und wie auf dem Kölner Dom die Werkstücke aufwinden, aber die übrige Arbeit den bewährten Kräften überlassen, wenn sie auch etwas mehr Ueberlegung, Pfeifenqualm etc., als zur Festigkeit des Baues unbedingt nöthig erscheint, einmauern sollten!




Unser Artikel über Schloß Monbijou (in Nr. 10) kam gerade rechtzeitig, denn, wie die Zeitungen melden, wird am Geburtstage des Kaisers in dem erwähnten Schlosse das Hohenzollern-Museum eröffnet werden, mit dessen Einzelheiten sich der genannte Artikel beschäftigt. Ob aber, was die äußere Anordnung der Erinnerungen an das preußische Königshaus in Monbijou betrifft, unsere Schilderung noch heute ein in allen Einzelheiten zutreffendes Bild entwirft, das vermögen wir nicht zu constatiren, da die Arbeit sich bereits seit etwa einem halben Jahre in unseren Händen befindet und inzwischen schon mancherlei Aenderungen haben stattfinden können.



Kleiner Briefkasten.

W. Z. in L. Ihren Wunsch, über einige bisher noch wenig bekannte Lebensepisoden Kaiser Wilhelm’s unterrichtet zu werden, finden Sie schon in Nr. 12 unseres Blattes erfüllt.

M. I. in H . . g. E. E. 20., E. M. in Heidelberg, G. T. und Arnold. Nicht geeignet. Verfügen Sie gefälligst über das Manuskript!

U. Bgl. in New-York. Die Prairiehühner sind hier eingetroffen, zwar mit eigenthümlich penetrantem Schiffsgeruch, aber völlig frisch und äußerst wohlschmeckend. Vorläufig besten Dank! Brieflich mehr.

C. G. in Kassel. Die Nummer für den 10. März war bei Ankunft Ihres Briefes bereits ausgegeben.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mitglied der ehemaligen von der deutschen Gesellschaft zur Erforschung Aequatorial-Afrikas nach der Westküste (Nieder-Guinea) ausgesandten Güßfeldt'schen Loango-Expedition.
  2. Die Gunst des Publicums machte wieder gut, was die Unbill der Kritik an Mosenthal verschuldet hat. Seine Bühnenstücke, die „Deborah“ voran, erfreuen sich der Sympathie der weitesten Kreise. Ueber seine ergreifende Erzählung „Aus dem jüdischen Familienleben“, welche wir im vorigen Jahrgange unseres Blattes (Nr. 2) zum Abdruck brachten, schrieb er uns unter’m 15. Januar des verwichenen Jahres: „Ich theile Ihnen mit, daß ich überrascht, ja ein wenig beleidigt bin, gerade wegen dieser Kleinigkeit seit acht Tagen mit Briefen und Telegrammen aus allen Weltgegenden überschüttet zu werden, als ob ich zum ersten Male vor die Oeffentlichkeit träte. Aus Kassel, Frankfurt, Göttingen, Berlin, Paris und London sind mir solche Gratulationen zugekommen. Berthold Auerbach, mit dem ich seit zehn Jahren nicht correspondirte, schreibt mir: 'Ich muß Ihnen sagen, wie ungemein Ihre Erzählung von der Tante Guttraud mich angemuthet hat. Das ist tief innig, plastisch und in reinem künstlerischem Wohlbedacht vorgetragen' etc.“ Wieder ein Beweis dafür, wie sehr Mosenthal es verstanden hat, die Gemüthsseite des Publicums zu fassen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Operutexte
  2. Vorlage: Elba, vergl. Berichtigung in Heft 14.